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1. eBook Auflage 2020

Inhalt

Zu dieser Ausgabe

 

I: Die Theosophie und die Theosophische Gesellschaft

Die Bedeutung des Namens

Die Leitlinien der Theosophischen Gesellschaft

Die Weisheitsreligion war zu allen Zeiten esoterisch

Theosophie ist nicht Buddhismus

 

II: Exoterische und esoterische Theosophie

Was die moderne Theosophische Gesellschaft nicht ist

Theosophen und Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft

Der Unterschied zwischen Theosophie und Esoterik

Der Unterschied zwischen Theosophie und Spiritismus

Warum wird die Theosophie anerkannt?

 

III: Das Arbeitssystem der Theosophischen Gesellschaft

Die Ziele der Gesellschaft

Der gemeinsame Ursprung der Menschheit

Die anderen Ziele der Gesellschaft

Von der Heiligkeit eines Gelübdes

 

IV: Die Beziehung der Theosophischen Gesellschaft zur Theosophie

Selbstvervollkommnung

Das Abstrakte und das Konkrete

 

V: Die Grundlehren der Theosophie

Von Gott und vom Gebet

Ist es notwendig zu beten?

Beten tötet das Selbstvertrauen

Vom Ursprung der menschlichen Seele

Die buddhistischen Lehren über die Seele

 

VI: Die theosophischen Lehren über die Natur und den Menschen

Evolution und Illusion

Über den siebenfältigen Aufbau unseres Planeten

Die siebenfältige Natur des Menschen

Der Unterschied zwischen Seele und Geist

Die Lehren der Griechen

 

VII: Über die verschiedenen Zustände nach dem Tode

Der physische und der geistige Mensch

Über ewigen Lohn, ewige Strafe und über Nirvana

Die verschiedenen »Prinzipien« im Menschen

 

VIII: Von der Reinkarnation oder Wiedergeburt

Was lehrt die Theosophie über das Gedächtnis?

Warum wir uns nicht an vergangene Leben erinnern

Individualität und Persönlichkeit

Belohnung und Bestrafung des Egos

 

IX: Kamaloka und Devachan

Das Schicksal der niederen Prinzipien

Warum Theosophen nicht an die Rückkehr reiner »Geister« glauben

Einige Worte über die Skandhas

Über das Bewusstsein nach dem Tode und nach der Geburt

Was versteht man wirklich unter Vernichtung?

Bestimmte Worte für bestimmte Dinge

 

X: Die Natur des Denkprinzips

Das Mysterium des Egos

Die komplexe Natur von Manas

Diese Wahrheit wird im Johannes-Evangelium gelehrt

 

XI: Über die Geheimnisse der Reinkarnation

Periodische Wiedergeburten

Was ist Karma?

Wer sind jene, die wissen?

Der Unterschied zwischen Glauben und Wissen. Blinder und begründeter Glaube

Hat Gott das Recht zu vergeben?

 

XII: Was ist praktische Theosophie?

Pflicht

Das Verhältnis der Theosophischen Gesellschaft zu politischen Reformen

Über Selbstaufopferung

Über die Nächstenliebe

Theosophie für die Massen

Wie die Mitglieder der Gesellschaft helfen können

Was ein Theosoph nicht tun sollte

 

XIII: Einige Missverständnisse über die Theosophische Gesellschaft

Theosophie und Askese

Theosophie und Ehe

Theosophie und Erziehung

Warum bestehen so viele Vorurteile gegen die Theosophische Gesellschaft?

Ist die Theosophische Gesellschaft ein auf Gewinn ausgerichtetes Unternehmen?

Die Mitarbeiter der Gesellschaft

 

XIV: Die »Theosophischen Mahatmas«

Sind sie »Geister des Lichtes« oder »Kobolde«?

Der Missbrauch heiliger Namen und Bezeichnungen

 

Schlusswort

Die Zukunft der Theosophischen Gesellschaft

 

Anmerkungen

Zu dieser Ausgabe

Wassily Kandinsky, der Anfang des 20. Jahrhunderts die gegenstandslose Malerei ins Leben rief, erwähnt in seinem grundlegenden Werk Über das Geistige in der Kunst (1912) den Schlüssel zur Theosophie als ein Werk, das »dem Schüler auf seine Fragen konkrete Antworten gibt«. Für den Komponisten Alexander Skrjabin, dem der große Pianist Wladimir Horowitz »einen meisterhaften Sinn für Form, für eine Logik des musischen Denkens auf großer Ebene« nachsagte, der den berühmten »mystischen« oder »Prometheus-Akkord« erfand und als »mystischer Avantgardist« in seinen Etüden ein »esoterisches Vokabular« entwickelte – für diesen wegweisenden Komponisten war Der Schlüssel zur Theosophie »ein bemerkenswertes Buch«, das sein »Denken genau ausdrückte«. Mahatma Gandhi schrieb: »Madame Blavatskys Schlüssel zur Theosophie … entfachte den Wunsch in mir, Bücher über den Hinduismus zu lesen und befreite mich von der durch Missionare genährten Vorstellung, der Hinduismus sei voller Aberglaube.« Boris de Zirkoff nannte den Schlüssel zur Theosophie »ein zugleich tiefes und großartiges Vermächtnis an die gesamte Menschheit«.

Worin lag der Wert dieses Buches für den Maler, den Komponisten oder den Staatsmann – für geniale Menschen also, die das Erscheinungsbild unseres Jahrhunderts mitgeprägt haben? Worin liegt seine Bedeutung für unzählige andere Menschen, denen es zum lebenslangen Begleiter geworden ist? Zusammen mit der Stimme der Stille krönt Der Schlüssel zur Theosophie nicht nur »HPBs gesamtes Werk durch Gedanken und Ideale von zeitloser Spiritualität« (B. de Zirkoff), sondern er enthält das gesamte Spektrum ihrer Lehre in einer allgemein verständlichen Zusammenfassung in Form von Gesprächen zwischen einem westlich-christlichen »Fragesteller« und dem antwortenden »Theosophen« – oder besser der Theosophin, nämlich HPB selbst. Anders als die Stimme, die »für die Wenigen« ist, ist der Schlüssel ausdrücklich »allen ihren Schülern gewidmet, auf dass sie lernen und selbst lehren mögen«. Die Betonung der praktischen Aspekte der theosophischen Lehre macht das Werk zum gut geeigneten Anwenderhandbuch, denn es enthält u. a. folgende Themen: Ethik, Selbstverwirklichung, Gebet, Karma, nachtodliches Leben, Reinkarnation, Geist, politische und soziale Fragen, Barmherzigkeit, Asketentum und Ehe, Erziehung, die Mahatmas und andere mehr. Die besondere Qualität des Buches liegt also für alle ernsthaft um theoretisches Wissen und praktische Orientierung bemühten Leser in der Anwendbarkeit der dargestellten Lehren im täglichen Leben sowie in der Vermittlung einer theosophischen Weltsicht.

Ihre Erläuterungen zur Ethik und zur Philosophie der modernen Theosophie im Schlüssel beleuchten Blavatskys unermüdliche, oft mit kämpferischem Elan geführten Auseinandersetzungen mit den irdischen Mächten der Trennung, der Diffamierung des Fremden und Anderen, mit dogmatischer Engstirnigkeit und mit der Grausamkeit des Menschen gegenüber seinen Mitgeschöpfen und seiner Umwelt.

Ihrem idealistischen Monismus entsprechend, war Madame Blavatsky zutiefst überzeugt von einer geistbestimmten Lebensführung als einzig wahrem Daseinszweck der Menschen, dieser »Götter im Exil«, in dieser Welt. Heute, in einer von Kriegswirren und religiös motivierten Antagonismen heimgesuchten Welt, ist Blavatskys Lehre von hoher Aktualität. Am Ende des 19. Jahrhunderts schrieb sie: »Die Unterschiede in den religiösen Dogmen wurden nicht von Heiligen, sondern von sündhaften Sterblichen geschaffen. Sie trennen die Menschheit in feindliche Nationen und Rassen. Gäbe es keine Dogmen, dann gäbe es auch keine Protestanten, Katholiken, Buddhisten, Brahmanen etc. Alle würden an den Einen Gott glauben, … alle würden sich als Brüder sehen, … man würde sich vor seinen Brüdern schämen, zu töten und einander in Kriegen abzuschlachten, andere bestialisch zu foltern und sich gegenseitig die Hölle auf Erden zu bereiten.«

Die Theosophische Gesellschaft wurde 1875 mit dem erklärten Ziel gegründet, der Hölle auf Erden entgegenzutreten, eine Vorhut zu bilden bei dem Versuch, Brüderlichkeit in der modernen Welt zum bestimmenden gesellschaftlichen Faktor zu machen. Bisher ist ihr das nicht gelungen. Umso mehr ist zu beherzigen, wozu Madame Blavatsky ihre Schüler ermahnte: »Unverwandt das Ideal menschlichen Fortschritts und menschlicher Vervollkommnung im Blick zu haben, wie es die heiligen Lehren vorschreiben.«

Blavatskys Lebenswerk war die Weitergabe dieser heiligen Lehren. Der Schlüssel soll, so die Autorin in ihrem Vorwort, »die Tore zum tieferen Studium (der Theosophie) öffnen«. Obwohl die Dialoge des Buches insgesamt »die einfachste, umfassendste, grundlegendste, klarste und am besten gegliederte Präsentation der Theosophie, die HPB je geschrieben hat« (J. Algeo), enthalten, obwohl Der Schlüssel zur Theosophie eine Einführung ist, die wenig theosophische Vorbildung voraussetzt, verlangt er doch vom Leser ein gehöriges Maß an Konzentration und gedanklicher Mitarbeit. Denn, so HPB, »für geistig träge und stumpfsinnige Menschen wird die Theosophie immer ein Rätsel bleiben. In der Welt der Gedanken und der Spiritualität macht man Fortschritte nur durch eigene Anstrengungen. Die Autorin kann dem Leser nicht das Denken abnehmen, und er hätte auch nichts davon, selbst wenn ein solches stellvertretendes Denken möglich wäre.«

Herausgeber und Verlag hoffen, mit dieser Neuausgabe den von Madame Blavatsky betonten Zweck des Werkes zu unterstützen, zumal damit einem von deutschsprachigen Schülern der Theosophie vielseitig geäußerten Wunsch nach einer ungekürzten, mit einem Register als Orientierungshilfe versehenen Ausgabe entsprochen wird. Ansonsten entspricht unsere Ausgabe der 1889 erschienenen ersten Auflage der Originalausgabe. Eva Maas, Anneliese Stephan und Hansjörg Meyer gilt unser besonderer Dank für die freundschaftliche und selbstlose Mitarbeit.

Hank Troemel (Herausgeber)

Dedicated

by

»H.P.B«

To all her Pupils,

that

They may Learn and Teach

in their turn.

H.P.B.

widmet dieses Buch

allen ihren Schülern,

auf dass sie

lernen und

selbst lehren

mögen.

Vorwort

Der Zweck dieses Buches ist in seinem Titel genau ausgedrückt und bedarf nur weniger Worte der Erläuterung. Es handelt sich um kein vollständiges oder erschöpfendes Lehrbuch der Theosophie, sondern nur um einen Schlüssel, der die Tür zu tieferen Studien öffnen soll. Das Buch präsentiert die Weisheitsreligion in einem umfassenden Überblick und erläutert ihre grundlegenden Prinzipien. Es begegnet gleichzeitig den verschiedenen Einwänden, die der durchschnittliche westliche Studierende erhebt, und versucht, fremdartige Gedanken in möglichst einfacher Form und klarer Sprache darzulegen. Dass es darin erfolgreich sein könnte, dem Leser Theosophie ohne intellektuelle Anstrengung verständlich zu machen, wäre zu viel erwartet. Aber die Verfasserin hofft, dass das, was an Dunkel verbleibt, an den Gedanken liegt und nicht an der Ausdrucksweise, an der Tiefe des Gegenstandes und nicht an einer verworrenen Darstellung. Für geistig träge und stumpfsinnige Menschen wird die Theosophie immer ein Rätsel bleiben. In der Welt der Gedanken und der Spiritualität macht man Fortschritte nur durch eigene Anstrengungen. Die Autorin kann dem Leser nicht das Denken abnehmen, und er hätte auch nichts davon, selbst wenn ein solches stellvertretendes Denken möglich wäre. Die Notwendigkeit für eine Darlegung wie diese wurde seit langem von den an der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Arbeit Interessierten empfunden. Es bleibt zu hoffen, dass diese Darlegung vielen, deren Aufmerksamkeit dafür erwacht ist, die aber noch etwas verwirrt und noch nicht überzeugt sind, eine von technischen Einzelheiten möglichst freie Information geben kann. Besondere Mühe wurde auf die Entwirrung des Falschen vom Richtigen in den spiritistischen Lehren über das Leben nach dem Tode verwendet und darauf, die wahre Natur der spiritistischen Phänomene aufzuzeigen. Frühere Erklärungen ähnlicher Art haben viel Zorn auf das bescheidene Haupt der Verfasserin gezogen. Die Spiritisten ziehen es wie so viele andere vor, das, was angenehm ist, zu glauben, anstatt das, was wahr ist, und sie werden sehr böse auf jeden, der eine angenehme Täuschung zerstört. Seit einem Jahr ist die Theosophie Zielscheibe giftiger Pfeile vonseiten des Spiritismus; so wie die Besitzer einer Halbwahrheit den Besitzern der ganzen Wahrheit feindseliger gegenüberstehen als solche, die nichts Rühmenswertes besitzen.

Herzlichen Dank schuldet die Verfasserin den vielen Theosophen, die Anregungen gegeben und Fragen gesandt oder in anderer Weise während der Arbeit an diesem Buch Hilfe geleistet haben. Durch ihre Unterstützung ist es noch brauchbarer geworden, und dies wird ihr schönster Lohn sein.

H.P.B.

I

Die Theosophie und die Theosophische Gesellschaft

Die Bedeutung des Namens

Die Theosophie und ihre Lehren werden oft als eine neumodische Religion bezeichnet. Ist die Theosophie eine Religion?

Nein. Theosophie ist »göttliches Wissen, göttliche Wissenschaft«.

Was ist die eigentliche Bedeutung dieses Begriffes?

»Göttliche Weisheit« (Theosophia) oder Weisheit der Götter, so wie das Wort »Theogonia« die Genealogie der Götter bedeutet. Das Wort »Theos« bezeichnet im Griechischen einen Gott, eine der göttlichen Wesenheiten, gewiss nicht Gott in dem Sinne, der diesem Wort heute gegeben wird. Theosophie bedeutet daher nicht Gottesweisheit, wie es von manchen übersetzt wird, sondern göttliche Weisheit, eine Weisheit gleich jener, welche die Götter besitzen. Diese Bezeichnung ist viele tausend Jahre alt.

Welchen Ursprung hat der Begriff?

Er stammt von den alexandrinischen Philosophen, die als Freunde der Wahrheit, »Philaletheier«, von phil »lieben« und aletheia »Wahrheit«, bezeichnet werden. Der Name Theosophie stammt aus dem 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, von Ammonios Sakkas und seinen Schülern,1 durch die das eklektische theosophische System begründet wurde.

Was war das Ziel dieses Systems?

Vor allem, seinen Schülern und allen jenen, die »Freunde der Wahrheit« waren, bestimmte moralische Wahrheiten einzuprägen. Daher auch der Leitspruch, der von der Theosophischen Gesellschaft gewählt wurde: »Keine Religion ist höher als die Wahrheit.«2 Das Hauptziel der Gründer der Eklektischen Theosophischen Schule war eines der drei Ziele ihrer Nachfolgerin in der heutigen Zeit, der Theosophischen Gesellschaft: Alle Religionen, Sekten und Nationen in einem gemeinsamen ethischen System, das sich auf ewige Wahrheiten gründet, zu versöhnen.

Wie können Sie zeigen, dass dies nicht nur ein unmöglicher Traum ist, sondern alle Weltreligionen wirklich auf ein und derselben Wahrheit gegründet sind?

Durch ihr vergleichendes Studium und durch Analyse. Die Weisheitsreligion war eine Einheit im Altertum, und die Gleichheit der ursprünglichen religiösen Philosophie wird uns durch die übereinstimmenden Lehren bewiesen, die den Eingeweihten in den MYSTERIEN gelehrt werden, eine einst allgemein verbreitete Einrichtung. »Alle alten Kulte zeugen vom Bestehen einer einzigen ihnen vorausgehenden Theosophie. Der Schlüssel, der einen öffnen kann, muss alle öffnen, sonst kann es nicht der richtige Schlüssel sein.« (Wilder)

Die Leitlinien der Theosophischen Gesellschaft

Zur Zeit des Ammonios Sakkas gab es mehrere große alte Religionen, und allein in Ägypten und Palästina gab es unzählige Sekten. Wie konnte er sie in Einklang bringen?

Indem er das tat, was wir heute wieder zu tun versuchen. Die Neuplatoniker waren eine große Gemeinschaft, sie gehörten verschiedenen großen religiösen Philosophien an;3 das Gleiche trifft heute auf unsere Theosophen zu. In jenen Tagen behauptete Aristobulus, dass die Ethik des Aristoteles die esoterischen Lehren des mosaischen Gesetzes darstelle. Philo Judäus bemühte sich, den Pentateuch mit der pythagoräischen und platonischen Philosophie in Einklang zu bringen; und Josephus bewies, dass die Essener vom Karmel einfach Nachahmer und Nachfolger der ägyptischen Therapeuten (der Heiler) waren. Genauso ist es heute. Wir können die Abstammungslinie jeder christlichen Religion und jeder kleinsten Sekte zeigen. Die letzteren sind die kleineren Zweige, die aus den größeren Ästen herausgewachsen sind, aber Zweige wie Äste kommen aus dem gleichen Stamm – der Weisheitsreligion. Dies zu beweisen, war das Ziel des Ammonios, der sich bemühte, Heiden und Christen, Juden und Götzenanbeter dazu zu bringen, ihren Streit und ihre Kämpfe aufzugeben und sich daran zu erinnern, dass sie alle die gleiche Wahrheit unter verschiedenen Gewändern besaßen und alle Kinder einer gemeinsamen Mutter waren.4 Dies ist auch das Ziel der Theosophie.

Auf welchen Autoritäten beruhen Ihre Aussagen über die antiken alexandrinischen Theosophen?

Auf einer großen Anzahl von bekannten Autoren. Mosheim, einer von ihnen, sagt:

Ammonios lehrte: »Die Religion der Menge ging Hand in Hand mit der Philosophie, und sie teilte mit ihr das Schicksal, allmählich durch menschliche Vorstellungen, durch Aberglauben und Lügen verdorben und verdunkelt zu werden. Deshalb mussten sie wieder zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurückgeführt werden durch Reinigung von ihren Schlacken und durch Herausarbeitung ihrer philosophischen Grundlagen. Christus hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als die Weisheit der Alten in ihrer ursprünglichen Unversehrtheit wiederherzustellen und wieder einzusetzen, den überall herrschenden Aberglauben in Grenzen zu halten und die mannigfaltigen Irrtümer in den verschiedenen Volksreligionen auszumerzen beziehungsweise richtigzustellen.«

Genau das sagen die modernen Theosophen. Während aber der große »Weisheitslehrer« in seinen Zielen von zwei Kirchenvätern, Clemens und Athenagoras, unterstützt wurde, während ihm die gelehrten Rabbiner, die Philosophen der Akademien und Schulen beistanden, und während er eine Lehre für alle verkündete, bleiben wir, die Nachfolger, ohne Hilfe und ohne Anerkennung. Wir werden sogar verfolgt und geschmäht. Die Menschen vor 1500 Jahren waren toleranter als in diesem ›erleuchteten‹ Jahrhundert.

Wurde Ammonios von der Kirche ermutigt und unterstützt, da er trotz seiner Häresie das Christentum lehrte und ein Christ war?

Keineswegs. Er war zwar ein geborener Christ, aber er hat niemals das kirchliche Christentum akzeptiert. Mosheim schrieb darüber:

»Er trug seine Belehrungen gemäß den alten Lehren des Hermes vor, die vor ihm schon Platon und Pythagoras gekannt und auf welchen sie ihre Philosophie begründet hatten. Da er die gleichen Auffassungen im Prolog des Johannes-Evangeliums fand, nahm er berechtigterweise an, dass es die Absicht Jesu gewesen sei, die große Weisheitslehre in ihrer ursprünglichen Reinheit wiederherzustellen. Er war der Auffassung, dass die Erzählungen der Bibel und die Götterlegenden entweder Allegorien waren, die die Wahrheit bildlich darstellten, oder aber Märchen, die abgelehnt werden mussten.« Die Edinburgh Encyclopaedia schreibt darüber: »Ammonios anerkannte, dass Jesus Christus ein hervorragender Mensch und Freund Gottes war, aber er erklärte, dass es nicht Jesu Absicht gewesen sei, die Verehrung der Dämonen (der Götter) gänzlich abzuschaffen, sondern nur, die alte Religion zu reinigen.«

Die Weisheitsreligion war zu allen Zeiten esoterisch

Wie kann man, da Ammonios niemals etwas niederschrieb, sicher sein, dass dies seine Lehren waren?

Auch Buddha, Pythagoras, Konfuzius, Orpheus, Sokrates und selbst Jesus haben keinerlei Schriften hinterlassen. Die meisten von ihnen sind jedoch historische Persönlichkeiten, und ihre Lehren haben weitergelebt. Die Schüler des Ammonios, unter ihnen Origenes und Herrenius, verfassten Abhandlungen und erklärten seine ethischen Lehren. Sicherlich sind diese Abhandlungen zumindest ebenso, wenn nicht besser, historisch nachgewiesen wie die Schriften der Apostel. Darüber hinaus haben die Schüler des Ammonios, Origenes, Plotin und Longinus (der Berater der berühmten Königin Zenobia), alle umfangreiche Aufzeichnungen des philaletheiischen Systems hinterlassen, zumindest soweit ihr öffentliches Glaubensbekenntnis bekannt war, denn die Schule war geteilt, und es gab exoterische und esoterische Belehrungen.

Wie konnten diese Lehren unsere Zeit erreichen, da Sie ja der Auffassung sind, dass die Weisheitsreligion esoterisch war?

Die Weisheitsreligion war immer eine einzige. Da sie das Äußerste ist, was an menschlichem Wissen erreicht werden kann, wurde sie sorgfältig aufbewahrt. Sie bestand schon lange vor den alexandrinischen Theosophen und besteht auch heute noch; und sie wird auch jede andere Religion und Philosophie überleben.

Wo und durch wen wurde sie so bewahrt?

Durch die Eingeweihten jedes Landes und ihre Schüler, jene ernsten Wahrheitssuchenden in allen Teilen der Welt, in denen diese Wissensgebiete immer am meisten geschätzt und gepflegt wurden: In Indien, Zentralasien und Persien.

Können Sie mir einige Beweise für die Esoterik der Weisheitsreligion geben?

Der beste Beweis ist die Tatsache, dass jeder alte religiöse oder philosophische Kult aus einer esoterischen (geheimen) Lehre und exoterischen (äußeren, öffentlichen) Kulthandlungen bestand.

Außerdem ist es eine weltbekannte Tatsache, dass die Mysterien des Altertums in jeder Nation die »größeren« geheimen und die »kleineren« öffentlichen Mysterien umfassten – zum Beispiel die »Eleusinia« genannten berühmten Feierlichkeiten in Griechenland. Von den Hierophanten von Samothrake und Ägypten und den eingeweihten Brahmanen des alten Indien bis herab zu den späteren hebräischen Rabbinern hielten alle aus Furcht vor Entweihung ihre wirklichen Glaubensanschauungen geheim. Die Rabbiner nannten ihre weltlichen religiösen Lehren Merkaba (den äußeren Leib), »das Fahrzeug« oder die Hülle, die die verborgene Seele verbirgt, nämlich ihr höchstes geheimes Wissen. Nicht ein einziges der alten Völker hat je durch seine Priester seine wirklichen philosophischen Geheimnisse der Allgemeinheit mitgeteilt. Man überließ ihr immer nur die äußere Schale. Der nördliche Buddhismus hat sein »größeres« und sein »kleineres« Fahrzeug, bekannt als die esoterische Mahayana- und die exoterische Hinayana-Schule. Niemand kann sie für diese Geheimhaltung tadeln. Würden Sie Ihre Schafherde mit gelehrten Dissertationen über Botanik füttern wollen anstatt mit Gras? Pythagoras nannte seine Gnosis »die Erkenntnis der Dinge, die sind«, und bewahrte dieses Wissen für seine ihm durch Eid ergebenen Schüler, für jene, die solche mentale Nahrung zufriedenstellend verarbeiten konnten. Er verpflichtete sie zum Schweigen und zur Geheimhaltung. Aus den hieratischen Schriften der alten Ägypter entwickelten sich okkulte Alphabete und geheime Zeichen, deren Schlüssel in den alten Tagen nur die Hierophanten, die eingeweihten ägyptischen Priester, besaßen. Ammonios Sakkas verpflichtete – wie seine Biographen berichten – seine Schüler durch einen Eid, seine höheren Lehren nur an solche Personen weiterzugeben, die schon in den vorbereitenden Kenntnissen unterrichtet und gleichfalls durch ein Gelöbnis gebunden waren. Und finden wir schließlich nicht dasselbe in der frühen Christenheit, unter den Gnostikern und sogar in den Lehren Christi selbst? Sprach er nicht zu den Massen in Gleichnissen, die eine doppelte Bedeutung hatten, und erklärte seine Anschauungen nur seinen Jüngern? »Euch«, so sagte er, »ist es gegeben, die Geheimnisse des Himmelreiches zu empfangen, jenen draußen aber wird es nur in Gleichnissen gegeben.« (Markus 4, 11) Die Essener aus Judäa und vom Karmel machten ähnliche Unterscheidungen. Sie teilten ihre Anhänger in die Neophyten oder Brüder und in die Vollkommenen, die Eingeweihten. Beispiele dieser Art könnten aus jedem Land gebracht werden.

Kann man die »geheime Weisheit« durch bloßes Studium erlangen? Lexika definieren die Theosophie meist so wie Webster’s Dictionary: Als »vermeintliche Verbindung mit Gott und höheren Geistern, und als Folge davon das Erlangen übermenschlichen Wissens durch physikalische Mittel und chemische Prozesse«. Ist das richtig?

Nein. Es ist auch kein Mitarbeiter an einem Lexikon in der Lage, sich oder anderen zu erklären, wie übermenschliches Wissen durch physikalische oder chemische Vorgänge erlangt werden kann. Wenn Webster gesagt hätte »durch metaphysische und alchemistische Prozesse«, dann würde diese Definition annähernd richtig sein, aber so, wie sie lautet, ist sie absurd. Die alten Theosophen erklärten, ebenso wie die modernen, dass das Unendliche nicht vom Endlichen erkannt, nicht vom begrenzten Selbst wahrgenommen werden kann, sondern dass das göttliche Sein dem höheren spirituellen Selbst in einem Zustand der Ekstase vermittelt werden kann. Dieser Zustand aber kann kaum, wie die Hypnose, durch »physikalische oder chemische Mittel« erreicht werden.

Wie lautet Ihre Erklärung?

Die echte Ekstase wurde von Plotin als die »Befreiung des Geistes von seinem begrenzten Bewusstsein« definiert, so dass er mit dem Unendlichen eins wird. Dies ist der höchste, aber nicht andauernde Zustand, der nur von sehr, sehr wenigen erreicht wird. In Indien ist er als Samadhi bekannt. Er wird von den Yogis praktiziert, die ihn physisch durch strenge Abstinenz in der Nahrung und im Trinken ermöglichen und mental durch ein unaufhörliches Streben, das Denken zu reinigen und zu erheben. Meditation ist ein stummes, unausgesprochenes Gebet oder, wie Platon es ausdrückte, »das glühende Hinwenden der Seele zum Göttlichen, nicht um ein besonderes Gutes zu erbitten (wie im gewöhnlichen Gebet), sondern für das Gute selbst, das universale höchste Gut«, von dem wir hier auf Erden ein Teil sind und aus dessen Wesen wir alle einst hervorgegangen sind. »Darum«, so fügt Platon hinzu, »schweige in der Gegenwart der Göttlichen, bis sie die Schleier von deinen Augen nehmen und dich befähigen, in dem Lichte, das von ihnen ausgeht, zu sehen, nicht was dir gut erscheint, sondern was in seinem innersten Wesen gut ist«.5

Die Theosophie ist also nicht, wie manche behaupten, ein neu erfundenes System?

Nur unwissende Menschen können sie so bezeichnen. Die Theosophie ist, wenn schon nicht dem Namen nach, so doch in ihren Lehren und ihrer Ethik, so alt wie die Welt, und sie ist auch das umfassendste und kat-holischste System, das es gibt.

Woher kommt es dann aber, dass die Theosophie den Völkern des Westens so unbekannt geblieben ist? Warum sollte sie den fortgeschrittensten und gebildetsten Völkern so verborgen geblieben sein?

Wir glauben, dass es in alten Zeiten Völker gab, die gebildeter und spirituell fortgeschrittener waren, als wir es sind. Aber es gibt verschiedene Ursachen für diese gewollte Unwissenheit. Eine davon wurde den gebildeten Athenern durch Paulus erklärt: Der jahrhundertelange Verlust wirklicher spiritueller Einsicht und das schwindende Interesse aufgrund zu großer Hinwendung zum Sinnlichen und die lange Unterwerfung gegenüber den toten Buchstaben der Dogmen und Rituale. Aber der Hauptgrund liegt in der Geheimhaltung der Theosophie.

Sie haben bewiesen, dass es diese Geheimhaltung gab, aber was war die wirkliche Ursache dafür?

Die Ursachen waren: 1. Die Verdorbenheit und Selbstsucht der menschlichen Natur, die stets nur die Befriedigung der persönlichen Wünsche sucht auf Kosten anderer. Solchen Menschen konnten niemals göttliche Geheimnisse anvertraut werden. 2. Die Unzuverlässigkeit der Menschen, das geheiligte göttliche Wissen vor Entweihung zu bewahren. Das letztere führt zur Verdrehung der erhabensten Wahrheiten und Symbole und zu einer allmählichen Umkehrung der spirituellen Dinge in vermenschlichtes, konkretes und grobes Bildwerk, mit anderen Worten, zur Profanierung der Gottesidee und zum Götzendienst.

Theosophie ist nicht Buddhismus

Sie werden oft als »esoterische Buddhisten« bezeichnet: Sind Sie denn Anhänger von Gautama Buddha?

Nicht mehr als etwa alle Musiker Anhänger Wagners sind. Es gibt unter uns Personen, die der buddhistischen Religion angehören; aber die Zahl der Hindus und Brahmanen unter uns ist weit größer. Auch haben wir weit mehr christlich erzogene Europäer und Amerikaner als bekehrte Buddhisten. Der Irrtum ist dadurch entstanden, dass man die wahre Bedeutung des Titels des ausgezeichneten Buches von A. P. Sinnett, Esoteric Buddhism, missverstand. Das zweite Wort darin sollte richtiger mit einem und nicht mit zwei d geschrieben werden; Budhismus würde dann das bedeutet haben, was es sollte, nämlich »Weisheitslehre« (Bodha, bodhi = Erkenntnis, Weisheit) anstatt Buddhismus, die religiöse Philosophie Gautamas. Theosophie ist, wie bereits erwähnt, die Weisheitsreligion.

Was ist der Unterschied zwischen dem Buddhismus, der durch den Prinzen von Kapilavastu gegründeten Religion, und dem Budhismus, der Weisheitslehre, von der Sie sagen, dass sie gleichbedeutend mit Theosophie ist?

Es ist genau der gleiche Unterschied wie er zwischen den geheimen Lehren Christi, welche die »Geheimnisse des Himmelreiches« genannt werden, und dem späteren Ritualismus und der dogmatischen Theologie der Kirchen und Sekten besteht. Buddha bedeutet: Der Erleuchtete, von Bodha, Erkenntnis, Weisheit. Diese Weisheit lebt in den esoterischen Lehren weiter, die Gautama nur seinen erwählten Arhats mitteilte.

Aber einige Orientalisten bestreiten doch, dass Buddha überhaupt eine esoterische Lehre gegeben hat?

Sie können ebenso gut bestreiten, dass die Natur Geheimnisse hat, die den Wissenschaftlern verborgen sind. Es lässt sich dies aber auch durch Buddhas Unterredung mit seinem Schüler Ananda beweisen. Seine esoterischen Lehren waren nichts anderes als die Gupta Vidya (das geheime Wissen) der alten Brahmanen, deren Schlüssel ihre modernen Nachfahren mit wenigen Ausnahmen vollkommen verloren haben. Dieses Wissen ist in die inneren Belehrungen der Mahayana-Schule des nördlichen Buddhismus übergegangen. Diejenigen, die das bestreiten, sind nur unwissende sogenannte Orientalisten, die in Wirklichkeit nichts verstehen. Ich empfehle Ihnen, das Buch Chinese Buddhism von Edkins zu lesen, insbesondere die Kapitel über die exoterische und esoterische Schule und ihre Lehren, und dies dann mit dem Zeugnis der ganzen Alten Welt über diesen Gegenstand zu vergleichen.

Aber sind nicht die ethischen Lehren der Theosophie dieselben, die auch Buddha lehrte?

Sicherlich, denn diese Ethik ist das Herz der Weisheitsreligion und war einmal das gemeinsame Eigentum der Eingeweihten aller Völker. Aber Buddha war der Erste, der diese ethischen Prinzipien in seine Verkündigung aufnahm und sie zur Grundlage und zum eigentlichen Inhalt seiner öffentlichen Lehre machte. In diesem Punkt liegt der ungeheure Unterschied zwischen dem exoterischen Buddhismus und jeder anderen Religion. Denn während in den anderen Religionen Ritual und Dogma den ersten und wichtigsten Platz einnehmen, ist im Buddhismus immer am meisten Gewicht auf die Ethik gelegt worden. Darauf ist die Ähnlichkeit, ja beinahe Gleichheit der Ethik der Theosophie und jener der Religion Buddhas zurückzuführen.

Gibt es irgendwelche wesentlichen Unterscheidungspunkte?

Ein großer Unterschied zwischen der Theosophie und dem exoterischen Buddhismus besteht darin, dass der letztere, repräsentiert durch die südliche Kirche, sowohl a) die Existenz irgendeiner Gottheit als auch b) jegliches bewusste Leben nach dem Tod, ja sogar jede selbstbewusste überlebende Individualität im Menschen entschieden leugnet. In dieser Richtung bewegen sich zumindest die Lehren der siamesischen Schule, die heute als die reinste Form des exoterischen Buddhismus angesehen wird. Wenn wir nur die öffentlichen Lehren Buddhas untersuchen, so ist dies auch richtig; den Grund für seine Verschwiegenheit über diese Frage können wir später untersuchen. Die Schulen der nördlichen buddhistischen Kirche, die in jenen Ländern bestehen, in die sich die eingeweihten Arhats nach dem Tode ihres Meisters zurückzogen, lehren aber alles das, was jetzt als theosophische Lehre bekannt ist, denn diese bildete einen Teil des Wissens der Eingeweihten. Dies beweist, wie die Wahrheit durch die zu eifrige Orthodoxie des südlichen Buddhismus den toten Buchstaben geopfert wurde. Aber selbst in ihren toten Buchstaben ist diese Lehre erhabener, größer, philosophischer und wissenschaftlicher als die jeder anderen Kirche oder Religion. Dennoch: Theosophie ist nicht Buddhismus.

II

Exoterische und esoterische Theosophie

Was die moderne Theosophische Gesellschaft nicht ist

Ihre Lehren sind also weder eine Wiederbelebung des Buddhismus noch sind sie gänzlich von der neuplatonischen Theosophie übernommen?

Das sind sie nicht. Auf diese Frage kann ich Ihnen keine bessere Antwort geben, als einige Zitate aus einem Vortrag über Theosophie einzuführen, der von Dr. J. D. Buck bei der letzten Theosophischen Versammlung in Chicago gehalten wurde. Kein lebender Theosoph hat es besser verstanden auszudrücken, was Theosophie dem Wesen nach ist, als unser verehrter Freund Dr. Buck:

Die Theosophische Gesellschaft ist gegründet worden, um die theosophischen Lehren zu verbreiten und um das theosophische Leben zu fördern. Die gegenwärtige Theosophische Gesellschaft ist nicht die erste ihrer Art. Ich besitze ein Buch mit dem Titel Theosophical Transactions of the Philadelphian Society, veröffentlicht in London 1697; und ein anderes mit dem Titel: Einführung in die Theosophie oder die Wissenschaft vom Mysterium Christi, vom Göttlichen, von der Natur und der Schöpfung, die die Philosophie der schöpferischen Kräfte des Lebens umfasst sowohl der magischen wie der spirituellen; ein praktischer Führer zur erhabensten Reinheit, Heiligkeit und evangelischen Vollkommenheit; auch zur Erreichung des geistigen Schauens und heiliger engelgleicher Künste und Fähigkeiten und anderer Privilegien der Erneuerung – veröffentlicht in London 1855. Das Werk trägt folgende Widmung: »Allen Studenten der Universitäten, der Kollegien und Schulen des Christentums, den Professoren der Metaphysik, Mechanik und Naturwissenschaft aller Disziplinen; den Männern und Frauen im Bildungswesen sowohl des orthodoxen Glaubens als auch den Deisten, Arianern, Unitariern, Swedenborgianern und anderen unbestimmter und undogmatischer Glaubensrichtungen, den Rationalisten und Skeptikern jeder Art, den rechtdenkenden und erleuchteten Mohammedanern, Juden und östlichen orthodoxen Kirchenanhängern; besonders aber den Dienern des Evangeliums und Missionaren, sowohl der barbarischen wie der gebildeten Völker, sei diese Einführung in die Theosophie, d. h. die Wissenschaft vom Grunde oder Mysterium aller Dinge, ergebenst und liebevoll gewidmet.«

Im darauffolgenden Jahr (1856) ist ein anderes Buch erschienen, ein Großband mit 600 Seiten, Theosophical Miscellanies. Von diesem Werk sind nur 500 Exemplare gedruckt worden, die unentgeltlich an Bibliotheken und Universitäten verteilt wurden. Diese früheren Bewegungen, deren es viele gab, entstanden innerhalb der kirchlichen Kreise, durch Personen von großer Frömmigkeit und Sittenstrenge und von unanfechtbarem Charakter. Alle diese Schriften waren in einer orthodoxen Form gehalten; sie bedienten sich der christlichen Ausdrucksweise und wurden gleich den Schriften des ausgezeichneten Kirchenmannes William Law vom gewöhnlichen Leser wegen ihres großen Ernstes und wahren Frömmigkeit hoch geschätzt. Sie hatten alle nur das eine Ziel, die tieferen Lehren und ursprünglichen Absichten des christlichen Schrifttums zu erklären und eine Vorstellung sowie ein Gefühl theosophischen Lebens zu geben. Diese Werke waren bald vergessen und sind heute gänzlich unbekannt. Sie beabsichtigten, die Geistlichkeit zu reformieren und eine echte Frömmigkeit wiederherzustellen und waren darum nicht besonders beliebt. Es genügte das eine Wort »Ketzerei«, um sie in der Rumpelkammer der Utopien zu begraben. Zur Zeit der Reformation machte Johannes Reuchlin einen ähnlichen Versuch mit demselben Erfolg, obwohl er der Vertraute und gläubige Freund Luthers war. Die Orthodoxie wünschte niemals unterrichtet und erleuchtet zu werden. Diese Reformatoren erfuhren, wie schon Paulus Diaconus in seinem Kommentar zu Festus schrieb (im 8. Jhdt.), dass zu viel Gelehrsamkeit sie verrückt mache und es gefährlich sei, weiterzugehen. Übergehen wir den Wortschwall, der teilweise durch die Gewohnheiten und Bildung dieser Autoren und teilweise durch die von den weltlichen Mächten erzwungene religiöse Zurückhaltung bedingt war, und kommen wir zum Kern der Sache, so finden wir, dass diese Schriften im strengsten Sinne theosophisch sind und sich ausschließlich auf des Menschen Erkenntnis seiner höheren Natur und seines Seelenlebens beziehen. Die gegenwärtige theosophische Bewegung hat man zuweilen als einen Versuch bezeichnet, das Christentum in Buddhismus umzuwandeln, was zeigt, dass das Wort »Ketzerei« seinen Schrecken und seine Macht verloren hat. Einzelne Personen haben in jedem Zeitalter die theosophischen Lehren mehr oder weniger deutlich verstanden und sie in das Gewebe ihres Lebens eingearbeitet. Diese Lehren gehören keiner Religion an, noch sind sie auf eine Menschengruppe oder Zeit beschränkt. Sie sind das Geburtsrecht jeder menschlichen Seele. Die Orthodoxie muss von jedem Einzelnen, entsprechend seiner Natur, seinen Bedürfnissen und in Übereinstimmung mit seiner Erfahrung, verarbeitet werden. Das mag erklären, warum diejenigen, die in der Theosophie eine neue Religion sehen wollten, vergeblich nach ihrem Bekenntnis und Ritual suchten. Ihr Bekenntnis ist Loyalität gegenüber der Wahrheit; ihr Ritual, jede Wahrheit zu achten, indem man sie im Leben umsetzt.

Wie wenig von der großen Masse der Menschen vom Grundsatz der universalen Bruderschaft verstanden und wie selten seine transzendentale Wichtigkeit erfasst wurde, kann man aus der Verschiedenheit der Meinungen und den rein erfundenen Erklärungen über die Theosophische Gesellschaft entnehmen. Diese Gesellschaft, auf dem einzigen Grundsatz aufgebaut, eine wahre Bruderschaft der Menschheit zu schaffen, wie bereits kurz und unvollständig angedeutet worden ist, wurde als buddhistisch und antichristlich angeschwärzt, als ob sie beides auf einmal sein könnte, da sowohl der Buddhismus als auch das Christentum im Sinne ihrer Begründer die Brüderlichkeit zum Wesentlichen ihrer Lehre und des Lebens gemacht haben. Auch hat man Theosophie als etwas völlig Neues angesehen oder bestenfalls als alten Mystizismus unter der Maske eines neuen Namens. Während es wahr ist, dass einige Gesellschaften mit der Aufgabe gegründet wurden, die Selbstlosigkeit und wahre Brüderlichkeit zu pflegen und verschiedene Namen getragen haben, ist es ebenso wahr, dass viele theosophisch genannt worden sind, welche mit der gegenwärtigen Gesellschaft gleiche Ziele und Grundsätze hatten. Bei allen diesen Gesellschaften sind die grundlegenden Lehren die gleichen gewesen, abgesehen von Unwesentlichkeiten, obgleich nicht geleugnet werden kann, dass viele Menschen gerade vom Unwesentlichen angezogen werden und das Wesentliche übersehen.«

Es könnte keine bessere und deutlichere Antwort auf obige Frage gegeben werden, als die von dieser Persönlichkeit, die zu den geschätztesten und ernsthaftesten Theosophen zählt.

Welchem System folgen Sie außer der Ethik des Buddhismus?

Keinem und allen. Wir halten uns an keine Religion und Philosophie im Besonderen, wir suchen das Gute heraus, das wir in jeder finden. Doch muss hier wieder festgestellt werden, dass die Theosophie gleich allen anderen alten Systemen in exoterische und esoterische Lehren unterteilt ist.

Wie unterscheiden sich diese?

Die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft sind im Allgemeinen frei, sich zu irgendeiner Religion oder Philosophie zu bekennen, die ihnen gefällt, oder auch zu keiner, wenn sie dies vorziehen, vorausgesetzt, dass sie mindestens mit einem der drei Ziele der Gesellschaft sympathisieren und bereit sind, für dasselbe zu arbeiten. Die Gesellschaft ist eine philanthropische und wissenschaftliche Körperschaft zur Verbreitung der Idee einer Bruderschaft in praktischer und nicht in theoretischer Hinsicht. Die Mitglieder können Christen oder Muslime, Juden oder Parsen, Buddhisten oder Brahmanen, Spiritisten oder Materialisten sein, dies ist ohne Bedeutung; aber jedes Mitglied muss entweder ein Philanthrop oder ein Forscher und Gelehrter auf dem Gebiete der alten Weisheitsliteratur oder ein Forscher auf dem Gebiet des Psychischen sein. Er muss also, so weit er es vermag, helfen, zumindest eines der drei Ziele der Gesellschaft auszuführen, sonst hat er keinen Grund, ein »Mitglied« zu werden. Dies gilt für die große Mehrheit der Mitglieder in der exoterischen Gesellschaft, die sich aus »angeschlossenen« und »Einzelmitgliedern« zusammensetzt.6 Sie können wirkliche Theosophen werden oder auch nicht; Mitglieder sind sie vermöge der Tatsache, dass sie der Gesellschaft beigetreten sind. Die Gesellschaft aber vermag niemanden zu einem Theosophen zu machen, der keinen Sinn hat für die göttliche Eigenschaft der Dinge oder wenn er die Theosophie auf seine eigene sektiererische und egoistische Weise versteht. Man könnte in diesem Zusammenhang sagen, »edel ist der, der Edles tut«, und fortfahren, »ein Theosoph ist der, der Theosophie lebt«.

Theosophen und Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft

Dies betrifft, wenn ich richtig verstehe, die Laienmitglieder. Aber was ist mit jenen, die das esoterische Studium der Theosophie betreiben? Sind diese die wirklichen Theosophen?

Nicht unbedingt, solange sie sich nicht als solche bewährt haben. Sie sind in die »Innere Gruppe« eingetreten und haben gelobt, die Regeln dieser esoterischen Körperschaft einzuhalten, so gut sie es vermögen. Dies ist ein schwieriges Unterfangen, da die wichtigste Regel die vollkommene Entsagung der eigenen Persönlichkeit ist. Das heißt Folgendes: Ein Mitglied dieser Gruppe, das ein Gelübde abgelegt hat, muss durch und durch ein Altruist werden, darf nie an sich selbst denken und muss seine eigene Eitelkeit und seinen Stolz vergessen im Gedenken an das Wohl seiner Mitgeschöpfe, nicht zu reden von dem seiner Mitbrüder im esoterischen Kreis. Wenn die esoterischen Belehrungen ihm nützen sollen, muss er in jeder Beziehung ein Leben der Enthaltsamkeit, der Selbstverleugnung und strengen Moral führen und allen Menschen gegenüber seine Pflicht erfüllen. Die wenigen wirklichen Theosophen innerhalb der Theosophischen Gesellschaft sind unter diesen Mitgliedern zu finden. Das bedeutet nicht, dass es etwa außerhalb der Theosophischen Gesellschaft und ihrem inneren Kreis keine Theosophen gibt; es gibt solche und mehr, als die Menschen wissen, sicherlich mehr, als unter den Laienmitgliedern der Theosophischen Gesellschaft zu finden sind.

Welchen Nutzen hat man davon, wenn man in die Theosophische Gesellschaft eintritt?

Nutzen hat man keinen, außer den, dass sich die Gelegenheit bietet, esoterische Belehrungen zu erhalten, die echten Lehren der Weisheitsreligion, und dass man, wenn man ernsthaft studiert, viel Hilfe aus der wechselseitigen Unterstützung und Sympathie empfängt. Vereinigung bedeutet Stärke und Harmonie, und wohlgeordnete, gemeinsame Anstrengungen bringen Wunder hervor. Dies ist das Geheimnis aller Gesellschaften gewesen, seit die Menschheit existiert.

Aber warum kann ein ausgeglichener und zielstrebiger Mensch, der über eine unbezähmbare Energie und Ausdauer verfügt, nicht ein Esoteriker und sogar ein Adept werden, auch wenn er allein arbeitet?

Er kann es, aber es steht zehntausend zu eins dafür, dass es ihm misslingen wird. Ein Grund unter vielen anderen ist der, dass es heutzutage keine Bücher über wahre Esoterik oder Theurgie gibt, welche die Geheimnisse der Alchemie und der mittelalterlichen Theosophie in offener Sprache darlegen. Alle sind symbolisch oder in Gleichnissen geschrieben, und da der Schlüssel im Westen schon seit langer Zeit verloren gegangen ist, wie soll da ein Mensch die richtige Bedeutung dessen, was er liest und was er studiert, erfassen können? Hierin liegt die größte Gefahr, eine Gefahr, die zu unbewusster Schwarzer Magie oder zu hilfloser Medialität führt. Wer nicht einen Eingeweihten zum Lehrer hat, sollte von diesem gefährlichen Studium lieber ablassen. Sehen Sie sich um und beobachten Sie. Während zwei Drittel der zivilisierten Welt schon allein die Vorstellung belächelt, dass an Theosophie, Esoterik, Spiritismus oder an der Kabbala etwas dran sei, setzt sich das andere Drittel aus ganz heterogenen und einander widersprechenden Elementen zusammen. Einige glauben an das Mystische und Übernatürliche (!), aber jeder glaubt es auf seine eigene Art und Weise. Andere wiederum stürzen sich ohne Hilfe in das Studium der Kabbala, des Psychismus, Mesmerismus, Spiritismus oder in die eine oder andere Art der Mystik. Das Ergebnis: Nicht zwei Menschen denken das Gleiche, nicht zwei stimmen in Bezug auf eines der esoterischen Prinzipien miteinander überein, und dennoch sind es zu viele, die behaupten, die letzten Wahrheiten zu besitzen und die andere glauben machen wollen, dass sie voll erwachte Adepten seien. Im Westen sind nicht nur keine genauen wissenschaftlichen Erkenntnisse über echte Esoterik zugänglich – nicht einmal über die wahre Astrologie, den einzigen esoterischen Zweig, der in seinen exoterischen Lehren bestimmte Gesetze und ein bestimmtes System besitzt – sondern es hat niemand eine Vorstellung, was wirkliche Esoterik überhaupt ist. Manche beschränken die uralte Weisheit auf die Kabbala und den jüdischen Zohar, dabei legen sie diese aber in ihrer eigenen Weise nach den an toten Buchstaben hängenden rabbinischen Methoden aus. Andere betrachten Swedenborg oder Böhme als den letzten Ausdruck der höchsten Weisheit, während wieder andere im Mesmerismus das große Geheimnis der alten Magie zu erkennen glauben. Sie alle aber treiben, sobald sie ihre Theorien in die Praxis umsetzen – infolge ihrer Unwissenheit – sehr bald in die Arme der Schwarzen Magie. Glücklich jene, die dem entrinnen, denn sie haben keinerlei Prüfungsmöglichkeiten, mittels welcher sie zwischen dem Wahren und dem Falschen unterscheiden können.

Ist dies so zu verstehen, dass die Innere Gruppe der Theosophischen Gesellschaft beansprucht, ihre Lehren von wirklichen Eingeweihten oder Meistern der esoterischen Weisheit zu erhalten?

Nicht unmittelbar. Die persönliche Gegenwart solcher Meister ist nicht erforderlich. Es genügt, wenn sie ihre Belehrungen einigen von jenen geben, die durch Jahre hindurch unter ihrer Anleitung studiert und ihr ganzes Leben ihrem Dienst geweiht haben. Dann können diese ihrerseits das so erhaltene Wissen den anderen weitergeben, die diese Gelegenheit nicht gehabt haben. Ein kleiner Teil des echten Wissens ist besser als eine große Menge unverdauter und missverstandener Gelehrsamkeit. Eine Unze Gold ist mehr wert als eine Tonne Staub.

Aber wie soll man erkennen, ob die Unze wirklich Gold oder eine Fälschung ist?

Man erkennt einen Baum an seinen Früchten, ein System an seinen Ergebnissen. Wenn unsere Gegner in der Lage sind, uns zu beweisen, dass in der ganzen Geschichte der Menschheit irgendein für sich allein stehender geistige Forscher ohne einen Meister und ohne Anleitung ein heiliger Adept gleich Ammonios Sakkas oder Plotin geworden ist, ein Theurg ist wie Jamblichus, oder Erfolge hat, wie sie von St. Germain behauptet werden, auch ohne die Führung eines Meisters, und all das, ohne Medium oder ein der Selbsttäuschung erlegener medialer Mensch oder Scharlatan zu sein, dann werden wir eingestehen, dass wir uns geirrt haben. Aber bis dahin ziehen es die Theosophen vor, dem wohlerprobten natürlichen Gesetz der Traditionen der Heiligen Wissenschaft zu folgen. Es gibt Mystiker, die große Entdeckungen in der chemischen und physikalischen Wissenschaft gemacht haben, die fast in die Alchemie und Esoterik übergreifen, und andere, die durch alleinige Hilfe ihres Genius Teile, wenn nicht das Ganze des verlorenen Alphabetes der »Mysteriensprache« wiederentdeckt haben, und die daher fähig sind, hebräische Schriftrollen richtig zu lesen; und wieder andere, die Seher sind und denen wundervolle Einblicke in die verborgenen Geheimnisse der Natur zuteil geworden sind. Aber sie alle sind Spezialisten. Der eine ist ein theoretischer Erfinder, ein anderer ein hebräischer Kabbalist, ein dritter ein Swedenborg unserer Zeit; sie alle sind Spezialisten und leugnen alles, was außerhalb ihrer eigenen speziellen Wissenschaft oder Religion liegt. Nicht einer von diesen kann behaupten, einen universalen oder wenigstens nationalen Nutzen gestiftet zu haben, ja kaum einen für sich selbst. Mit Ausnahme einiger »Heiler«, jener Klasse, die das Königliche Kollegium der Ärzte und Chirurgen Quacksalber nennen würde, hat keiner mit seiner Wissenschaft der Menschheit geholfen oder ist auch nur ein paar Menschen nützlich gewesen. Wo sind die Chaldäer aus alter Zeit, von denen uns wunderbare Heilungen berichtet wurden, nicht »durch Zauber, sondern durch Heilpflanzen«? Wo ist ein Apollonius von Tyana, der die Kranken heilte und die Toten in jedem Klima und unter allen Umständen erweckte? Man kennt einige Spezialisten der vorher erwähnten Art in Europa, aber keine von der letzteren, außer in Asien, wo sich das Geheimnis des Yogis bewahrt hat, der »im Tode lebt«.

Ist es das Ziel der Theosophie, heilende Adepten hervorzubringen?