Lola hatte ich mir genauso vorgestellt, wie sie aussah: Eine rassige, drahtige Spanierin um die Sechzig mit blitzenden braunen Augen und schwarzem Haar, das sie in Form einer Banane hochgesteckt trug. Allerdings hatte sie in meiner Fantasie keine Flipflops, sondern Pumps an den Füßen, und ihre Arme waren nicht eingegipst gewesen. Ihr hing eine doppelte Stoffschlinge um den Hals, die vor ihrer Brust endete – in jeder Schlinge hing ein eingegipster Arm. So lief sie uns aus der Galerie entgegen, die – wie Wiebke mir beim Einparken erklärte – ihrem Bräutigam Miguel gehörte. Tagsüber zog er sich in sein Atelier unter dem Dach des Gebäudes zurück. Im mittleren Stockwerk lag ihre gemeinsame Wohnung. Das Haus selbst war Teil einer ganz in weiß gestrichenen Häuserzeile gegenüber der Strandpromenade.
Zwei Türen neben der Galerie lag Miguels Tapasbar. Lola habe sie eine Zeit lang bewirtschaftet, raunte mir Wiebke zu, während wir den Koffer ausluden, doch schließlich habe sie eingesehen, dass sie mit der Bar und ihrem Hotel überfordert war, und Miguel hatte jemanden dafür eingestellt.
Die Bucht war wunderschön: Der helle Strand hob sich gegen das türkis schimmernde Meer ab, rechts war die Bucht von Felsen eingefasst, links, etwas weiter entfernt, lag ein malerischer Hafen.
»Mein Gott«, sagte ich bewundernd zu Wiebke, »wie wohl du dich hier fühlen musst.«
Sie nickte stolz. »Ich kann mir nichts anderes mehr vorstellen, als genau hier zu leben. Früher dachte ich immer, ich bräuchte später mal ein Haus mit Garten. Meine Eltern haben ein großes Grundstück, und als ich in Irland war, kamen Claire und ich in einer kleinen Villa mit einem entzückenden Gärtchen unter – damals habe ich Miguel in den Ohren gelegen, dass ich mir so etwas auch hier gefallen lassen könnte.« Sie lachte und fügte an: »Also nicht die Villa, sondern das Gärtchen. Aber inzwischen kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als die Nähe zum Strand, zur Galerie und zur Bar. Außerdem wohnt Lola nicht weit von hier und sie wird nichts lieber tun, als mir mit dem Baby unter die Arme zu greifen. Vermutlich wird sie sich aufführen, als wäre es ihr Enkelkind. Ich würde um nichts in der Welt tauschen wollen.«
Ich verstand sie hundertprozentig – mir würde es nicht anders ergehen. Wieder sah ich zum Strand. Ein paar Badende hatten sich ins Wasser gewagt, ein Mann warf einen Tennisball für einen Hund.
»Leben Miguels Eltern auch auf Mallorca?«, griff ich das Gespräch wieder auf.
Wiebke sah mich betroffen an. »Sie sind vor fünf Jahren bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen.«
Bevor ich ihr sagen konnte, dass mir das entsetzlich leidtat, war Lola bei uns und versuchte unbeholfen, mich zu umarmen – was ihr mit den eingegipsten Armen nicht besonders gut gelang. Schließlich rieb sie ihre Wange an meiner und sagte auf Spanisch: »Endlich. Dich schickt der Himmel.«
Ich lächelte. »Danke. Ich freue mich auch.«
»Du bist bestimmt hungrig nach der langen Reise«, vermutete Lola und sah uns fragend an. Dann sagte sie lachend zu Wiebke: »Dich brauche ich ja nicht zu fragen.«
Mich hätte sie auch nicht fragen müssen – unter Appetitlosigkeit hatte ich noch nie gelitten. »Ich kann noch ein bisschen warten«, sagte ich dennoch. Immerhin hatte ich gut gefrühstückt, war auf beiden Flügen mit Essen versorgt worden, und hatte eben erst einen Apfel gegessen.
Wiebke zwinkerte mir zu und half mir mit dem Koffer, den wir gemeinsam zur Galerie schoben. »Nachher gibt es Tapas«, raunte sie. »Das Warten lohnt sich.«
Als wir die Galerie betraten, hob ich bewundernd die Augenbrauen. Der Verkaufsraum war nicht allzu geräumig, trotzdem fanden etliche Gemälde von Wiebkes Bräutigam an den Wänden Platz – und auch auf mehreren Staffeleien waren seine Kunstwerke verteilt. Es gab verschiedene Grundmotive – eines davon war die Bucht. Mal eine Panorama-Ansicht, dann wieder ein Detail herausgepickt. Und zwar bis zur Großaufnahme. Als sähe man durch ein Mikroskop. Dasselbe mit einem Golfplatz, der offenbar – nach dem Grün der Umgebung und einer Schafherde in der Ferne zu urteilen – in Irland lag. Es gab aber auch einen nordisch aussehenden Leuchtturm, den Wolken umgaben, als habe sie jemand mit dem Kameraobjektiv herangezoomt. Man musste schon sehr nah an die Bilder herantreten, um zu erkennen, dass es sich nicht um Fotografien handelte. Ich war beeindruckt.
»Wie lange malt Miguel an so einem Bild?«, wandte ich mich an Wiebke.
Diese hob die Schultern. »Für den ersten Entwurf braucht er einen Tag. Dann meist noch mal einen oder zwei Tage für den Feinschliff. Er malt ganze Serien, bei denen sich nur Details ändern. Das macht den Reiz seiner Bilder aus.«
»Verkaufen sie sich gut?«, fragte ich.
»Inzwischen können wir prima von seinen Einnahmen leben, und Miguel legt sogar jeden Monat noch etwas zur Seite. Wir verschicken seine Bilder nach ganz Europa. Seine Kunden sind Firmen mit viel Platz, die sich wünschen, dass ihr Produkt oder ihre Philosophie außergewöhnlich in Szene gesetzt wird.« Sie lächelte. »Oder Privatleute, die eine besondere Urlaubserinnerung haben möchten.«
Sie deutete auf eine Frau, die eben aus einem Hinterraum trat, und die ich wie Lola auf etwa Sechzig schätzte. »Das ist übrigens Pilar, unsere Perle. Sie ist eine Freundin von Lola und leitet die Galerie, seitdem ich wieder als Lehrerin arbeite.«
Pilar gab mir die Hand. »Encantada, Ida. Bienvenidos.«
Ich nickte und sagte: »Ich freue mich auch.« Dann wandte ich mich wieder an Wiebke und deutete auf ihren Bauch: »Du arbeitest noch?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bis vor drei Tagen habe ich als Grundschullehrerin in Palma an der deutschen Schule gearbeitet. Jetzt bin ich im Mutterschutz.«
»Was wird es denn eigentlich?«
Wiebke strahlte. »Ein Mädchen.«
»So«, sagte Lola, und ich sah ihr an, dass es ihrer Art entsprochen hätte, nun in die Hände zu klatschen, um zu dem zu kommen, weswegen ich eigentlich hier war. »Wollen wir?«
Ich sah fragend von einer zur anderen.
»Ich möchte dir zeigen, wo du die nächsten Wochen wohnen und arbeiten wirst – danach kommen wir wieder zurück und essen ein paar Tapas mit Miguel, was meinst du?«, fragte Lola.
Zu Wiebke gewandt sagte sie: »Du legst dich jetzt bitte ein bisschen hin und ruhst dich aus. Miguel hätte Ida abholen sollen, wo ich es schon nicht kann.« Mit diesen Worten schnalzte sie missbilligend mit der Zunge und ging bereits nach draußen, während Wiebke mir zuraunte: »Bitte mach dir nichts daraus, wenn sie herummeckert. Es sind nicht nur die gebrochenen Arme, die ihr zu schaffen machen – sie hat außerdem Streit mit ihrem Sohn. Seit Wochen reden sie und Xavi nur das Nötigste miteinander.«
»Warum das?«
Sie kräuselte die Nase. »Darüber schweigt sie sich aus, genau wie Xavi.« Wiebke seufzte. »Diese temperamentvollen Spanier haben eben ihren ganz eigenen Kopf. Eine Horde Esel managt sich leichter.«
Ich grinste und griff nach meinem Koffer. »Dann bis später – ich werde schon mit ihr fertig.«
Wiebke hob beide Daumen. »Du schaffst das.«
Als ich aus der Galerie nach draußen in die Sonne zu Lola trat, zeigte diese auf die Bar nebenan und sagte: »Miguel hat sie vor zwei Jahren wiedereröffnet, nachdem sie ein paar Jahre geschlossen war. Sein Koch macht hervorragende Tapas – nur meine sind besser.« Sie bleckte verlegen die Zähne und setzte sich in Bewegung. »Wenn ich könnte, würde ich es dir beweisen.«
Vor mich hinlächelnd rollte ich meinen Koffer hinter ihr her über den Bürgersteig, genoss wieder die Aussicht auf die Bucht, hätte am liebsten meine Zehen ins Meer gestreckt oder mich im warmen Sand niedergelassen. Doch das konnte ich später immer noch tun.
Wir bogen in eine schmale Straße ein, die in ein verwinkeltes Ortszentrum führte. Der kurze Marsch durch die Altstadt führte uns vorbei an Souvenirläden, einer Metzgerei und einer Apotheke, dazwischen lagen Bars und Restaurants.
In einer besonders engen Gasse kamen wir zum Stehen, und Lola dirigierte mich eine Treppe zu einer Pension hinauf – über dem Eingang stand Hotel Sonrisa geschrieben.
Es roch nach einer Mischung aus Putzmittel und Blumen, darüber schwebte eine Nuance des Rasierwassers eines grauhaarigen Herrn hinter dem Empfang, den Lola mir als »Alejandro« vorstellte.
Er und ich würden uns die Schichten teilen. Nachts war die Rezeption nicht besetzt – jedoch täglich von sieben bis zweiundzwanzig Uhr. Das Frühstück zwischen acht und zehn gehörte ebenfalls zu meinem Job. Gäste aus- und einchecken, Angebote verschicken, Kreditkartenbelastungen. Lola ratterte alles in einer Geschwindigkeit hinunter, die mich nur deshalb nicht überforderte, weil all das die letzten Jahre schon zu meinen Aufgaben gehört hatte. Nur ihr Buchungssystem kannte ich noch nicht. Dieses sollte mir Alejandro in den nächsten Tagen beibringen.
Er zwinkerte mir freundlich zu und tippte etwas in den Computer ein.
»Alles verständlich bis hierher?«, unterbrach Lola ihren Redeschwall und sah mich fragend an.
Ich nickte und gähnte. Ups.
»Bist du müde von der Reise?«, fragte sie. »Dann zeige ich dir am besten dein Zimmer.« Im selben Moment runzelte sie die Stirn. »Ach, das weißt du ja noch gar nicht. Hier kannst du nicht wohnen, weil wir voll sind. Deshalb habe ich dir das Zimmer über der Bodega meines Sohnes fertig gemacht.«
Eine Bodega. Das klang gut. »Ist das weit von hier?«, fragte ich.
»Nein, nein. Das ist auch nicht das Problem. Aber – nur damit du Bescheid weißt –« Sie drehte sich von Alejandro weg, der uns einen neugierigen Seitenblick zuwarf, und raunte: »Mein Sohn und ich, wir haben im Moment einen Streit.« Sie verzog den Mund. »Einen großen Streit, um exakt zu sein. Es ist deshalb etwas dumm, dass ich dich bei ihm unterbringen muss, aber das Zimmer gehört mir.«
Wiebke hatte ja bereits eine Auseinandersetzung zwischen den beiden erwähnt. So lange ich nichts damit zu tun hatte, störte mich das nicht weiter.
Lola wandte sich an Alejandro und sagte: »Gibst du der jungen Dame bitte die Schlüssel? Ich laufe eben mit ihr rüber.«
Alejandro nickte und reichte mir kurz darauf ein Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln und einem Anhänger mit der Aufschrift »Cámara Xavi«.
Dankend steckte ich das Teil in meine Hosentasche.
Wenige Augenblicke später folgte ich Lola durch zwei enge Gässchen, bis wir vor einer Bar stoppten, über der eine Leuchttafel den Namen Bodega Sol verkündete. Musik klang nach draußen, vor der Tür standen eine Handvoll Gäste und rauchten, im Lokal wurde auf einem an der Wand befestigten Fernseher ein Fußballspiel übertragen.
Als wir die Bodega betraten, bemerkte ich einen etwa dreißigjährigen Mann mit lockigen schwarzen Haaren, die er sich in diesem Moment hinter die Ohren strich. Die buschigen Augenbrauen und die dunklen Bartstoppel verstärkten seine männliche Ausstrahlung. Über einem dunkelblauen T-Shirt trug er ein kariertes Halstuch lässig um den Hals geschlungen, er wirkte kräftig und muskulös, wie ein Bär.
Lola stolzierte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, am Tresen vorbei und trat durch eine an der Seite gelegene Tür, die in ein Treppenhaus führte. Eilig folgte ich ihr – so wie der Blick des Mannes, der meinen für eine Sekunde streifte. Ich hatte noch nie jemanden mit so dunklen Augen gesehen. Augen wie Teiche.
Lola hatte Mühe, die schmale Treppe zu erklimmen. Es war nicht ganz ungefährlich, dies zu tun, ohne sich festhalten zu können. Ich selbst zerrte den Koffer mit Mühe hinter mir her. Das Ding war verdammt schwer.
»War das dein Sohn?«, fragte ich, als sie mich bat, die Tür des Zimmers, vor dem wir zum Stehen gekommen waren, mit einem der beiden Schlüssel aufzuschließen. Der andere war für die Eingangstür unten. Falls es Xavi gewesen war, an dem wir eben vorbeigegangen waren, hätte ich mich ihm zumindest gern vorgestellt.
Im selben Moment vernahmen wir Schritte hinter uns und ein sonores »Guten Tag auch, Mama. Willst du mir deinen Gast nicht vorstellen?« erklang.
Ich wandte mich um.
Aha. Er war es also. Die Ähnlichkeit der beiden war unverkennbar. Xavi war einer dieser Männer, die einem sofort das Gefühl vermittelten, verletzlich zu sein. Als sei man plötzlich wieder ein Kind, das nichts mehr ersehnt, als sich in den Arm eines Erwachsenen zu kuscheln – und alles würde gut werden. Anscheinend hatte ich ihn angestarrt, denn er zwinkerte mir zu.
Lola machte eine Geste, als wollte sie ihre Arme verschränken – was ihr selbstverständlich misslang. Stattdessen reckte sie das Kinn vor und sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand. Vermutlich Katalanisch. Die Landessprache Mallorcas war ganz anders als Spanisch. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, worum es ging, wenn ich es mir auch denken konnte: um mich. Jedenfalls stritten sie nicht gerade leise – ob ihre Gäste oder ich etwas davon mitbekamen, schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Xavis Augenbrauen waren zu einer dunklen Linie verzogen.
Unwillkürlich musste ich an Gunni denken. Er hätte neben Lolas Sohn unscheinbar gewirkt, obwohl auch er nicht klein war. Doch Gunni war von Natur aus drahtig, er würde niemals dick werden. Xavi, wenn er nicht achtgab, vielleicht schon. Im Moment war er jedoch weit davon entfernt.
Als er die restlichen Stufen nach oben nahm und mir die Hand hinstreckte, zuckte ich zusammen.
»Ich bin Xavi«, sagte er und gab mir einen festen Händedruck.
Ich mochte diesen weich klingenden Namen. Chavi mit kehligem CH.
»Ida«, erwiderte ich und wurde mir wieder darüber bewusst, dass mein Name auf Spanisch so viel wie »Hinreise« hieß. Im Spanischunterricht hatten wir darüber lachen müssen.
Xavi zwinkerte. »Encantado, Ida.«
In diesem Moment schob Lola sich zwischen uns und zischte ihrem Sohn etwas zu. Dann drängte sie mich ins Zimmer – mein Koffer blieb am Türrahmen hängen und wir wären fast ins Stolpern geraten. Nicht auszudenken mit Lolas eingegipsten Armen. So gestresst, wie sie mich ansah, dachte sie dasselbe.
Mit ihrer Hüfte stieß sie die Tür hinter uns ins Schloss, und ich hörte, wie Xavi pfeifend die Treppe wieder hinabstieg.
Dies schien Lola noch mehr in Rage zu bringen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch.
»Eins musst du mir versprechen«, sagte sie schließlich und sah mich entschlossen an.
»Ja?«
»Ich möchte, dass du ihn meidest. Sprich nicht mit ihm. Er ist sehr böse zu mir.«
Überrascht sah ich sie an. Ich sollte nicht mit ihm sprechen? Wie stellte sie sich das vor?
»Lola«, versuchte ich es diplomatisch, »mit dem Streit zwischen dir und deinem Sohn habe ich doch gar nichts zu tun. Außerdem kann ich schlecht hier wohnen und ihn nicht einmal grüßen. So unhöflich möchte ich nicht sein.«
Sie sah mich abschätzend an, dann erwiderte sie: »Na schön, du darfst ihn grüßen. Aber sonst nichts. Ich möchte nicht, dass du mit ihm hinter meinem Rücken über mich redest.«
»Das würde ich niemals tun«, beteuerte ich.
»Und nicht mit ihm anbandeln!«
Ich riss die Augen auf. Was für eine absurde Idee. Ich war weiß Gott nicht hier, um vom Regen in die Traufe zu kommen.
»Versprich es!«, forderte sie – offenbar missinterpretierte sie meine Sprachlosigkeit.
Ich legte den Kopf schräg. Warum nahm mir eigentlich alle Welt Versprechen ab? Wirkte ich so unzuverlässig, dass ich um Schwüre nicht herumkam?
»Ich verspreche es«, sagte ich ergeben.