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Andreas Wagner ist Winzer, Historiker und Autor. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Bohemistik in Leipzig und an der Karls-Universität in Prag hat er 2003 zusammen mit seinen beiden Brüdern das Familienweingut seiner Vorfahren in der Nähe von Mainz übernommen. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. www.wagner-wein.de/Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

 

© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Nilufer Barin/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-661-6

Originalausgabe

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Für Elisabeth

geboren am 8. Oktober 1886,
gestorben um den 20. Februar 1945 in Hadamar

 

»Fassenacht« ist ein durch das Brauchtum legitimierter mehrtägiger alkoholischer Ausnahmezustand, der fast jede Form menschlicher Ausfallerscheinungen entschuldigt.

Unbekannter Fassenachtsanalyst

Prolog

Der schmale Weg leuchtete im Mondlicht. Unter ihren Füßen knirschte der Schotter. Sie wollte ihre brennenden Augen schließen, nur mit allergrößter Mühe konnte sie die Lider offen halten. Angestrengt schleppte sie sich vorwärts. Ihre Knie und die heißen Füße in den Turnschuhen schmerzten bei jedem Schritt. Ach, wäre sie doch schon daheim in ihrem Bett. Sie sehnte den Moment herbei, in dem sie endlich die Beine und auch den Rest ihres erschöpften Körpers ausstrecken konnte.

Sie spürte seine Hand auf ihrem Rücken. Ein sanfter Druck zwischen ihren Schulterblättern, der guttat und ihr die Richtung vorgab in dieser Nacht, die so schön begonnen und doch im totalen Chaos geendet hatte. Wie immer, weil sie die Kontrolle verloren hatte. Über sich und alles um sich herum. Sie schluckte und schloss nun doch die Augen, durch die Tränen hindurch konnte sie jetzt ohnehin nichts mehr sehen. Er schob sie sanft, aber entschlossen weiter dem Ziel entgegen, das nicht mehr weit sein konnte.

Die Müdigkeit drohte sie zu übermannen, schon jetzt, auf dem Weg zu seinem Auto. Der Kampf gegen den Schlaf würde sich als aussichtslos erweisen, wenn sie erst einmal auf dem weichen Polster des Beifahrersitzes Platz genommen hatte. Sie wusste, dass sie dann keine Chance mehr hatte. Er würde dafür Verständnis haben und sie in Ruhe schlafen lassen. Sie wollte nicht reden, nicht über Belanglosigkeiten und schon gar nicht darüber, dass sie immer auf die Falschen traf. Sie schluchzte laut auf und sank noch etwas mehr in sich zusammen.

Mühsam ging sie weiter, setzte schwerfällig einen Schritt nach dem anderen. Blind, mit geschlossenen Augen, durch die weiter ihre Tränen quollen. In schmalen Strömen bahnten sie sich ihren Weg. Die Schminke war sowieso längst ruiniert. Zum Fürchten sah sie aus. Verheult, weil sie wieder einmal realisiert hatte, dass sie sich zu schnell an jemanden geklammert hatte, der es nicht wert war. Lag es am Überschwang und der Euphorie, die die halbe Flasche süßer Sekt in ihr entfacht hatte, oder fehlte es ihr schlicht an Urteilsvermögen? Wie sollte man denn die Richtigen von den Falschen unterscheiden? Er war ein richtiges Arschloch gewesen!

Sie rieb sich mit dem Handrücken über die tränenden Augen und versuchte, durch den Schleier, der blieb, abzuschätzen, wie weit sie noch zu laufen hatte. Sie musste die Augen weit aufreißen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Der Druck seiner Hand auf ihrem Rücken verstärkte sich. Er schob sie unerbittlich weiter, obwohl sie gern für einen Moment stehen geblieben wäre. War das überhaupt der Weg zum Parkplatz? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie stemmte sich gegen den Druck auf ihrem Rücken, schluckte, um den Mund frei zu bekommen für die Worte, die sie dann doch nicht herausbrachte. Vor ihren Augen drehte sich alles. Sie wankte. Die Fragen, die ihr in diesem Augenblick zäh wie Watte durch den müden Schädel flossen, verstärkten den Schwindel.

Der feste Griff seiner zweiten Hand, die sie jetzt auf ihrer Brust spüren konnte, ließ sie zusammenzucken. Sie riss den Mund auf und wollte schreien. Ein erstickter Laut löste sich aus ihrer Kehle. Sie glaubte, gar nicht weit entfernt Stimmen und das Schlagen einer Autotür zu vernehmen. Er zog sie an sich, presste sie gegen seine Brust. Sie versuchte, sich aus der Umklammerung herauszuwinden. Ohne Erfolg. Er riss an ihrer Bluse. Die Knöpfe sprangen fort und hüpften munter über den Schotter. Gleich darauf spürte sie seine rauen Handflächen auf ihrer Haut. Er zerrte den BH zur Seite und quetschte ihre Brust so sehr, dass sie vor unbändigem Schmerz endlich schreien konnte. Sie brüllte heiser. Das Geräusch wurde sogleich von seiner groben Hand erstickt, die sich fast über ihr gesamtes Gesicht legte. Sie versuchte Luft zu bekommen, während er sie auf den Boden drückte. Ihre schwarze Perücke fiel ihr vom Kopf. Sie schlug wild um sich und traf ihn, ohne dass ihn das davon abbrachte, sich auf sie zu setzen. Das Gras, in dem sie lag, war eisig und feucht.

Als er die Hand von ihrem Gesicht nahm, rang sie gierig nach Luft. Doch bevor sie erneut schreien konnte, hatte er ihren Hals mit beiden Händen umfasst. Schmerz durchfuhr sie. Sie versuchte mit letzter Kraft, sich aufzubäumen. Sein Gewicht hielt sie unten. Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr. Gelächter. Aus den Augenwinkeln konnte sie ein Pferd erkennen, das sich vorsichtig näherte. Es starrte sie aus dunklen Augen an und bewegte neugierig den Kopf auf und nieder. Dann legte sich eine große, dumpfe Schwärze über alles. Sie seufzte und fiel immer tiefer hinab in die endlose Dunkelheit.

1

Er hatte ihn mehr als einmal darauf angesprochen. Zwecklos! Zuerst hatte er ihm gar nicht zuhören wollen, beim nächsten Mal hatte er gelacht und sich lustig über ihn gemacht. Das feindselige Blitzen in seinen Augen hätte ihn damals schon stutzig machen sollen, das Bild flimmerte sofort wieder vor ihm auf. Doch seit ihrem dritten Zusammentreffen wusste er, dass er richtig lag. Es war keine bloße Vermutung mehr, kein Verdacht, den die verblasste Erinnerung nährte. Bruchstücke von Gesprächen, die er nicht verstanden hatte. Dahingeworfene Halbsätze und Bemerkungen, die in seinem Gedächtnis erst lange Zeit später wieder aufgeblitzt waren und sich nun mit dem neuen Wissen verbanden, das er, von unbändigem Eifer getrieben, Schicht für Schicht freigelegt hatte. Wie ein rastloser Schatzsucher spürte er einem verborgenen Ziel nach.

Beim dritten Mal war es ganz anders gewesen. Es war Monate her, doch er konnte sich noch genau daran erinnern. Selbst der Geruch dieses brennend heißen Sommertages im August hatte sich ihm eingeprägt. Draußen im Weinberg waren sie beide in der gleichen Sache unterwegs gewesen. Die Arbeiten an den Reben waren längst getan, doch in den Tagen zuvor war die Hitze unerträglich gewesen. Die Temperaturen hatten neue Rekordwerte erreicht, und die Weinbauschule verschickte Warnhinweise, dass vor allem bei den empfindlichen Sorten wie dem Riesling und dem Weißen Burgunder mit spürbaren Schäden durch Sonnenbrand zu rechnen sei: Die massive Sonneneinstrahlung ließ die Schalen der Beeren verbrennen, wie bei der menschlichen Haut bildeten sich Blasen. Die betroffenen Trauben waren nicht zu retten. Sie trockneten ein und fielen ab. Folgten der Hitze ein paar feuchte Tage, stellten die zerstörten Früchte den Nährboden für schnell um sich greifende Fäulnis dar.

Im Unterschied zu den anderen Kollegen hatte er seine wenigen Parzellen bisher nicht entblättert. Er war einfach noch nicht dazu gekommen, weil er alles allein machen musste, während die anderen ihre Rumänen im Einsatz hatten. Seine Trauben hingen dadurch beschattet und waren weniger gefährdet. Manchmal war es eben gar nicht so schlecht, etwas hinterherzuhinken, auch wenn er sich deswegen oft dumme Bemerkungen der lieben Winzerkollegen anhören musste. Aber das war ihm egal. Sollten sie nur reden. Er würde es ihnen schon zeigen. Entscheidend war, was in die Flasche kam. Und da konnten sie ihm nichts mehr vormachen.

Er hatte gar nicht viel gesagt, nur ein paar Worte, doch die Reaktion verschaffte ihm Gewissheit. Ohne Vorankündigung waren die Hände des Alten nach vorne geschnellt und mit voller Wucht gegen seinen Brustkorb geprallt. Für einige Sekunden war ihm die Luft weggeblieben, er hielt sich nur mit Mühe auf den Beinen. Vor seinen Augen wurde es einen Moment lang schwarz. Kleine Sternchen blitzten auf, auch dann noch, als er sein Gegenüber schon wieder erkennen konnte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Der erste Atemzug nach diesem Hieb hatte wie ein tiefes Seufzen geklungen. Daran konnte er sich noch genau erinnern.

Die große schwielige Hand des Alten war drohend in die Höhe gefahren. Dass sie nach der Brust nicht auch noch sein Gesicht getroffen hatte, wunderte ihn bis heute. Erst danach hatte der Alte begonnen, ihn anzuschreien. Seinen rechten Arm hielt er dabei weiter starr gen Himmel gereckt, die Hand zitterte. Sein fast kahler Schädel war rot angelaufen. Die wenigen dünnen und von der Sonne ausgeblichenen Haarsträhnen, die ihm geblieben waren, hoben sich deutlich davon ab und ließen ihn noch älter aussehen. Eine dicke Ader an seinem Hals pulsierte hektisch. Feine Spucketröpfchen begleiteten seine bösen Worte. Er hörte sie nicht, spürte aber, dass die Feuchtigkeit auf seine glühenden Wangen traf. In seiner Erinnerung glich die Szene einem Stummfilm. Die heiseren Vorwürfe verhallten ungehört.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Es war nur natürlich, dass ihn diese Gedanken jetzt und hier begleiteten. Ein Geräusch ließ ihn im schmalen Graben neben der Landstraße Deckung suchen. Aufmerksam blickte er sich in alle Richtungen um und lauschte konzentriert. War das das Glucksen der Selz? Der schmale Bach floss gar nicht weit entfernt in seinem tiefergelegten Bett. Er war sich nicht sicher. Nun hörte er auch nichts mehr außer seinem eigenen Körper. Den Atem, das Schlagen seines Herzens, das Blut in den dünnen Äderchen seiner Ohren.

Irgendwo in weiter Ferne schrie ein Tier. Was ihn eben noch in die Hocke gedrückt hatte, löste sich langsam. Entschlossenheit gewann die Oberhand. Er reckte sich energisch in die Höhe und ließ im Laufen seinen Rucksack von der Schulter gleiten. Er bewegte sich sicheren Schrittes, den Weg kannte er auch in der Finsternis. Das Tier brüllte wieder. Es klang wie ein röchelndes Aufbäumen mit letzter Kraft.

Noch einmal sah er sich vorsichtig um. Es bestand keine Notwendigkeit dazu. Heute war der Freitag vor Fassenacht: Sämtliche noch ansatzweise mobilen Dorfbewohner saßen dicht gedrängt, berauscht und schwitzend in der prächtig dekorierten Sporthalle unter den mit Luftballons prall gefüllten Netzen. Die Familie des Alten war wie jedes Jahr vollzählig dabei. Alle mussten sie ihm zusehen, wie er den Till gab und seinen Mitbürgern in spitzen Versen den Spiegel ihrer Verfehlungen vorhielt. Seinem Auftritt fieberte das ganze Dorf entgegen. Schon Wochen zuvor wurde ausgiebig darüber spekuliert, wen er sich in diesem Jahr alles vornehmen würde. Die bange Furcht, zum Gespött zu werden, gefolgt von der Enttäuschung hinterher bei all denen, die sich gewünscht hatten, so wichtig zu sein, dass seine spitze Zunge sich mit ihnen auseinandersetzte.

Nur einmal war er selbst dort gewesen. Er konnte das alles nicht ausstehen. Die gute Stimmung auf Befehl, die Enge der dicht gedrängten Leiber, die dröhnende Lautstärke. Und das selbstzufriedene Grinsen des Alten, wenn er nach seinem Auftritt den Jubel des Publikums entgegennahm und sich auch nach der zweiten und dritten Zugabe, zu denen er sich mit stehenden Ovationen drängen ließ, obwohl er doch fest damit gerechnet und entsprechende Verse verfasst hatte, in ihrer Anerkennung suhlte. Allein der Gedanke daran ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Hätte er noch einen einzigen zarten Zweifel an seinem Plan gehegt, so wäre dieser spätestens jetzt zu Staub zerfallen.

Er spuckte aus und riss den Rucksack auf. Das Rauschen der Spraydose durchschnitt die Stille der Nacht. Gleich war es vollbracht. Keine große Sache, die kam erst noch, falls er nicht endlich einsah, dass sie reden mussten. Ob sich das hiermit schon erreichen ließ, wusste er nicht zu sagen. Es ärgerte ihn, dass er das Gesicht des Alten, wenn der im Morgengrauen nach Hause kam und sein Werk entdeckte, nicht würde sehen können. Ob er sofort verstand, was gemeint war? Falls nicht, war es auch egal. Er würde ihm noch den einen oder anderen zusätzlichen Hinweis geben.

Schon hatte er die Dose zurück in den Rucksack gesteckt. Mit der freien Hand öffnete er seine Gürtelschnalle, schob Hose und Unterhose hinab und ging in die Hocke. Sein Blick wanderte hinauf in den Himmel, während er sich erleichterte. Die Sterne leuchteten hier viel kräftiger als oben im Dorf.

Hinter ihm brach ein Zweig, doch er wollte sich nicht umdrehen. Er war so gebannt vom Anblick des Firmaments, dass er die Lichter auf der Landstraße gar nicht bemerkte.

2

Marion war schuld! Georg Winternheimer hieb wütend mit seiner Rechten auf das Lenkrad und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Er wusste, dass sie seine Sachen durchwühlte. Das tat sie schon lange. Zwar packte sie immer alles fein säuberlich zurück, damit er es nicht mitbekam. Jedoch nie in der richtigen Reihenfolge. Es war also nicht wirklich schwer zu durchschauen. Wahrscheinlich hatte sie in den Taschen seiner neuen Anzugjacke nach den Kondomen gesucht. Vor zwei Jahren hatte sie ihm die schon einmal triumphierend unter die Nase gehalten. Vor Wut schnaubend und verheult zugleich faselte sie etwas von Treue und Enttäuschung, bis er ihr mit der flachen Hand eine verpasst hatte. Sie verstand nicht, was an Fassenacht im Saal und in den Stunden danach abging. Das hatte am nächsten Tag alles keine Bedeutung mehr. Aus und vorbei. Es war einfach nur ein großer Spaß, doch sie machte daraus immer eine Riesensache.

Seinen Zorn würde sie heute Nacht noch zu spüren bekommen. Die Abreibung hatte sie sich verdient. Er schaltete einen Gang hoch und gab wieder Vollgas. Weit war es gottlob nicht.

Wenn er eben nicht noch mal nachgesehen hätte, würde er jetzt dastehen wie der größte Depp aller Zeiten. Seine Verkleidung war eines der bestgehüteten Geheimnisse der gesamten Kampagne. Niemand kannte sie bis zu seinem Auftritt. Er hatte deshalb als einziger Aktiver der großen Sitzung eine Umkleide nur für sich allein. Es war zwar nur die kleine Lehrerumkleide im Eingangsbereich der Sporthalle, aber dafür hatte er dort in den beiden Stunden bis zum Auftritt seine Ruhe. In der Umkleide stand seine Flasche Riesling-Sekt bereit, die er bis zum letzten Tropfen leerte, um sich in Stimmung zu bringen, während er noch einmal vor dem Spiegel seine verschiedenen Posen durchging. Sie waren mindestens genauso wichtig wie die Worte. Den Text brauchte er dazu nicht, er hatte die Szenen alle im Kopf. Erst beim Auspacken seiner Verkleidung hatte er beiläufig nach der Brusttasche des Sakkos getastet und festgestellt, dass sein Text dort nicht mehr zu finden war.

In den Taschen des Anzugs, den er sich im Internet bestellt hatte und zu dem noch eine Hose, eine Weste und ein Schlips im gleichen Dekor gehörten, fand er nur die Kondome, aber nicht den letzten Ausdruck seiner Büttenrede. Die allermeisten Verse hatte er auch so drauf, dennoch brauchte er den Text für die vielen kleinen Veränderungen, die er in den letzten Tagen vor seinem großen Auftritt üblicherweise noch vornahm. Ein anderes Wort hier, eine weitere Zeile dort, um eine kleine zusätzliche Spitze zu setzen, das gelang auf der Bühne nur dann, wenn er den Text zur Sicherheit vor sich liegen hatte.

Dafür, dass er jetzt nach Hause hetzen musste, würde Marion büßen. Er sah zur Uhr. Eigentlich wäre er jetzt schon dran. Er schnaufte genervt, während er den Fuß vom Gas nahm. Das Publikum fieberte seinem Marsch auf die Bühne entgegen. Die absolute Dunkelheit, die dem Auftritt vorausging, unterstrich die gebannte Stille, und aller Augen folgten dem Suchscheinwerfer, dessen kreisrunder Lichtkegel umherirrte, um ihn letztlich zu finden. Danach war das Publikum nicht mehr zu halten.

Seit vielen Jahren schon war sein Auftritt als Till der Höhepunkt des Abends. Die Elsheimer Schnorressänger, die eigentlich nach ihm dran sein sollten, hatten sich zum Glück schon warmgesungen und waren spontan für ihn eingesprungen. Sie waren sogar froh gewesen, weil sie nach ihrem Auftritt hier bei ihnen noch weiter zu einer anderen Sitzung im Nachbardorf mussten, um dort das große Finale mitzubestreiten.

Kurzfristige Programmverschiebungen gehörten zum alltäglichen Geschäft einer jeden Fassenachtssitzung. Da viele gute und bekannte Redner und Gruppierungen an manchen Abenden mehrere Auftritte in verschiedenen Ortschaften hatten, war das nichts Besonderes. Einige der Großmäuler überboten sich gegenseitig in der Anzahl der Sitzungen, die sie an einem Abend mit ihrem Beitrag bereicherten. Nichts als Fassenachter-Latein, wie beim Anglerlatein konnte man getrost die Hälfte davon abziehen und hatte die wahre Größe des aus dem Wasser beförderten Fischs noch immer nicht erreicht.

Ihn brachte es in Rage, dass sein gewohnter Spannungsaufbau jetzt in Trümmern lag. Nach dem letzten Schluck von seinem eigenen Sekt zog er mit geschlossenen Augen ein paarmal an der dicken Zigarre, die er sich extra für die Sitzung kaufte. Sonst rauchte er nicht, nur an diesem einen Tag des Jahres, dann aber immer die gleiche Marke: eine Romeo y Julieta No. 2, wie sie Winston Churchill geraucht hatte. Fünf Minuten dauerte das Zeremoniell für die innere Ruhe. Den Rest der Zigarre genoss er nach seinem Auftritt.

Erst dann zog er sich um. Nachdem er den neuen Anzug fertig ausgepackt und die Hose angezogen hatte, bemerkte er jedoch das Fehlen der Büttenrede und durfte die Hose gleich wieder ausziehen. Der dünne synthetische Stoff spannte an seinen Oberschenkeln. Damit das Sakko an den Schultern und über dem Bauch passte, hatte er bei der Hose einen Kompromiss eingehen müssen. Es waren ja zum Glück keine Kniebeugen auf der Bühne zu vollführen. Ob das Material einer solchen Belastungsprobe gewachsen wäre, bezweifelte er. Dafür war der Aufdruck perfekt. Strahlende Farben. Das gute Stück sah in echt noch besser aus als auf dem Bildschirm seines Computers im Büro. Es machte richtig was her und erweckte dabei den Eindruck, als sei es aus einer riesigen britischen Flagge geschneidert worden.

Das Thema Brexit lag in diesem Jahr auf der Hand. Aber keiner der anderen Redner der Kampagne ging es so an wie er. Auch keiner der ganz Großen der Mainzer Fernsehfassenacht. Die Nachrichten waren lange so voll davon gewesen, dass ihn das Thema selbst schon nervte. Es war zum Schreien, was da abging. Die Briten waren raus, aber immer noch wurde ständig darüber berichtet. Er trauerte ihnen keine Träne nach, wie die sich aufführten und im Nachhinein noch immer Forderungen stellten. Zum Glück besaß er nur eine Handvoll Weinkunden auf der Insel, die sich in den letzten Monaten mit regelrechten Hamsterkäufen zudem gut bevorratet hatten. So viel Wein hatte er noch nie über den Ärmelkanal geschickt.

Der Brexit markierte natürlich nur den Einstieg für seine Büttenrede. Ein treffender Aufhänger für sein diesjähriges Thema, das er in deftigen Reimen zum Besten geben würde. Er hatte bereits das Johlen der vor Begeisterung tobenden Menge in den Ohren, obwohl er noch in seinem Geländewagen saß und wie ein Irrer dem Text nachjagte. Unter dem Kreischen des Publikums würde er den Austritt des Selztals aus der EU und den damit einhergehenden Anschluss an das englische Königreich proklamieren. Der »SEXIT«, wie er diesen Geniestreich nannte, bildete den erzählerischen Hintergrund, vor dem er sie alle aufmarschieren ließ. Jeden aus dem Dorf und der Umgebung, mit seinen kleinen und seinen großen Sünden. Und derer gab es mehr als genug. Er lachte auf.

Einige hassten ihn dafür und kamen daher nicht mehr zur Sitzung. Die anderen liebten und verehrten ihn. Nicht wenige der Frauen im Publikum zeigten ihm das im Laufe der langen Nacht, die sich an die Sitzung anschloss. Carola würde es ihm nur mit einem Augenzwinkern andeuten. Er beabsichtigte, ihr auch in diesem Jahr wieder ein paar Minuten später in die Lehrerumkleide zu folgen. Marion würde zu diesem Zeitpunkt längst daheim sein. Sie ging immer sofort nach dem Finale, weil der Magen, der Kopf, die Füße oder sonst irgendetwas schmerzte. Er war vorbereitet – auf Carola und auf alles andere, was ihn heute Nacht noch erwartete. Nach der halben Stunde im Scheinwerferlicht und den gefeierten Zugaben war sein Körper so mit Adrenalin geflutet, dass er bis in die Morgenstunden Vollgas geben konnte. In seinem Magen pulsierte bereits die Hitze.

Entschlossen trat er auf das Bremspedal und betätigte die Kupplung, um in den zweiten Gang zurückzuschalten. Die Bremswirkung des Motors benötigte er, um vor der Selzbrücke rasant nach links in die parallel zum Fluss verlaufende Allee einzubiegen, die nach ein paar hundert Metern zu seinem Hoftor führte. Auf der kurzen Strecke beschleunigte er nicht mehr, weil er bereits damit beschäftigt war, nach der Fernbedienung für die zweiflügelige schmiedeeiserne Toranlage zu tasten. Genervt drückte er mehrmals auf die kleine rote Taste, doch die Warnleuchte, die signalisierte, dass sich das Tor öffnete, wollte nicht aufflackern. Er donnerte die Fernbedienung kräftig auf das Gummi des Lenkrads und versuchte es dann noch einmal. Na endlich!

Das rote Blinklicht ließ die mächtige Mauer aus grob gehauenen Bruchsteinen, die sich zu beiden Seiten des Tores gut zehn Meter hinzog, für winzige Augenblicke rhythmisch aufleuchten. Die hellen Strahler seines Geländewagens erfassten nach und nach die Auffahrt hinter den sich langsam öffnenden Flügeln.

Jetzt erst fiel sein Blick auf die seitliche Umgrenzung seines Grundstücks. Riesige verwackelte Buchstaben in brauner Farbe zogen sich über die gesamte Breite der rechten Mauer: »SCHULD UND SÜHNE«.

Winternheimer riss die Handbremse in die Höhe, schleuderte die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Die rote Warnlampe erlosch im selben Moment. Er spürte, wie der weiche Boden unter seinem rechten Fuß nachgab. Der üble Geruch, der gleichzeitig in seine Nase stieg, bestätigte seine Befürchtung. Ungläubig hetzte sein Blick zwischen dem großen Haufen unter seinem glänzenden schwarzen Lackschuh und den riesigen Lettern hin und her. Dann hieb er so fest mit der rechten Hand auf die Motorhaube, dass ihm der Schmerz bis in die Schulter fuhr. Diesen Abend würde Marion niemals vergessen!

3

»Im letzten Jahr war der Till aber besser.« Posthalters Sigrun schenkte sich schwungvoll den letzten Rest Secco in ihr noch nicht vollständig geleertes Glas und stellte die Flasche dann ganz beiläufig zurück zwischen die vielen anderen. Ihre beiden Freundinnen schienen zum Glück nicht bemerkt zu haben, dass sie sie leer gemacht hatte.

Die Käfergässer Gerda nickte mit dem für sie typischen Gesichtsausdruck, der deutlich machte, dass sie kein Wort verstanden hatte. Ihr Hörgerät musste schleunigst neu eingestellt werden. So machte das doch keinen Sinn. Eine Fassenachtssitzung von weit mehr als fünf Stunden, ohne etwas mitzubekommen? Wobei, wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, wäre es bei manch einem Beitrag des heutigen Abends gar nicht so schlimm gewesen, wenn sie nur die Hälfte oder gar nichts verstanden hätte. Bei dem aus Finthen eingekauften Profiredner zum Beispiel, dessen Namen sie vergessen hatte, der aber schon zum zweiten Mal hier bei ihnen im Ort aufgetreten war und aus diesem Grund wohl meinte, einfach den Vortrag vom Vorjahr wiederholen zu können. Sie war vierundachtzig, aber noch gut beieinander und hatte es daher schon nach dem zweiten Satz gemerkt. Seine Witze waren zudem schlecht und wurden durch die Wiederholung auch nicht knackiger.

»Viel besser war er im letzten Jahr! Und er hat streng gerochen diesmal.« Die Chaussee-Helga reckte sich in ihrem viel zu engen Blumenkostüm in die Höhe und langte ebenfalls nach der Seccoflasche. Sigrun drehte sich schnell zur Seite, aber da saß niemand mehr, mit dem sie ein Gespräch hätte anfangen können, um dem Zwangsläufigen zu entkommen. Sie waren mit wenigen anderen Alten die Letzten im großen Saal. Die übrigen Gäste waren mit dem letzten Takt des großen Finales nach oben ins Foyer gestürmt, um sich nach den vielen Stunden im Sitzen endlich bewegen zu können. Dumpf hallten die Bässe der modernen Musik zu ihnen herunter. Dafür war es in der großen Halle endlich so ruhig, dass man sich ungestört und ohne Schreierei über die Höhe- und Tiefpunkte dieses Abends unterhalten konnte. Ihre gemeinsame Sitzungsbilanz war fester Bestandteil der Fassenacht, vorher ging sie nicht nach Hause. Obwohl sie arg mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte. Normalerweise lag sie um Mitternacht schon seit einigen Stunden im Bett oder schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, weil ihr während einer der Volksmusiksendungen die Augen zugefallen waren. Die Nachsitzung, in der man als erfahrener Zuschauer sämtliche Beiträge einer wohlwollenden Kritik unterzog, gehörte einfach dazu. Von der schwerhörigen Gerda war in dieser Hinsicht heute nur wenig zu erwarten. Aber auf Helgas spöttische Bemerkungen zu den einzelnen Beiträgen des Programms freute sie sich. Fragend blickte sie nun in ihre Richtung, allerdings aus einem ganz anderen Grund.

Helga hielt die Flasche, aus der nur noch vereinzelte Tropfen herausfielen, senkrecht über ihr Glas. »Leer. Dann bist du jetzt dran!«

»Von mir war die erste.« Sigrun nahm Abwehrhaltung ein und bemühte sich um einen empörten Gesichtsausdruck. Weil sie den feinen schwarzen Velourshut ihrer Mutter mit dem dunklen Netzschleier trug, wusste sie allerdings nicht sicher zu sagen, ob Helga das überhaupt erkennen konnte.

»Von wegen!« Helgas lautes Organ zog die Aufmerksamkeit des Nachbartischs auf sich. Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger in der Luft herum. Wenn sie so weitermachte, würde die Naht unter ihrem Arm endgültig kapitulieren. Dort klaffte jetzt schon eine fast zehn Zentimeter lange Lücke, durch die ihre hautfarbene Korsage quoll. Das kam davon, wenn man jedes Jahr ein neues Kleid kaufte, um auf den Putz hauen zu können, dabei aber eisern die Konfektionsgröße beibehielt, die man vielleicht vor dreißig Jahren gehabt hatte, und zudem nicht auf eine gute Verarbeitung achtete, damit das Kleid wenigstens einen ganzen Abend überstand. Da hatten die alten Stoffe doch eine ganz andere Qualität.

Sie genoss die Genugtuung, die in ihr keimte. Hatten nicht beide Freundinnen, als sie sich am heutigen Nachmittag zur Einstimmung auf ein Glas Weinbergpfirsichlikör bei Gerda eingefunden hatten, über ihre Verkleidung gelästert? Schon wieder dasselbe! Du siehst ja aus, als ob du den Altkleidercontainer der Johanniter geplündert hättest. Das Konfirmationskleid der Großmutter, den halb zerfressenen Fuchs von anno dazumal um den Hals und die Schleierkappe. Ein wenig mehr Mühe hättest du dir schon geben können.

Den platten Schwarzfuchs, dessen Schnauze sich über dem Dekolleté mittels eines Druckknopfs mit dem Schwanz verbinden ließ, hatte sie wegen der Hitze im Saal gleich nach dem stimmungsvollen Einmarsch der Garden in ihrer Tasche verschwinden lassen. Den Hut aber würde sie bis zum bitteren Ende auf dem Kopf behalten. Helga sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie die Kleiderordnung zu bestimmen hatte.

»Die erste Flasche Secco war von Gerda, die zweite von mir. Ich habe außerdem die Flasche Wasser und den Spundekäs bezahlt.« Helga war immer noch mit dem Zeigefinger in der Luft zugange und deutete dann auf sie. »Jetzt bist du dran.« Sie reckte das Kinn. »Du kannst nicht den ganzen Abend mittrinken und dich dann billig aus der Affäre ziehen!«

»Mir reicht es eigentlich.« Demonstrativ schob Sigrun ihr Sektglas, das noch gut gefüllt war, ein Stück von sich weg. »Ich bin noch gut versorgt.«

»Das könnte dir so passen.« Helga ließ endlich den Arm sinken. Das war ja regelrecht peinlich, wie die sich aufführte. »Jetzt wird es doch erst lustig. Also wir trinken noch einen.« Mit dem Ellbogen stieß sie Gerda an, die daraufhin hektisch den Kopf auf und ab bewegte. Helga winkte bereits dem Mädchen mit dem Servicewagen, diesmal mit der Linken. Die Naht dort hielt. »Zum Abschluss nehmen wir eine Flasche richtigen Sekt. Ich glaube, das haben wir uns verdient.«

»Unser Till war trotzdem wieder der Beste!«

Helga und Sigrun blickten Gerda erstaunt an. Die wollte gar nicht aufhören mit ihrem zustimmenden Nicken. »Nicht so gut wie letztes Jahr«, fuhr sie fort. »Aber trotzdem besser als die Profis aus Finthen, Gonsenheim und Mombach, für die sie angeblich sogar Geld bezahlen. Für Weck, Worscht und Woi allein kommen die anscheinend nicht mehr. Mein Enkel, der im Elferrat sitzt, hat gemeint, von denen würde jeder einen Umschlag mit ein paar hundert Euro zugesteckt bekommen. Ganz unauffällig, damit es die anderen nicht merken, die das noch aus Liebe zum Brauchtum machen. Aber irgendwann bekommen die es dann doch mit. Das wird die Fassenacht auf Dauer ruinieren.« Sie wiegte traurig den Kopf. »Früher oder später halten sie alle die Hand auf, und keiner macht es mehr aus Freude. Wenn wir hier im Dorf noch zwei oder drei wie den Georg Winternheimer hätten, bräuchten wir die auswärtigen Büttenredner gar nicht.« Gerda schaute versonnen und begann zu kichern. Dann sah sie sich verstohlen um, schob ihren Kopf nach vorne und flüsterte fast. »Wie der den Kurt-Otto Hattemer durch den Kakao gezogen hat.« Sie lachte auf, presste sich aber sogleich erschrocken die Hand auf den Mund. »Unsere Miss Marple, zwar männlich, aber genauso neugierig.« Sie winkte ab. »Und wie er dann die Kühltasche hinter dem Vorhang hervorgeholt hat, mit der Aufschrift ›Renates Liebling‹. Da wusste schon jeder, was kommt: ein halbes Dutzend Bratwurstdosen.« Gerda gluckste zufrieden vor sich hin.

Sigrun schüttelte den Kopf. Eigentlich mehr aus Verwunderung darüber, was Gerda alles verstanden hatte. Ganz unwidersprochen konnte sie das Gesagte aber nicht stehen lassen. »Trotzdem war er letztes Jahr besser.« Sie hielt kurz inne, weil sie nach einer Begründung suchte. »Irgendwie wirkte er heute so fahrig. Zweimal hat er regelrecht den Faden verloren. Da hat man gemerkt, dass er überlegt, wie es weitergeht. Das ist ihm sonst nie passiert.«

»Du hast recht, das ist mir auch aufgefallen«, sagte Helga. »Aber der Winternheimer wird eben auch nicht jünger. Obwohl er im Gegensatz zu uns alten Schachteln mit seinen dreiundfünfzig Jahren noch als junger Hüpfer durchgeht.« Sie lächelte vielsagend. »Adrett hat er ausgesehen in seinem modischen Anzug. Und ihr habt das wirklich nicht gerochen?« Sie blickte fragend um sich, erhielt aber keine Antwort.

Zu ihnen an den Tisch hatte sich mittlerweile eine junge Dame gesellt, der man die vielen Stunden hinter dem Servicewagen deutlich ansehen konnte. Ihre schwarze Perücke, die an Mireille Mathieu erinnerte, war leicht verrutscht. Das dick aufgetragene Make-up vermochte die dunklen Ringe unter ihren Augen nicht mehr zu kaschieren. Sie schien froh zu sein, dass im Saal endlich Ruhe eingekehrt war und sich der Trubel nach oben verlagert hatte. Sie gähnte ungeniert und riss den Mund dabei weit auf.

Sigrun versuchte, die Bedienung zu ignorieren. Die Preise, die sie verlangte, waren so unangemessen wie ihr Benehmen. Der Sekt kostete ein Vermögen. Dass die hier aber auch so zulangen mussten. Wenn sie den süßen Morio-Muskat-Sekt beim Werum im Weingut holte, bezahlte sie nicht einmal die Hälfte. Das gehörte sich nicht, so einen Aufschlag zu nehmen, wo schon der Eintritt für die Sitzung kein Pappenstiel gewesen war. Es war so schon ein recht kostspieliger Abend. Und jetzt noch der Sekt zur Krönung. Das war wirklich zu viel. Sie ließ ihren Blick schweifen und wusste auf einmal, wie sie aus der Sache herauskam. Ächzend stemmte sie sich in die Höhe. Ihre Knie schmerzten vom langen Sitzen. Sie seufzte, dann ging sie zum verlassenen Nachbartisch, der noch nicht abgeräumt war.

Helga beachtete sie nicht und fuhr unbeeindruckt fort in ihrem Monolog. »Der Winternheimer ist auf dem Weg zur Bühne doch direkt an uns vorbeimarschiert. Gesehen hat man ihn kaum, so dunkel war es, aber riechen konnte ich ihn schon, bevor er hier bei uns ankam.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Du hast vermutlich wegen der vielen Mottenkugeln und dem muffigen, vermoderten Fuchsschwanz, den du da noch um den Hals hattest, nichts mitbekommen«, sagte sie zu Sigrun. Die schnaufte verächtlich. Das ging ja nun wirklich zu weit. »Aber du.« Helga wandte sich Gerda zu. »Du musst das doch auch gemerkt haben. Der hat gestunken wie ein Güllefass. Bestimmt ist der draußen in einen Hundehaufen getreten.«

Helga war jetzt ganz auf Gerda fixiert, von der sie sich Zustimmung für ihre Theorie erhoffte. Sigrun nutzte die Gunst des unbeobachteten Moments und nahm die Sektflasche vom Nachbartisch. Das Gewicht gab ihr recht. Sie war noch fast voll. Sie lächelte zufrieden. Eine Schande wäre das. Gut versteckt hinter ihrem Rücken beförderte sie die herrenlose Sektflasche zu ihrem Tisch und platzierte sie ganz beiläufig zwischen den anderen, während Helga noch immer auf Gerda einredete und sie keines Blickes würdigte.

Sigrun wandte sich an die junge Frau mit der schwarzen Perücke. »Wir würden dann noch eine Flasche Sprudelwasser nehmen.« Sie hielt ihr einen Fünfer hin und fügte in nicht zu überhörender Lautstärke hinzu: »Sie dürfen gerne aufrunden.«

Zufrieden mit sich ließ sie sich auf ihren Platz sinken und griff nach dem Schaumwein. Eugen Werum, dessen Weingut sich gegenüber dem Zehnthof befand, stand im Ruf, ausgezeichnete Sekte herzustellen. Da war es sicher zu verschmerzen, dass dieser nicht mehr so recht sprudeln wollte und ihr reichlich angewärmt vorkam. Es hatte den ganzen Abend ein ziemlicher Andrang bei den Getränken geherrscht, da waren kleine Qualitätsmängel nur zu verständlich. Man musste auch ein wenig Mitgefühl für Organisation und Personal aufbringen.

Während Sigrun ihren Freundinnen großzügig einschenkte, wurde in der Nachbarreihe zum wiederholten Male »So ein Tag, so wunderschön wie heute« angestimmt.

4

»Renate, ich bin hundemüde. Lass uns doch bitte endlich nach Hause gehen.« Kurt-Otto Hattemer gähnte demonstrativ mit weit aufgerissenem Mund und kniff die Augen zusammen. Dem Tonfall seiner Stimme hatte er eine zarte Leidenskomponente beigemischt. Ob es an der Lautstärke lag oder ob seine Frau ihn schlicht ignorierte, wusste er nicht, doch auf ihre Antwort wartete er vergeblich. Schon war sie wieder in das Meer der hüpfenden Leiber eingetaucht und aus seinem Sichtfeld entschwunden.

Vor einer gefühlten Ewigkeit hatte er den Wunsch, endlich ins Bett zu kommen, zum ersten Mal geäußert. Renate hatte ihn daraufhin entgeistert angesehen. Von den vielen Argumenten, die sie vorbrachte, die er aufgrund der lauten Tanzmusik aber nur zum Teil hatte verstehen können, war ihm nur noch der aus Winternheimers Vortrag stammende Schlusssatz im Gedächtnis geblieben. Renate hatte ihn mehrmals eindringlich wiederholt, damit er ihn nicht nur rein akustisch verarbeiten konnte: »Daheim sterbe die Leut!«

Er traute sich nicht, auf seine Armbanduhr zu schauen. Es war bestimmt schon weit nach Mitternacht. Warum bloß mussten Fassenachtssitzungen solch epische Längen annehmen? Hatte ihr alter Lehrer an der Weinbauschule nicht immer gepredigt, was man in fünf Minuten nicht gesagt habe, solle man besser für sich behalten? Zwei oder drei Stunden waren ja noch im Rahmen, aber ein fünf Stunden andauerndes musikalisch-humoristisches Unterhaltungsprogramm, das von Zugabe-Forderungen des kritiklos berauschten Publikums auch noch künstlich in die Länge gezogen wurde, das war einfach zu viel. Vor allem, wenn seine liebe Renate hinterher noch tänzerische Höchstleistungen von ihm erwartete.

Seine Frau konnte in dieser Hinsicht sehr beharrlich sein. Zweimal hatte er sich mitziehen lassen, um sie in engen Drehungen übers Parkett zu schieben und sich dabei von einer kreischenden Dame hinter dem Mikro erklären zu lassen, dass er wie der Name an der Tür zu ihr gehöre. Danach hatte er sich in eine wenig frequentierte Ecke des Foyers verkrümelt und hoffte seither, dass seine Frau endlich ein Einsehen haben würde. Die Musik war nicht sein Problem. Das hatte er Renate versucht zu erklären. Die Enge auf der Tanzfläche war ihm unangenehm – und die Blicke der anderen.

Renate hatte sich gestalterisch mal wieder selbst übertroffen und ihm keine Chance gelassen, sich zu widersetzen. Sie hatte genervt die Augen verdreht, als er im Winzerkittel und mit einem grünen Tuch um den Hals, das stilisierte Traubenmotive zeigte und das er mit einem dekorativen Knoten versehen hatte, vor dem großen Spiegel im Badezimmer aufgetaucht war. Sie war gerade dabei gewesen, den stechenden Farbton ihrer Verkleidung auf den Augenlidern abzubilden. Renate steckte in engen grellgrünen, glänzenden Leggins. Dazu trug sie ein farblich identisches figurbetontes Oberteil. Es fehlten lediglich noch die gestrickten Stulpen und ein Schweißband im Haar, um das Kostüm zu komplettieren. Dachte er jedenfalls. Dann hatte seine Frau ihn daran erinnert, dass sie beide sich doch bei der letztjährigen Fassenachtssitzung zu fortgeschrittener Stunde fest vorgenommen hätten, in diesem Jahr in einem Partnerkostüm am Wettbewerb um die schönste Verkleidung des Abends teilzunehmen.

Das monotone Geräusch der Luftpumpe hatte ihn den gesamten Nachmittag über begleitet. Renate werkelte damit im Wohnzimmer, während er sich im Büro im oberen Stockwerk abmühte, einen Überblick über seine Flaschenweinbestände zu bekommen. Sein Steuerberater hatte die Zahlen eingefordert. Der Jahresabschluss stand an.

Ab und an war das rhythmische Pumpen vom Platzen eines der Luftballons unterbrochen worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keinen blassen Schimmer gehabt, worin der tiefere Sinn dieser Beschäftigung bestand. Jetzt, da seine eigene Kostümidee abgelehnt worden war, schwante ihm Böses.

Mit ihrer Es-ist-unwiderruflich-Stimmlage und dem für sie typischen begleitenden Augenaufschlag hatte Renate ihm verklickert, dass er keine wirkliche Wahl habe. Seine vorausschauende Gattin hatte sie bereits vor Wochen bei der ersten Vorsitzenden des Landfrauenvereins als Ariadne und Bacchus für die Kür der besten Paarkostüme angemeldet. »Wenn du mich dabei hängen lässt, meine liebe Reblaus, dann hast du ein ernsthaftes Problem. Die Fastenzeit geht von Aschermittwoch bis Gründonnerstag, und ich werde dafür sorgen, dass sie eine ganz besondere wird.«

Weiterer Argumente hatte es nicht bedurft. Was würde ihn härter treffen, Renates Zorn oder der Spott des halben Dorfes? Der Umstand, dass die Fastenzeit vierzig Tage dauerte, sprach eindeutig für Ersteres. Bis Ostern wäre er verhungert, während die Dorfbewohner längst ein anderes Thema gefunden hätten, um sich die Schandmäuler zu zerreißen. Ein leidender Gesichtsausdruck begleitete die ungelenken Bewegungen, mit denen er sich aus seiner Verkleidung als Winzer schälte. So weit war er damit vom Bacchus doch gar nicht entfernt. Renate pinselte weiter konzentriert Farbe auf ihre Augen, mit einer knappen Handbewegung wies sie ihm die Richtung. »Und vergiss die Unterwäsche nicht, sonst verwechseln sie dich noch mit Aphrodite.«

Das Kostüm hatte auf der Tagesdecke ihres Doppelbettes gelegen. »Neunundneunzig Luftballons«, das Lied, das die kreischende Dame auf der kleinen Bühne in diesem Moment anstimmte, hätte treffender nicht gewählt sein können. Kurt-Otto drückte sich noch etwas tiefer in die Ecke des Foyers, die er nach den beiden Pflichttänzen mit Renate als seine Rückzugsstellung auserkoren hatte und die er bis zum endgültigen Verlassen der Lokalität garantiert nicht mehr räumen würde. Ein Kirschlorbeer, der die Hälfte seiner Blätter bereits verloren hatte, bot ihm zusätzlichen Schutz. Hoffentlich war das alles bald vorüber, und er durfte endlich nach Hause.

Im ersten Moment hatte er, nur mit Unterhose und Unterhemd bekleidet, im Schlafzimmer nach dem langen weißen Umhang, der Schärpe und der aus farbigem Plastik-Reblaub und Kunststofftrauben geflochtenen Krone Ausschau gehalten. Der Haufen Luftballons auf dem Bett konnte ja nur zu Renates Verkleidung gehören. Er suchte die Utensilien für seine Bacchus-Verkleidung jedoch vergeblich. Stattdessen stellte er fest, dass es zwei separate Luftballonberge gab, die sich farblich voneinander unterschieden. Renate beabsichtigte demnach, ihre Ariadne als grüne Traube darzustellen.

Kurt-Otto hatte schlucken müssen, als er die glänzenden roten Leggins und das dazu passende Top erblickte. Beides in seiner Größe, was keine andere Deutung zuließ, als dass sie für ihn bestimmt waren.

Er hatte sich an die Brust gefasst, während er Renate durch die geöffnete Tür vor dem Spiegel im Badezimmer summen hörte. Etwas zog sich darin zusammen. Das Herz? Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die Fastenzeit erschien ihm auf einmal gar nicht mehr so bedrohlich. Hatte Renate in der Schule bei der Behandlung der griechischen Götter gefehlt? Als liebliche Traube mit fünfzig Luftballonbeeren behängt hätte sie durchaus Bacchus’ Gefährtin darstellen können. Er hingegen würde aussehen wie ein Dornfelder nach drei Tagen Dauerregen. Obwohl sein mächtiger Körper in Leggins und figurbetontem Stretchtop kaum als dünnes Stielgerüst einer Weintraube durchgehen konnte.

Die dumpfen Bässe der Musik holten ihn aus seinen Gedanken. Er sah in diesem Moment prüfend an sich herab. Die rot-blauen Luftballons hingen zwar noch immer prall an seinem Synthetik-Outfit. Sie wiesen aber im Kunstlicht der Sporthalle eine sonderbar gräuliche Patina auf, die den Eindruck vermittelte, Bacchus sei an Mehltau erkrankt. Zweien seiner lieben Winzerkollegen war das vorhin in der Pause auch schon aufgefallen. Eugen Werum hatte sich nicht eingekriegt vor Lachen und dabei sogar einen Gutteil seines roten Colaschoppens verschüttet. Hans Menges hatte ihm fortlaufend auf die Schulter geklopft und ihm sein Beileid ins Ohr gelallt. Seither rief der liebe Kollege jedes Mal, wenn Kurt-Otto in seine Nähe kam, lauthals entweder nach Oidium und Peronospora oder Falschem Mehltau und Äscherich.

Kurt-Otto überlegte, sich im Schutze des Kirschlorbeers gegen die Wand zu drücken, in der Hoffnung, dass das die Luftballons an seinem Hintern zum Platzen bringen würde. Die Musik war so laut, dass es keiner hören würde. Nach fünf Stunden Sitzung konnte dort hinten ohnehin kaum noch ein Luftpolster wirklich intakt sein.

Was, wenn Renate aus der tanzenden Menge gar nicht mehr herauskam? Er hatte Durst. Und sie überließ ihn hier einfach seinem Schicksal. Um selbstständig Abhilfe zu schaffen, müsste er am Rand und an der Wand entlang den Großteil der wogenden Menge umrunden, um dann über die breite Treppe nach unten zur Sektbar zu gelangen. Dorthin und wieder herauf strömten jedoch ständig Menschentrauben. Jeder hier kannte ihn und würde ihm einen freudig amüsierten Kommentar mit auf den Weg geben. Als Trollinger hatten sie ihn wegen der großen Beeren schon mehrfach tituliert. Domina hatte ihn aber zum Glück noch keiner genannt. Trotzdem waren, spätestens seit der Winternheimer ihn sich vorgenommen hatte, alle Anwesenden im Bilde, wie er sich hatte zurechtmachen müssen.

Oh nein, das fehlte jetzt gerade noch. Eugen Werum steuerte schon wieder auf ihn zu, bog dann aber glücklicherweise in die Menge ab. Kurt-Otto wusste, was den armen Kollegen umtrieb. Sein suchender Blick verriet, dass er nach seiner Frau Carola Ausschau hielt. Es war ein Trauerspiel, wie in jedem Jahr.

Kurt-Otto wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter seiner roten Wollmütze juckte es barbarisch. Er behielt sie dennoch und trotz der hohen Temperaturen in dem stickigen, niedrigen Raum eisern auf. Sie passte farblich und gestalterisch zu seiner restlichen Verkleidung. Renate hatte sie mit leuchtenden Augen als das Tüpfelchen auf dem i bezeichnet. Dem konnte er getrost zustimmen. Mit geübten Stichen hatte sie zwei ausladende Kunststofftrauben an der wollenen Winterkappe festgenäht. Der untere Teil der einen Traube hing ihm seit der großen Polonaise, die ihn außerdem ein paar Luftballons an der Seite gekostet hatte, über die Nase und versperrte ihm die Sicht. Gleichzeitig wähnte er sich hinter den Plastikbeeren etwas besser getarnt.

Am hinteren Ende des Raumes konnte er Eugen für einen kurzen Moment erneut im Gewühl ausmachen. Er schien seine Frau nicht gefunden zu haben, obwohl doch jeder Zweite im Saal wusste, wo sie höchstwahrscheinlich anzutreffen war. Nach jeder Sitzung warf sich Carola dem Till an den Hals. Sie war nicht die Einzige, aber meistens die Erste, die sich an ihn hängte, wenn er nach dem Finale von der Bühne stolzierte. Es wurde viel darüber gemunkelt, und der arme Eugen lief nach Aschermittwoch tagelang wie Falschgeld umher. Dann kehrte Ruhe ein, bis es im nächsten Jahr zur Fassenacht wieder genauso ablief. Es gab Traditionen, die musste man nicht verstehen, zumal das alljährliche Techtelmechtel in der anschließenden Diskussion von den Dorfbewohnern reichlich aufgebauscht wurde. Wahrscheinlich stimmte nicht einmal die Hälfte davon.

Vor zwei Jahren hatte die Chaussee-Helga mit weiteren pikanten Details aufwarten können. Sie wollte im Vorbeigehen an Winternheimers Garderobe gesehen haben, wie nicht Carola Werum, sondern Lydia Menges darin verschwunden war. Den Schlüssel im Schloss der Tür habe sie noch hören, das Gesehene aber kaum glauben können. Weitererzählt hatte sie es natürlich trotzdem und sich dadurch bestätigt gefühlt, dass Lydia Menges etliche Wochen lang nicht im Dorf zu sehen gewesen war. Manche behaupteten, ihr Mann habe sie grün und blau geschlagen, und sie traue sich nicht vor die Tür. Andere sprachen davon, dass er sie rausgeschmissen habe. Egal, welche Variante stimmte, nach Ostern war sie gesund und munter wiederaufgetaucht, als ob nichts geschehen wäre. Zur Sitzung hatte sie im darauffolgenden Jahr aber nicht mehr mitgedurft. Auch heute hatte Kurt-Otto sie nicht gesehen. Menges war mit seiner zur Loreley des Selztals herausgeputzten Tochter Johanna da gewesen.

Nicht wenige der Jungs um die zwanzig aus dem Dorf hatten Menges’ Tochter vorhin auf der Tanzfläche umringt. Johanna, die seit Oktober die Geisenheimer Weinbauhochschule besuchte, vereinte auf nahezu perfekte Weise Schönheit und reichen Weinbergsbesitz. Ihr Vater würde heute Nacht alle Hände voll zu tun haben, um sie sicher wieder nach Hause zu bekommen.

Nanu, war das da vorne nicht der Till? Kurt-Otto rieb sich ungläubig die juckende Stirn unter der Wintermütze mit Traubenbesatz und schob sich gleichzeitig ein Stück aus seiner sicheren Deckung hervor, um besser sehen zu können. Am Rand der gut gefüllten Tanzfläche waren sie eben aufeinandergetroffen. Der Bass der Boxen hämmerte dazu. Zischend schoss ein Strahl Kunstnebel vom Saum der Bühne in die Menge und breitete sich wabernd aus. Im schwachen Dunst, der sich darüber ausdehnte, konnte er gerade noch erkennen, wie Winternheimers Faust mit voller Wucht in Eugen Werums Gesicht traf. Alles ging so schnell und scheinbar ohne Vorankündigung vonstatten, dass der Betroffene es nicht einmal schaffte, die Hände schützend in die Höhe zu bringen. Werums Beine knickten ein. Sein Oberkörper sank in den dichten Nebel hinab. Gleich darauf war auch der Rest von ihm verschwunden.

Kurt-Otto stürzte nach vorne, auf die Nebelwand zu. Nicht dass der Till ihm im Rausch noch mehr Schläge verpasste oder die Menge über ihn hinwegtrampelte. Entschlossen schob er die Tänzer, die er im dichten Dunst mehr ertasten als sehen konnte, zur Seite. Einige widersetzten sich seinen Bemühungen und stießen ihn weg. Er ließ sich davon nicht beirren. Luftballons platzten.

Eugen lag am Boden. Um ihn herum stampften die Füße. Niemand schien ihn zu bemerken. Kurt-Otto stieß die letzten Hindernisse aus dem Weg und ließ sich neben seinen Kollegen sinken. Aus einem klaffenden Riss über dessen rechtem Auge quoll Blut. Ein dünner, feiner Strom, der sich den Weg über seine Wange bis hinunter zum Ohr gebahnt hatte. Eugens linkes Augenlid zuckte hektisch.

»Eugen! Aufwachen.« Kurt-Otto schlug ihm mehrmals kräftig mit der flachen Hand auf die Wange und brüllte ihn weiter an, im Versuch, die Musik zu übertönen. Der Nebel lichtete sich. Die um sie herum wild Tanzenden hielten nach und nach in ihren Bewegungen inne und rückten erschrocken ab von dem, was sich da zu ihren Füßen abspielte.

Eugen hustete und spuckte blutig aus. Die Musik erstarb. Durch die plötzliche Stille fuhr ein spitzer Schrei.

»Kurt-Otto, bist du verrückt geworden? Lass ihn doch los!«

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