Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Zum Schreiben kam sie vor rund zwanzig Jahren. Zuerst verfasste sie Kinderbücher und pädagogische Fachbücher. Seit rund zehn Jahren widmet sie sich dem historischen Roman und seit »Tod am Semmering« auch dem Kriminalroman. 2019 war sie mit »Mord auf der Donau« für den Leo-Perutz-Preis nominiert.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/standa_art
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Christine Derrer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-654-8
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Wer einen Sinn hat für das Hässliche,
dem muss auf Erden wohl sein.
Gustav Klimt
Kritzendorf bei Wien, 1912
Das laute Quaken der Frösche übertönte das Surren der Insekten und erfüllte den Raum wie laute Musik. Eine sanfte Brise bewegte die dünnen Vorhänge vor den weit geöffneten Fenstern. Sie boten nur wenig Schutz vor den Gelsen, die in riesigen dunklen Schwärmen aus dem sumpfigen Auwald aufstiegen, sobald die Sonne unterging. Der Geruch nach Farnen, Sumpfpflanzen und Wasser waberte in den Raum und mischte sich mit dem von Tabak und Wein. Die Rauchschwaden der zwei glimmenden Zigaretten halfen dabei, die blutsaugenden Mücken auf Abstand zu halten. Ebenso die Dämpfe des Lösungsmittels Terpentin.
»Ich brauche mehr Licht.«
Verärgert stieß der Künstler hinter der Staffelei seinen Pinsel in ein Glas. Es war nicht die fehlende Helligkeit, die verantwortlich dafür war, dass das Gemälde auf der Leinwand nicht seinen Vorstellungen entsprach. Der Maler beherrschte sein Handwerk und konnte die weiblichen Rundungen seines Modells mit der Präzision eines Fotoapparats wiedergeben. Aber trotz der naturgetreuen Darstellung schien die Schönheit der Frau auf dem Gemälde austauschbar. Die gebräunte Haut war ebenmäßig, ihr seidiges Haar glänzte und ihr Körper war makellos. Dennoch war es dem Maler nicht gelungen, die erotische Anziehungskraft seines Modells festzuhalten. Die magische Weiblichkeit, die die stickige Luft in dem niedrigen Raum der hölzernen Badehütte zum Knistern brachte.
»Lass mich sehen!«
Mit der Geschmeidigkeit einer Katze stand die Frau vom Sofa auf. Sie verzichtete auf den seidenen Schal, mit dem sie ihre Nacktheit bedeckt hatte, und ließ ihn achtlos zu Boden gleiten. Wie Gott sie geschaffen hatte, lief sie leichtfüßig über den Holzfußboden und trat ganz nah neben den Künstler. Auch er war nicht vollständig bekleidet und trug bloß seinen Malerkittel.
»Hm.« Sie zog einen Schmollmund. »Vielleicht sollte ich mir eine Perlenkette umhängen. Die würde dem Bild mehr Glanz verleihen.«
»Das würde auch nicht helfen, das Gemälde ist schlecht.« Verärgert schob er die Leinwand mit einem heftigen Ruck zur Seite. Das Glas mit den Pinseln fiel klirrend zu Boden, blieb aber unversehrt, nur die Ölfarbe hinterließ rote Flecken auf den Holzdielen.
»Verdammt!« Er schrie so laut, dass sie zusammenzuckte. Dabei ballte er seine Hände zu Fäusten. Nicht der Fleck am Boden brachte sein Blut zum Kochen, es war die Erkenntnis, dass er ein mittelmäßiger Maler war und niemals in den Olymp der gefeierten Künstler aufsteigen würde. Dafür hasste er sich. Das Einzige, was ihn vielleicht von anderen Malern unterschied, waren seine gnadenlose Selbstkritik und sein Jähzorn.
»Lass uns eine Pause machen.« Die Frau kam näher, schmiegte sich an seinen Rücken und strich ihm von hinten verführerisch über die Brust. Sie war sich der Macht ihres Körpers bewusst und setzte ihn gekonnt ein. Unter ihren Fingern verwandelte sich männlicher Zorn in Lust. Abrupt drehte der Maler sich zu ihr. Sie lachte mit verrucht rauchiger Stimme, warf den Kopf in den Nacken und streckte ihm ihren nackten Körper einladend entgegen. Doch bevor er zugreifen konnte, sprang sie zurück, lief kokett zum Sofa, ergriff den Seidenschal und hüllte ihren Körper darin ein.
»Versprichst du mir, dass wir das Bild mit einer Kette weitermalen?« Der Seidenschal war dünn, er verhüllte ihre Kurven, ließ gleichzeitig der Phantasie genügend Spielraum, um das Verlangen zu steigern. »Ich will glamourös aussehen und nicht wie eine beliebige Nackte auf einem langweiligen, verstaubten Uraltschinken im Museum.«
Beinahe hätten ihre Worte seinen Ärger zurückgeholt. Vielleicht hatte sie recht. Eine doppelreihige Halskette zwischen ihrem Busen würde dem Bild mehr Reiz verleihen.
»Du weißt, dass ich dir in diesem Zustand alles verspreche«, sagte er heiser.
»Ich weiß aber auch, dass du nur einen Teil deiner Versprechen einlöst.« Sie zog den Schal enger um ihren Körper.
»Wir beenden das Bild mit einem Schmuckstück, versprochen.« Das Feuer der Leidenschaft brannte in ihm und drohte ihn völlig um den Verstand zu bringen.
»Zeig mir die Kette!«
»Später.« Das Sprechen fiel ihm schwer.
»Ich will sie jetzt sehen.« Sie war hartnäckig.
Hastig wandte er sich um, ging ins Schlafzimmer und griff wahllos nach einem der Schmuckstücke in der offenen Kassette, die auf der kleinen Kommode stand. Er zog eine lange Perlenkette heraus. Die weißen, glänzenden Kugeln wogen schwer in seiner Hand. Jede Perle hatte die perfekte Form und schimmerte im Halbdunkel wie ein kleines Juwel. So als handelte es sich bloß um eine billige Imitation, ließ er das wertvolle Stück achtlos auf seinem Zeigefinger baumeln.
»Was sagst du dazu? Sie gehört dir.«
Ihr gieriger Blick verriet ihm mehr, als jedes Wort es vermocht hätte.
Mit einem zufriedenen Lächeln ließ sie den Schal an ihrem Körper entlanggleiten. Geräuschlos segelte er auf die Holzplanken, wo er liegen blieb.
Erregt von dem Bild, das sich ihm bot, trat er zu ihr, hängte die Kette geschickt um ihren Hals. Die kühlen Perlen schmiegten sich zwischen ihre vollen Brüste. Sie lachte. Als er sich zu ihr beugen wollte, um endlich das zu bekommen, wonach er sich sehnte, hörte er die Schritte auf der hölzernen Terrasse. Jemand beobachtete sie. Erschrocken fuhr er herum, stürzte zur Tür und riss sie auf. Warme, sumpfige Auwaldluft schlug ihm entgegen.
»Wer ist da?«
Er sah nur noch den Schatten einer Person im Garten verschwinden. Sehnsuchtsvoll warf er einen letzten Blick auf die Frau, bevor er sich umdrehte und in die Nacht hinausrannte.
Wien, August 1924
»Heute Nacht werde ich mein Bettzeug in den Garten tragen und in der Laube schlafen. Es ist einfach zu heiß hier drinnen.«
Anton fächerte sich Luft mit dem Sportteil der Tageszeitung zu. Seit Wochen lähmte eine Hitzewelle das Leben in Wien. Die asphaltierten Straßen glühten, und die Luft darüber flimmerte. Die Menschen versuchten sich ausschließlich im Schatten zu bewegen, um jeden Schritt in die Sonne zu vermeiden. Um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, war die Stadt wie ausgestorben. Wer es sich leisten konnte und nicht arbeiten musste, drängte in die großen Freiluftbäder wie das Gänsehäufel in der Alten Donau oder das Krapfenwaldlbad in Döbling.
Anton war Apotheker im Ruhestand. Vor zwei Jahren hatte seine Tochter Heide das Geschäft übernommen und leitete es mittlerweile mit großem Erfolg. Wenn Not am Mann war, sprang Anton helfend ein. Besonders im Winter, während der Grippezeit, unterstützte er Heide tatkräftig. Im Moment gab es nicht viel zu tun. Die Kunden verlangten hauptsächlich nach Salben gegen Insektenstiche und Sonnenbrand. Hin und wieder brauchte jemand Schmerzmittel oder Ohrentropfen.
»Warum fährst du nicht ein paar Tage nach Kritzendorf?«, fragte seine Tochter Heide.
Wie zahllose andere junge Frauen war Heide im letzten Kriegsjahr Witwe geworden. Ihre Tochter Rosa hatte ihren Vater nie kennengelernt. Viele Jahre hatte Heide um ihren Mann getrauert, bis vor zwei Jahren Erich Felsberg, ein junger Polizist, in ihr Leben getreten war und ihr dabei geholfen hatte, ihre Zukunft wieder in einem neuen Licht zu sehen.
»Simon Goldblatt hat dir doch auch in diesem Jahr angeboten, dass du seine Badehütte nutzen kannst. Jetzt wäre die beste Gelegenheit dazu.«
Anton legte die Zeitung auf den Tisch. Sein alter Schulfreund, der Rechtsanwalt Simon Goldblatt, hatte von seiner Tante eine Badehütte geerbt, die die meiste Zeit des Jahres leer stand. Goldblatt verbrachte seine Sommer lieber in den Bergen, wo die Luft klar und frisch war und in den Nächten die Temperaturen deutlich sanken.
»Ich soll allein nach Kritzendorf fahren?«, fragte Anton.
»Natürlich nicht allein. Rosa wird begeistert sein. Sie beschwert sich ohnehin seit Tagen, dass ihre Sommerferien langweilig sind.«
Rosa war Antons siebenjährige Enkeltochter, sie hatte eben die erste Klasse hinter sich gebracht.
»Wie kann Rosa fad sein?«, fragte Anton.
Heide lachte. »Stimmt, seit Minna im Haus ist, darf sich niemand über Langeweile beklagen.«
Minna war eine Cockerspaniel-Dame, die seit vier Wochen die Wohnung mit Heide, Rosa und Anton teilte. Monatelang hatte Rosa ihrer Mutter und ihrem Großvater in den Ohren gelegen, bis Heide schließlich nachgegeben hatte. Seither war Antons beschauliches Leben deutlich turbulenter und anstrengender geworden. Lange, ausgedehnte Spaziergänge gehörten zum neuen Alltag.
»Außerdem gibt es da eine ganz bestimme Person, von der ich annehme, dass du sie gern in Kritzendorf dabeihaben würdest.« Heide legte den Kopf schräg und grinste vielsagend, sodass Anton errötete und sich verlegen räusperte. »Sicher wird Ernestine mitkommen, wenn du sie fragst.«
Ernestine Kirsch war eine pensionierte Lateinlehrerin, an die Anton eine kleine Mansardenwohnung über seiner Apotheke vermietete. Wenn er an sie dachte, wurde ihm heiß und sein Herz schlug einen jugendlich schnellen Rhythmus. In den letzten Jahren hatten die beiden viel Zeit miteinander verbracht, sie hatten so manches Abenteuer bestanden und waren sich dabei nähergekommen. Im Frühjahr waren sie gemeinsam auf Kur in Baden gewesen. Seither duzten sie sich.
»Möglich, dass sie mich und Rosa begleiten würde«, sagte er.
In Gedanken ging er das Gespräch durch. Die Chancen standen gut, dass Ernestine mitkommen wollte. Das Strombad Kritzendorf war eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der Großstadt. Es wurde auch liebevoll die Wiener Riviera genannt. Jedes Wochenende fuhren bis zu zehntausend Menschen mit der Franz-Josefs-Bahn in die Donauauen, um dort Freiheit und Naturerlebnis zu genießen. Im Musikpavillon spielten die Wiener Symphoniker, und die Menschen tanzten im Badekostüm dazu. Dieses Ambiente war genau nach Ernestines Geschmack.
»Aber was ist mit Minna?«, fragte Anton.
Nun war es Heide, die sich verlegen räusperte.
»Darf ich dich daran erinnern, dass ich keinen Hund wollte«, sagte Anton streng.
»Wie soll ich mich denn um die Apotheke kümmern, wenn –« Weiter kam sie nicht, denn genau in dem Moment öffnete sich die Wohnungstür. Die Cockerspaniel-Dame sauste ins Wohnzimmer. Ein semmelbraunes Fellknäuel mit Schlappohren lief direkt zu Anton und begrüßte ihn mit so viel Freude und Überschwang, dass man meinen könnte, sie hätte ihn seit Tagen nicht gesehen. Dabei war Rosa gerade mal eine halbe Stunde mit ihr spazieren gewesen. Heide schenkte sie keine Beachtung.
»Sie liebt dich«, sagte Heide.
»Hm!« Anton bückte sich und kraulte Minna hinter den Ohren.
Die junge Hündin stieß ihn mit der feuchten Schnauze gegen das Bein und sah ihn mit treuherzigen Augen an. Sie vermittelte den Eindruck, als sei sie die bravste Hündin auf Gottes Erdboden, dabei hatte sie heute Morgen Antons Lieblingshausschuhe zerkaut.
»Meinetwegen«, gab Anton nach. »Wir nehmen Minna mit.«
»Wohin nehmen wir Minna mit?«, fragte Rosa.
Sie war im letzten Jahr um ein gutes Stück gewachsen. Der Rock, der vor Kurzem noch ihre Knie bedeckt hatte, zeigte jetzt vom Spielen aufgeschürfte Hautstellen.
»Wir beide ziehen mit Minna bis zum Ferienende nach Kritzendorf«, sagte Anton. »Mit etwas Glück können wir Ernestine dazu überreden, uns zu begleiten.«
»Drei Wochen im Strombad?« Rosa klatschte vor Begeisterung in die Hände und hüpfte aufgeregt auf und ab. Ihre geflochtenen Zöpfe wippten dabei fröhlich mit.
»Ich muss meinen alten Schulfreund anrufen und nachfragen, ob sein Angebot noch steht.«
Seit ein paar Monaten hatten Anton und Heide einen Telefonanaschluss in der Apotheke. Rosa lief zur Wohnungstür. Minna sprang ihr hinterher.
»Wo gehst du hin?«, rief ihr Heide nach.
»Zu Ernestine. Wir dürfen keine Zeit verlieren und müssen packen.«
Schon war sie im Stiegenhaus und polterte die Stufen hinauf zur Mansardenwohnung.
»Besser du rufst Simon Goldblatt gleich an«, meinte Heide. »Wie ich Ernestine kenne, werdet ihr morgen Früh im ersten Zug Richtung Kritzendorf sitzen.«
Sie nahmen nicht den ersten Zug, aber bereits um zehn Uhr am Vormittag befanden sich Anton, Ernestine, Rosa und Minna in der Franz-Josefs-Bahn. Sie hatten Plätze im vorderen Teil ergattert, was ein Glück war. Da die Lokomotive sich in der Mitte des Zuges befand, um die Waggons sowohl ziehen als auch schieben zu können, wurden die Passagiere in den hinteren Wägen vom Rauch der Kohle eingehüllt. Da half es auch nicht, die Fenster geschlossen zu halten.
»Hoffentlich habe ich nichts vergessen«, sagte Ernestine.
Genau wie Anton es erwartet hatte, war sie sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte noch gestern Abend damit begonnen, ihren Koffer zu packen, der jetzt in der Gepäckablage über ihr lag.
»Wie passend, dass ich letzte Woche im Kaufhaus Herzmansky auf der Mariahilfer Straße ein neues Badekostüm erstanden habe.« Ernestine rieb sich zufrieden die Hände. »Wer hätte gedacht, dass ich es so schnell ausführen kann.«
»Ich nehme an, dass es das wichtigste Kleidungsstück der nächsten drei Wochen sein wird«, sagte Anton.
Die Vorstellung, Ernestine drei Wochen im Badekostüm zu sehen, gefiel ihm. Er mochte ihre Rundungen, ebenso wie ihre grauen Locken und ihre blitzblauen Augen, denen selten etwas entging.
»Wir tragen drei Wochen nur einen Badeanzug?«, fragte Rosa erstaunt.
»Hin und wieder vielleicht auch einen Bademantel«, lachte Ernestine.
»Das glauben mir meine Freunde in der Schule nie!« Rosa strahlte. Sie konnte es kaum erwarten, nach Kritzendorf zu kommen.
»Es ist wirklich sehr großzügig von deinem Jugendfreund, dass er uns seine Badehütte zur Verfügung stellt«, sagte Ernestine zu Anton.
»Simon ist froh, dass die Hütte nicht leer steht. Den Schlüssel sollen wir bei seiner Nachbarin abholen, einer Frau Violetta Mader. Angeblich hat sie eine Tochter in Rosas Alter.«
»Oh, fein. Hoffentlich ist sie nett.« Rosa rutschte vorfreudig auf der Holzbank hin und her. Aufgeregt presste sie ihr Gesicht so nah an die Fensterscheibe, dass ihre Nase einen Abdruck hinterließ. Draußen zog die Donau an ihnen vorbei.
»Ist hier noch frei?«
Eine Frau um die fünfzig zeigte auf den freien Platz neben Rosa. Sie trug ein altmodisches, hochgeschlossenes Kleid, das längst aus der Mode gekommen war und für die Temperaturen viel zu warm war. In ihrer Rechten hielt sie eine geblümte Reisetasche. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem schlichten goldenen Kreuz.
»Ja, natürlich. Wenn Sie unser Hund nicht stört«, sagte Anton. Minna war aufgesprungen und beschnupperte die Frau.
»Minna tut Ihnen nichts«, versicherte Rosa. »Sitz, Minna.« Sie drückte das Hinterteil des Cockerspaniels nach unten. Sofort sprang Minna wieder auf.
Nun versuchte Anton, den Hund zu bändigen. Minna schleckte ihm übers Gesicht. »Igitt, Minna. Pfui!« Angeekelt holte er sein kariertes Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte über die nasse Stelle.
»Sitz«, mischte sich Ernestine ein. Sofort setzte sich Minna und verharrte in dieser Stellung. Hechelnd sah sie zu Ernestine hoch.
»Wie machst du das?«, fragte Anton.
»Natürliche Autorität.«
Die Frau nahm neben Rosa Platz. Ihre Reisetasche hielt sie auf ihrem Schoß fest.
»Das ist ein sehr schöner Hund«, sagte sie. »Ich mag Hunde.« Sie streckte Minna die Hand entgegen. Die Hündin beschnupperte sie und ließ sich bereitwillig streicheln.
»Haben Sie selbst einen?«, fragte Ernestine.
»Ich nicht, aber die Frau, für die ich vor Jahren gearbeitet habe, hatte einen. Leider starben Hund und Frauchen in derselben Nacht.«
Ein Schatten legte sich über die farblosen Wangen der Mitreisenden. Mit etwas Schminke hätte sie als attraktiv durchgehen können. Doch sie schien wenig Wert auf ihr Äußeres zu legen. Der graue Farbton ihres Kleides entsprach dem ihres lieblos frisierten Haares.
»Oh, wie traurig. Gab es einen Zusammenhang?« Ernestine war von jeher eine neugierige Person, die am Schicksal anderer interessiert war.
»Das weiß man nicht«, sagte die Frau. »Emma Kopf kam bei einem nächtlichen Badeunfall ums Leben, ihr Hund wurde Tage später ebenfalls tot aus dem Wasser gezogen. Man hat nie erfahren, woran das Tier gestorben ist, es konnte ja schwimmen.«
Anton sah besorgt zu seiner Enkelin. Er fand, dass Rosa zu jung für derlei Schauergeschichten war, aber die Frau redete munter weiter.
»Es gab böse Stimmen, die behaupteten, dass Frau Kopf beim Schwimmen von ihrem eigenen Hund angegriffen wurde und sie deshalb unterging.«
»Was für eine Tragödie«, sagte Ernestine betroffen. »Handelt es sich bei der Verstorbenen um die Frau von dem berühmten Künstler Emil Kopf?«
»Ja, ich habe viele Jahre für die Familie gearbeitet. Ich war das Kindermädchen ihrer Tochter, Klara.«
Ernestine tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Nase. »Jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe damals von dem schlimmen Unfall in der Zeitung gelesen. Die Frau ist ertrunken, obwohl sie eine hervorragende Schwimmerin gewesen ist.«
»Ja, das war sie. Wir waren alle entsetzt. Es konnte auch niemand glauben, dass ausgerechnet der Hund sie getötet haben soll. Es war ein loyales Tier, das ihr wie ein Schatten überallhin gefolgt war. Er hat ebenso treuherzig dreingeschaut wie Ihre Minna.«
»War es auch ein Cockerspaniel?«, fragte Rosa.
»Nein, es war ein größerer Hund, ein Dalmatiner.«
»Oh, die lustigen weißen Hunde mit den schwarzen Punkten?«
Die Frau seufzte. »Man weiß eben nie, was wirklich in einem Tier vorgeht. Auch wenn sie noch so harmlos aussehen, können sie zu gefährlichen Bestien werden.«
»Nicht meine Minna«, sagte Rosa entschieden. Sie hielt der Hundedame die Ohren zu, damit sie die bösen Worte nicht hören konnte.
Anton fand die geschwätzige Frau zunehmend anstrengend. Warum hatte sie sich ausgerechnet zu ihnen gesetzt?
»Stimmt es, dass Emil Kopf in einem Haus in Klosterneuburg wohnt?«, fragte Ernestine.
»Ja, ich bin auf dem Weg zu seiner Tochter. Klara und ich stehen immer noch in engem Kontakt.« Die Frau streckte ihre Hand über die geblümte Reisetasche. »Mein Name ist Martha Kolarik.«
»Sehr erfreut. Ernestine Kirsch.« Sie ergriff die Hand und schüttelte sie. Auch Anton und Rosa stellten sich vor.
»Ach, Sie sind gar keine Familie«, sagte Martha Kolarik überrascht.
»Doch«, mischte sich Rosa ein. »Ernestine gehört zur Familie. Zumindest sagt Mama das.«
»Wirklich?« Ernestine hob amüsiert die Augenbrauen.
Antons Wangen wurden heiß. Plötzlich fand er die Donau unglaublich interessant. Er sah konzentriert aus dem Fenster.
»Dann werden Sie wohl in der Stadt Klosterneuburg wohnen«, mutmaßte Ernestine.
Abwehrend wedelte Martha Kolarik mit der Hand. »Aber nein, ich besuche Klara in der Badehütte ihrer Tante.«
»Wir ziehen auch in eine Badehütte«, sagte Rosa.
»Wie schön. In welche denn?«, wollte Martha Kolarik wissen.
»In die von Herrn Böcks Freund Simon Goldblatt. Er hat derzeit keine Verwendung für die Hütte.«
»Nein, was für ein Zufall. Klaras Hütte liegt ganz in der Nähe. Ich kenne Herrn Goldblatt nur flüchtig. Nutzt er die Hütte überhaupt noch?«
»Simon ist nur sehr selten in Kritzendorf«, sagte Anton und wandte sich wieder vom Fenster weg.
Die Frau schien sich gut in der Sommersiedlung auszukennen.
»Ich komme Klara seit vier Jahren besuchen. Genau genommen seit sie aus dem Internat in der Schweiz zurückgekommen ist.«
»Fräulein Kopf wohnt nicht mehr bei ihrem Vater?« Ernestines Anteilnahme an ihren Mitmenschen war schier grenzenlos.
»Den Sommer verbringt sie in der Badehütte ihrer Tante. Herr Kopf und seine neue Frau haben ebenfalls eine Hütte in der Siedlung. Im Winter ließ es sich bisher nicht vermeiden, dass Klara hin und wieder auch im Haus ihres Vaters in Klosterneuburg lebt. Das wird sich bald ändern. Die Situation ist für alle Beteiligten äußerst unerfreulich.«
»Ich habe gelesen, dass Herr Kopf nach dem Tod seiner Frau wieder geheiratet hat.«
Es war erstaunlich, was Ernestine wusste. Würde Anton sich nicht ausschließlich dem Sportteil widmen, wüsste er vielleicht auch über das Leben bedeutender Künstler Bescheid. Immerhin war ihm bekannt, dass Emil Kopf als berühmtester Bildhauer und Maler der Gegenwart galt.
»Seine neue Frau, Elfriede, ist eine ganz schreckliche Person«, schimpfte Martha Kolarik.
Anton fand es außergewöhnlich, wie freizügig die ehemalige Kinderfrau Privates ihrer Dienstgeber ausplauderte.
»Nächste Station Kritzendorf!« Der Schaffner ging mit schneidender Stimme durch den Waggon.
»Oh, wir sind schon da«, sagte Ernestine. »Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man sich angeregt unterhält.«
»Das stimmt.« Martha Kolarik stand auf. »Ich bin sicher, dass wir uns in den nächsten Tagen wiedersehen werden. Kritzendorf ist klein und überschaubar. Man trifft sich im Strombad und begegnet dort auch den Menschen, denen man lieber aus dem Weg gehen will.« Sie lachte. »Damit meine ich natürlich nicht Sie.«
Anton schwitzte unter seinem Strohhut, als er Ernestines schweren Koffer aus dem Zug hob. Er selbst hatte bloß eine kleine Reisetasche dabei. Auch Rosas Koffer war riesig, dabei war sie nur halb so groß wie er.
»Was hast du denn da alles eingepackt?«, fragte er seine Enkeltochter.
»Mama hat darauf bestanden, dass ich ein Buch mitnehme, und dann habe ich noch Malkreide und Papier, Federballschläger, den Stoffball für Minna …«
»Was für ein Glück, dass du nicht deinen roten Roller in den Koffer gestopft hast«, murrte Anton.
»Der hat nicht hineingepasst.« Rosa klang so, als hätte sie diese Idee in Erwägung gezogen.
»Wie sollen wir bloß das Gepäck in die Badehütte bringen? Ich kann das alles unmöglich schleppen.«
Anton runzelte sorgenvoll die Stirn. Die meisten anderen Passagiere waren Badegäste, die zum kleinen Bahnhofsgebäude strömten und Richtung Strombad drängten. Männer und Frauen mit Sonnenschirmen, Picknickkörben und Rucksäcken voll mit Handtüchern. Ein Mann zog einen Leiterwagen, auf dem sich zwei aufklappbare Liegestühle befanden. Anton sah ihm neidvoll nach.
»Opa, schau, dort drüben stehen ganz viele solcher Karren.«
Tatsächlich gab es neben dem Bahnhofsgebäude einen Stand, an dem man gegen Gebühr Leiterwägen für den Badetag ausleihen konnte. Eine kleine Warteschlange hatte sich davor gebildet.
»Schnell, Opa. Sonst kriegen wir keinen Wagen mehr.«
Minna, die sich nach der Bahnfahrt über Bewegung freute, zog Rosa an der Leine Richtung Stand. Die Transporthilfen waren sehr begehrt, und rasch leerte sich der Fuhrpark. Als Anton an die Reihe kam, war nur noch ein Karren da.
»Halt, den brauche ich!«
Der Mann, der hinter ihm wartete, drängte sich frech nach vorn. Er hatte den gleichen Strohhut am Kopf wie Anton, trug aber statt einer Hose und einem Hemd einen weiten blauen Kittel, der ihm lose von den Schultern hing.
»Würden Sie sich bitte wieder hinter mir anstellen«, forderte Anton höflich, aber bestimmt.
»Das ist der letzte Leiterwagen. Er steht mir zu«, sagte der Mann im Kittel überzeugt.
»Wir waren aber vor Ihnen da.«
»Des stimmt«, mischte sich der Leiterwagenverleiher ein.
Aufstehen musste der Verleiher nur, wenn ein Zug aus Wien in den Bahnhof einfuhr. Er hatte kurze Hosen an, ein Hemd und Badeschlapfen. Im Schatten einer großen Kastanie stand ein Liegestuhl, in dem er zuvor gelegen hatte. Auf einem kleinen Tischchen daneben waren eine Flasche Sprudelwasser und eine Tageszeitung. Anton fand, dass es kaum einen komfortableren Arbeitsplatz geben konnte.
»Wissen Sie denn eigentlich, wen Sie vor sich haben?«, empörte sich der Mann im Kittel. Er war in den Vierzigern.
»Na, und es is mir auch völlig wurscht!«
Der Leiterwagenverleiher wollte zurück zu seinem Liegestuhl.
»Ich bin Gustav Preisel, Schüler von Gustav Klimt. Mein Lehrer und ich hatten nicht nur denselben Vornamen, sondern auch eine ähnliche Pinselführung. In diesen Kisten befinden sich zwei einzigartige Gemälde aus meiner Hand, die ich in mein Atelier bringe.«
Preisel streckte seine Schultern durch, plusterte sich auf wie ein Hahn, der Eindruck auf seine Hühner machen wollte, und zeigte zu den beiden Kartons, die er neben sich abgestellt hatte.
»Und wenn S’ der Kaiser von China persönlich wärn. I hab nur mehr des ane Wagerl, und des kriegt der Herr da.«
Der Verleiher blieb unbeeindruckt. Er richtete sich an Anton, der ihm rasch die Leihgebühr bezahlte, um das Wagerl für sich zu sichern. Unterdessen hatte Minna die Kartons entdeckt und beschnupperte sie höchst interessiert.
»Bitte nimm den Hund weg.« Preisels Stimme wurde laut und überschlug sich.
»Entschuldigung«, sagte Rosa eingeschüchtert.
»Das fehlte mir gerade noch. Dass der Hund sein Bein an meinen Kunstwerken hebt.«
»Minna ist ein Mädchen«, erwiderte Rosa.
Preisel schenkte Rosa keine Beachtung. Er zog ein Taschentuch aus seinem Kittel und wischte sich damit über die glänzende, hohe Stirn. Sein Haar war bereits ergraut und schütter, dafür war sein Bart üppig und dicht.
»Wenn Sie wollen, können wir Ihre Gemälde mit auf den Wagen nehmen und ein Stück weit transportieren«, schlug Ernestine hilfsbereit vor.
»Wie soll das gehen. Der ist ja viel zu klein.«
»Aber nein, das geht sich aus!«
Sie hievte zuerst Antons Reisetasche, dann ihren Koffer auf das Wagerl. Noch während sie Rosas Koffer ergriff, eilte ihr Anton zu Hilfe.
»Warte, ich packe mit an.«
Als alle drei Gepäckstücke auf dem Leiterwagen waren, blieb immer noch etwas Platz übrig.
»Hier können Sie die Gemälde hingeben«, sagte Ernestine.
»Hm.« Preisel schob Ernestines Koffer noch weiter an den Rand, sodass seine Kartons nicht damit in Berührung kamen. Er schien zufrieden. »Ja, so könnte es passen.«
Anton zog den Wagen. Es stellte sich heraus, dass sie denselben Weg hatten, sie liefen die Badstraße Richtung Donauufer entlang. Das Atelier des Künstlers war eine Badehütte in der Reihe hinter der von Antons Jugendfreund Simon Goldblatt.
»Welche Art von Bildern malen Sie?«, erkundigte sich Ernestine.
»Hauptsächlich Landschaften, aber natürlich fertige ich auch Porträts an. Schließlich muss ich von etwas leben.«
Anton warf einen Blick auf Preisels Künstlerkittel. Der Stoff der Ärmel war abgestoßen. Auch die Ledertasche, die er über der Schulter trug, und die Sandalen an seinen Füßen waren nicht mehr neu.
»Bestellen viele Menschen Bilder bei Ihnen?«, wollte Ernestine wissen.
»Einige, aber es könnten mehr sein.« Preisel sah zu Rosa. »Haben Sie Interesse an einem Gemälde Ihrer reizenden Enkeltochter? Meine Kinderporträts sind sehr begehrt.«
»Rosa ist die Enkeltochter von Herrn Böck«, erklärte Ernestine. »Und ich fürchte, dass sie nicht genug Sitzfleisch hat, um Modell zu stehen.«
»Schade.«
Über den Treppelweg gelangten sie zum Strombad, passierten den Eingang mit der Kassa und gingen weiter zur Ferienhaussiedlung. Was von den Besitzern als Badehütten bezeichnet wurde, waren mitunter kleine Villen auf Pfählen mit direktem Zugang und Blick auf die Donau. Neben den prunkvollen Architekturjuwelen reicher Industrieller standen weniger eindrucksvolle Ferienhütten von einfachen Arbeitern. In Kritzendorf lebte während der Sommermonate die wohlhabende Oberschicht mit weniger reich Begüterten Tür an Tür. Im Badekostüm sah der Rechtsanwalt aus wie der Mechaniker und die Fabrikbesitzerin wie die Friseurin.
Alle Bauten hatten Fassaden aus Holz und waren auf Stelzen errichtet, die im Frühjahr Schutz vor dem regelmäßig auftretenden Hochwasser der Donau boten. Die meisten Hütten wurden nur von Anfang Mai bis Ende September bewohnt. Die von Gustav Preisel befand sich in der hintersten Reihe und zählte zu jenen, auf die das Wort »Baracke« zutraf. Die Farbe blätterte großflächig von der Holzfassade ab, die Fensterscheiben waren trüb und seit Jahren nicht geputzt worden. Ein Ofenrohr, das direkt neben einem der Fenster ins Freie führte, deutete darauf hin, dass die Hütte auch während der Wintermonate benutzt wurde. Der Gartenzaun war in einem ebenso desolaten Zustand wie das Gebäude. Der Bereich unter der Hütte war voll mit altem Gerümpel. Hier stapelten sich ausrangierte Küchenutensilien, leere Ölfässer, Farbbehälter und ein kaputter Schlitten.
»So, da wären wir.« Preisel nahm die Kisten vom Wagen. »Sie entschuldigen mich bitte, ich muss mich beeilen, denn ich treffe heute noch einen wichtigen Kunden.«
Ohne ein weiteres Wort öffnete er mit einem lauten Quietschen das schiefe Gartentor und marschierte auf seine Hütte zu.
»Er hat sich nicht einmal bedankt«, bemerkte Anton grantig.
»Warum hat der Mann eigentlich ein Kleid an?«, flüsterte Rosa in Ernestines Ohr, als sie weitergingen.
»Der Künstler, bei dem er angeblich gelernt hat, Gustav Klimt, hatte immer so einen Mantel an, wenn er bei seiner Freundin Emilie Flöge am Attersee war.«
»Warum angeblich?«, fragte Anton. »Glaubst du etwa nicht, dass er ein Klimt-Schüler war?«
»Wenn er einer war, kann er nicht viel von ihm gelernt haben«, meinte Ernestine kichernd. »Sonst würde seine Hütte anders aussehen.«
Sie hatten nun Simon Goldblatts Sommerdomizil erreicht.
»Mehr wie diese hier?«, fragte Anton.
Sie standen vor einer weiß gestrichenen Badehütte mit großen Fenstern und grünen Fensterläden. Im Vorgarten blühten gelbe Sommerblumen, und auch der restliche Garten war voller bunter Blüten in Lila, Rosa und Weiß. Zwei große Zwetschkenbäume trugen bereits kleine grüne Früchte. Unter dem Haus standen zwei Fahrräder, eine Himbeerhecke säumte den dunkelgrün gestrichenen Gartenzaun. Der Farbton passte perfekt zu dem der Fensterläden. Sowohl im Garten als auch auf einer geräumigen Terrasse mit direktem Blick auf die Donau befanden sich Tische und Stühle.
»Das ist ein kleines Paradies«, seufzte Ernestine. Rosa versuchte das Gartentor zu öffnen, aber es war verschlossen.
»Wir müssen zuerst den Schlüssel holen«, sagte Anton.
»Juhu!«
Auf der Terrasse der Nachbarhütte stand ein Mädchen mit roten Locken. Sie winkte ihnen zu. Eine Frau trat zu ihr. Auch sie winkte.
»Hallo, Sie müssen die Freunde von Herrn Goldblatt sein.«
»Ja«, rief Anton hinüber.
»Einen Moment. Wir kommen.« Beide liefen die Holztreppe in den Garten und durchquerten ihn.
Das Alter der Frau war sehr schwer zu schätzen, wahrscheinlich lag es irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Sie war außergewöhnlich schlank, hatte orangerotes Haar und ihre helle Haut war über und über mit Sommersprossen besprenkelt, die verdeckten die zahlreichen Fältchen. Sie trug einen japanischen Seidenkimono mit exotischem Blumenmuster, der sie jugendlicher erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Das Mädchen konnte genauso gut ihre Tochter wie auch ihre Enkeltochter sein. Dass eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen bestand, war unübersehbar. Das Kind war eine kleinere Ausgabe der Frau. Sie hatte ein knallrotes Badekostüm und einen kurzen beigen Rock darüber an.
»Och, ist der süß!« Die Kleine kniete sich zu Minna, die sie schwanzwedelnd begrüßte, so als kenne sie das Mädchen seit Jahren.
»Wir haben Sie bereits erwartet«, sagte die Frau. Sie reichte zuerst Anton, dann Ernestine die Hand. »Ich bin die Nachbarin, Violetta Mader. Und das hier ist meine Tochter, Lili. Sie konnte es kaum erwarten, dass Sie kommen.«
»Sehr erfreut. Ich bin Anton Böck, und das hier sind meine Bekannte Ernestine Kirsch und meine Enkeltochter Rosa.«
»Simon hat mir noch gestern Abend eine Nachricht im Strandcafé hinterlassen«, erklärte Violetta Mader. »Lili und ich haben heute Morgen alle Fenster aufgemacht, damit die Hütte durchgelüftet wird, außerdem haben wir Ihnen frisches Bettzeug und Handtücher bereitgelegt.«
»Sind Sie so eine Art Hausmeisterin?«, fragte Anton.
»Hausmeisterin?« Violetta Mader hob mit gespielter Empörung die Hände. »Gott bewahre, wie das klingt.« Sie lachte. »Ich gieße Simons Blumen, fege alle paar Wochen seine Hütte und verwahre seinen Schlüssel, im Gegenzug überweist er mir jeden Monat eine kleine Summe auf mein Konto.«
Also doch eine Art Hausmeisterin, dachte Anton.
Frau Mader holte aus der Tasche ihres Kimonos einen Schlüsselbund hervor. »Hier bitte«, sagte sie. »Der große Schlüssel ist für die Hütte, der kleine fürs Gartentor und der, der ein bisschen verbogen ist, ist eigentlich für den Geräteschuppen. Da das Schloss seit dem letzten Hochwasser verrostet ist, habe ich den Schuppen offen gelassen.«
»Danke.« Anton nahm den Schlüsselbund entgegen.
»Falls Sie einkaufen wollen: Neben dem Bahnhof gibt es einen Greißler, dort bekommen Sie alles: Lebensmittel, Putzmittel, Glühbirnen, Gaskartuschen und Sonnencreme. Wenn Sie nur Milch, Brot, Obst oder Dosen brauchen, das können Sie im Strombad bei Frau Grampel kaufen. Sie betreibt in den Sommermonaten einen kleinen Laden im Bad, das Gelsenstüberl. Außerdem verkauft sie die schönsten Bademäntel in Kritzendorf.«
»Bademäntel?«, fragte Ernestine.
»Aber ja. Eine Designerin aus Wien beliefert sie, Madam Emilia Fischer. Dieses Modell ist auch aus dem Laden.« Stolz drehte Violetta Mader sich im Kreis und präsentierte ihren Kimono.
»Zauberhaft«, sagte Ernestine bewundernd.
Violetta Mader nickte zufrieden. »Im Strandcafé gibt es den ganzen Tag über warme Küche, am Nachmittag werden Mehlspeisen serviert, und an den Abenden am Wochenende werden im Pavillon Tanzveranstaltungen abgehalten.«
»Das klingt ja alles ganz wundervoll!« Ernestines Augen leuchteten bei dem Wort »Tanzveranstaltungen«.
Anton reagierte mehr auf die Aussicht auf Mehlspeisen. Sein Magen knurrte so laut, dass er fest dagegendrücken musste, um ihn zu beruhigen. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen, ein Umstand, den er rasch ändern musste. Es war kein Geheimnis, dass Anton dem guten Essen nicht abgeneigt war. Auch wenn man es ihm nicht ansah, er war groß und hager. Aber sobald er ein knuspriges Wiener Schnitzel oder eine saftige Cremeschnitte erblickte, fiel es ihm schwer, seine Gedanken auf etwas anderes zu lenken.
»Beziehen Sie erst mal in Ruhe die Hütte«, schlug Violetta Mader vor. »Falls Sie etwas brauchen, wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
»Ach, Mama. Kann ich nicht hierbleiben?« Lili und Rosa saßen beide bei Minna im Gras, was die Cockerspaniel-Dame sichtlich genoss.
»Ja, bitte«, drängte auch Rosa.
Die Mädchen schienen sich auf Anhieb sympathisch zu finden.
Violetta Mader sah Ernestine fragend an.
»Mich stört es nicht.«
Dann wandte sie sich an Lili und Rosa. »Aber ihr müsst versprechen, dass ihr nicht allein zur Donau geht. Die Strömung –«
Lili unterbrach ihre Mutter. »Ich weiß«, sagte sie und verdrehte dabei die Augen. »Deine Freundin war eine gute Schwimmerin, und trotzdem ist sie ertrunken.«
Offenbar hatte Lili die traurige Geschichte schon sehr oft gehört.
»Man darf die Donau nicht unterschätzen, mein Liebling«, mahnte Violetta Mader.
»Wir gehen nicht zum Wasser«, versprach Lili.
»Zumindest nicht allein«, ergänzte Ernestine. »Ein erfrischendes Bad wäre jetzt gerade das Richtige.«
»Habt ihr auf die Uhr geschaut?«, empörte sich Anton. »Es ist gleich zwölf. Zeit fürs Mittagessen.«
»Ich will Sie nicht weiter stören«, sagte Violetta Mader. »Von mir aus kannst du noch ein bisschen bleiben, Lili. Aber in einer halben Stunde kommst du rüber zum Essen. So lange brauche ich noch zum Proben.«
»Proben?«, fragte Anton.
»Ja, ich bin Operettensängerin und muss täglich meine Gesangsübungen absolvieren. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Mein Schlafzimmerfenster grenzt an Ihren Garten.«
»Aber nein, ganz und gar nicht«, rief Ernestine begeistert. »Ich liebe Operetten. Für welches Stück üben Sie denn?«
»›Die Csárdásfürstin‹ von Emmerich Kálmán.«
»Ist das nicht eine großartige Neuigkeit, Anton? Wir werden jeden Morgen mit fröhlichem Gesang geweckt.« Ernestine konnte ihr Glück kaum fassen.
»Es freut mich, dass Sie Operetten mögen«, sagte Violetta Mader. »Anfang des Sommers hat Simon Leute eingeladen, die sich furchtbar über meine Übungen aufgeregt haben. Sie sind schon nach drei Tagen wieder abgereist.«
»Das Singen hat sie nicht gestört«, sagte Lili. »Sondern die Trompete.«
»Trompete?« Anton hob alarmiert die Augenbrauen.
»Ich habe das Instrument von einem Kollegen bekommen, der es nicht mehr benötigt. Es ist Jahre her, dass ich zuletzt gespielt habe. Möglich, dass ich ein bisschen aus der Übung bin«, gab Violetta Mader zu. Lili kicherte.
»Machen Sie sich keine Gedanken«, beteuerte Ernestine. »Nur wer fleißig übt, wird am Ende dafür belohnt.«
Anton sah dem musikalischen Genuss mit Skepsis entgegen. Aber sein Magen knurrte erneut, er hatte ein ganz anderes Problem: Er brauchte dringend ein Mittagessen.
Leider musste das noch warten, denn zuerst hieß es die Koffer auspacken. Über eine Holztreppe gelangten sie zur Badehütte. Anton sperrte die Tür auf. Durch ein rundes Fenster, das an eine Schiffsluke erinnerte, konnte man ins Innere schauen.
Lili, die die Hütte kannte, trat als Erste ein. »Das Häuschen von Herrn Goldblatt ist viel größer als unseres«, sagte sie.
Anton fand die Hütte winzig klein, aber der vorhandene Raum war klug geplant. Neben der Eingangstür waren eine Garderobe und ein Spiegel angebracht. Eine Essküche mit einer gemütlichen Eckbank bildete das Herzstück. Eine hohe Glastür führte zu einer Veranda und eine kleine Holztür zu einem weiteren Raum, in dem zwei getrennte Betten, zwei Nachtkästchen und ein Schrank standen.
»Wo schlafe ich?«, fragte Rosa.
Vis-à-vis der Eckbank gab es ein ausziehbares Sofa.
»Vielleicht hier?« Anton stieg die Hitze zu Kopf. Dabei war ihm ohnehin schon heiß. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es nur einen Schlafraum gab.
»Das werden wir noch besprechen«, meinte Ernestine und verschob das Thema auf einen späteren Zeitpunkt.
Anton war vorerst erleichtert und Rosa einverstanden. Sie lief vorbei an der Wohnküche zur Terrassentür, von der aus man einen direkten Blick auf die Donau hatte. Gerade fuhr ein breites Dampfschiff langsam stromaufwärts Richtung Krems. Minna untersuchte ebenfalls die neue Umgebung. Nervös inspizierte sie jede Ecke des Raums mit ihrer Schnauze. Auf der Rückseite des Hauses reichte der Garten bis zum Treppelweg. Durch ein weiteres Gartentor gelangte man in eine sandige Donaubucht. Neben einem neu errichteten Holzsteg lag eine einfache Zille.
»Ihr habt sogar ein Ruderboot«, sagte Lili beeindruckt. »Vielleicht fährt dein Opa mit uns in den Auwald.« Sie senkte ihre Stimme. »Meine Mama erlaubt sicher nicht, dass wir allein rudern. Kannst du schwimmen?«
»Ja«, antwortete Rosa mit stolzgeschwellter Brust.
Sie hatte es schon im letzten Sommer erlernt. Schwimmen war keine Selbstverständlichkeit. Viele Kinder und Erwachsene beherrschten den Sport nicht. Jedes Jahr ertranken zahlreiche Menschen in den Seen und Flüssen des Landes.
»Ich bin so froh, dass du da bist«, sagte Lili. »Es ist hier zwar sehr schön, aber ein bisschen langweilig. Mama lässt mich nicht allein ins Strombad gehen, sie hat ständig Angst, ich könnte ertrinken.«
»Wegen ihrer Freundin?«, fragte Rosa.
Lili nickte. »Dabei ist die Geschichte schon hundert Jahre her.«
»Hundert Jahre?« Rosa war sichtlich beeindruckt.
»Na ja, nicht ganz«, gab Lili zu. »Aber ich glaube über zehn, und das ist auch eine lange Zeit.«
»Weißt du, wie die Freundin geheißen hat, die ertrunken ist?«, fragte Ernestine, sie hatte das Gespräch der Mädchen mitgehört.
Neugier lag in ihrem Naturell. Sie neigte dazu, ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, die sie eigentlich nichts angingen. Nicht selten stieß sie dabei auf dunkle Abgründe menschlichen Daseins.
»Emma Kopf«, antwortete Lili mit Stolz in der Stimme.
»Die Ehefrau des berühmten Künstlers Emil Kopf?«
Nun musste Lili passen. Sie zuckte mit den Schultern.
Unterdessen inspizierte Anton die Küche. Er war nicht nur ein Genießer, sondern auch ein leidenschaftlicher Koch. Auf engstem Raum fand er alles, was er in den nächsten Wochen benötigen würde: eine Gaskochplatte, eine Spüle, Töpfe, Pfannen, eine Kaffeekanne samt weißem Keramikfilter, Geschirr und Gläser. Bloß im Vorratsschrank herrschte noch gähnende Leere, nur Salz, Pfeffer und Öl befanden sich im Kasten. »Nach der Mittagspause werden wir dem Greißler einen Besuch abstatten«, meinte er. »Und jetzt bin ich dafür, das Strandcafé aufzusuchen.«
Rosa und Ernestine waren einverstanden, und Lili verabschiedete sich von ihnen.
»Rufst du mich, wenn ihr wieder da seid?«, fragte sie Rosa.
»Ja, dann probieren wir das Ruderboot aus, nicht wahr, Opa?«
Anton schwante, dass es mit dem gemütlichen Nachmittagsschläfchen, das er eigentlich hatte machen wollen, wohl nichts wurde. Einkaufen, Leiterwagen zurückbringen, Ruderboot fahren … er hatte sich das Leben in der Au beschaulicher vorgestellt.
Im Strandcafé herrschte reger Betrieb. Das Lokal lag neben dem Strombad und konnte sowohl von den Gästen des Bads als auch von anderen Besuchern genutzt werden. Die Betriebe innerhalb des Strombads waren ausschließlich den Badegästen vorbehalten. Die meisten Badehüttenbesitzer hatten Saisonkarten. Anton, Ernestine und Rosa lösten Wochenkarten.
Die grün lackierten Holztische in dem offenen Gastgarten waren alle besetzt.
»Da hinten ist noch Platz«, sagte Ernestine und ging rasch los.
Zwei Herren saßen im Schatten eines Sonnenschirms an einem Tisch mit sechs Stühlen.
»Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?«
»Selbstverständlich, gern.« Ein älterer, korpulenter Herr mit einem imposanten Schnauzbart machte eine einladende Geste. Ernestine winkte Anton und Rosa zu sich.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, vielen Dank«, sagte Anton.
Sie stellten sich einander vor und nahmen Platz. Der ältere Herr hieß Maximilian Hummel, der jüngere war sein Sohn Konrad. Zwischen den beiden bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. Während der Sohn groß, athletisch und sonnengebräunt war, er erinnerte Ernestine an einen deutschen Stummfilmschauspieler, sah der Vater ungesund blass aus.
»Hier ist leider Selbstbedienung«, erklärte Maximilian Hummel.
»Dann werde ich mich anstellen.« Bereitwillig erhob sich Anton wieder. »Was soll ich euch bringen?«
»Ich hätte gern eine große Himbeerlimonade und ein Paar Würstel«, sagte Ernestine.
»Das will ich auch!« Rosa sprang auf, um ihren Großvater zu begleiten. Ernestine blieb mit Minna zurück.
»Sitz«, forderte sie. Anstandslos nahm die Hundedame Platz.
»Was für ein wohlerzogenes Tier«, lobte Maximilian Hummel.
»Sie ist nicht immer so«, gab Ernestine zu.
»Meine Frau hat ein Pudelweibchen, die würde niemals tun, was man von ihr verlangt. Sie ist ein verzogener Köter. Zum Glück ist sie im Moment nicht hier.«
Ernestine fragte sich, ob er die Pudeldame oder seine Frau meinte. Es war erstaunlich, wie schnell man mit Menschen in ein Gespräch fand, sobald man einen Hund dabeihatte.
»Sie sind Tagesgäste im Bad?«, erkundigte sich Ernestine.
»Nein, wir besitzen die ›Möwenvilla‹ am Ende der Sommersiedlung.«
Ernestine war aufgefallen, dass viele der Badehütten wohlklingende Namen wie »Auwaldvilla«, »Donauschlösschen« oder »Mückenpalais« hatten. Simon Goldblatt hatte seiner Hütte keinen Namen gegeben.
»Dann ist Ihre Frau jetzt in der ›Möwenvilla‹?«
»Nein, sie weilt noch in Wien.«
»Sie machen also einen Vater-Sohn-Urlaub.«
»Nun, Urlaub würde ich es nicht nennen«, sagte Maximilian Hummel.
»Vater hofft, ein Kunstwerk von Herrn Kopf zu erstehen«, erklärte Konrad.
Ernestine hob überrascht die Augenbrauen. Es war interessant, wie oft sie an diesem Tag schon den Namen des Künstlers gehört hatte. Er schien eine wichtige Rolle im Kritzendorfer Kulturleben zu spielen. Dabei kamen auch viele andere namhafte Kunstschaffende regelmäßig zur Sommerfrische, wie sie wusste. Die unkonventionelle Freiheit Kritzendorfs zog Maler, Schriftsteller und Musiker gleichermaßen an.
»Ich nehme an, dass das bloß eine Frage der Summe ist, die Sie bieten werden«, meinte Ernestine. Sie hatte gehört, dass Kopfs Skulpturen ein Vermögen wert waren.