SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7499-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6022-3 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Aachen
© 2020 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
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Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Quellenangabe:
S. 188: Don Richardson, Ewigkeit in ihren Herzen
© Verlag der Liebenzeller Mission, Bad Liebenzell (1992)
Originaltitel: Don Richardson, Eternity in their Hearts
© Baker Publishing Group, 3rd ed.
Umschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.biz
Titelbild: Bilder: Adobe Stock
Autorenfoto: Daniel Kowalsky: © unbekannt
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen
Grafiken: S. 17: Starline/Freepik.com, S. 210: Freepik.com
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Über den Autor
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Nachwort
Leseempfehlungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
DANIEL KOWALSKY (Jg. 1966) arbeitet als Realschullehrer und engagiert sich im Kinder- und Jugendbereich der FeG Lörrach. Gleichzeitig ist er erfolgreicher Autor der Jugendbuch-Reihe »Joe Hart und die Blauen Tiger«. Mit seiner Frau lebt er im Südschwarzwald.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Babylon 2300 v. Christus
Peleg blickte auf die gespenstisch anmutenden Überreste des gigantischen Bauwerks. Ein Turm, der im Licht der Abendsonne förmlich zu glühen schien und dem Betrachter Zeugnis gab von einer großen Vergangenheit.
War es nicht dieser Turm gewesen, der einer Generation von Visionären und Enthusiasten – seiner Generation – die Zuversicht und Hoffnung gegeben hatte, Unmögliches möglich zu machen? Dieser Turm war nicht nur ein Bauwerk; nein, er war in der Tat das Symbol eines unglaublichen Plans gewesen, den sie nur gemeinsam verwirklichen konnten.
Damals schien ihnen die Welt zu Füßen zu liegen, und nichts und niemand konnte sie an der Ausführung des geheimen Plans hindern:
Eine Sprache, ein Turm, eine Stadt, eine Weltgemeinschaft mit unbegrenzten Möglichkeiten und ein gemeinsames Ziel …
Peleg seufzte. Leider war alles ganz anders gekommen. Plötzlich und ohne Vorankündigung war etwas geschehen, das zum totalen Chaos geführt hatte. Peleg sträubten sich jedes Mal die Nackenhaare, sobald er an die Ereignisse der Vergangenheit zurückdachte.
Ein Mann Gottes hatte ihm klipp und klar beschrieben, was passiert war:
JHW – der Schöpfer des Universums – hatte persönlich eingegriffen und dafür gesorgt, dass keiner mehr die Sprache des anderen verstand. Er hatte persönlich für Verwirrung der Sprachen gesorgt, sodass sich die Menschen in alle Länder zerstreuten. Aber warum?
Peleg wusste warum: Rebellion gegen Gott.
Ja, sie hatten sich gegen den Schöpfer des Universums aufgelehnt, sich gegen ihn verschworen. Denn sie wollten keinen Gott, der sie als Versager betrachtete, als »Sünder«, die in Gottes Schuld standen. Nein, so ein Gott passte nicht zu ihnen und zu ihrer eigenen Vision.
Mit dem Turm hatten sie allen zeigen wollen, dass sie mit eigener Kraft und aus gutem Willen heraus eigene Göttlichkeit erlangen konnten. Es war eine Vision grenzenloser Freiheit, die sie angetrieben und beflügelt hatte. Sie mussten sich nur einig werden, und dann hätte ihnen alles gelingen können, was sie sich vorgenommen hatten …
Doch JHW hatte sie gestoppt und ihr Projekt zum Scheitern gebracht.
Peleg schloss wehmütig die Augen.
Ja, es stimmte, sie waren gescheitert! Sie hatten ihre gemeinsame Sprache verloren, sie waren auseinandergetrieben worden. Sie hatten eine Schlacht verloren! Doch was geschehen war, war eben geschehen, damit musste er sich abfinden!
Denn der Plan existierte noch immer! Er lebte als Idee in den Köpfen einer Elite von Menschen weiter! Er war größer als Peleg selbst, viel bedeutender als jedes Menschenleben.
Peleg öffnete seine Augen und blickte auf den im Abendlicht leuchtenden Turm, den unvollendeten Turm zu Babel.
Dieser geheimnisvolle Plan hatte etwas Göttliches an sich. Und er, Peleg, hatte die letzten Jahre genutzt und persönlich dafür gesorgt, dass das geheime Wissen über diesen Plan Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende überdauern konnte; er würde von Generation zu Generation an einige wenige Auserwählte, an eine Elite von Priestern, weitergegeben werden. Und irgendwann würde die Zeit reif dafür sein.
Peleg blickte entschlossen zum Himmel auf und schrie laut:
»Der Plan wird umgesetzt werden – und nichts und niemand wird ihn aufhalten können!«
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Geheimes Forschungslabor im Bundesstaat Colorado – 04:30 Uhr
Leandro war voller Tatendrang! Noch heute, in dieser Nacht, würde er es durchzuziehen und abhauen.
Er wandte sich der weißen Schrankwand seines Büros zu und berührte den Griff einer Tür, hinter der sich sein Geheimnis verbarg.
Plötzlich hörte er ein knarrendes Geräusch. Erschreckt ließ er den Griff los, drehte sich um und blickte zur Tür.
Sie stand einen Spaltbreit offen. Warme Luft strömte vom Gang her in den klimatisierten Raum.
Er war sich sicher, dass er sie kurz zuvor verschlossen hatte. Sein Herz fing an zu rasen:
»Hallo, ist da jemand?«
Keine Antwort.
Schnell lief er zur Tür, öffnete sie vollends und schaute in den langen Gang des unterirdischen Laborgewölbes.
Niemand da! Es war wohl nur ein Luftzug, verursacht durch die Turbinen des Tunnelgebläses, der die Tür aufgestoßen hatte.
Warum sollte auch jemand hier sein? Es war Wochenende und zudem mitten in der Nacht; alle Mitarbeiter des Labors hatten schon lange Feierabend.
Er atmete tief durch, wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich mit immer noch klopfendem Herzen wieder der weißen Schrankfront zu. Er öffnete die vierte Tür von rechts, nahm aus dem untersten Regal ein paar Aktenordner heraus und tastete durch ein unscheinbares Loch an der Schrankrückseite nach einem verborgenen Hebel. Er legte diesen um und gab damit eine kleine, unauffällige Öffnung frei: Ein Geheimfach, das er einige Monate zuvor in mühevoller Arbeit und unter äußerster Geheimhaltung angelegt hatte.
Vorsichtig entnahm er aus der nur zwei mal zwei Zentimeter großen Nische einen Speicherchip, eine Spezialanfertigung. Dieser hatte es in sich, in jeder Hinsicht. Mal abgesehen von der enormen Speicherkapazität in Relation zur Größe war dieser Chip mit einer Tarnbeschichtung umhüllt, einem von ihm selbst entwickelten Spezialwachs, der von keinem Detektor aufgespürt werden konnte.
Leandro nahm seinen Schuh in die Hand, öffnete die Sohle und legte den Chip in einen exakt angepassten Hohlraum. Anschließend verteilte er Sekundenkleber auf die Unterseite und presste die Sohle wieder an den Schuh.
Niemand würde darauf kommen, dass sich in dieser Sohle ein Chip mit Geheiminformationen befand, so hoffte er zumindest. Die darauf gespeicherten Daten waren hoch brisant, eine Sensation! Wenn er auf dem Gelände der Anlage damit erwischt würde … Leandro atmete tief durch. Das würde sein Todesurteil bedeuten, so viel stand fest. Die Verantwortlichen dieser Einrichtung hatten sehr viel zu verlieren, wenn diese Informationen an die Öffentlichkeit gelangten. Um das zu verhindern, würden sie auch vor einem Mord nicht zurückschrecken.
Seit zwei Jahren arbeitete er bereits in dieser geheimen Anlage, vierzig Meter tief unter der Erde. Das Gelände befand sich im Bundesstaat Colorado, weit abseits jeglicher Zivilisation. Es gab nur wenige Geheimnisträger, die von dieser Anlage überhaupt wussten. Und noch geheimer war das, woran die nur etwa dreißig Mitarbeiter in den Laboren arbeiteten. Und er, Leandro Bugatti, war Teil dieses hochqualifizierten Ingenieuren-Teams. Jeder Mitarbeiter gehörte zu der Elite seines Fachs – hier arbeiteten nur die Besten der Besten, eine Denkfabrik mit ungeheurer Schlagkraft, eine Ansammlung von Genies, die in ihrer Konzentration wohl einzigartig auf der Welt war.
Aber woran arbeiteten sie überhaupt? Leandro war erst vor ein paar Monaten vollends dahintergekommen, und auch nur deshalb, weil er ein geheimes Gespräch zwischen dem Laborleiter Maxime Bineaux und dem deutschen Auftraggeber namens Gilbert Winter abgehört hatte. Er wollte eigentlich nur ins Büro des Laborleiters, um seinen wöchentlichen Forschungsbericht abzugeben, als er stockte. Die Stimme von Maxime Bineaux, sonst ein schroffer, autoritärer Typ, klang fast unterwürfig. Instinktiv hielt Leandro inne und lauschte an der nur angelehnten Tür.
Durch dieses Gespräch waren ihm die Augen geöffnet und ein Verdacht bestätigt worden, der sich Leandro in den letzten Monaten immer mehr aufgedrängt hatte, den er aber nicht hatte wahrhaben wollen.
Leandro bekam auch jetzt wieder eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, was er und sein Team hier tatsächlich entwickelten. Es war nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Auftraggeber ihre Pläne mithilfe dieser Erfindungen in die Tat umsetzen würden.
Umso wichtiger war es, dass er mit den sorgsam zusammengetragenen digitalen Geheimdokumenten schnellstmöglich von hier verschwand. Er hatte genug Informationen gesammelt. Jedes weitere Zögern war ein Risiko. Und weiterarbeiten – das konnte er für diese Leute nicht.
Leandro öffnete die Labortür und verließ den Raum. Entschlossen marschierte er durch die langen, hell erleuchteten Gänge des unterirdischen Labyrinths in Richtung Ausgang. Jetzt würde es sich zeigen, wie gut die Tarnbeschichtung um den Chip herum tatsächlich war. Alles hing davon ab, dass die Wachshülle unversehrt war. Schon der kleinste Kratzer machte sie unbrauchbar und vor allem die Hitze konnte ein Problem für die Beschichtung werden. Diese fing an, bei 28 Grad zu schmelzen. Leandro schaute auf die Temperaturanzeige, die in seiner Uhr integriert war.
26,5 Grad! Ganz nah am Schmelzpunkt des Wachses! Ausgerechnet heute war die Klimaanlage ausgefallen, die die Gänge mit wohltuender Kühle versorgte. Nur die Labore wurden dank eines Not-Systems weiterhin klimatisiert.
Plötzlich hörte er wieder diese Geräusche hinter sich. Erschreckt schaute er sich um. Mit seinen Augen suchte er jeden Winkel des Gangs ab. Niemand war da. Bildete er sich nur etwas ein oder gab es diese Geräusche wirklich?
Verunsichert drehte er sich wieder um und wandte sich erneut dem Ausgang zu, verlangsamte aber seinen Schritt – denn Zweifel kamen in ihm hoch. Würde er den Chip wirklich an einem der besten Sicherheitsdienste der Welt vorbeischmuggeln können? Er hatte bisher noch nicht testen können, wie sich die Schutzschicht des Chips bei so hohen Temperaturen verhielt.
Leandro schaute erneut auf die Temperaturanzeige: 27°! Das konnte kritisch werden. Nur noch ein Grad bis zum Schmelzpunkt. Er musste sich beeilen. Aber je näher er der Sicherheitssperre kam, umso mehr Angst überfiel ihn.
* * *
Zur gleichen Zeit in Basel, Schweiz – 12:45 Uhr
Gilbert Winter betrat den hermetisch abgeschirmten Konferenzraum eines turmförmigen Gebäudes mitten in Basel, der hundertprozentig abhörsicher war und den höchsten Sicherheitsanforderungen entsprach. Sein seidenschwarzes Haar glänzte in der Mittagssonne, die aus einem tiefblauen Himmel durch die großzügig angelegte Fensterfront des Gebäudes hereinschien. Er nahm seine stilvoll geformte »Shape Up Disc«-Brille in die Hand, putzte sie mit einem Feuchttuch und setze sie wieder auf. Plötzlich meldete sich sein Smartphone.
Er nahm das Gespräch entgegen.
»Ja?«
»Hier Eldorado – wir haben ein Sicherheitsproblem.«
»Der Jüngling?«
»Korrekt!«
»Sicherheitsmaßnahmen verschärfen! Es tritt Sicherheitskonzept C in Kraft.«
»Zu Befehl!«
Gilbert Winter beendete das Gespräch und bereitete sich auf die entscheidende Konferenz vor, die heute und morgen in diesem Gebäude stattfinden sollte. In einem Monument der Finanzwelt, das sich von der Architektur her wie die moderne Version des Turmbaus zu Babel präsentierte. Er, einst ein verspotteter, schlacksiger Junge aus Deutschland, hatte sich hochgearbeitet, hatte alles aufs Spiel gesetzt, um nun in diesem Gebäude und vor allem in dieser Position arbeiten zu dürfen. Doch was keiner hier wusste: Er arbeitete insgeheim für einen ganz anderen Auftraggeber, eine uralte Geheimgesellschaft, die seit Jahrhunderten die Fäden der Macht in der Hand hielten und durch geschicktes Taktieren dafür sorgte, dass alles nach Plan lief – ihrem Plan. Er selbst war stolz darauf, Teil dieser elitären Gesellschaft zu sein und noch dazu ganz oben in der Machtpyramide zu stehen.
Heute erwartete Gilbert sehr bedeutende Gäste, die ebenfalls dazugehörten und seiner Meinung nach die wichtigsten Repräsentanten der globalen Hochfinanz waren, Männer und Frauen, die mit ihm zusammen am gleichen Strang zogen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, ein globales Ziel, das die Welt nachhaltig verändern und besser machen würde. Und er würde einen großen Anteil daran haben, das hatte er sich einst geschworen und ihm war jedes Mittel recht, um dieses Ziel zu erreichen.
* * *
Leandro war sich jetzt sicher: Er wurde beobachtet. Er beschleunigte sein Tempo und erreichte kurz darauf die Sicherheitsschleuse.
»Guten Morgen Jack!«
»Hi Leandro! Hast du so lang gearbeitet oder doch ein Nickerchen unterm Schreibtisch gemacht?« Der Wachmann sah auf seine Uhr und grinste.
»Man sagt doch: Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf«, antwortete Leandro. »Und mir scheinbar auch, obwohl ich nicht zu denen gehöre.«
»Die Sonne geht bald auf. Was ist los?«
»War noch an einem Projekt dran, das ich abschließen musste.«
»Alles klar! Dann schnell die Sicherheitskontrolle und ab ins Bett mit dir, du siehst echt mies aus, Mann!« Jack sah Leandro schon fast besorgt an.
»Klar! Mach ich.«
Leandro gab seine Uhr ab, die von Jack mit modernstem Gerät genau überprüft wurde, und betrat die Schleuse, die sich sofort hinter ihm schloss. Jetzt wurde es ernst. Es folgten anderthalb Minuten banges Warten, in denen Jack keine Miene verzog, sondern einfach nur konzentriert auf den Sicherheitsmonitor blickte. Dann schaute er auf, Leandro direkt ins Gesicht:
»Du hast deine Schuhe mit Sekundenkleber repariert, gell?«
Leandro erschauderte, fing sich aber schnell wieder und setzte ein breites Grinsen auf: »Made in China!«
Jack grinste zurück: »Bei deinem Gehalt solltest du dir lieber Markenschuhe zulegen – lohnt sich!«
Dann öffnete er die Schleuse und ließ Leandro passieren.
Der atmete erleichtert auf, nahm seine Uhr entgegen und verabschiedete sich von Jack. Kurz darauf öffnete er die Tür seines Ferraris, startete den Motor und fuhr los.
* * *
Colorado
Ein blonder Hüne schaute aus einem Fenster direkt neben der Sicherheitsschleuse. Er beobachtete Leandros Ferrari, der mit dröhnendem Motorengeräusch davonfuhr:
»Wünsche dir eine gute Reise, Leandro! Eine lange Reise. Schade um den schönen Ferrari!«
Er begab sich durch die Sicherheitsschleuse, lief zu seinem Fahrzeug, einem Porsche Carrera S, startete den Motor und folgte dem Ferrari in sicherem Abstand.
Nach einigen Kilometern nahm er eine Fernsteuerung zur Hand und schaltete sie ein. Er wusste genau, wann er den roten Knopf betätigen musste.
* * *
Leandro erreichte mit seinem Ferrari den höchsten Punkt der Straße. Er war erleichtert – nein, mehr als das –, endlich stellte sich dieses unglaubliche Gefühl grenzenloser Freiheit ein, das ihn regelmäßig überkam, sobald er in diesem Fahrzeug saß.
Man brauchte das Gaspedal nur leicht antippen, und schon brachten satte 800 PS Motorleistung den Wagen förmlich zum Fliegen. Von 0 auf 100 in schier unglaublichen 2,9 Sekunden! Wahnsinn!
Nein! Er durfte sich diesem Rausch der Geschwindigkeit nicht einfach so hingeben – nicht in seiner Situation! Außerdem fiel rechts von ihm der Hang fünfzig Meter ab. Eine falsche Bewegung und er …
Plötzlich platzte ein Reifen und zusätzlich blockierte das Lenkrad. Leandro trat auf die Bremse, doch diese reagierte ebenfalls nicht. Entsetzt stellte er fest, dass er die Kontrolle über sein Fahrzeug vollständig verloren hatte. Und nur zwanzig Meter vor ihm folgte eine scharfe Linkskurve.
* * *
Der große Mann in dem Porsche beobachtete von einem Parkplatz aus mit seinem Fernglas, wie Leandros Ferrari die Leitplanken durchbrach und in die Tiefe stürzte. Nach fünfzig Meter freiem Fall schlug er auf einem Felsvorsprung auf, überschlug sich ein paar Mal, bevor er völlig zerdrückt zum Erliegen kam. Diesen Sturz konnte niemand überleben, doch der blonde Hüne ging auf Nummer sicher und betätigte einen blauen Knopf auf seiner Fernsteuerung. Ein Zünder wurde aktiviert und eine kleine Sprengladung direkt am Tank brachte diesen zur Explosion.
Zufrieden beobachtete er aus der Ferne, wie der Ferrari völlig ausbrannte.
Per SMS sendete er eine Nachricht nach Basel.
»Auftrag ausgeführt!«
* * *
Gilbert Winter lächelte zufrieden.
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Lion Daniels schaute auf die Uhr – 13:23 Uhr – und staunte nicht schlecht: Der TGV von Paris nach Basel hatte eine Strecke von mehr als 550 km in nur drei Stunden bewältigt und überpünktlich den Hauptbahnhof erreicht, drei Minuten zu früh!
»Noch nicht mal mit dem Flugzeug wäre es schneller gegangen!«, murmelte er, schnallte sich seinen Trekking-Rucksack auf den Rücken, begab sich zum Ausgang des Abteils und verließ den klimatisierten Zug.
Es kam ihm so vor, als ob er eine Waschküche betreten würde. Eine unglaubliche Hitze schlug ihm entgegen. Lion, dessen vollständiger Name eigentlich Lionel Abraham Daniels lautete, warf einen Blick auf die Temperaturanzeige im Display über dem Bahnsteig:
37 Grad – 12 Grad wärmer als in Paris!
»Typisch Basel!«, seufzte er.
Doch als er daran dachte, weshalb er nach Basel gekommen war, durchzog ein angenehm kühles Kribbeln seinen Körper und er bekam Herzklopfen.
Würde er sie wirklich wiedersehen, Jacqueline Arielle Bordeaux? Doch Jacqueline nannten sie nur ihre Eltern – für alle anderen hieß sie einfach nur Jackie.
Ein Jahr war es her, seitdem er die Abschlussklasse der Black Forest Academy in Kandern verlassen hatte, eine internationale englischsprachige Schule im Südschwarzwald in der Nähe von Basel. Und Jackie war seine Klassenkameradin gewesen, allerdings nur im letzten Schuljahr. So interessant ihr Name klang – Jacqueline Arielle Bordeaux –, so geheimnisvoll war dieses Mädchen. Keiner in seiner Klasse wusste, von woher sie kam, geschweige denn, wer ihre Eltern waren.
Seine Klassenkameraden munkelten, sie sei die Tochter eines bedeutenden Diplomaten, dessen Identität geheim bleiben sollte. Andere flüsterten hinter vorgehaltener Hand, sie sei die Tochter eines Mafiabosses. Doch Jackie, die zwei Jahre jünger war als ihre Klassenkameraden, schienen solche Gerüchte überhaupt nicht zu interessieren; sie reagierte einfach nicht darauf und beantwortete auch keine Fragen. Sie sprach auch nicht darüber, dass sie aufgrund ihrer guten Leistungen in der Schule einfach mal zwei Klassen übersprungen hatte und dennoch auch in dieser neuen Klasse zu den Besten gehörte. Nur, je weniger sie von sich preisgab, desto mehr zog sie die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich.
Doch so groß das Interesse an dieser neuen Schülerin auch war – niemand in der Klasse interessierte sich so sehr für Jackie wie Lion. Für ihn war sie das bezauberndste Mädchen, das er jemals kennengelernt hatte. Ja, er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt und schon nach kurzer Zeit den Entschluss gefasst, dass er sich dieses Mädchen angeln würde, koste es, was es wolle.
Dies erwies sich jedoch als ein schwieriges Unterfangen, denn Jackie blockte alle Annäherungsversuche ab und ließ niemanden an sich heran. Sie war eine ganz harte Nuss. Aber Lion blieb hartnäckig und bemühte sich jeden Tag aufs Neue um sie. Und seine Anstrengung zahlte sich aus, denn im Laufe des Schuljahres zeigte auch Jackie Interesse an Lion, der für sie immer mehr zum Bezugspunkt in der Klasse wurde. Zu Lions Leidwesen entwickelte sich aber nicht mehr daraus.
Auch wenn die Beziehung zwischen Jackie und Lion nur platonischer Natur war, so glaubte er, dass ihn mit Jackie mehr als nur eine lose Freundschaft verband und dass durchaus mehr aus ihnen werden könnte. Eine kleine Annäherung hatte es nämlich gegeben. Kurz vor ihren Abschlussprüfungen hatte Lion mit Jackie einen Tandem-Gleitschirmsprung von einem Berg im Schwarzwald gemacht. Heimlich, denn eigentlich durfte in Deutschland ein noch minderjähriger Schüler keine Tandemsprünge machen. Doch das interessierte Lion nicht: Als Vollblutabenteurer und seiner Darstellung nach sehr erfahrener Gleitschirmflieger machte er es einfach, was Jackie dann auch tatsächlich mächtig beeindruckte. Aber auch sie punktete bei ihm mit ihrem Mut, denn sie hatte keinerlei Angst vor dem Sprung und erwies sich während des Flugs als absolut gelassen und schwindelfrei.
Doch wenn er gehofft hatte, auf diese Weise Jackie endlich vollends erobern zu können, so hatte er sich getäuscht. Jackie hielt ihn nach diesem Gleitschirmsprung weiterhin auf Distanz und ließ ein erneutes Sich-näher-Kommen nicht zu.
Als sich das Schuljahr dann zum Ende neigte und nichts geschah, war Lion verzweifelt. Hatte er sich in Jackie getäuscht?
Doch auf der Abschlussfeier überraschte ihn die zu diesem Zeitpunkt noch fünfzehneinhalbjährige Jackie mit dem, was sie sagte. Lion konnte sich noch genau an jedes Detail des Gesprächs erinnern:
»Lion, ich mag dich, ja, eigentlich ist es viel mehr als das – ich glaube, ich habe mich in dich verliebt. Doch leider weiß ich nicht, ob das mit uns beiden Zukunft hat.«
Sie holte zwei mit Wachs versiegelte Umschläge aus ihrer Tasche und gab einen davon Lion.
»Wenn es uns beiden miteinander wirklich ernst ist, treffen wir uns heute genau in einem Jahr. Adresse und Zeitpunkt stehen auf dem Zettel im Umschlag, den ich dir gegeben habe. Wenn einer von uns beiden nicht kommt, dann war's das.«
Lion hätte beinahe laut losgelacht. »›Weil es dich gibt …‹, Hollywood lässt grüßen! Und warum versuchen wir es nicht sofort miteinander?«
»Wenn das mit uns beiden eine Zukunft hat, werden wir uns wiedersehen, in einem Jahr, und zwar bei der genannten Adresse. Aber den Zettel darfst du erst einen Monat vorher öffnen. Und bis dahin – kein Kontakt!«
Lion schüttelte den Kopf. »Wie soll das gehen? Kannst du mir nicht wenigstens deine E-Mail-Adresse oder eine Telefonnummer geben?«
»Keine E-Mail-Adresse, keine Telefonnummer, kein WhatsApp, kein Instagram oder Facebook, Lion.«
Jackie blieb hartnäckig und Lion willigte schließlich ein; was blieb ihm auch anderes übrig?
Heute war es endlich so weit – würde er Jackie wirklich wiedersehen? Lion wischte sich den Schweiß von der Stirn, betrat die Rolltreppe, die vom Bahnsteig zum Oberdeck des Bahnhofs führte, kramte Jackies Umschlag hervor, den er tatsächlich erst vor einem Monat geöffnet hatte, um anschließend direkt das Zugticket zu buchen:
Treffpunkt: Starbucks Coffee House
beim Hauptbahnhof SBB in Basel Zeitpunkt: 15. Juni, 14:00 Uhr |
Er hatte also noch eine gute halbe Stunde Zeit. Oben angekommen, verließ er die Rolltreppe, betrat die Überführung, die sich über die zahlreichen Bahngleise erstreckte, und wandte sich nach links Richtung Ausgang zur Stadt.
Auf der Überführung befanden sich viele kleine Geschäfte und Restaurants, die die Reisenden mit dem Nötigsten versorgten. Lion hatte jedoch keinen Blick dafür, er dachte nur an Jackie, wie sie bei der Abschiedsfeier vor ihm stand mit ihren langen, rotbraunen lockigen Haaren, ihren geheimnisvollen dunkelbraunen Augen, die einen faszinierenden Glanz ausstrahlten, ihrem feinen Gesicht mit dem zart geschwungenen Mund. Intuitiv hielt er Ausschau nach ihr, in der Hoffnung, sie würde wie er früher am Treffpunkt erscheinen.
Und plötzlich entdeckte er sie. Sie stand vor ihm, nur fünf Meter entfernt und blickte ihm direkt in die Augen.
Schnell stürmte er auf sie zu, nahm sie in den Arm und gab ihr einen französischen Begrüßungskuss auf die Wangen:
»Jackie! Endlich …«
Zu Lions Entsetzen stieß ihn Jackie von sich und gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Das ist ja wohl die billigste Anmache, die ich jemals erlebt habe! Hau ab, sonst rufe ich die Polizei!«
Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte sich Jackie ab und ging in die entgegengesetzte Richtung davon.
Lion hatte ja schon so manche Überraschung mit Jackie erlebt, aber mit so einer Reaktion hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Irritiert folgte er ihr und sprach sie erneut an: »Jacqueline Arielle Bordeaux! Ich bin es, Lion Daniels! Erkennst du mich denn nicht wieder?«
»Lass mich in Ruhe, sonst kracht's!«
Lion musste unwillkürlich grinsen. »Was ist das denn für ein Spiel, das du spielst? Ich weiß ja, dass du ne ganz schön harte Nuss bist, aber so … – Auuuu…«
Ehe sich Lion versah, hatte Jackie ihn vors Schienenbein getreten. Lion bückte sich und hielt sein Bein vor Schmerz.
»Sag mal spinnst du?«
»Ganz und gar nicht! Ich habe die Schnauze voll von dieser elenden Anmache. Du bist heute schon der Dritte, der es bei mir versucht. Zum letzten Mal: Hau ab!«
»Hast du einen Knall? Wir haben doch eine Verab…«
Jackie schnitt ihm das Wort ab: »Wenn du mich noch einmal ansprichst, hole ich die Polizei!«
Dann wandte sie sich wieder von ihm ab und lief davon.
Lion stand da wie ein begossener Pudel und verstand die Welt nicht mehr. Verschiedene Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Warum tat Jackie so, als ob sie ihn nicht kennen würde? Was wollte sie damit bezwecken? Fühlte sie sich beobachtet und wollte sich nicht in der Öffentlichkeit zu ihm bekennen? Jackie hatte ja schon immer etwas Geheimnisvolles an sich gehabt. Sie war wie ein Buch mit sieben Siegeln, immer für neue Überraschungen gut. Aber heute übertraf sie sich selbst.
Lion schüttelte den Kopf. Was immer auch der Grund war, dass sie ihn wie einen Fremden behandelte – er beschloss, es herauszufinden, aber unauffällig.
Und so wandte er sich ab und marschierte ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung, in der Erwartung, dass Jackie sich noch einmal umschauen würde. Das tat sie auch, vermutlich um sich zu vergewissern, dass Lion aufgab und sie in Ruhe ließ. Anschließend setzte sie ihren Weg fort.
Doch Lion drehte sich sofort wieder um und folgte ihr in einigem Abstand, sehr darauf bedacht, dass er nicht beobachtet wurde. Jackie betrat eine Rolltreppe, die hinab in die Bahnhofshalle führte, von dort aus durchquerte sie die Halle und steuerte dem Ausgang entgegen. Dann verließ sie die Bahnhofshalle, lief links an den Straßenbahnhaltestellen des Bahnhofsvorplatzes vorbei und steuerte schnurstracks auf das Coffee House zu, das der verabredete Treffpunkt zwischen Jackie und ihm war. Sie schaute auf die Uhr, betrat die Terrasse des Cafés und setzte sich an einen Tisch mit Ausblick in Richtung Bahnhof. Dann holte sie ihren versiegelten Briefumschlag mit dem darin liegenden Briefpapier hervor, auf dem die Adresse und der Zeitpunkt ihres Treffens vermerkt waren.
Lion schüttelte verwirrt den Kopf. »Offenbar erinnert sie sich an unsere Verabredung. Warum behandelt sie mich dann aber so mies? Was spielt sie für ein scheiß Spiel mit mir?«
Er beschloss, sie noch einmal zur Rede zu stellen.
Lion machte einen großen Bogen, betrat die Terrasse des Cafés von einer anderen Seite und schlich sich unbemerkt hinter den Rücken von Jackie mit der Absicht, sie zu überraschen und zu überrumpeln und so ein paar Sekunden Vorsprung zu haben, bevor sie wieder wütend werden konnte. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Er hatte ein komisches Gefühl, dass sich irgendetwas ereignen würde, jetzt in den nächsten Sekunden. Und so blieb er in Deckung und beobachtete das Mädchen seiner Träume mit angehaltenem Atem.
Jackie nahm den Zettel aus dem Umschlag und studierte ihn aufmerksam. Dann schüttelte sie den Kopf und schaute auf.
Plötzlich verkrampfte sie sich und starrte auf zwei Männer in schwarzen Anzügen und eine etwa 1,80 Meter große, hellblonde Frau in einem weißen Kittel, vermutlich eine Krankenschwester, die schnurstracks auf sie zukamen. Der Anblick dieser drei Personen schien ihr nicht zu gefallen.
Sie schien auf einmal ängstlich und Lion meinte, förmlich spüren zu können, wie sie sich verkrampfte. Schnell schob sie den Zettel in den Briefumschlag zurück und versteckte diesen in einem Seitenfach ihrer Handtasche. Dann lockerte sie ihre Haltung und schaute den Ankömmlingen gespielt selbstbewusst entgegen:
»Wie haben Sie mich so schnell gefunden?«
Die Krankenschwester ging nicht darauf ein.
»Juliette, warum bist du abgehauen?«
Lion stutzte. Juliette? Warum nannte die Frau sie Juliette? Da stimmte doch etwas nicht. Und der Akzent der Krankenschwester kam ihm irgendwie bekannt vor. Lion kramte in seiner Erinnerung und wurde fündig. Richtig, eine aus Finnland stammende Klassenkameradin hatte einen ähnlichen Akzent gehabt. Diese Frau musste also ebenfalls aus Finnland stammen.
Während die beiden finster dreinblickenden Männer schwiegen und sich rücklings um den Tisch stellten, fuhr die Finnin fort: »Du weißt doch, dass du noch nicht stabil genug bist. Es ist gefährlich, dass du auf eigene Faust losgehst. Und du weißt auch, dass du heute in die neue Unterkunft verlegt werden sollst, wo man dir besser weiterhelfen kann.«
»Ich will nicht in diese neue Unterkunft! Und überhaupt, Ihre Behandlung hat bisher nichts besser gemacht! Mein Zustand hat sich stattdessen noch verschlechtert.«
»Eben darum sollst du ja verlegt werden. Und jetzt mach hier keinen Aufstand und komm mit!«
Die Krankenschwester packte sie am Arm.
Jackie schrie auf vor Schmerz. »Aahh! Sie haben mir mit Ihrem Ring die Haut aufgeritzt! Das tut weh! Was soll das?«
Doch die hellblonde Finnin schaute sie nur mit eiskaltem Blick an.
Jackie sah sich verzweifelt nach Hilfe um. Kleine Schweißperlen standen ihr auf der Stirn und sie rang nach Luft. Lion sah, wie Jackie zusammensackte, jedoch ohne das Bewusstsein zu verlieren.
Die beiden Männer traten vor, legten Jackies rechten und linken Arm jeweils über ihre Schultern und führten sie in Richtung Ausgang. Jackie bewegte sich wie in Trance.
Mit blankem Entsetzen verfolgte Lion, was sich vor seinen Augen abspielte. Was passierte hier? Entführten diese Menschen Jackie gerade? Am liebsten hätte er laut aufgeschrien und die Männer irgendwie gestoppt, aber er besann sich. Mit einer direkten Konfrontation würde er gar nichts erreichen. Die beiden Männer waren ihm körperlich überlegen und mit der Frau zusammen waren es drei gegen eins. Die würden sich von Lion nicht aufhalten lassen. Besser war es, die Polizei anzurufen.
Doch dazu blieb keine Zeit. Die Männer führten Jackie direkt zur nebenliegenden Straße. Sie hatten es sehr eilig; anscheinend hatten sie vor, sie schnellstmöglich mit einem Fahrzeug abzutransportieren. In ihrer Eile ließen sie sogar Jackies Handtasche liegen.
Plötzlich hatte Lion einen Geistesblitz. Er öffnete ein kleines Fach an seinem Trekkingrucksack, holte einen knopfgroßen Gegenstand heraus, steckte diesen blitzschnell in ein kleines Nebenfach von Jackies Handtasche und verschloss sie mit einem Reißverschluss. Dann rief er der Finnin hinterher:
»Hallo, Sie haben Ihre Handtasche liegen lassen!«
Die Krankenschwester drehte sich um und kam wieder zurück:
»Wie aufmerksam, vielen Dank!«
»Darf ich mal fragen, was dieses Mädchen hat?«
Die Schwester zuckte mit ihren Schultern. »Vermutlich nur einen Kreislaufzusammenbruch. Bei der Hitze passiert so etwas schnell mal. Umso wichtiger, dass sie möglichst schnell in die Klinik kommt!«
Lion hätte am liebsten laut protestiert, denn für ihn war ganz klar, dass diese Frau Jackies Zusammenbruch mit ihrem Ring verursacht hatte. Aber er blieb ruhig. »Die Arme! Dann wünsche ich dem Mädchen gute Besserung. Hoffentlich können Sie ihr helfen!«
»Wir tun unser Bestes.«
Sie wandte sich wieder von ihm ab und folgte ihren Kollegen. Kurz darauf fuhr ein Rettungswagen vor, die beiden Männer öffneten die hinterste Tür und legten Jackie etwas unsanft auf eine Liege. Zwei Sanitäter schnallten sie fest und versorgten Jackie sogleich mit Sauerstoff. Alle drei stiegen ins Fahrzeug, das mit quietschenden Reifen losfuhr.
Lion war aufgebracht. Doch er konnte nichts tun, außer sich den Krankenwagen genau anzuschauen und sich das Kennzeichen zu merken. Es war ein ganz normales Einsatzfahrzeug – aber am rechten Kotflügel hatte es eine deutlich sichtbare Beule. Schnell nahm er sein Smartphone zur Hand und machte ein paar Fotos vom Rettungswagen, der wenige Sekunden später hinter einer Kurve verschwand.
Nicht zu fassen, was sich gerade zugetragen hatte! Lion ließ das Geschehen noch einmal Revue passieren:
Jackie, auf die er ein Jahr sehnsüchtig gewartet hatte, für die er eine lange Fahrt von Paris nach Basel in Kauf genommen hatte, um sie zu treffen, behandelte ihn wie einen Fremden, wie einen Störenfried, der sie belästigen wollte, um anschließend zum vereinbarten Treffpunkt zu gehen, wo sie sich treffen wollten. Das ergab einfach keinen Sinn! Und bevor es zu einem Treffen kommen konnte, wurde sie direkt vor seinen Augen entführt.
Lion konnte sich keinen Reim darauf machen, was das alles zu bedeuten hatte – er wusste nur eins: Dass er sich unbedingt den Wortlaut des Gesprächs merken musste, das er soeben mitbekommen hatte. Schnell nahm er sein Smartphone zur Hand und sprach das, was er gerade gehört hatte, auf Band. Dann rief er die Polizei an.
* * *
Gilbert Winter setzte das digitale Hightech-Fernglas mit integriertem Richtmikrofon ab und betrachtete das Foto, das er von dem Jungen mit dem Trekkingrucksack gemacht hatte. Er hatte die Szene am Café vom geöffneten Fenster des Konferenzraums aus genau beobachtet und murmelte verärgert vor sich hin:
»Verdammt nochmal! Was macht diese Göre hier in Basel, und was will dieser Typ von ihr?
Er griff zu seinem Smartphone.
»Jill, ich sende dir das Foto von dem Jungen zu, den ihr im Bahnhof SBB zusammen mit dem Mädchen gesehen habt. Er ist nicht so unbeteiligt, wie ihr glaubt. Hat soeben die Polizei angerufen und eine Entführung gemeldet. Sorg dafür, dass die Polizei sich passiv verhält!«
»Keine Sorge – Erwin, unser Kontaktmann bei der Polizei, kümmert sich darum.«
»Sehr gut! Und er soll auch das Foto dieses Jugendlichen durch die Gesichtserkennung laufen lassen! Ich will alles über ihn wissen! Und Jill, habt ihr eigentlich schon herausgefunden, was das Mädchen im Starbucks wollte?«
»Nein, aber wir sind dran!«
»Findet es so schnell wie möglich heraus! Und ich möchte nicht noch einmal so einen Fehler erleben!«
Der Deutsche machte eine Sprechpause.
»Und was diesen Jungen angeht – sollte er sich dem Mädchen noch einmal nähern, dann wisst ihr was ihr, was zu tun ist.«
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Colorado – 06:00 Uhr
Leandro schaute mit Wehmut von der Bergstraße aus ins Tal auf die Überreste seines zertrümmerten Ferraris, der immer noch in Flammen stand, mittlerweile aber fast vollständig ausgebrannt war. Beklommen dachte er daran, dass sich soeben sein Jugendtraum, in dem all seine Ersparnisse steckten, in Rauch auflöste. Langsam lockerte sich bei Leandro die Schockstarre und ihm wurde plötzlich bewusst, wie nebensächlich der Verlust dieses Ferraris doch war.
Er lebte! Das war die Hauptsache.
Ja, er hatte tatsächlich überlebt, und zwar dank eines einzigartigen Sicherheitssystems, das richtig viel Geld gekostet hatte. Satte 80 000 Dollar war ihm die Installation eines intelligenten Kapsel-Airbag-Systems, kurz IKAS, wert gewesen. Es handelte sich um die neueste Erfindung eines deutschen Ingenieurs, der ihm den Prototyp seiner Erfindung sogar selbst eingebaut hatte. Eine goldrichtige Entscheidung – der Airbag war jeden Cent wert, den er gekostet hatte. Schließlich hatte er den Unfall überlebt!
Beim Aufprall des Ferraris auf die Leitplanke hatte sich der Kapsel-Airbag in Form einer Polster-Kugel aus einer Sollbruchstelle im Sitz gelöst, sich aufgeblasen, den Fahrer vollständig umhüllt und anschließend seitlich aus dem Wagen hinausgeschleudert, weg vom Abhang. Das System hatte schon im Vorhinein permanent die Umgebung gescannt und die Richtung für einen vermeintlichen Kapsel-Abwurf berechnet.
Nur, wie hatte dieser Unfall überhaupt passieren können? Wie war es möglich, dass ein Reifen platzte, das Lenkrad blockierte und die Bremse ausfiel – und zwar alles gleichzeitig?
Der einzig logische Schluss: Sabotage! Dieser Unfall war das Resultat eines Anschlags.
Doch wer steckte dahinter? Wer hatte es auf ihn abgesehen?
Eigentlich musste er nur eins und eins zusammenzählen: Der Anschlag stand in direktem Zusammenhang mit dem Geheimnis, das er in der Firma, für die er arbeitete, aufgedeckt hatte. Man war ihm trotz aller Sicherheitsvorkehrungen auf die Schliche gekommen. Folglich war er zu einem unkalkulierbaren Risiko und musste daher aus dem Weg geräumt werden. Nur wer hatte es ausgeführt?
Leandro schloss die Augen und dachte nach. Plötzlich erinnerte er sich: Ein großer, blonder Mann war ein paar Tage zuvor im Labor aufgetaucht. Niemand wusste, wie er hieß, geschweige denn, warum er gekommen war.
Leandro hatte bei ihm von Anfang an ein ungutes Gefühl gehabt, dieses aber verdrängt. Doch jetzt erinnerte er sich an die verstohlenen Blicke, die ihm dieser Mann in vermeintlich unbeobachteten Momenten zugeworfen hatte; Blicke voller Misstrauen oder Kalkül.
Kein Zweifel, der Hüne war ein Auftragskiller, der auf ihn angesetzt worden war und soeben zugeschlagen hatte. Glücklicherweise hatte er bei seinem Mordanschlag das kürzlich eingebaute Sicherheitssystem nicht einkalkuliert.
In diesem Moment schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Dieser abgebrühte Typ würde wahrscheinlich in wenigen Minuten hier auftauchen, um zu überprüfen, ob sein Opfer wirklich tot war. Solche Leute gingen immer auf Nummer sicher. Er befand sich auch jetzt noch in Lebensgefahr und musste schleunigst von hier verschwinden!
Voller Panik verließ Leandro die Straße und kletterte ein Stück den Berg hoch. Dann stoppte er und hielt inne.
Er durfte jetzt keine Fehler machen! Bevor er sich in Sicherheit brachte, musste er unbedingt alle Spuren beseitigen, die darauf hindeuteten, dass er noch lebte.
Schnell kehrte er zur Straße zurück, griff in seine Hosentasche, zog ein Schweizer Taschenmesser heraus und schlitzte die Airbag-Kapsel auf, die ihm wenige Minuten zuvor das Leben gerettet hatte, sodass die Luft entwich. Dann rollte er sie zusammen und trug die Überreste der Kapsel den Hang hinauf bis zu einem Felsbrocken.
Plötzlich war ein Motorengeräusch zu hören, das schnell näher kam. Leandro legte sich hinter dem Felsbrocken in Deckung und beobachtete durch einen Spalt hindurch die Straße.
Tatsächlich, die Motorengeräusche wurden lauter, ein Fahrzeug näherte sich. Wenige Sekunden später kam ein Porsche um die Kurve, bremste ab und blieb stehen. Die Tür öffnete sich und ein Mann stieg aus.
* * *
Der Hüne trat an den Abhang, nahm sein Digital-Fernglas in die Hand und betrachtete von der Straße aus den fast vollständig ausgebrannten Ferrari. Diesen Unfall konnte niemand überlebt haben, so viel stand fest!
Doch was war das? Er nahm einen Gegenstand ins Visier, der etwa dreißig Meter oberhalb des Ferraris auf einem Felsvorsprung lag. Der Gegenstand war nahezu unbeschädigt; und er gehörte ohne Zweifel zum Fahrzeug.
Es handelte sich offenbar um das Faltdach des Ferraris, das sich aus irgendeinem Grund abgelöst haben musste. Aber warum? Schnell schwenkte er mit dem Fernglas zurück zum Ferrari und wählte die höchste Vergrößerungsstufe. Durchs offene Dach der völlig verkohlten Fahrerkabine konnte er jetzt sehr gut alle Details erkennen – und stutzte.
Das Fahrzeug war leer! Wo war die Leiche? War der Fahrer etwa aus dem Auto herausgeschleudert worden? Erneut suchte er mit dem Fernglas noch einmal gründlich den kompletten Hang ab.
Nein. Da war nichts zu sehen. Der Mann setzte das Fernglas ab und fluchte. Sein Zielobjekt lebte – er wusste zwar nicht, wie so etwas möglich war, aber er hatte irgendwie überlebt!
Schnell drehte er sich um, inspizierte zuerst die Straße, dann den Abhang darüber. Sein Blick fiel auf einen Felsbrocken etwas oberhalb. Ein höhnisches Grinsen überzog seinen Mund. Er zog seine Waffe, entsicherte und legte sie an. Mit der Pistole im Anschlag verließ er die Straße und kletterte den Hang hinauf in Richtung des Felsbrockens.
* * *
David Grand fuhr mit seinem klapprigen VW-Käfer, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte, über eine einsame Bergstraße und seufzte leise vor sich hin:
»Ich muss total verrückt sein! Fünfzig Kilometer Fahrt mitten in die Pampa – so früh am Morgen – und alles nur aus einem Impuls heraus!«
Na ja, streng genommen war es mehr als nur ein Impuls. Für David gab es überhaupt keinen Zweifel daran, dass es richtig war, die Reparaturarbeiten am Dach der Blockhütte in den Bergen zu unterbrechen, um mit seinem vierzig Jahre alten Käfer einem unbekannten Ziel entgegenzufahren. Das Dach musste warten, wenn Gott rief.