AMELIA CARR

Die

Pilotin

ROMAN

Aus dem Englischen von Ute Leibmann

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Den tapferen Männern und Frauen der
Air Transport Auxiliary

Erster
Teil


Gegenwart

Sarah

Wie gut kennt man seine Familie eigentlich wirklich – wie gut kann man andere überhaupt kennen? So nahe wir einem anderen Menschen auch stehen mögen, es gibt immer tief verborgene Geheimnisse, von denen wir nichts wissen – Träume und Ängste, Leidenschaften und Hass. Die Erinnerungen, die man nur hervorkramt und betrachtet, wenn man ganz allein ist; die düsteren Gedanken, die einen in schlaflosen Nächten plagen; die Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit, die wir niemals offen zugeben würden; die Momente, in denen uns vor der Zukunft graut. Wir sehen nur das, was die anderen uns zu sehen gestatten. Ihr Handeln und ihre Einstellungen beurteilen wir auf der Basis unserer eigenen Werte und Erfahrungen. Und auch wir selbst hüten Geheimnisse.

Ja, sogar ich habe genug eigene Geheimnisse, und dabei würde mich wohl kaum jemand als besonders verschwiegen bezeichnen. Als Kind hatte ich den Ruf, eine Quasselstrippe zu sein. »Die kleine Plaudertasche«, so nannte mein Vater mich zu meinem großen Ärger – nach einer Figur aus den Comic-Heften, die ich mir jeden Sonntag beim Zeitschriftenhändler kaufte, zusammen mit einem Schokoladenriegel oder einer Tüte Bonbons. »Das dürft ihr auf keinen Fall jemandem erzählen«, sagte er immer, wenn meine Schwester Belinda und ich beim sonntäglichen Mittagessen Zeuge irgendeiner Diskussion zwischen ihm und meiner Mutter wurden, und dabei richtete er seinen Blick vor allem auf mich. Als ob ich irgendetwas davon weitererzählt hätte! Meistens ging es sowieso nur um irgendwelchen langweiligen Kram, zum Beispiel, ob sie sich eine Renovierung der Küche leisten könnten oder welcher der Nachbarn was im Wohltätigkeitsladen abgegeben hatte, in dem meine Mutter ehrenamtlich arbeitete. Ich verdrehte dann immer die Augen in Richtung Belinda, die sich natürlich wie immer mustergültig benahm, und schaute meinen Vater mit beleidigter Miene an. Ich würde wohl kaum mit meinen Freundinnen über die Finanzierung einer Küche reden und konnte mir auch nicht vorstellen, dass sie sich dafür interessieren würden, in welchem Zustand die Kleidung war, die Mrs. Waite, Mitglied in unserem Stadtrat, im Laden des Hospizes abgeben hatte – Pullover mit Kaffeeflecken und schlecht gewaschene Unterwäsche, wie meine Mutter sagte. Aber so war es nun mal – ich hatte den Ruf weg, zu viel zu reden und Geheimnisse nicht für mich behalten zu können.

Vielleicht wurde ich deshalb später so gut darin …

Meine Mutter dagegen konnte schon immer gut Geheimnisse bewahren. So gut, dass ich noch nicht mal ahnte, dass es überhaupt Geheimnisse gab, die gehütet werden mussten, dass es Menschen gab, die es zu schützen galt. Eine Fassade der Wohlanständigkeit, die aufrechterhalten werden musste. Und Schuld, die man einem anderen Menschen nur insgeheim zuschreibt. In der dunklen Welt zwischen Abend- und Morgendämmerung, wenn man schlaflos daliegt und alle Gedanken ungeheure Ausmaße annehmen, die erst das Tageslicht wieder auf die richtige Größe zurechtstutzt. Die sprichwörtlichen Leichen im Keller.

Heutzutage gibt es wahrscheinlich weniger solcher Leichen im Keller. Eine Scheidung oder ein uneheliches Kind sind kein gesellschaftlicher Makel mehr. »Vom Karren gefallen«, nannte man das früher. Entzückend altmodisch, oder? Und dennoch ist es uns auch heute noch wichtig, dass die anderen uns in einem ganz bestimmten Licht sehen. Wir machen uns immer noch Sorgen darüber, ob andere die Wahrheit vertragen können – wie würde die Welt auch aussehen, wenn wir das nicht täten? Unangenehme Wahrheiten, die man gedankenlos oder aus eigennützigen Gründen äußert, können ein Leben zerstören, wenn sie von erwachsenen »Plappertaschen« ausgesprochen werden.

Doch die Kehrseite kann genauso gefährlich sein. Geheimnisse, die in bester Absicht gehütet werden, können auf äußerst heimtückische Weise Probleme verursachen, die noch jahrelang nachwirken. Eine Familiengeschichte kann ihre schleimigen Tentakel bis in die nächste und übernächste Generation ausstrecken. Offen ausgesprochen würden manche Dinge ihre bedrohliche Macht verlieren, statt aus Angst vor Entdeckung immer weiter zu gären. Hätte es in meiner Familie keine »Leichen im Keller« gegeben, wären ein paar Menschen wohl unweigerlich verletzt worden. Doch andere wären durch die Wahrheit anstelle von Halbwahrheiten, durch Gewissheit anstelle eines heimlichen Verdachts von einer schweren Last befreit worden.

Mir war immer klar, dass es in meiner Familie Dinge gab, über die nicht geredet wurde. Spannungen, die ich nicht verstand. Jedenfalls wurde mir schon zu einem recht frühen Zeitpunkt bewusst, dass manches seltsam war: Meine Mutter reiste kaum je in ihre eigentliche Heimat Florida zurück, die sie mit neunzehn verlassen hatte, um in England meinen Vater zu heiraten. Sie erzählte nur selten von ihrer Mutter Nancy, meiner Großmutter, und praktisch nie von ihrem Bruder Ritchie. Und wenn ich alljährlich in den Ferien ins sonnige Florida reiste, um meine Großmutter zu besuchen – zunächst noch unter der Obhut des Kabinenpersonals, später dann allein –, war meine Mutter immer besonders gereizt und schlecht gelaunt. Ich fragte mich natürlich schon manchmal, woran das lag, und versuchte mir aus Fotos, Daten und bruchstückhaften Informationen die Gründe zusammenzureimen. Aber mit meinen Vermutungen habe ich die Ursachen nicht einmal annähernd erraten. Erst jetzt, im letzten Jahr, ist die Wahrheit ans Licht gekommen.

Und dabei musste ich erfahren, dass ich meine Familie überhaupt nicht richtig kannte.

Florida, Sommer 2006

Wenn es etwas gibt, was ich liebe und was mich vom Stress und den selbstauferlegten Zwängen des Lebens befreien kann, dann ist es das Fliegen. Man könnte durchaus sagen, dass ich es im Blut habe.

Meine Urgroßeltern, die Eltern von Grandma Nancy, waren Flugartisten, die mit einem der damals so beliebten Flugzirkusse durch die Lande zogen; ihr Vater war Kunstflieger, ihre Mutter eine Flugakrobatin. Nancy erzählte, dass sie selbst in einer Scheune irgendwo im Mittleren Westen das Licht der Welt erblickte und bereits im zarten Alter von vier Jahren als Hilfe bei einem Kunststück eingesetzt wurde: Sie musste sich hinter einem Stapel Flaschen verstecken und diesen genau in dem Moment umschmeißen, in dem ihr Vater darüber hinwegflog und vorgab, darauf zu schießen. Nancy hatte fliegen gelernt, noch ehe sie Auto fahren konnte; dann hatte sie für Grandpa Joe gearbeitet, der Streuflugzeuge geflogen hatte und sein Geschäft ausbauen wollte. Die beiden hatten geheiratet und gemeinsam Varna Aviation aufgebaut. Ach ja, und natürlich nicht zu vergessen: Beide waren sie im Zweiten Weltkrieg geflogen – Grandpa Joe für die USAAF1 und Grandma Nancy bei der Air Transport Auxiliary in England, die im Zubringerdienst Flugzeuge von Fabriken zu den Flugplätzen oder von einem Stützpunkt zum anderen brachte.

Ja, folglich kann man wohl sagen, dass ich das Fliegen im Blut habe, und nirgendwo fühle ich mich mehr zu Hause als in der Luft. Besonders in Florida. Hier habe ich mit siebzehn bei einem ausgedehnten Ferienaufenthalt das Fliegen gelernt – und als ich nach meinen Sommerferien wieder nach Hause zurückkehrte, hatte ich nicht nur alle theoretischen und praktischen Prüfungen bestanden, sondern sogar genügend Alleinflüge absolviert, um den Privatpilotenschein zu bekommen.

Meine Mutter war nicht gerade begeistert. »Die haben doch ganz genau gewusst, dass ich nicht wollte, dass du dich mit Flugzeugen abgibst!«, sagte sie missbilligend. Und: »Denk bloß nicht, dass du damit hier weitermachen kannst. Du musst dich auf die Uni konzentrieren, und außerdem ist es viel zu teuer.«

Da hatte sie leider Recht, ich hatte keine Ahnung, wie ich neunzig Pfund pro Stunde auftreiben sollte, um eine Cessna oder eine PA28 zu chartern, und sie würde mich auf keinen Fall dabei unterstützen.

»Schließlich ist dein Onkel John so ums Leben gekommen«, sagte sie, als ob ich das nicht längst wüsste. »Ich möchte auf keinen Fall, dass dir das Gleiche passiert.«

John, ihr älterer Bruder. Noch einer aus der Familie der fliegenden Costellos. Ich verkniff mir, sie darauf hinzuweisen, dass der ganze Rest der Familie das Fliegen bis ins hohe Alter überlebt hatte. Mir war klar, dass es keinen Sinn hatte, mit meiner Mutter zu diskutieren. Doch trotzdem fragte ich mich, warum ausgerechnet sie nicht von dem Fieber gepackt worden war, das alle anderen ergriffen hatte. Soviel ich weiß, war sie nie geflogen und hatte es auch nie gewollt. Es gibt eine Familienanekdote, dass Grandpa Joe einmal versucht hat, sie für eine Flugstunde ins Cockpit zu kriegen, doch sie schrie und kreischte, weigerte sich rundweg und lief schließlich fast fünf Kilometer zu Fuß nach Hause, um deutlich zu machen, wie ernst es ihr war. Sie wollte nicht fliegen lernen, und nichts und niemand konnte sie dazu bewegen.

Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Meine Mutter ist die störrischste Person, die mir je begegnet ist. Aber ich kann trotzdem nicht verstehen, warum sie nicht fliegen wollte. Nie werde ich das aufregende Gefühl vergessen, das ich hatte, als ich um das Flugzeug herumging, die Tragfläche in Brusthöhe und der Propeller nur ein paar Zentimeter von meiner Nase entfernt. Wie ich auf den Pilotensitz geklettert bin und der Startfreigabe vom Tower gelauscht habe. Wie das ganze Flugzeug dröhnte und zitterte, während der Motor hochlief, der plötzliche Schub nach vorn, als Grandpa Joe die Bremse löste und wir über die Startbahn sausten und immer schneller wurden, das Gefühl der Schwerelosigkeit, als die Räder vom Boden abhoben, das Gras sich unter uns entfernte und die Bäume zu einem lebendigen, schwankenden Mosaik wurden.

Und vor allem nicht den Augenblick, etwa zehn Tage später, als ich genügend halbwegs ordentliche Starts und Landungen hingelegt hatte – so genannte Platzrunden – und Grandpa Joe in seinem langsamen, gedehnten Akzent sagte: »Okay, willst du dann mal allein eine Runde drehen?« Und ich nickte, denn es hatte mir die Sprache verschlagen. Er benachrichtigte den Tower, stieg aus dem Flugzeug und ließ mich allein zurück. Mein erster Alleinflug. Mir klopfte das Herz wie wild und pumpte mir das Blut durch die Adern, doch gleichzeitig war ich seltsam gelassen, und meine Hände lagen ruhig und entschlossen auf dem Steuerhorn. Mir war klar, dass ich jetzt alles hundertprozentig richtig machen musste. Wenn ich erst einmal gestartet war, konnte mir keiner mehr helfen. Ich musste eine Platzrunde fliegen und wieder landen, ganz allein.

Und ich schaffte es. Keine perfekte Landung, aber auch nicht schlecht. Damit gewann meine Liebe zum Himmel eine neue Dimension. Ich war nun keine Jungfrau mehr, ich hatte die Initiationszeremonie hinter mich gebracht.

Grandpa Joe versuchte sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen, als ich wieder auf festen Boden zurückgekehrt war. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, sie reichten bis in die breiten Geheimratsecken, und als er die Tür aufriss und sich ins Flugzeug beugte, um mir durchs Haar zu fahren, waren seine Handflächen ebenfalls ganz feucht und klebrig.

»Gut gemacht, Sarah.« Sachlich, aber mit einem rauen, gerührten Unterton in der Stimme. »Du bist jetzt eine echte Costello.«

Ich wies ihn nicht darauf hin, dass ich Sarah Lintern hieß und deshalb keineswegs eine Costello war und auch keine Amerikanerin, sondern Engländerin. In diesem Moment glühte ich vor Stolz und überschwänglicher Freude und hatte das Gefühl, gleich ausbrechen zu müssen wie der Vesuv. Und Grandpa Joes Lob war nur das Tüpfelchen auf dem i.

So war es immer: Ich bewunderte ihn, ich liebte ihn beinahe abgöttisch. Ein Lob aus seinem Munde war mir Ansporn genug.

»Du fliegst wie ein Engel, Sarah.«

Ich kann ihn jetzt hören, während ich eine Kurve über die smaragdgrünen und saphirblauen Flächen der Everglades fliege und Kurs zurück auf Varna nehme.

»Du fliegst wie ein Engel, Sarah.«

Zu meiner Rechten, am Rande meines Gesichtsfelds, ist eine schemenhafte Gestalt; hochgewachsen wie Grandpa Joe. Ich kann ihn beinahe spüren, neben mir auf dem Copilotensitz, die großen Hände ruhen entspannt auf seinen Knien, den scharfen Blick hat er aufmerksam in die Ferne gerichtet. Ich habe heute noch den süßen, würzigen Duft seiner Bruyère-Pfeife in der Nase, die er ausklopft und in seine Tasche steckt, ehe wir abheben. Er ist jetzt seit fünf Jahren tot, er starb genauso ruhig und rücksichtsvoll, wie er gelebt hat – er schlief einfach in seinem Sessel ein und wachte nicht mehr auf –, doch wenn ich fliege, begleitet mich seine Stimme immer noch. Er ist immer noch da und lässt mich an seiner Weisheit teilhaben; manchmal schilt er mich, manchmal lobt er. Er sitzt auf meiner Schulter und flüstert mir ins Ohr: »Du solltest immer Achtung vor dem Himmel haben, Sarah. Wenn du ihn nicht ernst nimmst, Mädchen, dann zahlt er es dir heim.«

Er war bei mir, als ich unerwartet in ein Gewitter geriet, der Regen sturzbachartig über die Windschutzscheibe lief und die Luftturbulenzen mich hin und her warfen wie einen verletzten Schmetterling. Und auch damals, als sich irgendetwas überhitzte. Ich spürte die Wärme an meinen Füßen und konnte den verbrannten Geruch sogar noch über Grandpa Joes Tabak hinweg riechen. Ich musste einen Notruf absetzen und schnell zum Flugplatz zurückfliegen, wo mir ein Feuerwehrwagen die Landebahn entlang folgte. Und dabei war das in England passiert – das muss man sich mal vorstellen! Grandpa Joe ist wirklich nicht wählerisch. Wo ich auch fliege, er ist immer bei mir.

In diesem Moment genießt er gerade, genau wie ich, die Freiheit, die man spürt, wenn man in beinahe absoluter Ruhe über den saftig grünen Mangrovenwäldern dahinschwebt. Natürlich hört man das gleichmäßige Dröhnen des Motors und gelegentlich das Klappern der Türen und Fenster in ihren Rahmen oder das sanfte Rütteln des Windes, der über die Tragflächen gleitet. Doch das sind angenehme Geräusche, sie tragen ihr Teil zu dem Gefühl von Ruhe und Frieden bei, ähnlich wie das leise Schnarchen eines Menschen, der tief und fest schläft. Ich vermute, dass Grandpa ebenso den scharfen Blick in die Ferne richtet und nach allem Ausschau hält, was unseren Luftraum stören könnte. Genau wie ich würde er am liebsten nicht in die Wirklichkeit zurückkehren. Doch leider müssen wir das, Grandpa Joe. Wir können uns nicht die ganze Zeit hier oben herumdrücken.

Ich drossele die Leistung und senke die Nase der Cessna. Eine schnurgerade Straße glänzt silbrig in der Mittagshitze, und vor mir liegen die ersten der Ten Thousand Islands, verstreut wie die Perlen einer gerissenen Kette im glitzernden Blau des Golfs von Mexiko. Ich steuere auf die Brücke zu, diesen erstaunlich grellweißen Bogen, der Varna mit dem Festland verbindet. Ich sinke auf ein paar Tausend Fuß, während ich das ruhige Wasser in der kreisförmigen Bucht unter mir absuche und hoffe, ein Manatee zu entdecken. Aber heute habe ich kein Glück. Die Manatees halten sich versteckt.

Plötzlich spüre ich einen schmerzhaften Stich im Herzen. Als ich klein war, hat Grandpa Joe mir immer die Manatees gezeigt: dunkle Erhebungen, die aussehen wie rutschige Felsen. Doch diesmal gilt mein Schmerz nicht der Vergangenheit, die für immer verschwunden ist, sondern ich trauere um etwas, was vielleicht niemals sein wird.

Ich würde die Manatees so gern meinem eigenen Kind zeigen. Ich würde so gern hören, wie es vor Begeisterung die Luft einzieht, und sein staunendes kleines Gesicht sehen, wenn es die Augen weit aufreißt und den Mund zu einem atemlosen »O« formt. Sogar hier oben, in einer von Grandma Nancys Cessnas, kann ich der Sehnsucht nicht entfliehen, die von Tag zu Tag, von Woche zu Woche und Monat zu Monat wächst und sich zu einer regelrechten Besessenheit entwickelt.

Ich bin sechsunddreißig. Wenn ich nicht bald ein Kind bekomme, wird es irgendwann zu spät sein. Durch meine eigene Dummheit habe ich die fruchtbaren Jahre verstreichen lassen. Ich habe sie mit einem Mann vergeudet, der niemals mir gehören oder der Vater meiner Kinder sein wird – wie ich mir schließlich eingestehen musste. Und die Männer, die sich vielleicht als Vater geeignet hätten, sind inzwischen alle mit anderen Frauen verheiratet und haben sich hinter Hypotheken, Windelbergen und gemütlicher Häuslichkeit verschanzt. Vor zehn Jahren wimmelte es in meinem Umkreis nur so von verfügbaren Männern, auch wenn sie ebenso wenig bereit zu sein schienen, sich häuslich niederzulassen, wie ich es damals war. Inzwischen gibt es nur noch Fergus, und ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob ich den Rest meines Lebens mit ihm verbringen will, obwohl er mich ständig zu überzeugen versucht, dass genau das mein innigster Wunsch sei. Er ist ein guter Freund, aber mehr nicht – und ursprünglich war er noch nicht mal mein Freund, sondern der meiner Schwester. Ihr Verlobter sogar. Selbst wenn ich in Fergus verliebt wäre, was ich nicht bin, müsste ich mir sagen, dass ich im Laufe meines Lebens bereits weiß Gott genug abgelegte Sachen von Belinda geerbt habe.

Doch was habe ich für eine Wahl? Möglichkeit Nummer eins: Ich heirate Fergus, der mich bestimmt gut behandeln wird – sicher wäre er ein großzügiger, verlässlicher Ehemann und großartiger Vater. Möglichkeit Nummer zwei: Ich schlage mich als alleinerziehende Mutter durch, aber dann käme Fergus als Vater nicht in Frage. Es wäre nicht fair, ihn so zu benutzen. Wenn ich es als alleinerziehende Mutter versuchen wollte, müsste ich jemanden finden, der mir nicht so nahesteht, oder mir sogar einen »anonymen Spender« suchen. Keine dieser beiden Möglichkeiten gefällt mir wirklich. Jedes Mal, wenn ich über eine davon ernsthaft nachdenke, schreckt ein Teil von mir innerlich zurück, so wie man sich vor einer Nacktschnecke ekelt, die durch die Türritze hereingekrochen ist und sich am Katzenfutter gemästet hat.

Beide Möglichkeiten sind allerdings immer noch besser als die dritte und letzte Alternative, die da hieße, mich damit abzufinden, dass ich niemals Mutter werde. Dass ich niemals erfahren werde, wie es ist, ein Kind auf die Welt zu bringen, niemals spüren werde, wie sich ein kleiner Körper an meine Brust schmiegt und eine Woge bedingungsloser Liebe mich überrollt. Niemals würde ich spüren, wie sich winzige Finger um meine Finger schlingen, oder mein Gesicht in einen weichen Haarflaum versenken, der nach Frühling riecht, und wissen, dass dieses kleine eigenständige Leben einmal ein Teil von mir war und immer ein Teil von mir sein wird. Tatsächlich wünsche ich mir schlaflose Nächte und klebrige Essensreste auf dem Fußboden und Berge von Socken, T-Shirts und Unterhosen, die ich waschen muss. Und ich möchte einen Zwerg in den Schlaf singen und Fußabdrücke aus Schlamm auf der Fensterbank hinterlassen, um meinem Kind weiszumachen, dass der Weihnachtsmann auf diesem Weg hereingekommen ist. Ich möchte frühmorgens geweckt werden und dabei zuschauen, wie der Weihnachtsstrumpf auf meinem Bett ausgeleert wird. Und ich möchte das ungläubige Staunen im Gesicht meines Kindes sehen, wenn es zum ersten Mal eine Seifenblase, ein frisch geschlüpftes Küken oder eben ein Manatee erblickt.

Aber nun bleibt mir keine Zeit mehr für trübe Gedanken. Ich kann bereits den Flugplatz von Varna sehen, eine Ansammlung weiß gestrichener Bürogebäude und Hallen am Rand einer großen Grünfläche. Ich gehe auf eintausend Fuß runter, greife nach dem Mikro und bitte den Tower um Landeerlaubnis. Ich erkenne Gus Hadfields Stimme wieder. Er sitzt schon im Tower von Varna, so lange ich denken kann. Gus begrüßt mich wie üblich unter Missachtung der korrekten Fachsprache.

»Bist du’s, Sarah? Hab ich mir doch gedacht. Okay, dann komm mal runter, Herzchen.«

Auf dem grasbewachsenen Vorfeld vor den Bürogebäuden parkt noch eine weitere Cessna in den blau-weißen Firmenfarben von Varna Aviation. Während ich darauf zurolle, taucht Ritchie, der Bruder meiner Mutter, hinter der Nase der Cessna auf. Ein Mädchen folgt ihm wie ein eifriges Hündchen, eine Schülerin auf dem Wege zu ihrer ersten Flugstunde oder vielleicht zu einem Schnupperflug, denn Ritchie macht mit ihr einen Außencheck und prüft die Flugtauglichkeit der Cessna. Sie ist vielleicht achtzehn oder neunzehn. So jung noch! Sie hat jedenfalls noch viel Zeit zum Kinderkriegen.

Ritchie, in leichter schwarzer Hose und weißem Hemd mit Kapitänsstreifen auf den Schulterklappen, hebt lässig eine Hand, um mich zu grüßen. Die meisten Piloten hier kleiden sich lieber leger in Jeans oder Shorts und T-Shirt, doch Grandma Nancy nimmt es mit dem Protokoll genau. Ein Pilot solle wie ein Pilot aussehen und nicht wie ein Gammler, der gerade vom Strand kommt, sagt sie. Das vermittle den Leuten Vertrauen. Obwohl Ritchie inzwischen angeblich die Firma führt, ist ihm schon lange klar, dass Diskussionen mit seiner Mutter nur Zeit- und Energieverschwendung sind. Bei einer Krawatte zieht er allerdings die Grenze.

Ich winke zurück, doch Ritchie schaut schon gar nicht mehr herüber. Er versetzt dem Propeller einen Schwung und sagt etwas zu dem Mädchen, das ihn aufmerksam und offensichtlich bewundernd anstarrt. Ich muss grinsen. Komisch, dass die jungen Flugschülerinnen immer so für Ritchie schwärmen, obwohl er ihr Vater, ja fast ihr Großvater sein könnte. Doch man muss schon sagen, dass er eine ziemlich schnittige Figur abgibt; er wirkt immer noch jugendlich, obwohl er seinen fünfzigsten Geburtstag schon hinter sich hat. Er hat die verwegene Ausstrahlung eines Mannes, der auf drei gescheiterte Ehen zurückblicken kann und nun ein überzeugter Single ist, und nutzt das glamouröse Flair, das sein Beruf mit sich bringt, voll aus. Ich kann nur hoffen, dass er nicht auch die Mädchen ausnutzt, denen er Flugunterricht gibt, doch wenn ich seine bisherigen Erfolge bei Frauen betrachte, möchte ich darauf lieber nicht wetten.

Ehefrau Nummer drei, Mary-Lyn, war nämlich eine ehemalige Flugschülerin, obwohl sie ihren Schein nie bekam und, soviel ich weiß, noch nicht mal einen Alleinflug machte. Sie hatte eigentlich nur Interesse am Fliegen, wenn Ritchie auf dem Sitz neben ihr saß und ihr vermutlich einredete, wie toll sie sich doch anstellte, während er alle schwierigen Manöver selbst flog. Als sie erst mal einen Verlobungsring am Finger hatte, einen Klunker, der ihn ein Jahresgehalt gekostet haben musste, tröpfelten die Stunden nur noch dahin und versiegten schließlich ganz, nachdem er sie zur Little Chapel in Las Vegas geflogen und zur dritten Mrs. Richard Costello gemacht hatte.

Doch zumindest dieser Teil der Geschichte wird sich wohl kaum wiederholen. Wie vernarrt die neue Schülerin auch sein und wie geschmeichelt sich Ritchie durch ihre Bewunderung fühlen mag, mit drei Unterhaltszahlungen an der Backe und einer Firma, die zurzeit nicht besonders prosperiert, wenn man Grandma Nancy glauben darf, wird Ritchie keinesfalls in der Lage sein, sich Diamanten, Weißgold und romantische Hochzeitsreisen nach Mexiko zu leisten.

Ich parke das Flugzeug, schließe ab und gehe auf das gemauerte Gebäude zu, in dem sich die Büros von Varna Aviation befinden.

Heutzutage strahlt das Foyer mit seinem blauen Teppichboden, der gedämpften Beleuchtung, einem Getränkeautomaten und einer Reihe Computern Wohlstand aus. Als ich klein war, bestand die Geschäftsstelle von Varna Aviation lediglich aus einer baufälligen Hütte am Rande des Flugplatzes. Doch vor etwa zehn Jahren entschloss sich die Stadt, in brandneue Gebäude und Einrichtungen zu investieren, und Varna Aviation profitierte davon. Der eindrucksvolle Rahmen mag zwar wirkungsvoll für Geschäftsabschlüsse sein, doch nach allem, was Grandma Nancy gesagt hat, tragen die gestiegenen Mietkosten nicht unwesentlich zu den Finanzproblemen bei, mit denen Ritchie in der Firma zu kämpfen hat.

Ein junger Mechaniker in einem Overall geht mit einem Stapel Papiere in der Hand an mir vorbei. Wir tauschen ein paar Belanglosigkeiten aus, bevor ich das Foyer betrete und zu dem Schreibtisch in Kiefernoptik gehe, hinter dem Monica Rivers am Computer arbeitet.

Monica ist mollig, hübsch und adrett zurechtgemacht. Sie trägt ihr blondes Haar immer noch so voluminös wie in den Achtzigern, und sie verfügt über eines dieser erstaunlich faltenfreien Gesichter, wie es füllige Frauen oft haben. Die Fingernägel hat sie in einem grellen Pinkton lackiert. Monica ist eine Institution bei Varna Aviation; ich habe meine Zweifel, ob die Firma ohne sie überhaupt funktionieren würde. Sie hat hier auf Teilzeitbasis angefangen, als Grandpa Joe noch die Firma leitete. Sie machte die Buchführung und Terminplanung und kümmerte sich um den Empfang. Ihr Mann, ein Flugzeugmechaniker, war plötzlich und unerwartet gestorben, so dass sie mit drei kleinen Söhnen und einer mageren Rente dasaß, und Grandpa Joe hatte Mitleid mit ihr.

Doch tatsächlich hat er von Monicas Einstellung nur profitiert. Binnen kürzester Zeit wurde Monica unentbehrlich, und seit ihre erwachsenen Söhne zu Hause ausgezogen sind, bildet Varna Aviation ihren Lebensinhalt. Jeden Morgen um neun sitzt sie an ihrem Schreibtisch, und dort sitzt sie auch oft noch abends um neun und verabschiedet den letzten Flugschüler. Ich habe mich schon gefragt, ob sie vielleicht eine Schwäche für Ritchie hat und deshalb der Firma all die Jahre treu geblieben ist. Ich hoffe es nicht, denn was Frauen angeht, ist Ritchie wirklich eine Katastrophe, und ich sage mir, dass Monica dafür viel zu vernünftig ist. Doch wann hätte die Vernunft schon mal über die Launen des Herzens gesiegt?

Als Monica mich erblickt, schiebt sie die Maus weg, schaltet den Computer in den Ruhemodus und lehnt sich in ihren bequemen Drehstuhl zurück.

»Wieder zurück, Sarah? Hattest du einen guten Flug?«

»Ja, ganz toll.«

»Magst du einen Kaffee?«

»Oh ja, gern. Ich hol ihn mir, wenn ich den Papierkram erledigt habe.«

»Nein, lass mal. Ein bisschen Bewegung tut mir gut.« Monica erhebt sich schwerfällig von ihrem Stuhl und macht sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten, während ich mich über den Tisch beuge und das Bordbuch ausfülle.

Ehe ich fertig bin, ist sie schon wieder zurück, stellt einen dampfenden Pappbecher neben mich und trägt den anderen zu ihrem Platz auf der anderen Seite des Tisches.

»Und, wie lange dauert’s noch, bis du wieder nach Hause fliegst?«, erkundigt sie sich.

»Nur noch ein paar Tage.« Während ich das sage, wird mir ein wenig schwer ums Herz. Die drei Wochen hier sind wie im Fluge vergangen. So ist das immer: Wenn ich ankomme, scheinen noch unzählige Tage vor mir zu liegen, dann sind sie plötzlich verstrichen, und ich kann an einer Hand abzählen, wie viele Mahlzeiten mir noch mit Grandma Nancy bleiben und wie oft ich noch in der Cessna über die Everglades oder hinunter zu den Keys fliegen kann, ehe ich meine Koffer packen muss.

Doch eigentlich sollten drei Wochen lange genug sein. Man kann sein normales Leben nicht bis in alle Ewigkeit warten lassen, wie sehr man es sich auch wünschen mag.

»Du solltest mal darüber nachdenken, für immer hierherzuziehen«, meint Monica, als hätte sie in meinen Gedanken gelesen, wie ungern ich heimkehren möchte. »Komm doch her und hilf Ritchie mit der Firma. Fliegen ist doch bestimmt allemal besser als … als das, was du da zu Hause in deinem Büro machst.«

»Bilanzen. Ich bin Wirtschaftsprüferin.«

»Ziemlich stressiger Job, was?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Und das Wetter hier bei uns ist bestimmt auch viel besser als in England.«

»Ob du’s glaubst oder nicht: Mir gefallen die Jahreszeiten in England. Und ich kann auch nicht einfach so eine gute Stelle hinschmeißen, mein Haus verkaufen und hierherziehen. Außerdem glaube ich kaum, dass sich die Firma ein weiteres Gehalt leisten könnte. Und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mich hier überhaupt die ganze Zeit haben wollten.«

»Deine Großmutter bestimmt«, sagt Monica voller Überzeugung. »Sie hält große Stücke auf dich. Und meiner Meinung nach ist sie einsam. Ich glaube, sie ist nie richtig über den Tod deines Großvaters hinweggekommen. Deine Mutter lebt in England, die sieht sie auch nicht. Und … Dann auch noch der andere Verlust, den sie erlitten hat …« Sie bricht ihren Satz ab, ein wenig verlegen, so als hätte sie eine unsichtbare Grenze überquert und verbotenes Gebiet betreten. »John«, schließt sie ohne weitere Erklärung, zieht eine Schreibtischschublade auf und holt eine Schachtel mit Krispy Kreme Doughnuts heraus. »Magst du einen?«

»Nein, danke.« Ich schüttele den Kopf.

»Aber ich gönn mir einen.« Monica beißt ein Stück ab und besprenkelt sich dabei das Kinn mit Puderzucker. »Was wäre mein Tag ohne Krispy Kreme Doughnuts!«

Kein Wunder, dass sie so zugenommen hat, denke ich mir. Laut sage ich: »Sie hat doch Ritchie.«

Monica schnaubt verächtlich, und eine weitere Puderzuckerwolke staubt empor und setzt sich wie Pulverschnee auf die Computertastatur. »Wenn er mal zu Hause ist. Was nicht besonders oft vorkommt, wenn du mich fragst. Und wenn er dann da ist …«

»Ich weiß«, seufze ich. »Sie sind nicht wirklich auf einer Wellenlänge.«

»Das kannst du wohl laut sagen.« Das letzte Stückchen Doughnut verschwindet in Monicas Mund, und sie leckt sich die Finger und die glänzenden Lippen. »Zwei nette Menschen – und trotzdem haben sie ständig Auseinandersetzungen. Aber wenn du hier wärst …«

Ich muss über ihre Hartnäckigkeit lachen. »Ich werde nicht hier sein. In den Ferien ja. Aber immer hier leben – nein.«

»Man kann nie wissen – vielleicht begegnest du ja noch dem Mann deiner Träume. Ich wette, der würde dich dann schon überreden, hierzubleiben.«

Ich lache wieder, doch es klingt hohl. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat Monica einen wunden Punkt getroffen und Gefühle aufgewühlt, die ich nicht gern eingestehe – nicht einmal mir selbst. Ich bin eine unabhängige Karrierefrau. Ich träume nicht von irgendwelchen Männern. Nicht mehr. Die Sehnsucht, die mich überfällt, wenn ich ein Paar sehe, das ein kleines Kind an den klebrigen Händen festhält und hin- und herschwingt, hat nichts mit romantischen Illusionen zu tun.

Einmal habe ich Mark und seine Frau Claire gesehen, als sie genau das taten. Sie liefen neben der Straße entlang, den zweijährigen Freddy in der Mitte, zählten die Pflastersteine und schwangen ihn immer wieder hoch, sein Gewicht gleichmäßig zwischen beiden Armen verteilt. Sie lächelten zu ihm herab und lachten, während er vor Vergnügen quiekte. Freddy trug eine leuchtend rote Jacke und rote Gummistiefel, und sein Gesicht glänzte rosig unter der Kapuze hervor. Die sechsjährige Molly hielt sich an der anderen Hand ihres Vaters fest, blickte zu ihm empor und sagte etwas. Mich sahen sie natürlich nicht. Für sie war ich bloß ein vorbeifahrendes Auto. Wenn Mark in meine Richtung geblickt hätte, hätte er mein Auto erkannt, doch er schaute nicht herüber. Und für Claire war ich eine Fremde. Sie hatte keine Ahnung, wie viel ich über sie wusste.

In diesem Augenblick wurde mir klar, dass Mark sie und die Kinder niemals verlassen würde, obwohl er es mir oft versprochen hatte, und mir wurde auch klar, dass ich das gar nicht wollen würde. Ich konnte mir mein Glück nicht auf Kosten dieser Kinder stehlen. Wie hätte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren sollen? Das war’s, sagte ich mir, aus und vorbei. So einfach war es dann natürlich nicht. Sich vorzunehmen, eine Affäre zu beenden, und es dann auch wirklich zu tun, sind zwei verschiedene Dinge, wenn man verliebt ist. Doch es war der Anfang vom Ende.

Ich will mich nicht mehr verlieben. Ich will nicht die Kontrolle über mein Leben und meine Gefühle verlieren. Mein Verstand jedenfalls will das nicht. Was mein Herz angeht, bin ich mir da nicht so sicher. Wenn es mir wirklich ernst damit wäre, gefühlsmäßig unbeteiligt zu bleiben, warum treffe ich dann keine Abmachung mit Fergus? Und bekomme ein Kind von ihm, das wir dann zwischen uns über den Bürgersteig schwingen können?

»Monica«, sage ich und trinke meinen Kaffee aus. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden irgendein toller Typ auftaucht, der mich vom Hocker reißt. Und selbst wenn – ich muss trotzdem nach England zurück.«

Monica betrachtet mich mit wissendem Blick. Ich glaube, sie weiß genau, wie verletzlich ich trotz meiner Flapsigkeit bin. Dass ich nur nach außen hin den Eindruck erwecke, ich sei mit meinem anspruchsvollen Beruf und all den materiellen Dingen, die ich mir von meinem guten Gehalt leisten kann, vollauf zufrieden, tatsächlich aber manchmal eine schmerzende Leere in mir spüre. Dass ich mein Leben keineswegs so gut unter Kontrolle habe, wie ich es gern vorgebe. Sie kennt mich schon zu lange.

»Du wirst schon sehen – eines Tages passiert es«, sagt sie. »Und zwar dann, wenn du am wenigsten damit rechnest.«

Ich lächle sie schief an. »Darauf möchte ich lieber nicht wetten.«

»Ich auch nicht.«

Ich betrachte sie, diese hübsch zurechtgemachte Frau, die nun schon seit beinahe zwanzig Jahren verwitwet ist und die Leerstellen in ihrem Leben mit der Arbeit für Varna Aviation und mit Krispy Kreme Doughnuts füllt, und ich frage mich, ob sie insgeheim ebenfalls auf etwas wartet – oder auf jemanden. Falls ja, hat sie schon furchtbar lange warten müssen.

Varna besteht aus einem Gitternetz von Straßen, rechtwinklig wie das Muster eines karierten Papiers. Die Straßen werden von Bäumen und einzelnen Shopping Malls und Cafés gesäumt. Die Häuser dagegen sehen alle unterschiedlich aus, als wollten sie gegen diese Einförmigkeit protestieren. Manche imitieren den Kolonialstil, andere sind weitläufige Bungalows und wieder andere mehrstöckige Gebäude mit Wohnungen. Fast alle jedoch verfügen über einen Pool, der sich in einem schattigen Garten versteckt.

Grandma Nancys Haus befindet sich an einer der gleichförmigen Avenues, die auf das Stadtzentrum zuführen – ein weißes, stuckverziertes Gebäude hinter einem ordentlich gepflegten Rasen, hübsch und geräumig, doch ohne jeden Protz. Varna Aviation hat nie so viel Geld abgeworfen, dass Grandpa Joe es sich leisten konnte, in eines der ranchähnlichen Anwesen zu ziehen, die sich außerhalb der Stadt hinter riesigen, mit Sträuchern und Büschen bewachsenen Grundstücken verbergen und von den Touristen in ihren Rundfahrtbussen neugierig beäugt werden. Ich glaube auch nicht, dass sie das gewollt hätten. Ich fahre mit meinem Mietwagen in die Auffahrt und gehe ins Haus.

»Grandma – ich bin wieder da!«

»Ich bin hier!« Grandma Nancys Stimme dringt aus dem Wohnzimmer. Sie klingt heiter und energisch, so dass man kaum glauben kann, dass die Frau, der diese Stimme gehört, schon weit in den Achtzigern ist.

Grandma Nancy ist überhaupt ziemlich erstaunlich für ihr Alter. Sie ist immer noch rüstig, obwohl sie ein bisschen mit Arthritis in Händen und Knien zu kämpfen hat. Immer noch ist sie entschieden auf ihre Selbständigkeit bedacht: Sie hat darauf bestanden zu fliegen, bis sie vierundsiebzig Jahre alt war, und sich erst aus dem Pilotensitz drängen lassen, als sie eine ärztliche Tauglichkeitsuntersuchung nicht bestand, weil ihr Gehör nicht mehr so gut war. Und sie sieht immer noch gut aus – ihre hohen Wangenknochen machen mühelos die unvermeidlichen Falten und Fältchen wett. Ihr schneeweißes, gewelltes Haar erscheint mir so dicht wie eh und je, obwohl sie schwört, dass es ihr büschelweise ausfalle, und sie ist immer noch beneidenswert gut frisiert. Bei meiner Ankunft vor zweieinhalb Wochen hatte ich jedoch den Eindruck, dass sie ein wenig gebrechlicher ist als im letzten Jahr. Ich hätte nicht genau sagen können, wieso, doch es war nicht zu übersehen, und plötzlich hatte ich ein flaues Gefühl im Bauch. Grandma Nancy alterte allmählich. Ja – sie ist alt, nach gängigen Maßstäben jedenfalls. Und das finde ich schwer zu ertragen.

Jetzt sitzt sie am Tisch. Vor ihr aufgeschlagen liegt ein Buch von der Größe eines Tischkalenders, neben ihrem Ellbogen befinden sich ein Fotoalbum und ein eckiges Lederkästchen. Sie klappt das Buch zu und lächelt mich an mit diesem wunderbaren Lächeln, das ihre Wangen hebt und ihre Augen so saphirblau glitzern lässt wie das Meer zur Mittagszeit.

»Hattest du einen schönen Flug?«

»Ja, ganz toll«, erwidere ich. »Du hättest mich begleiten sollen.«

Sie legt das Fotoalbum und das lederne Kästchen auf das Buch. Jetzt sehe ich, dass das Buch ein vergilbtes Etikett trägt, das sich an einer Ecke emporwellt.

»Vielleicht komme ich ja noch mal mit, bevor du nach Hause fährst«, sagt sie.

»Hast du denn wirklich Vertrauen in meine Flugkünste?«

»Ich bin schon mit weitaus schlechteren Piloten geflogen.« Sie begegnet meinem Blick mit einer Spur Schalk in den Augen. »Würdest du mich denn auch mal steuern lassen?«

Ich tue so, als lasse ich mir ihren Vorschlag durch den Kopf gehen. »Ich denke schon. Solange du mir versprichst, einfach geradeaus zu fliegen – ohne eines deiner Flugkunststücke!«

»Ich glaube, dafür bin ich inzwischen ein bisschen zu alt«, sagt Nancy trocken.

»Das hoffe ich. Und du musst mir versprechen, Ritchie nichts davon zu erzählen. Ich glaube kaum, dass er das gutheißen würde.«

Ein weiteres verschmitztes Zwinkern. »Als ob ich das tun würde. Okay, abgemacht!« Dann wird ihre Miene wieder weich. »Ich bin ja so froh, dass du mir nachschlägst, Sarah. Deine Mutter hatte nie auch nur das geringste Interesse am Fliegen. Du weißt ja, dass sie immer einen weiten Bogen darum gemacht hat. Ich schiebe es immer darauf, dass sie als kleines Kind mal einen furchtbaren Schock erlitten hat. Sie war mit uns am Flugplatz, als eine Cessna beim Start abstürzte – irgend so ein junger Kerl, der angeben wollte, wenn ich mich recht erinnere. Hat die Maschine viel zu stark hochgezogen, schmierte ab und schlug auf wie ein Pfannkuchen. Ellen war völlig hysterisch. Wir dachten, sie wäre viel zu klein, um zu verstehen, was da passiert war, und hätten auch nicht damit gerechnet, dass sie sich später noch daran erinnern würde. Doch leider hat sie das wohl für den Rest ihres Lebens vom Fliegen abgehalten.«

»Sie kann sich nicht daran erinnern«, sage ich. Ich habe die Geschichte schon mal gehört und meine Mutter danach gefragt. »Ich glaube, wenn sie sich erinnern würde, hätte es gar nicht solche nachhaltigen Auswirkungen auf sie. Sie wäre in der Lage, das Ereignis als Erwachsene zu rationalisieren, statt es immer noch wie ein Kind in sich zu spüren, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Vielleicht.« Nancy hatte noch nie viel für psychologische Betrachtungen übrig. »Ich bin jedenfalls froh, dass sie ihre Angst nicht auf dich übertragen hat. Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, dass meine Enkelin immer noch in den Wolken schweben wird, wenn ich mir schon längst das Gras von unten anschaue.«

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. »Sag doch nicht so was, Grandma. Du wirst uns noch alle überleben!«

»Das will ich doch nicht hoffen!« Ihr Gesicht wird ernst. »Sarah, ich möchte mit dir über etwas reden.«

»Aber nicht über deinen Tod.«

Grandma Nancy lächelt schwach. »Nein. Jedenfalls nicht streng genommen. Doch ich werde immer älter, und dann fallen einem die Dinge ein, die man gerne noch erledigen möchte, bevor es zu spät ist. Ich möchte dich bitten, etwas für mich zu tun, wenn du nach England zurückkehrst. Ich möchte, dass du jemanden für mich ausfindig machst.« Ihre Finger, die von der Arthritis ein bisschen geschwollen sind, wandern zu dem Stapel mit dem Buch und den anderen Gegenständen und halten alles zusammen, so gut es ihre steifen Gelenke erlauben. »Lass uns etwas trinken.«

»Ich habe gerade am Flugplatz einen Kaffee mit Monica getrunken«, erwidere ich.

»Ich rede auch nicht von Kaffee. Ich werde mir einen Sherry genehmigen. Die Sonne steht über den Rahen, jetzt darf man sich einen genehmigen, wie man in England zu sagen pflegte. Warum trinkst du nicht auch einen mit?«

»Ich hätte lieber ein Glas Wein.«

»Bedien dich, du weißt ja, wo er steht.«

Ich gieße ihr einen Sherry ein, hole eine Flasche kalifornischen Rosé aus dem Kühlschrank in der Küche und gieße mir ein Glas über einen Berg Eiswürfel ein. Der Eiswürfelbereiter quillt praktisch schon wieder über und schiebt knirschend Nachschub in den Spender.

»Komm, wir nehmen die Getränke mit nach draußen.« Grandma Nancy steht hinter mir in der Küchentür, eine winzige Gestalt in ihren gerade geschnittenen Leinenhosen und der bedruckten Seidenbluse. Das blau gebundene Buch hat sie unter einen Arm geklemmt, das Kästchen und das Fotoalbum hält sie in der Hand. »Könntest du vielleicht meinen Drink tragen? Ich möchte nicht, dass er mir hinfällt. Das wäre doch eine Verschwendung von gutem Sherry, und mein bestes Kristall wäre auch hin!«

Ich gehe ins Wohnzimmer, hole Nancys Sherry und folge ihr ins Freie. Ein Tisch und Stühle stehen im Schatten eines großen, geblümten Sonnenschirms; jenseits der Holzterrasse schimmert der obligatorische Pool azurblau im hellen Sonnenlicht. Wir setzen uns.

»Also, was kann ich für dich tun?«, erkundige ich mich und trinke einen Schluck Wein.

Grandma Nancy schweigt einen Moment lang, als sei sie sich nicht ganz sicher, wie sie anfangen soll. Dann sagt sie: »Du weißt doch, dass ich während des Krieges in England war.«

»Als du für die Air Transport Auxiliary geflogen bist. Ja, natürlich.«

Aber viel mehr als das weiß ich auch nicht. Dass Jacqueline Cochran, eine der berühmtesten Pilotinnen ihrer Zeit, mit Nancy Kontakt aufgenommen hat und ihr angeboten hat, bei der kleinen, ausgesuchten Gruppe von amerikanischen Pilotinnen mitzumachen und ihr nach England zu folgen. Dass sie dort etwas länger als ein Jahr verbrachte und im Zubringerdienst Kampfflugzeuge für die RAF flog und dann wieder nach Hause zurückkehrte. Sie hatte von den Flugzeugen erzählt und davon, wie viel Spaß es ihr gemacht hatte, sie zu fliegen – doch an dieser Stelle endeten ihre Erinnerungen immer. Nie erzählte sie von den Menschen, die sie dort kennengelernt hatte, oder von den Freundschaften, die sie geschlossen haben muss, und ich hatte mich schon oft gefragt, ob sie vielleicht Dinge für sich behielt, die zu schmerzlich für sie waren, um sie anderen mitzuteilen. Grandma Nancy kann sehr verschlossen sein. So auch, wenn das Thema auf John kommt, ihren ältesten Sohn. Sie hat ihn vergöttert und spricht dennoch kaum je über ihn. Sie hat die Erinnerung an ihn in ihrem Herzen begraben.

Jetzt warte ich, während die Neugier in mir brennt, sage aber nichts aus lauter Angst, dass sich das Fenster gleich wieder schließen und die Jalousien heruntergelassen werden könnten.

»Damals haben wir ein paar sehr enge Freundschaften geschlossen«, sagt Grandma Nancy endlich. »Komisch eigentlich – diese Menschen haben einem die ganze Welt bedeutet, und dann … sind sie plötzlich nicht mehr da. Die Mädels haben sich noch regelmäßig wiedergetroffen – das letzte Treffen, von dem ich gehört habe, war in Boston, und Anfang der Achtziger wollten sie auch, dass ich zur Eröffnung des ATA-Museums nach England komme, doch ich bin nicht hingefahren. Zu weit. Zu viele Erinnerungen. Und ich hatte viel zu viel zu tun. Aber jetzt … Es gibt da jemanden, mit dem ich gern wieder Kontakt aufnehmen würde. Ich möchte ihm etwas zurückgeben – vorausgesetzt, er lebt noch. Und falls nicht, sollte seine Familie es bekommen.«

Ihm. Ich fahre mit dem Finger über den Rand aus Kondenswasser, der sich auf der Tischplatte unter meinem Glas gebildet hat. Das kommt doch ziemlich überraschend für mich. Bisher war ich immer davon ausgegangen, dass Grandma Nancy und Grandpa Joe schon seit Ewigkeiten zusammen waren. Ich weiß genau, dass sie schon vor dem Krieg für ihn gearbeitet hat, und nach dem Krieg waren sie beinahe sechzig Jahre verheiratet.

»Wer ist es denn, Grandma?«

Plötzlich hat sie einen ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck; den Blick in die Ferne gerichtet, lächelt sie vor sich hin. Doch es ist ein wehmütiges Lächeln.

Sie zieht das Fotoalbum zu sich heran, holt ein Foto heraus und gibt es mir. Es ist ein bisschen grobkörnig und verschwommen, ein wenig ausgeblichen. Doch ich kann darauf unschwer einen jungen, gutaussehenden Mann erkennen. Er ist hochgewachsen und trägt eine Fliegerjacke aus Leder.

»Das ist er. Das ist Mac.«

Ich betrachte das Foto, und alle möglichen Fragen sprudeln empor wie Kohlensäure in einem Glas Sekt. Doch obwohl ich ziemlich überrascht und neugierig bin, kommt mir nicht einen Augenblick lang in den Sinn, dass ich nicht nur das Foto eines jungen Piloten betrachte, der mal irgendeine Rolle in Grandma Nancys Vergangenheit gespielt hat, sondern dass ich gleichzeitig in das Gesicht eines Mannes blicke, der das Leben unserer ganzen Familie prägte und veränderte. Und der auch heute noch einen Schatten auf uns wirft und uns beeinflusst.