Der Mondgott

 

 

 

 

 

 

Der Mondgott

 

Annie Waye

 

Die Kurzgeschichte:
Das Mädchen Juna hat in ihrem ärmlichen, von einer Dürre erschütterten Dorf einen schweren Regelverstoß begangen. Als Strafe wird sie an einen Baum genagelt, um dem Mondgott als Opfer zu dienen und den Regen zurückzubringen. Doch anstatt vom Mondgott anerkannt zu werden, wird Juna geradewegs in die Hölle gezogen – zum Dämon Trident, der sie einer ganz anderen Kreatur zum Fraß vorwerfen soll …

 

 

 

 

 

 

Die Autorin:
Annie Waye ist eine junge Autorin mit einer alten Seele. Sie ist auf der ganzen Welt zu Hause und seit jeher der Magie der Bücher verfallen. Sie schreibt, um den phantastischen Charakteren und fremden Orten Leben einzuhauchen, die sie seit ihrer frühesten Kindheit nicht mehr loslassen. Wenn sie nicht gerade an Romanen arbeitet, veröffentlicht sie Kurzgeschichten und bereist die Welt auf der Suche nach ihrem nächsten Sehnsuchtsort.

2021 ist ihr phantastischer Debüt-Roman »Thron aus Sturm und Sternen: Seelendonner« bei Loomlight (Thienemann-Esslinger Verlag) erschienen.

 

 

 

 

 

Der Mondgott

 

StoryWAYE-Kurzgeschichten #1

 

von

 

Annie Waye

 

 

 

 

 

 

 

© 2021 Annie Waye

Vertreten durch:

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Annie Waye

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79098 Freiburg im Breisgau

 

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»Nein«, wimmerte ich. »Bitte, bitte nicht!«

Mein Flehen wurde nicht erhört. Nicht einmal die sechs Männer, die meinen Käfig trugen, würdigten mich auch nur eines Blickes.

Meine Eltern, sie waren genau hinter uns. Tränen strömten über ihre Wangen. Kopfschüttelnd starrten sie zu mir hinauf. »Warum hast du das getan, Juna?«, fragte meine Mutter. »Warum nur hast du das getan?«

»Ich habe es für euch getan!«, gab ich verzweifelt zurück. Meine Augen brannten, doch dieses Gefühl war nichts im Vergleich zu den Schmerzen in meiner Brust. Die dumpfen Schritte der Männer unter mir brachten nicht nur den Käfig zum Erbeben, sie erschütterten auch mein Herz jedes Mal aufs Neue.

»Du wusstest es!«, warf mir mein Vater vor. »Du wusstest, was passieren würde, wenn sie dich dabei erwischen!«

Verzweifelt umklammerte ich die Gitterstäbe meines Gefängnisses. »Was hatte ich denn für eine Wahl?«

Diese Frage konnte mir niemand beantworten. Denn die Zeiten waren hart – schlimmer, als ich sie je erlebt hatte. Ein jeder von uns lebte von der Hand in den Mund. Niemand konnte etwas entbehren. Manche waren dem Hungertod näher als andere. Meine Eltern – mir war, als könnte ich ihre dürren Knochen durch ihre Kleidung durchscheinen sehen – gehörten zur ersteren Gruppe. Der Mann, von dem ich einen Laib Brot stibitzt hatte, trug wiederum so viel Fett an seinem Körper, dass er noch einen ganzen Winter überstehen konnte, ohne sich Sorgen um den Tod machen zu müssen.

Stehlen war noch nie gern gesehen gewesen, doch jetzt, da der Regen schon seit vielen Wochen ausgeblieben war, wurde ich mit der größten Strafe belegt, die man sich nur vorstellen konnte.

Mein Stamm richtete sein ganzes Leben nach der Sonne und dem Mond aus und den Göttern, die er in ihnen vermutete. Wir brachten dem Sonnengott jeden Neumond, dem Mondgott jeden Vollmond ein Tier-Opfer dar, um sie gnädig zu stimmen. Man nagelte sie an den magischen Baum Austras, der in den Himmel ragte und Sonne und Mond berührte. Man musste nicht sehen, dass das Huhn, das Lamm oder das Kalb bis zum Tag der nächsten Opfergabe verschwunden waren, um zu wissen, wann die Götter einem gnädig gesinnt waren – der Sonnengott sorgte im Gegenzug für die Wärme und das Licht, das unsere Pflanzen und Tiere zum Wachsen brauchten. Der Mondgott wiederum brachte den Regen und das Wasser, in welchem alles Leben gedeihen konnte.

Doch in den letzten Monaten war kein Tropfen Wasser vom Himmel gefallen, und das, obwohl unsere Opfergaben stets angenommen worden waren. Tödlicher Sommer