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Für meine Eltern,
die einiges mit uns mitmachen mussten und uns trotzdem immer liebevoll zur Seite standen

Inhalt

Prolog:

Es gibt keine Zufälle

UNSERE KINDHEIT: VON EINEM EXTREM INS ANDERE

Normal kann ja jeder

WIE WIR HOCHKANT VON DER SCHULE FLOGEN

Es war nicht so, wie es aussah

MEINE WELT BRICHT ZUSAMMEN

So war das nicht geplant

DER KAMPF BEGINNT

Ich habe also tatsächlich Krebs

WENN SICH DIE BEHANDLUNG SCHLIMMER ANFÜHLT ALS DIE KRANKHEIT

Die Chemo macht mich fertig

LANGSAM GEHT ES WIEDER AUFWÄRTS

Höchste Zeit für neuen Blödsinn

VON UNSINNIGEN REGELN UND SINNLOSEN VERBOTEN

Leben auf eigene Gefahr

DAS LEBEN IST EINFACH PERFEKT … ODER?

Unser YouTube-Kanal hebt dank Drohne so richtig ab

DOCH ES KOMMT IMMER ANDERS, ALS MAN DENKT

Ein schlimmer Verdacht und die Folgen

JETZT GEHT DAS ALLES WIEDER VON VORNE LOS

Alles zurück auf Anfang?

WENN GOTT ES NICHT IN ORDNUNG BRINGT

Glauben können versus wissen wollen

”ES IST WIEDER EIN TUMOR!“

Wenn die Angst sich von hinten anschleicht

DER TRAUM VOM FLIEGEN

Abheben leicht gemacht

WENN DIE HÜTTE BRENNT, RUF DIE FEUERWEHR!

Gedankenspielereien zwischen Glauben und Wissen

WENN EIN KLEINER SATZ ALLES VERÄNDERT

Eine Antwort aus der Vergangenheit

ABGESTÜRZT

Der schlimmste Tag unseres Lebens

“FEEL HOW RELI(E)VING IT IS“

Was Elli uns hinterlassen hat

WENN ES FEUER VOM HIMMEL REGNET

Warum eigentlich nicht?

IRGENDWIE MUSS ES WEITERGEHEN

Wir verwirklichen Ellis Traum von unserem “Schloss im Wald“

SPONTAN-TAUFE UND EIN GRUSS VOM HIMMEL

Manche Sachen muss man einfach machen

DER NICHT GANZ DIREKTE WEG ZUR HEILUNG

Wenn Gott auf krummen Zeilen gerade schreibt

EIN NEUES MEDIKAMENT UND EINE KRASSE ENTSCHEIDUNG

Einfach scheint es bei mir nie zu gehen

“ES KANN JA NICHT SCHADEN“

Was man alles so probiert

GAR NICHT SO EINFACH ZU WISSEN, WAS RICHTIG IST

Hinterher ist man immer schlauer

ZURÜCK IM REAL LIFE

Endlich wieder verrückte Sachen machen

WIE ES WEITERGEHT

Lernkurven, offene Fragen und ein Ausblick

Wenn du mehr wissen willst

Über den Autor

Bildteil

Endnoten

Prolog:

Es gibt keine Zufälle

Heute ist der 21. März 2018. Ich liege in einem großen weißen Krankenhauszimmer. Draußen scheint die Sonne, hier drinnen ist es düster. Diesen Geruch von Desinfektionsmitteln und den Anblick meines Rollstuhls kann ich nicht mehr aushalten. Wie ein Gefangener fühle ich mich. Ich bin allein und ich habe Zeit. Zeit, um nachzudenken, um nochmal alles durchzugehen, was in den letzten Wochen passiert ist. Es hat sich so viel verändert, ich muss das jetzt alles einmal aufschreiben, bevor ich es wieder vergesse. Ich wünschte, ich hätte alles festhalten, für immer abspeichern können, jetzt ist sicher schon viel vergessen gegangen. Aber ich werde versuchen, alles so genau wie möglich wiederzugeben.

So richtig fassen kann ich es immer noch nicht. Wir haben unsere geliebte Schwester Elli vor zwei Tagen, am Montag, den 19. März 2018, an ihrem 19. Geburtstag, begraben, nachdem sie mit einem Ultraleichtflugzeug tödlich verunglückt ist. Ich sehe das kleine rote Flugzeug immer noch vor mir. Als Flugzeug war es kaum noch zu erkennen, so tief steckte es im Boden. Hunderte Einsatzkräfte standen auf dem Feld, im leichten Regen. Es herrschte eine bedrückte Stimmung, die Notrakete für den Fallschirm wurde noch nicht ausgelöst und konnte jederzeit explodieren. Eine Polizistin kam auf mich zu und sprach mir ihr herzliches Beileid aus.

Ich habe wieder Krebs. Das Atmen fällt mir schwer, ich fühle mich schwach. Vor etwa viereinhalb Jahren hatte ich schon einmal eine Krebsdiagnose und habe eine Chemotherapie hinter mich gebracht. Eigentlich gilt man nach dieser Zeit als geheilt.

Eigentlich.

Soll ich nochmal diese Chemo machen? Die Chemo, die einen so sehr zerstört und anscheinend doch nicht heilen kann? Ich will lieber bis zum Tod kämpfen, als nochmal dieses Gift verabreicht zu bekommen! Aber dazu später mehr.

Vor ein paar Wochen war in unserem Leben noch alles perfekt. Zumindest sah es so aus und fühlte sich auch so an. Wie schnell kann sich das alles ändern. Wie wenig kann man doch sein Leben planen, wie wenig denkt man darüber nach, was sich alles von einem auf den anderen Tag ändern könnte.

Wir hatten schon immer ein extremes Leben. Wenn ich „wir“ schreibe, meine ich meinen Zwillingsbruder Johannes und mich. Wir machen schon immer alles zusammen. Und wenn wir etwas machen, machen wir es richtig, machen es oft extrem. Meistens machen wir es zu extrem, wie unsere Mutter sagen würde. Halbe Sachen gibt es für uns nicht; wenn wir etwas anfangen oder uns etwas vornehmen, wird es auch zu Ende gebracht. Wir versuchen, für alles eine Lösung zu finden, auch wenn es am Anfang oft unmöglich scheint.

Ich verstehe gar nicht, warum unser Leben so extrem ist. Warum es bei uns immer so steil bergauf, aber auch genauso steil wieder bergab geht. Manchmal wünschte ich mir, es gäbe keins von beidem in meinem Leben, weder das extrem Gute noch das extrem Schlechte. Aber ich möchte auch mit keinem anderen tauschen. Egal, was kommt und egal, was passiert ist. Auch nicht mit jemandem anderen, der keinen Krebs hat und da draußen, hinter diesen dicken Krankenhausmauern, ohne Rollstuhl laufen kann. Auch mit meinem Bruder würde ich nicht tauschen wollen. Für ihn muss es auch hart sein, das alles mitzuerleben, vielleicht sogar noch härter als für mich.

Das Schlimmste ist für mich, wenn ich sehe, dass etwas Schreckliches passiert, ich aber nichts daran ändern kann und hilflos dem Schicksal ausgeliefert bin. Eigentlich gibt es für mich gerade überhaupt keinen Grund zur Hoffnung. Warum hat es gerade mich erwischt?

Was hatte das Schicksal gegen mich, einen zwanzig Jahre alten Jungen, der normalerweise nicht ganz so kreidebleich aussieht wie im Moment, der einfach seine Freiheit genießen will und möglichst viele verrückte Abenteuer sucht?

Eigentlich müsste ich verzweifelt sein, müsste mein Leben keinen Sinn mehr machen.

Aber jetzt gibt es da plötzlich einen Lichtblick. Am Donnerstag vor zwei Wochen hat sich schlagartig alles verändert. Dieses Erlebnis hat mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Und das, obwohl ich immer noch hier in diesem trostlosen Zimmer liege und alles gerade wie ein einziger Albtraum scheinen müsste.

Was war passiert?

Um das zu verstehen, will ich euch mitnehmen in mein Leben, weit weg von der Kamera. In die Zeit, bevor wir YouTube-Stars wurden – auch wenn ich dieses Wort hasse –, als ich noch nicht ahnen konnte, dass ich einmal so krank werde oder dass meine Schwester so früh sterben muss. Das Leben ist so unvorhersehbar. Ich glaube, das ist eben das Real Life, das „echte Leben“, das man nicht planen kann und das nicht immer so perfekt ist, wie es in den sozialen Medien aussieht.

Aber ich fange wohl besser vorne an …

UNSERE KINDHEIT: VON EINEM EXTREM INS ANDERE

Normal kann ja jeder

Mein Zwillingsbruder Johannes, unsere jüngere Schwester Elli und ich haben uns immer super verstanden. Vor allem Johannes und ich. Als Zwillinge waren wir fast wie eine Person, zumindest haben wir sehr ähnlich gedacht und in fast allen Dingen dieselbe Meinung gehabt. Wenn es Streit oder Ärger gab, haben wir immer zusammengehalten, und wir haben von Anfang an gemeinsam die verrücktesten Ideen umgesetzt.

Wahrscheinlich können nur Zwillinge verstehen, wie schön es ist, immer den besten Freund mit dabei zu haben – und nicht nur irgendeinen Freund, sondern jemanden, dem man zu hundert Prozent vertrauen kann, der den gleichen Geschmack, die gleichen Ideen und die gleichen Ansichten hat wie man selbst. Johannes und ich verstehen uns meistens auch ohne zu reden. In der Schule haben wir unsere eigene Sprache entwickelt beziehungsweise so undeutlich miteinander geredet, dass uns niemand anders verstehen konnte.

Mit unserer Schwester hatten wir auch immer ein sehr gutes Verhältnis. Klar gab es manchmal Streit, besonders, als wir noch jünger waren, aber wir haben uns immer schnell wieder vertragen. Elli war genauso verrückt wie wir, genauso lebensfroh, teilweise sogar noch abenteuerlustiger. Ich glaube, sie hätte sich auch manchmal eine Zwillingsschwester gewünscht, denn bei Meinungsverschiedenheiten stand sie immer allein da, gegen uns beide, und das war sicher nicht immer leicht. Auch wenn es mal Diskussionen mit unseren Eltern gab, hatten Johannes und ich es zusammen natürlich immer leichter. Und auch in der Schule, egal, ob es Klassenkameraden oder Lehrer betraf – wer sich mit einem von uns anlegen wollte, hatte immer direkt uns beide an der Backe. Ganz besonders, wenn es um Regeln ging, die wir nicht verstehen oder akzeptieren konnten.

Nicht nur wir sind extrem, sondern auch unsere Eltern. Extrem religiös, wie ich es immer gesagt habe. Aus unserer Sicht als Kinder ging es bei ihrem Glauben vor allem darum, dass man sich an eine Unmenge strenger und für uns völlig unverständlicher Regeln hält. Das Schlimmste für uns Kinder war es, den „Ruhetag zu heiligen“, was bedeutete, dass wir am Ruhetag absolut gar nichts tun durften, was Spaß machte. Das hat mit der Zeit dazu geführt, dass er für uns zum absoluten Hasstag wurde, einfach weil wir uns zu Tode langweilen mussten und nicht verstanden haben, warum. Und so ging es uns auch mit den meisten anderen Regeln, die bei uns zu Hause galten.

So sind wir genau ins Gegenteil umgeschlagen – haben alles hinterfragt, unser „rebellischer Geist“ wurde schon in der Schule von manchen Lehrern kritisiert. Eigentlich haben wir immer nur darauf geachtet, das zu tun, was uns Spaß macht, und versucht, dabei niemand anderem zu schaden. Alles andere war Nebensache.

Ich muss ganz vorne anfangen. Ganz am Anfang, noch vor YouTube, vor meiner Diagnose, bevor wir von der Schule geflogen sind, noch bevor wir überhaupt zur Schule gegangen sind.

Wir haben bis zur vierten Klasse Heimschule gemacht. Bei uns zu Hause, auf einem kleinen ehemaligen Bauernhof. Landwirtschaftlich genutzt wurde dieser Hof schon lange nicht mehr, aber immerhin hatten wir noch ein paar Hasen und Hühner. Und die große Werkstatt! Eine alte Scheune, in der unser Vater alles hatte, was man zum Basteln brauchte. Schon von klein auf haben wir ihm zugeschaut und mitgeholfen, gemeinsam an Fahrrädern geschraubt oder Sachen repariert. Er hat sogar einige Patente entwickelt. Damals wurden wohl die Anfänge unserer Selbstbauleidenschaft gelegt. Das machte einfach viel mehr Spaß, als auf der Spielekonsole zu zocken.

Die ersten vier Jahre unserer Schulzeit mussten wir überhaupt nicht zur Schule gehen, sondern wurden von unserer Mutter zu Hause unterrichtet. Dafür bin ich auf jeden Fall sehr dankbar, auch wenn das, genau wie alles im Leben, Vor- und Nachteile hatte. Ich denke mittlerweile, dass es eine der besten Zeiten in unserem Leben war, die uns so viele gute Grundlagen gegeben hat. Unsere Eltern wären dafür am Ende fast ins Gefängnis gegangen, mussten mehrmals vor Gericht und Strafe zahlen, weil wir nicht in der Schule waren.

In vielen Ländern ist „Homeschooling“ inzwischen ein gängiges Konzept, nur in Deutschland wird das einfach nicht akzeptiert, obwohl man uns jederzeit auf unseren Leistungsstand hätte überprüfen können, der vermutlich besser war als bei den meisten „normalen“ Schülern. In der vierten Klasse haben wir schon mit x und y gerechnet – und das, obwohl wir nur drei oder vier Stunden am Tag Unterricht hatten. Den Rest des Tages konnten wir mit Freunden im „Real Life“ verbringen.

Ab der vierten Klasse sind wir dann auf eine „christliche“ Schule gegangen. Der Staat hat uns beziehungsweise unsere Eltern dazu gezwungen. Ich verstehe bis heute nicht, warum diese Schulpflicht in Deutschland so unglaublich ernst genommen wird und es nicht eine Bildungspflicht oder Ähnliches gibt, wie zum Beispiel in Österreich.

Eingeführt wurde die Schulpflicht ja eigentlich mal, um ein gewisses Bildungsniveau für alle sicherzustellen. Schöner Gedanke, aber tatsächlich habe ich manchmal das Gefühl, dass es eher darum geht, Kinder zu beschäftigen und mit sinnlosem Wissen vollzustopfen, als sie zum selbstständigen Denken und zur Bildung einer eigenen Meinung anzuregen. Für meine Begriffe ist die Schule eher hinderlich dabei, Dinge zu hinterfragen und kreativ zu werden. Jedenfalls habe ich das so erlebt.

Ich sehe diesen hässlichen grauen Bau immer noch vor mir. Den hohen Zaun, der den gefängnisartigen Gesamteindruck noch unterstrich. Den kleinen Pausenhof mit einem Basketballkorb, auf dem man überhaupt nichts machen konnte, außer immer nur die gleichen Spiele zu spielen. Die kleinen Fenster in den düsteren Klassenräumen. Hier gab es keine Werkstatt, keinen Wald, keinen Raum für Kreativität, keine Freiheit. Stattdessen hunderttausend sinnlose Regeln, die das ohnehin schon langweilige Schülerdasein so eintönig gemacht haben, dass wir uns vorkamen wie im Knast.

Ich konnte nie verstehen, warum wir die Einzigen waren, die dieses System gehasst haben, aber wahrscheinlich konnten nur wir das so sehen, weil wir das Leben ohne Schule kannten. Ohne diesen Zwang, jeden Morgen stundenlang im Klassenzimmer zu sitzen und sich den Unterricht anhören zu müssen, egal, ob man es schon längst verstanden hatte oder nicht. Wahrscheinlich ging es den anderen wie Hühnern, die in ihren Legebatterien groß geworden waren und das Leben da draußen gar nicht kannten. Die nicht wussten, wie viel Freude es macht, kreativ zu sein, zu versuchen, das Unmögliche zu schaffen und selbst neue Lösungswege zu entdecken, anstatt die Lösungswege auswendig zu lernen, die jemand anders entwickelt hat.

Früher hatten wir einfach aus Interesse gelernt. Ich weiß noch, wie unsere Mutter uns das Dividieren beigebracht hatte. Eigentlich hätten wir noch mit ganz kleinen Zahlen rechnen sollen, aber damals hatte uns der Wissensdrang gepackt. Voller Neugier hatten wir weiter gefragt und gelernt, wie man große Zahlen teilen konnte.

Für uns war dieses neue Wissen so interessant, dass wir abends den Taschenrechner mit ins Bett schmuggelten. Dann dachten wir uns beliebige Zahlen aus und fingen an, fünf- oder sechsstellige durch dreistellige Zahlen im Kopf zu teilen. Wenn wir das Ergebnis hatten, rechneten wir es mit dem Taschenrechner nach. Das machte einfach Spaß, wir freuten uns auf den Unterricht, wir lernten nie für Noten, nein, denn bei uns gab es überhaupt keine.

In der Schule lernte niemand aus Interesse. Hier lernte man für die Noten im Zeugnis. Man versuchte, seinem Gehirn durch endlose Wiederholungen vorzutäuschen, dass etwas wichtig sei, bis man es endlich wusste. Das Schlimmste war, sich nach einem siebenstündigen Unterrichtstag zu fragen, was man an diesem Tag tatsächlich gelernt hatte. Das war meist wenig. Und wenn man sich dann noch fragte, was man für sein Leben gelernt hatte, blieb so gut wie gar nichts übrig. Das hätte man auch in einer Stunde zu Hause lernen können.

Diese Schule nannte sich also „christlich“. Was war das, woran die Menschen hier glaubten? Man erzählte uns von einem Gott. Einem höheren Wesen, das uns immer sah und hörte und mit dem man immer reden konnte. Aber ich konnte diesen Gott dort nie wirklich sehen. Zumindest nicht so, dass es mich überzeugt hätte, eher im Gegenteil! Weder in den morgendlichen Andachten noch im Umgang der Lehrer mit uns Schülern kam für mich irgendetwas rüber, das mich hätte aufhorchen lassen. Auch nicht in den gefühlt sinnlosen Gebeten, wenn Matthias für gutes Wetter betete und Sara für Regen. Das hat für mich überhaupt keinen Sinn gemacht, diese ganze Religion. Vielleicht war ich auch einfach nur blind dafür oder konnte damals noch nicht verstehen, weshalb wir so behandelt wurden, wie es der Fall war.

Für mich war dieser Glaube ja nicht wirklich etwas Neues. Aber in dieser Schule gab es zusätzlich zu den Verboten, die wir schon von zu Hause kannten, noch eine riesige Liste weiterer Einschränkungen, die irgendwie auch noch mit dem Glauben begründet wurden. Es war genau vorgeschrieben, wie man sich zu kleiden hatte. Und auch Zwischenmenschliches war strikt geregelt – Kontakte zwischen Jungs und Mädchen waren so weit verboten, dass es selbst beim „Kettenfangen“ nicht erlaubt war, ein Mädchen an der Hand zu halten.

Auf jeden Fall haben wir die Schule gehasst. Und das ist echt nicht übertrieben. Wir haben es gehasst, jeden Morgen aufstehen zu müssen, immer mit der Frage nach dem Warum. Warum müssen wir hier in der Schule unsere wertvolle Lebenszeit, unsere wertvolle Kindheit verschwenden? Womit haben wir es verdient, in diesem Gefängnis zu sitzen? In dieser Diktatur der Lehrer, die einem vorschreibt, dass man sein Gehirn durch endlose Wiederholungen betrügen soll, dass die Informationen wichtig seien, anstatt einfach mal echtes Interesse zu wecken. Das hatte unsere Mutter zu Hause geschafft. Da wollten wir lernen, da hat Mathe Spaß gemacht, da hat es Spaß gemacht, Neues zu erfahren!

Das einzig Gute in diesem gelb-braun gestreiften Blechkasten waren ein paar Freunde, die aber auch alle viel zu weit weg wohnten. Wir fuhren jeden Morgen eineinhalb Stunden mit der Bahn in die Schule, da es bei uns in der Nähe keine christliche Schule gab. Von daher konnten wir nach der Schule selten etwas mit unseren Freunden machen. Wir waren gute Schüler, obwohl wir immer das Gefühl hatten, unsere Zeit endlos zu verschwenden. Mein Bruder hat in dieser Zeit viele Gedichte geschrieben, an eine kurze Zeile kann ich mich noch gut erinnern:

Das Schulsystem ist unser Problem,
die Schule unser Schicksal,
die Lehrer unsre Qual.

Und ja, so war es auch.

Unsere Mutter hat uns immer unterstützt, und wir hatten in der Heimschule das gelernt, was viele andere nie gelernt haben und was man in der Schule nicht lernen kann: Wir haben gelernt zu lernen. So haben wir nie viel für die Schule getan, aber wenn, dann sehr effektiv. Dadurch waren wir immer die Klassenbesten – für unsere Mitschüler galten wir daher schnell als die Streber, auch wenn das wohl am allerwenigsten auf uns zugetroffen hat. Uns hat es immer gequält, bei bestem Wetter bis spät nachmittags drinnen zu sitzen, unnütze Aufgaben zu erledigen und die meiste Zeit darauf zu warten, dass auch der Letzte verstanden hat, wie man die sinnlosesten Berechnungen durchführt, oder zum hundertsten Mal die Hausaufgaben durchgegangen ist, die wir doch schon längst erledigt hatten.

Aus lauter Langeweile haben wir angefangen, ziemlich wilde Experimente zu machen, nicht nur zu Hause, sondern auch in der Schule. Das waren meistens genau die Sachen, die wir im Unterricht nicht machen durften, weil ja alles viel zu gefährlich war und alles zu hundert Prozent abgesichert sein musste.

Ich denke, wir haben uns dabei auch ein wenig nach Aufmerksamkeit und Anerkennung gesehnt, denn leider war es genau das, was man in dieser Schule am allerwenigsten bekommen hat. Irgendwie waren wir alle doch eher Nummern, die mit Nummern bewertet wurden, die alle nach dem gleichen Prinzip bewertet wurden, ohne dass so wirklich auf individuelle Begabungen oder Bedürfnisse eingegangen werden konnte.

Wir haben Knallgas selbst hergestellt und Pistolen gebaut, die täuschend echt aussahen. Und sich vor allem so anhörten. Bald waren wir bei den Schülern für die lauten Explosionen auf dem Grundstück hinter der Schule bekannt.

An eine Geschichte kann ich mich noch besonders gut erinnern. Wir hatten mal wieder einen großen Behälter mit dem Gas gefüllt und so draußen vor dem Fenster angebracht, dass wir die Explosion von innen hinter der geschlossenen Scheibe auslösen konnten. Das Kabel war gut versteckt, und während wir, die klassenbesten Musterschüler, in der letzten Reihe brav unsere Aufgaben erledigten, hätte niemand geahnt, welche explosive Ladung vor dem Fenster nur darauf wartete, entzündet zu werden. Eine kleine Bewegung würde ausreichen, um am Ende des Kabels einen Funken auszulösen, der die Dose wegsprengen würde, ohne dass jemand auf die Idee kommen würde, wer für diesen ohrenbetäubenden Schlag verantwortlich war. Außerdem hätte uns das kein Lehrer zugetraut. Wir waren sehr gut darin, den Anschein der braven Musterschüler aufrecht zu erhalten.

Als unsere Geschichtslehrerin dann in ihrem uns zu Tode langweilenden Vortrag über den Zweiten Weltkrieg auf die fallenden Bomben zu sprechen kam, gab es draußen einen derartigen Schlag, dass die ganze Klasse zusammenfuhr und unsere Lehrerin nur noch stammelte, dass der Krieg nun wohl tatsächlich anfangen würde. Das waren diese Momente, für die es sich dann doch lohnte, in die Schule zu gehen, denn sie machten die ganze Langeweile wenigstens etwas erträglicher.

Oder das Vorspiel, das wir in Englisch vorbereiten sollten: Wir spielten einen Banküberfall, nur dass die Waffe, die Johannes in der Hand hielt, keine Spielzeugwaffe war, sondern eine unserer Knallgaspistolen. Als er abdrückte und unser Kumpel bei dem brutalen Knall täuschend echt zusammenbrach, fand unsere Lehrerin das Ganze überhaupt nicht witzig. Denn leider hatten wir vergessen, dass sie Hörgeräte trug und die den Knall im wahrsten Sinne des Wortes ohrenbetäubend verstärkten … Außerdem war noch jemand vom Schulamt dagewesen – die nette Frau wirkte nach der Aktion etwas verstört.

WIE WIR HOCHKANT VON DER SCHULE FLOGEN

Es war nicht so, wie es aussah

Am Ende der neunten Klasse sind wir dann nach der letzten Klassenfahrt von der Schule geflogen. Genau: wir, die besten und vorbildlichsten Schüler, als die uns die Lehrer kannten. Wir hatten uns wieder mal nicht ganz mit den strengen Regeln abfinden können und es etwas mit unseren Experimenten übertrieben. Wenn man diese überhaupt so nennen kann.

Bisher waren wir die Lieblingsschüler der Lehrer gewesen, die die 7. Klasse übersprungen hatten, und plötzlich waren wir die allerschlimmsten Verbrecher, sodass sogar die Schule evakuiert werden musste, als wir noch ein letztes Mal hingingen.

Wie das alles kam?

Vor der Klassenfahrt war uns gesagt worden, dass es absolut verboten ist, Alkohol mitzunehmen. Das haben wir natürlich wieder mal eher als persönliche Herausforderung verstanden und zu Hause mit einem selbstgebauten Destillationsgerät hundertprozentigen Alkohol gebrannt. Wir hatten uns gründlich mit dem Thema beschäftigt und wirklich hochwertigen, ungiftigen Alkohol hergestellt – also nicht die Sorte, von der man blind werden kann oder sowas. Unseren Eltern, die das Destillationsgerät natürlich bemerkten, erzählten wir, dass das wissenschaftliche Experimente seien. Das war ja zumindest nicht ganz gelogen. Unser durchsichtiges Destillat füllten wir in eine kleine Flasche, die völlig unverdächtig aussah, und nahmen sie mit auf die Klassenfahrt. Ebenso wie unseren Laptop, den wir gar nicht brauchten. Aber es war untersagt – deshalb musste er mit!

Als dann einige Mädchen aus der Klasse auf die Idee kamen, „Trinkspiele mit Wasser“ zu machen, fanden wir, dass dabei der Sinn des Trinkspiels irgendwie nicht richtig rüberkommen würde. Daher füllten wir einem Mitschüler mit einer Spritze eine wirklich winzige Menge (nicht mal 10 Milliliter) unseres hundertprozentigen Alkohols in seine Wasserflasche. Er hat nicht mal was davon gemerkt. Als wir ihm dann erzählten, was wir gemacht hatten, fand er die Aktion aber richtig cool und hat so getan, als würde er besoffen herumtaumeln. Das Ganze war also eigentlich ziemlich harmlos und eher lustig. Andere Mitschüler schauten auf unserem illegal mitgeführten Laptop verbotene Filme an.

Dummerweise hat der Klassenkamerad dann aber nach der Klassenfahrt seiner Schwester von der Sache erzählt und, wie das bei solchen Storys eben so ist, alles total übertrieben. In seiner Version haben wir ihn ohne sein Wissen total abgefüllt. Und die Schwester hat die Geschichte dann nochmal ausgeschmückt – nun war der Mitschüler angeblich betrunken aus dem Fenster gefallen und hatte sich schwer verletzt – und diese Story dann ihrer Mutter erzählt, und so landete das Ganze dann, inzwischen tausendfach übertrieben, beim Direktor.

Schon in den Ferien bekamen wir mit, dass sich ein Gerücht herumgesprochen hatte. Was hatten wir nun zu erwarten, wenn die Schule wieder anfing?

Zuerst schien alles völlig normal. Wir waren lediglich gebeten worden, unseren Laptop mitzubringen. Plötzlich kam die Schulleiterin in den Unterricht. Sie forderte uns auf, zu einem Gespräch in ihr Zimmer zu kommen. Darauf waren wir natürlich vorbereitet. Wir hatten uns eine Story zurechtgelegt, die ziemlich harmlos klang, und die ältere Frau war sichtlich erleichtert.

Etwas erschrocken waren wir, als es hieß, dass nun jeder aus der Klasse zum Verhör kommen sollte. Das würde nicht gut ausgehen. Schnell schnappten wir uns einen Zettel und schrieben die wichtigsten Punkte unserer erfundenen Geschichte darauf mit der Bitte, diese Story zu erzählen. Diesen Zettel ließen wir durch die Klasse gehen.

Die Ersten wurden herausgerufen. Zunächst schien es nach Plan zu laufen. Gerade, als ich dachte, alles wäre noch einmal gut gegangen, ging die Tür noch einmal auf. Der Gesichtsausdruck unserer Schulleiterin deutete auf etwas ganz anderes hin. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen.

„Ihr könnt nach Hause gehen und braucht nicht wieder zu kommen!“, schrie sie.

Wie sich herausstellte, hatte jemand den Zettel an sie weitergegeben und die echte Story erzählt. Unser Laptop wurde einkassiert, und auf dem fand die Schule dann einige Videos von unseren Explosionen und Experimenten, die wir zu Hause durchgeführt hatten, um zu sehen, welche Materialien man wie am besten in Brand setzen kann. Die erweckten bei der Schulleitung den Eindruck, dass man uns total falsch eingeschätzt hatte und wir anscheinend planten, die Schule wegzusprengen. Und spätestens da lief die ganze Geschichte dann total aus dem Ruder.

Am Ende waren unsere Lügen und der Vertrauensverlust wohl schlimmer als das eigentliche Vergehen. Eigentlich weiß bis heute wohl niemand an dieser Schule, was damals wirklich passiert ist.

Ich sag ja, unser Leben war schon immer extrem. Auch wenn das alles letztlich ein großes Missverständnis war, flogen wir von der Schule, und als wir nochmal hingehen und uns entschuldigen wollten, wurde die gesamte Schule evakuiert. Zum Glück hat sich wenigstens ein Lehrer für uns eingesetzt, sodass wir zumindest noch unsere Zeugnisse bekamen und auf einer anderen Schule neu anfangen konnten.

Natürlich haben wir zu Hause brutal Ärger bekommen und unsere Eltern haben uns erstmal so ziemlich alles verboten. Trotzdem hatte das Ganze auch etwas Gutes, denn so hatten wir wenigstens Sommerferien, die wir bei einem normalen Schulwechsel nach Hessen nicht gehabt hätten. Und die Ferien waren doch die einzige Zeit, in der wir das Gefühl hatten, nicht unser ganzes Leben sinnlos zu verschwenden.

Auch über den Kontrast zwischen unserem Gefühl in der Schule und draußen in der Natur hat Johannes ein ziemlich schönes Gedicht geschrieben:

Die Ferien sind bald vorbei,

die Schule beginnt, die ich hasse,

denn in den Ferien merkte ich nebenbei,

was ich in der Schulzeit alles verpasse.

Egal ob’s regnet oder schneit,

selbst beim schönsten Sonnenschein

sperrt man uns die schönste Zeit

des Tages in die Penne ein.

Ein Blaukehlchen singt in den Feldern,

wie gern wär’ ich hinausgegangen.

Der Grünspecht ruft in den Wäldern,

doch hält man mich am Schreibtisch gefangen.

Ich weiß die Rehe auf den Wiesen

bei diesem Sonnenschein.

Wenn sie mich nur aus der Schule ließen,

es könnte nicht schöner sein.

Ein Fuchs schleicht durch das Schilf im Graben,

doch ich kann ihn nicht sehen.

Ich sitz an meinen Schulaufgaben,

darf nicht nach draußen gehen.

So froh wir darüber waren, von der Schule geflogen zu sein, waren wir doch plötzlich sehr allein. Ich hätte am liebsten die ganze Geschichte schnell vergessen und verdrängt … wenn da nicht jemand gewesen wäre, den ich gerne näher kennengelernt hätte. Ich war ja gerade in dem Alter, in dem Mädchen plötzlich interessant wurden, und da kam dieser Schulwechsel denkbar unpassend. Mit den Freunden, die wir damals in der Heimschule gehabt hatten, hatten wir nicht mehr viel zu tun. Denn weil die Schule so weit entfernt lag, hatten wir nur noch sehr wenig Zeit gehabt, um uns im Real Life mit Leuten zu treffen oder Aktionen zu starten.

Schon immer hatten wir uns für die Natur interessiert, besonders für wild lebende Tiere. Klar ist es toll, exotische Tiere in fremden Ländern zu sehen, aber unsere eigene Tierwelt hier in Deutschland hat auch einiges zu bieten, stellten wir fest.

Nachdem wir eine Spiegelreflexkamera bekommen hatten, fingen wir an, die Tiere nicht nur zu beobachten, sondern auch zu fotografieren und zu filmen. Wir nutzten jede freie Minute, um raus in die freie Wildbahn zu gehen – für mich war die unglaubliche Kreativität und Vielfalt in der Natur das Einzige, bei dem ich dachte, dass es so etwas wie eine höhere Intelligenz hinter alledem geben musste.

Meistens waren wir im Naturschutzgebiet der renaturierten Landbachaue bei Bickenbach, dem Pfungstädter Moor und Umgebung unterwegs, und es war wirklich staunenswert, was man tatsächlich direkt vor der eigenen Haustür an tollen Entdeckungen und Beobachtungen machen kann.

Irgendwie hatte unser Leben zwei Seiten. Einmal war es diese extreme, verrückte, abenteuerlustige und risikofreudige Seite, auf der anderen sehnten auch wir uns nach Ruhe und Anerkennung. Vielleicht war das der Grund, warum wir es so genossen, stundenlang im Moor zu sitzen, um einem Eisvogel beim Fischfang zuzuschauen, oder um fünf Uhr morgens aufstanden, um kleine Füchse zu beobachten.

So richtig erfüllt hat uns aber keins von beidem. Irgendwie war da die Sehnsucht, ein wirklich sinnvolles Leben zu führen; die Sehnsucht, einen Sinn im Leben zu finden, ohne wertvolle Lebenszeit dabei zu verschwenden. Aber was konnte uns das geben, wenn es uns weder durch die verrücktesten Experimente noch durch die Ruhe in der Natur gelang?