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Susanne Reiche

 

Fränkisches Chili

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Die Handlung und die Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.

 

 

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage März 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stephan Naguschewski

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © plainpicture / Frauke Schumann

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-704-9

 

Inhalt

Prolog

A Million and one Reasons

Another Day In Paradise

Keiner spürt es so wie du

Hit the Road Jack

Liebe ist

Per Anhalter durch die Galaxis

Der ewige Gärtner

Dust in the Wind

Wir lieben Ingo

Rolling in the Deep

In Zaire

Why

Fluch der Karibik

Tödliche Magie

Crazy Little Thing Called Love

Erpressung

Das Fenster zum Hof

Woher wir kommen, wohin wir gehen

Verdacht

Alien III

Das Geständnis

Dank

 

Prolog

Ein großer Schatten zog über die blaugrün glänzenden Lauchstangen.

Dumitru legte den Kopf in den Nacken und sah dem Heißluftballon nach. »Habt ihr alle keine Arbeit?«, murmelte er. Schon seit halb acht lief das so. Gute Thermik heute. Die Ballons gingen hinter Heffners Gurkenglashaus auf wie die Morgensonne und kurz darauf hinter Lehmanns Tomatengewächshaus wieder unter. In seinem ersten Jahr beim Biobauern Meisner hatte er noch lächelnd nach oben gegrüßt. »Nix winke, arbeite!«, hatte es daraufhin geheißen, und mittlerweile gingen ihm die Tagediebe selbst auf die Nerven. Natürlich, es war Sonntag; aber das Unkraut ging nicht zur Kirche, und er demnach auch nicht.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und senkte die Hacke wieder in die festgebackene Erde. Florin, der Neue, der in der Reihe neben ihm hackte, als gäbe es etwas zu gewinnen, nickte ihm über die Lauchstangen hinweg zu.

»Scheiße trocken«, sagte er.

Dumitru seufzte. Florins Wortschatz war in Rumänisch wie in Deutsch gleichermaßen schlicht. Natürlich war es trocken, seit Wochen kein Regen, über dreißig Grad. Der Bauer hatte Bewässerungsrohre auf dem Acker installiert, aber das Wasser versickerte ratzfatz im fränkischen Sand. Ja, wenn man in den Glashäusern arbeiten könnte! Immer vierundzwanzig Grad, wie auf den Kanarischen Inseln. Die Pflanzen rankten graziös an Schnüren aus aufgeschnittenen Plastiksäcken, Wasser und Nährstoffe gab es ganz nach deren Gusto. Aber natürlich hackte da niemand Unkraut, da saß nur einer im Kontrollzentrum vor bunten Leuchtdioden, und wenn etwas schiefging, kam ein Techniker und prüfte die Sensoren.

Der Schatten des nächsten Ballons glitt über den Boden, Sparkassenwerbung. Etwas glänzte hell auf, und Dumitru stocherte mit der Hacke. Meist waren es Glasscherben oder Schokoriegelpapier, aber manchmal fand er auch Münzen oder Glasperlen, die er seinen Töchtern am Ende der Saison mit nach Rumänien brachte. Was auch immer, er war für jede Abwechslung dankbar. Florin behauptete, das stundenlange Hacken sei meditativ, aber er selbst war Magister der Philosophie und fühlte sich von seiner Tätigkeit intellektuell eher unterfordert. Die Hacke machte ein klingendes Geräusch, und Dumitru beugte sich hinunter, kratzte mit dem Fingernagel in der harten Erde.

Dann wurde er blass.

»Was ist?« Florin beugte sich neugierig hinüber. Seit Dumitru ein Fünfpfennigstück aus dem Dritten Reich für zweihundert Euro auf eBay versteigert hatte, interessierte auch Florin sich für glänzende Dinge auf dem Acker.

Trittbrettfahrer.

»Scheiße«, sagte Florin fröhlich. »Das sind Zähne.« Auch er stocherte nun mit seiner Hacke im Boden herum, dann schlug er Dumitru anerkennend auf die Schulter, so als hätte der das verschollene Bernsteinzimmer entdeckt.

»Das ist eine Scheißleiche, Mann«, sagte er bewundernd. »Du hast eine Scheißleiche gefunden!«

 

Tag 1 – Donnerstag, der 8. September

A Million and one Reasons*

* Lena Meyer-Landrut, Good News, 2011

Im Vorraum saß eine teuer ausstaffierte Schönheit auf der abgeschabten Holzbank. Sie hielt den Rücken sehr gerade, so als wolle sie dem ehrwürdigen Möbel keine Intimität mit ihrem Körper gestatten.

»Lass die nicht wieder so lang warten«, riet Felix Wernreuther. »Die kennt den Wirtschaftsreferenten.«

Kastner hob nur kurz den Blick von der Tastatur. Der Bericht über die blutige Schlägerei vor dem Club Planet im Stadtteil Klingenhof beanspruchte seine ganze Konzentration. Zweifingersystem. Ich bin Kriminalkommissar, keine Sekretärin, war seine stereotype Antwort, wenn der Chef ihm beim jährlichen Mitarbeitergespräch eine Schulung ans Herz legte. Der war inzwischen von dieser Antwort leidlich angepisst, aber Kastner konnte stur sein, wenn er wollte.

Die Frau interpretierte Kastners Blick als Aufforderung; ihre hochhackigen Schuhe klackerten energisch über die gesprungenen Bodenfliesen.

»Herr Kästner? Man hat mir gesagt, ich solle mich bei weiteren Fragen an Sie als den zuständigen Ermittler wenden …«

»Kastner«, sagte er. »Wenn Sie bitte noch kurz warten würden? Ich habe gleich Zeit für Sie.«

Die Frau hob die gezupften Augenbrauen, als hätte er sie gebeten, auf einem Bein zu stehen. »Das ist ja wohl Behördenschikane«, stellte sie fest. »Meine Zeit ist kostbar. Es geht um einhundertsiebzehn Arbeitsplätze.«

Kastner nickte resigniert. Er war schwierige Klientel gewohnt: Leute, die ihm Schläge androhten, Betrunkene, die auf den Fußboden kotzten; und er sah jeden Tag mehr Elend, als ihm guttat: Frauen mit Hämatomen im Gesicht, drogensüchtige Kinder, alte Frauen, denen man die letzten Ersparnisse aus dem Marmeladenglas gestohlen hatte. Er war als Ermittler angestellt, aber er hätte genug Arbeit für mehrere Sozialpädagogen, Putzfrauen, Dolmetscher und nicht zuletzt auch eine Sekretärin gehabt. Aber so war das Leben. Richtig auf die Nerven gingen ihm jedoch Leute, die den Wirtschaftsreferenten kannten und damit nicht hinter dem Berg hielten.

»Wir bearbeiten Ihre Vermisstenanzeige mit höchster Priorität, und sobald es etwas Neues über den Verbleib Ihres Mannes gibt, werden wir Sie natürlich sofort benachrichtigen, Frau … äh, Wollreis«, sagte er. Der Name der Wohnbaufirma Wollreis AG war in Nürnberg stadtbekannt, aber er wollte keine übertriebene Demut zeigen.

Beate Wollreis kniff die Augen zusammen und beugte sich über den Tresen. Eine lange Perlenkette löste sich von ihrem verschwitzten Dekolleté und pendelte sacht vor Kastners Augen hin und her. »Höchste Priorität!«, sagte sie verächtlich. »Ist das Ihr Verständnis von Humor? Sie schieben hier Aktenstapel hin und her, während ich jeden Tag um meine Existenz kämpfe!«

Kastners Mitleid hielt sich in Grenzen. Wollreis hatte über Jahrzehnte im wahrsten Sinne des Wortes Dreck zu Gold gemacht. Seine Modernen Stadtvillen in grüner Lage drängten sich in altehrwürdige Villengebiete, sprengten die Beschaulichkeit kleiner Reihenhaussiedlungen und wucherten am Ortsrand in die knappen Ackerflächen. Nach Kastners ganz privater Meinung verschandelten sie die Stadt; eine Stadt, deren alte Bausubstanz zuerst vom Nazigrößenwahn missbraucht, dann von den Bomben der Alliierten zerstört und danach von den zeitgeistigen Bausünden der folgenden Epochen munter weiter verunstaltet worden war.

Aber es empfahl sich nicht, diese Meinung im beruflichen Umfeld zu äußern. Er war schließlich Beamter.

»Eine Todeserklärung wird in der Regel frühestens nach einem Jahr …«, fing Kastner an, aber Frau Wollreis fiel ihm ins Wort.

»Herr Klaas, der Wirtschaftsreferent, hält in diesem besonderen Fall eine Ausnahme für denkbar«, teilte sie ihm mit. »Eine Ansicht, die der Oberbürgermeister im Übrigen teilt. Die Firma braucht Planungssicherheit.«

Kastner schöpfte Zuversicht.

»Dafür sind wir leider nicht zuständig, Frau … Wollreis. Todeserklärungen sind Sache des Amtsgerichts.«

»Ich weiß, Herr Kästner. Aber Hermann, also, Herr Kümmert, der Rechtsreferent, hat mir geraten, eine Expertise der ermittelnden Polizei einzuholen. Eine Erklärung, dass vernünftige Zweifel am Tod meines Mannes ausgeschlossen sind.«

Eine Expertise! Das waren mindestens drei DIN-A4-Seiten … Kastner schloss für einen Moment die Augen.

Aber es kam noch schlimmer.

 

***

 

»Meine Fresse«, sagte Wernreuther, als er den Streifenwagen auf dem staubigen Feldweg im Knoblauchsland zum Stehen brachte. Kastner nickte und wuchtete sich aus dem Auto. Sofort begann er zu schwitzen – dieser Sommer erwies sich bisher als trocken und heiß. Die ganze Kriegsopfersiedlung schien sich um einen Lauchacker zwischen hohen Gewächshäusern versammelt zu haben, dazu halb Wetzendorf und ein paar Höfleser. Die Leute taten so, als wären sie zufällig vorbeigekommen, was angesichts der abgeschiedenen Lage des Fundorts wenig überzeugend wirkte.

Kastner wies Wernreuther an, die Gaffer nach Hause zu schicken. Er arbeitete nicht gern unter Beobachtung. Der Feldarbeiter, der die Leiche gefunden hatte, stand neben einem Krankenwagen und war recht blass im Gesicht. Kast­ner sprach kurz mit ihm, dann stapfte er in das Lauchfeld. Hinter einem hitzeschlaffen Plastikband bot sich das Tableau einer archäologischen Grabung: Drei Beamte in Schutzanzügen kratzten mit kleinen Kellen in der Erde, ein kräftiger Mann mittleren Alters gab Anweisungen. Als er Kastner sah, kam er ihm entgegen und stellte sich vor.

Kastner schüttelte die dargebotene Hand. Der Name sagte ihm nichts.

»Dietz? Sind Sie neu bei der Spurensicherung?«

Dietz winkte lachend ab. »Ich bin der Stadtarchäologe. So eine Fundsituation fällt wohl aus dem Rahmen, da hat man mich um Beistand gebeten.«

Kastner nickte. Er zog sein Jackett aus und fächelte sich Luft zu.

»Sicher sind Sie eh der richtige Mann hier, Herr Dietz. Das sind doch vermutlich sehr alte Knochen, die der Pflug an die Oberfläche …«

Zu Kastners Bedauern schüttelte der Archäologe den Kopf. »Leider nein. Natürlich gibt es hier Bodendenkmäler, Bestattungen aus der Bronzezeit. Wenn der Wollreis eine Baugrube aushebt oder die Stadt eine Straße baut, retten wir, was zu retten ist. Aber dieser Tote liegt hier höchstens vier Wochen – ein Mann mittleren Alters mit sehr teuren Schuhen. Schicke Anzughose, aber kein Jackett. Wollen Sie sich das nicht einmal ansehen?«

»Danke«, sagte Kastner und hob abwehrend die Hand. Er war keiner, der sich vom Anblick einer Leiche tiefere Erkenntnisse erhoffte. Wenn sich am Sonntagabend der Tatort-Kommissar über das Opfer beugte und seinem Assistenten das qua Eingebung empfangene Täterprofil in den Notizblock diktierte, ging er in der Regel zum Kühlschrank und holte sich noch ein Bier.

So ein Quatsch, pflegte er zu brummen, was seine Lebensgefährtin gern mit einem ironischen Du musst es ja wissen konterte.

 

Mord war in Nürnberg nicht an der Tagesordnung. Es gab die üblichen Drogentoten, hie und da eine Messerstecherei, und gelegentlich barg man Ertrunkene aus den trüben Fluten der Pegnitz. Eine verscharrte Leiche war für Kastner ein absolutes Novum.

Dietz’ Blick streifte indiskret die Schweißflecke im Achselbereich von Kastners rosa Hemd, und er zog sein Jackett wieder an. Dann musterte er die Umgebung. Im Südosten erhob sich als städtebauliche Dominante das Berufsförderungswerk, das der Nürnberger Burg zumindest aus dieser Perspektive den Rang als Wahrzeichen der Stadt ablief. Gewächshäuser und Maschinenhallen mit Solarkollektoren versperrten den Blick zum Horizont; die bescheidenen Reste dörflicher Strukturen standen wie arme Verwandte neben weiß verputzten Einfamilienhäusern mit säulengetragenen Balkonen – auch hier war Wollreis präsent.

 

Mittleren Alters. Sehr teure Schuhe.

War nicht Wollreis’ Wagen nach seinem Verschwinden am 11. Juni bei einer Baustelle seiner Firma in Thon gefunden worden – zu Fuß gut zwanzig Minuten von hier?

»Scheiße«, sagte Kastner.

 

***

 

Die Witwe Wollreis trug passenderweise schon Schwarz, als sie ihm die Tür öffnete.

»Ich wusste es!«, seufzte sie in ein monogrammbesticktes Taschentuch. Dann rief sie das Hausmädchen und bot Kastner Kaffee an. Während er vorsichtig zwei Löffel Zucker in der fingerhutgroßen Espressotasse verrührte, führte sie im Nebenzimmer Telefongespräche mit ihrer Bank, dem Geschäftsführer der Baufirma und ihrer Vorgängerin, die sie korrekterweise mit »Frau Wollreis« ansprach. In dieser Reihenfolge.

 

Er stellte die üblichen Fragen.

Nach Einschätzung der Witwe war ihr toter Gatte ein mustergültiger Ehemann, ein braver Steuerzahler, eine Stütze der Gesellschaft und ein sehr sozialer Arbeitgeber gewesen. Einen besonders trauernden Eindruck machte sie allerdings nicht. Dafür bot sie ihm aus freien Stücken für den Tag, an dem ihr Mann verschwunden war, überprüfbare Alibis mit gut beleumundeten Zeugen an.

Er notierte Liebhaber??.

»Sie sehen also, wie kurzsichtig Ihre bürokratische Verweigerungshaltung wegen der Expertise letztendlich war, Herr Kästner«, beschied die Witwe ihn zum Abschied und sah dabei äußerst zufrieden aus.

Kastner nickte.

 

Der Tag war so heiß und wolkenlos wie die Tage zuvor. Kast­ner verließ Erlenstegen mit der Linie 8 in Richtung Innenstadt. Am Hauptbahnhof stieg er aus und kaufte sich eine Butterbreze und eine Mohnschnecke, die er rasch hintereinander im Stehen verzehrte. In der Rathauskantine gab es donnerstags Currywurst, und in der Polizeidirektion hätte er sein verschwitztes Hemd wechseln können, aber er hatte keine Lust, Wernreuther oder seinem Chef zu begegnen und ihre Fragen zu beantworten.

 

Am Nachmittag führte er eine erste Recherche im Umfeld des Toten durch, sprach mit Angestellten und Verwandten, telefonierte mit Geschäftspartnern. Daraus ergaben sich durchaus Mordmotive: faule Kredite, ein Schwarzgeldkonto, Verdacht auf Bestechung und Vorteilsnahme, einige abgelegte Geliebte, eine Erbschaftsstreitigkeit, dubiose Grundstücksgeschäfte, Verleumdungsklagen … Das Übliche eben. Kastner kaute eine Weile darauf herum.

Um 17:30 Uhr machte er Feierabend.

 

***

 

»Wollreis? Der Baulöwe? Wollreis AG?«

Kastner nickte und riss das Küchenfenster auf. Die Gerichtsmedizin hatte bestätigt, dass es sich bei dem Rätselhaften Leichenfund im Knoblauchsland, wie die Abendzeitung reißerisch getitelt hatte, tatsächlich um Wollreis’ sterbliche Überreste handelte. Zahnprofil. Keine vernünftigen Zweifel.

»Na das ist ja ein Ding. Wollreis«, sagte Mirjam. Sie hatte früher einmal im Stadtplanungsamt gearbeitet und kannte Wollreis.

Kastner fächelte sich Luft zu – in der Innenstadt kühlte es nachts kaum ab. Herrn und Frau Ylmaz’ Umrisse trugen im erleuchteten Küchenfenster eine Meinungsverschiedenheit aus. Die Studenten darüber hörten Rammstein, etwas mit Tod und Asche. Fräulein Meier – sie legte Wert auf diese Anrede – aus der Vierunddreißig goss ihre lichtmangelkranken Geranien und winkte ihm freundlich zu.

»Da wünsche ich schon mal viel Spaß bei den Ermittlungen«, feixte Mirjam. »Ich kenne einige Leute, die nur deshalb auf seine Beerdigung gehen würden, um sicher zu sein, dass wirklich zwei Meter Erde draufkommen.«

Kastner holte sich eine Halbe Landbier aus dem Kühlschrank und füllte gemächlich sein Glas. Seiner Ansicht nach war es Sünde, fränkisches Bier aus der Flasche zu trinken, ohne den bernsteinfarbenen Glanz des Getränkes zu würdigen. Versnobt nannte Mirjam das. Sie nannte es auch effiziente Kommunikation, wenn sie ohne Punkt und Komma redete, und er hatte sich über die Jahre daran gewöhnt. Sie hatten sich im Friedhofsamt kennengelernt, als er wegen eines Falles von Störung der Totenruhe auf dem Johannisfriedhof ermittelt hatte. Vor drei Jahren waren sie zusammengezogen.

»Vielleicht war’s seine Frau?«, überlegte Mirjam und zog an ihrer Zigarette. »Die dritte Frau Wollreis – oder doch schon die vierte? Er wollte sie durch eine jüngere, repräsentativere Dame ersetzen. Ehevertrag. Eben noch Ferrari, jetzt schon Hartz IV. Wäre ein Grund, oder?«

Kastner wiegte den Kopf. Soweit er wusste, fuhr Frau Wollreis keinen Ferrari, sondern einen dieser unförmigen Geländewagen, der weithin signalisierte, dass sein Besitzer über eine geräumige Garage verfügte und nicht gezwungen war, sich in der Innenstadt einen Parkplatz suchen zu müssen. Das mögliche Motiv blieb natürlich dennoch bestehen, da hatte Mirjam schon recht.

»Es kann aber auch ein enttäuschter Käufer gewesen sein«, fuhr seine Lebensgefährtin fort und schenkte sich Rotwein nach. Mirjam stellte in ihrer häuslichen Gemeinschaft die Toskana-Fraktion. »Braver Familienvater, eine Frau, zwei Kinder, irrwitzig hoher Kredit. Das Traumhaus entpuppt sich als Betonbutze, nach Jahren ist noch immer die Straße nicht geteert, kein Gehweg, kein Spielplatz, keine Grünfläche, schlechte Anbindung an den ÖPNV – dafür jahrelang Baulärm.« Mirjam drückte ihre Kippe in den Aschenbecher und steckte sich eine neue an. »Da fragt sich der gute Mann, warum er dafür eine Dreiviertelmillion berappt hat. Nachdem die Katze überfahren wird, kommt er ins Grübeln, was die ›grüne Lage‹ betrifft. Und als er seinen Kredit nicht mehr bedienen kann, verliert er komplett die Nerven.«

Kastner schloss das Fenster wieder. Von einem kühlen Luftzug konnte keine Rede sein, dafür roch es intensiv nach gebratenen Zwiebeln. Er lebte gerne in der Südstadt, aber es hatte auch seine Härten.

»Oder ein Grundstücksbesitzer. Du weißt schon: schnell noch billig gekauft, bevor der Bebauungsplan aufgestellt wird und das Grundstück das Zehnfache wert ist. Wollreis hatte ja da die passenden Kontakte.«

Mirjam aschte ab. Dann lächelte sie. »Am Ende, Kastner, war es einer von uns. Ein kleiner, aufrechter Sachbearbeiter, vielleicht vom Naturschutz. Hat sich das jahrelang angeschaut, wie der Wollreis gemacht hat, was er will, Biotop hin, Artenschutz her, und dann hat er sich nen Hammer genommen und der Arroganz ein Ende gesetzt. Peng – und aus.«

Kastner nickte und trank den letzten Schluck von seinem Bier. Wie die Ermittler sonntags beim Tatort steuerte Mirjam immer gleich auf das in ihren Augen Wesentliche zu – das Motiv. Er jedoch fragte sich, warum jemand eine Leiche auf dem intensiv bewirtschafteten Acker einer Halbmillionenstadt ablegte. Und wo Wollreis bis August gewesen war.

Er gähnte und warf einen Blick auf die große Uhr zwischen den Ikea-Hängeschränken, die besser in eine Bahnhofshalle gepasst hätte als in eine kleine Küche mit blau geblümter Tapete. Es war schon halb eins.

»Ich geh ins Bett, Hase. Kommst du mit?«

»Ich komm gleich nach«, murmelte sie und zog noch eine Marlboro aus der Schachtel.

Kastner drückte ihr einen unbeholfenen Kuss auf die nackte Schulter. Sie erschien ihm angespannt in letzter Zeit. Vor einem halben Jahr hatte sie das Friedhofsamt verlassen, um halbtags beim Service öffentlicher Raum, kurz SÖR, zu arbeiten. Intern nannte man diese Dienststelle den rosa Elefanten, oder das Retortenbaby, wie Mirjam sich ausdrückte, da Zuständigkeiten zusammengewürfelt worden waren, die von der Sache her kaum Gemeinsamkeiten hatten. Die Politik ruft, wir folgen, pflegte sie resigniert zu sagen, und Kastner war immer wieder gerührt von diesem »Wir« aus dem Munde von jemandem, der offensichtlich seine Schwierigkeiten mit den strukturellen Defiziten der Verwaltung hatte.

 

Während er sich in dem winzigen Badezimmer die Zähne putzte, betrachtete er sein fleischiges Gesicht im Spiegel.

Ich sollte mehr Sport treiben, dachte er.

 

Tag 2 – Freitag, der 9. September

Another Day In Paradise*

* Phil Collins, But Seriously, 1989

»Todesursache?«, wollte Kastner wissen.

»Schwierig«, erwiderte Wernreuther.

Kastner zählte bis zehn, dann hob er fragend die Augenbrauen.

»Na ja, es sieht wohl nicht nach Gewalteinwirkung aus. Man muss die Gewebeuntersuchung abwarten.«

Kastner nickte. Kein Hammer also.

»Interessant ist, dass der Tod bereits Mitte Juni eingetreten ist. Also unmittelbar, nachdem Wollreis verschwunden ist. Die … also die … Zersetzung? Verwesung? Also die hat allerdings erst Mitte August eingesetzt.«

»Bitte?«, sagte Kastner.

Wernreuther strich sich das Haar aus der hohen Stirn und machte ein wichtiges Gesicht. »Die Gerichtsmedizinerin sagt …« Er blätterte in der Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Also, sie sagt, dass die Leiche irgendwie frisch gehalten wurde, ehe sie auf dem Acker, nun ja, zu liegen kam.«

»Frisch gehalten?«

Wernreuther zuckte etwas beleidigt die Achseln und hielt ihm den Bericht hin.

»Ich glaub es dir ja, Felix. Ich wunder mich bloß. Hat die Spurensicherung sonst irgendwas Interessantes am Fundort der Leiche entdeckt?«

»Das kommt darauf an, was du interessant nennst.« Wernreuther legte den Bericht der Gerichtsmedizinerin zurück auf seinen Schreibtisch und holte einen Pappkarton in der Größe einer Schuhschachtel darunter hervor. Obenauf lag eine Liste, die er Punkt für Punkt vorlas, während er kleine Plastiktütchen aus dem Karton zog und demonstrativ in die Höhe hielt.

»Drei Kippen der Marke Marlboro. Da es so lange nicht geregnet hat, ist schwer zu sagen, seit wann die da lagen. Verschiedene Scherben von Senftöpfchen und Ofenkacheln aus dem späten Mittelalter.« Wernreuther grinste. »Bei der Altersbestimmung hat sich dieser Herr Dietz hervorgetan. Martina Götz von der Spusi sagt, die Scherben hätten ihn weit mehr interessiert als die Leiche. Die war ihm vermutlich nicht alt genug!«

Kastner räusperte sich.

»Jaja«, sagte Wernreuther. »Ich fand’s lustig. Ferner einen Fußabdruck von einem Gummistiefel der Größe 45, aus einer Zeit, zu der es noch geregnet haben muss. Der war von der Hitze inzwischen wie in Beton gemeißelt, sagt Martina. Sie hat einen Abguss davon gemacht.« Wernreuther machte eine Pause und kramte in dem Karton. »Ja wo ist denn … Ach, hier. Beim Graben kamen diverse Knochensplitter zum Vorschein. Dabei handelt es sich um Überreste von Hase und Hund. Ein Schweinezahn war auch dabei. Aber bevor du jetzt an einen satanistischen Ritualmord denkst, Kastner: Der Archäologe meint, das wär ganz normal. Die Bauern haben anscheinend früher den Inhalt ihrer Abfallgruben als Dünger auf den Acker gefahren.«

»Was ist mit den Kippen? Kann man davon noch DNA gewinnen?«

»Vermutlich schon. Die von irgendeinem Feldarbeiter oder Bauern, nehme ich an. Aber wenn du meinst …«

»Ich meine«, sagte Kastner. Er machte sich keine großen Hoffnungen, dass der genetische Fingerabdruck mit dem eines Schwerverbrechers aus der Datenbank übereinstimmte, aber warum etwas unversucht lassen?

»Sonst noch was?«

»Wollreis trug seine Armbanduhr und seinen Ehering. Geldbeutel und Handy hatte er in der Hosentasche, das Handy war ausgeschaltet. Und er war vorschriftsmäßig bekleidet. Unterwäsche, Hemd, Hose, Socken, Schuhe. Alles nicht bei Woolworth gekauft. Er trug allerdings kein Jackett.«

Kastner nickte. Das hatte der Archäologe bereits erwähnt. Nach Wollreis’ Verschwinden hatte man Angehörige und Angestellte befragt, und ein Hausmädchen hatte Stein und Bein geschworen, dass er das Haus an dem fraglichen Morgen in einem beigen Jackett verlassen habe. Am 11. Juni war es laut seiner Akte nicht übermäßig warm gewesen, zwölf Grad bei bedecktem Himmel und böigem Ostwind.

Wo hatte Wollreis das Jackett gelassen?

»Also Raubmord war es jedenfalls nicht«, sagte Wernreuther gerade. Er schichtete die Tütchen wieder in den Karton. »In seiner schweinsledernen Börse waren 500 Euro und mehrere Kreditkarten.«

»Lass mir doch den Geldbeutel bitte gleich da, wenn die Spusi schon mit ihm fertig ist.«

»Freilich. Nur Wollreis’ eigene Fingerabdrücke drauf, sagt Martina. Nicht mal die seiner Frau …« Wernreuther fummelte den Geldbeutel aus der Tüte und reichte ihn Kastner.

»Danke. Und vielleicht könntest du dich gleich um die DNA-Analyse kümmern?«

Wernreuther machte ein Gesicht wie ein Kleinkind, dem man gesagt hatte, es müsse erst sein Zimmer aufräumen, bevor es Sandmännchen schauen durfte. »Wenn’s sein muss.«

»Es muss«, sagte Kastner. Er wartete, bis Wernreuther aus der Tür war, dann öffnete er die Geldbörse.

 

***

 

Gegen Mittag ließ Kastner sich von Wernreuther in Wetzendorf absetzen. Er wollte mit dem Arbeiter sprechen, der Wollreis’ Leiche gefunden hatte, und mit dem Bauern, dem der Acker gehörte. Von Mirjam wusste er, dass der Biobauer jeden Freitag einen Hofverkauf betrieb. An die große Glocke schien der das aber nicht hängen zu wollen: Das alte Sandsteingebäude lag verlassen da, kein Schild wies darauf hin, dass man hier etwas kaufen konnte. Im Schatten einer Kastanie lag hechelnd ein riesiger, zottiger Hund. Vielleicht ein Neufundländer. Kastner, der das Holztor schon ein Stück weit geöffnet hatte, zog es rasch wieder zu, als der Hund interessiert den Kopf hob.

»Hallo? Ist jemand da?«

Es verging geraume Zeit, bis eine ältere Frau aus einem der Schuppen kam. Sie trug eine blaue Kittelschürze und hatte ihr graublondes Haar zu einem Dutt gebunden; zwei schwarze Plastikeimer, aus denen bei jedem Schritt Wasser schwappte, zogen ihr die Arme lang. Sie sah aus, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Offensichtlich war sie nicht wegen Kastner gekommen, denn sie schlurfte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über das Steinpflaster aufs Haus zu.

»Hallo? Entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte mit Herrn Meisner sprechen. Ist er da?«

Die Frau wandte sich um, kniff die Augen gegen die Sonne zusammen und musterte Kastner ebenso interessiert und wortlos wie der Hund.

»Herr Meisner«, rief Kastner, etwas lauter als vorher. »Ist er zu sprechen?«

»Wos schreiersn äsu«, grummelte die Frau und schüttelte missbilligend den Kopf. »Kummers hald rei. Braungmer ä Gmäis? Der dud nix.« Ohne die Eimer abzustellen, schlurfte sie zurück zu dem Schuppen.

Kastner war des Nürnberger Idioms an sich durchaus mächtig. Als behüteter Sprössling eines Bankangestellten und einer Hausfrau hatte er den katholischen Kindergarten in Mögeldorf besucht, war in Schweinau in die Grundschule und später in Gibitzenhof aufs Gymnasium gegangen. Seit er bei der Polizei war, lebte er in Steinbühl. Aber hier stieß er an seine Grenzen. Selbst unter den Eingeborenen gab es Dialekt – und es gab Dialekt.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und öffnete vorsichtig das Tor. Der Hund deutete ein Schwanzwedeln an, ehe er den Kopf ermattet wieder auf seine mächtigen Pfoten sinken ließ.

»Än Borrie häddmer, odder ä Blaugraud? Dä Salood is vädorrd ba derä Hidz«, sagte die Frau, ohne Kastner anzusehen. »Un wennsmer däi Dier aafhaldn dädn …« Sie hob die beiden Eimer um je zwei Zentimeter an, um den Grund für diese fränkische Bitte klarzustellen.

»Mein Name ist Kastner«, sagte Kastner, während er mit vorgetäuschter Souveränität an dem Hund vorbei über den Hof ging. »Ich bin von der Kriminalpolizei. Ich würde gern mit dem Bauern sprechen, dem Herrn Meisner.« Galant hielt er der Frau die Schuppentüre auf.

»No soongsis hald glei. Weecher derer Leich, odder? No, dou braungmer ja dann nedd in Schubfn nei.« Sie maß ihn mit einem vorwurfsvollen Blick und machte, die Henkel der Eimer immer noch fest in den Händen, wieder kehrt. »Dä Bauer is drinner, deä dringgd sein Kaffee. Also wenns ä Gmäis brauchd häddn …« Sie zuckte die Achseln.

Kastner schüttelte entschuldigend den Kopf und deutete auf das Haus. »Kann ich da einfach …«

Die Alte seufzte. »Gengers miid.«

 

Bauer Meisner saß in einer Küche, die offensichtlich in den 1970er-Jahren zuletzt modernisiert worden war, an einem beigen Resopaltisch und trank Filterkaffee mit Kondensmilch. Er war nicht mehr der Jüngste, Ende sechzig, schätzte Kastner, und er sah müde aus; aber sein Körper wirkte sehnig und zäh, und aus dem ledrigen Gesicht strahlten muntere, blaue Augen.

»In Borrie – in Borrie hommer Midde Mai nei. Oofang Mai hobbi dou in Winderroggn nunderbflüüchd«, erklärte er. »Beim Bflüüng häddsnern gombledd zerleechd, in doudn Moo, derwall konnerdou nunedd dougwäin sei.«

»Aha«, sagte Kastner und zückte sein schwarzes Notizbuch. »Wenn ich Sie also recht verstehe, Herr Meisner, wurde der Acker im Mai gepflügt?«

Meisner dachte kurz nach, dann nickte er. »Wissns, des is fei nedd eimbfach, lingsärechds des Huuchglous, däi broduziern wäi die Daifi. Obber is gäihd hald ballnämmer anders, wall äjeeds Joahr däi Oobauflächn schrumbfd. Dou, schauers, ieberoll werd neibaud.« Der Bauer wies mit weit ausholender Geste aus seinem Küchenfenster ins Unbestimmte. »Volk ohne Raum, hommer alles scho ghabbd, odder?«

Kastner, der eigentlich nur »Volk ohne Raum« verstanden hatte, nickte sehr zurückhaltend.

»Im Mai, also«, konstatierte er.

»Freili, im Mai, hobbidochgsachd«, bestätigte der Bauer.

Kastner notierte Mai.

 

Das Gespräch mit dem Arbeiter, einem gewissen Dumitru, ergab nichts Neues. Der Bauer hatte seine Landarbeiter in einem Nebengebäude untergebracht, wo sie in Stockbetten schliefen wie Klosterzöglinge. Der Raum machte einen kahlen, aber relativ aufgeräumten Eindruck; was natürlich auch daran liegen konnte, dass die Männer außer ein paar Kleidern und Zeitschriften wenig persönliche Habe besaßen. Dumitru saß in einer staubigen Latzhose an einem kleinen Holztisch und vesperte Brot, Käse und Rettich. Er sah immer noch blass aus. In gutem Deutsch mit leicht fränkischem Zungenschlag versicherte er, dass er den Lauchacker in diesem Jahr schon mehrfach gehackt und gejätet habe, ohne dass ihm eine Leiche oder irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen wäre. »Wenn ich dran denk, dass der da vielleicht schon die ganze Zeit war, da wird’s mir immer noch schlecht«, meinte er.

Sein Kollege, der auf der oberen Etage eines Stockbetts lümmelte und in einer Zeitschrift mit leicht bekleideten Damen blätterte, war weniger empfindlich.

»Das ist doch geile Scheiße mit der Leiche, hä? Eigentlich hab ich die ja entdeckt, der Dumitru hat da nur so schüchtern rumgestochert. Also wenn ich vielleicht ein Interview geben soll, so für die Zeitung oder fürs Fernsehen, das mach ich. Wenn’s was dafür gibt natürlich, wir sind ja nicht zum Spaß hier!«

Kastner lächelte unverbindlich. »Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse, Herr …«

»Sagst du Florin«, bot der Mann an und streckte Kastner die Hand hin.

Als Kastner vorsichtig aus der Tür lugte, war von dem Hund nichts mehr zu sehen. Die Frau in der Kittelschürze hatte die schweren Eimer gegen eine gelbe Gießkanne eingetauscht und goss ein Blumenbeet zu Füßen einer nackten Vogelscheuche. Unter dem Wasserstrahl zerfielen braun vertrocknete Pflanzenreste zu Staub.

»Also dann auf Wiedersehen«, sagte Kastner, als er an ihr vorbeiging. Die Alte hob den Blick nicht von ihrer Tätigkeit.

»Machns fei is Dor zu, wenns gänger. Der Hund.«

»Freilich«, sagte Kastner. »Auch Ihnen noch einen schönen Tag!«

 

Während er zur Bushaltestelle ging, beschloss er, Mirjam nichts von seinen Ermittlungen beim Biobauern zu erzählen. Und?, würde sie fragen. Hast du wenigstens Gemüse gekauft?

In Wetzendorf gab es zwei Bushaltestellen: Ost und West. Meisners Hof lag genau in der Mitte. Kastner entschied sich ­­– ohne politische Hintergedanken, allein deshalb, weil es näher an der Stadt lag – für Ost. Unterwegs sah er keinen Menschen, aber als er an der Haltestelle stand und den Aushang­fahrplan mit der Uhrzeit auf seinem Handy verglich, kam ein Mädchen vorbei, das einen winzigen weißen Hund an der Leine hinter sich herzog. Sie mochte neun oder zehn sein; ein mageres Kind mit einem blonden Pferdeschwanz und runder Brille. »Sitz, Pupsie!«, forderte sie den Hund mehrfach auf, was dieser ignorierte. Pupsie hechelte, als stünde ihm ein Kreislaufkollaps unmittelbar bevor.

Ohne eine Miene zu verziehen, starrte das Mädchen ihn an. Eine Weile ignorierte er es, in der Hoffnung, es würde weitergehen.

»Sie wollen doch nicht etwa auf den Bus warten?«, fragte sie schließlich und zerrte Pupsie »bei Fuß«.

»Ja, ich sehe schon«, sagte Kastner, »der fährt um diese Zeit wohl nicht allzu oft.«

Das Gör kicherte. »Sie sind wohl nicht von hier? Am frühen Nachmittag fährt der praktisch gar nicht. Wenn er oft fährt, fährt er alle zwanzig Minuten. Da können Sie bis Thon auch laufen, wenn Sie nicht fußkrank sind.« Sie sprach lupenreines Hochdeutsch, war also offensichtlich zugezogen, und stellte sich als Mara und ihren Hund – ein Mädchen, wie sie ihm erklärte – als Pupsie vor.

Nachdenklich musterte sie seine Figur.

»Wenn ich das richtig sehe, Mara, kommt der nächste in vierzig Minuten«, sagte Kastner, um einer Bemerkung über seine Fitness zuvorzukommen.

Mara drängte sich zwischen ihn und den Busfahrplan, strangulierte dabei beinahe die japsende Pupsie, sah auf ihre Armbanduhr und tippte mit dem Finger auf den Fahrplan.

»Exakt«, sagte sie.

»Ja, dann …« Kastner wollte sich vor dem energischen Kind keine Blöße geben. »Dann kann ich ja auch laufen.«

Mara nickte. »Wenn ich wo hinmuss, fährt mich meine Mama. Aber Sie werden wohl laufen müssen …«

Das Mädchen wich nicht von der Stelle, bis Kastner außer Sicht war. Notgedrungen lief er also an der Ringbahn entlang bis nach Thon. Er schaffte es in zwanzig Minuten, aber die Füße taten ihm danach richtig weh und er hechelte wie Pupsie.

 

***

 

Mirjam stand im Flur und telefonierte, als Kastner nach Hause kam. »Na klar«, sagte sie. »Genau. Ich bin ganz deiner Meinung. Das kann er nicht machen. Freilich. Nein sicher. Ganz unmöglich. Wer glaubt er denn eigentlich, wer er ist. Du solltest dir das wirklich nicht gefallen lassen.« Gaby Seiffert war eine ehemalige Studienkollegin von Mirjam, die vor zwei Jahren nach Berlin gezogen war. Seit Kastner sie kannte, zog sie regelmäßig Nieten aus dem Topf der Beziehungslotterie, und Mirjams Rolle war die des Kummerkastens. Gaby kam zwei- oder dreimal im Jahr mit verheulten Augen nach Nürnberg, schlief im Wohnzimmer auf Kastners Sofa und konnte selbst Mirjam unter den Tisch trinken.

»Schöne Grüße«, sagte er im Vorbeigehen.

Er inspizierte Herd und Backofen. Nichts.

Etwas enttäuscht holte er sich ein Landbier aus dem Kühlschrank, setzte sich an den Küchentisch und legte seufzend die Beine hoch. So musste sich ein Marathonläufer im Ziel fühlen.

»Freilich«, hörte er Mirjam draußen sagen. »Du kannst jederzeit zu uns kommen. Kein Thema. Also dann … Tschüss, Schnecke. Halt die Ohren steif!«

Abgesehen von dem schiefen Bild einer Schnecke mit Ohren fand Kastner Mirjams Kosenamen für Gaby insgesamt unpassend. Die Frau maß eins fünfundachtzig, trug ein Zungenpiercing und war am ganzen Körper tätowiert.

»He, Kastner«, sagte Mirjam zur Begrüßung. »Jetzt hab ich vergessen, die Grüße zu sagen. Wie wär’s übrigens, wenn du mal die Spülmaschine ausräumst?«

Kastner nickte. Mirjam war eine Meisterin darin, den Bogen vom Allgemeinen zum Banalen zu schlagen, und sie hatte recht. Er war mehr als dran mit Spülmaschine ausräumen.

»Ich hab Presssack und Stadtwurst gekauft für heut Abend. Und nen Kasten Bier. Du könntest auch mal wieder was kochen, ich bin ja hier nicht die Hausfrau oder was.«

Kastner räumte die Weingläser in den Hängeschrank und verkniff sich die Bemerkung, dass sie seinetwegen nicht jeden Abend zu kochen brauche. Das hatte er einmal gesagt, und Mirjam war eine ganze Woche darauf herumgeritten. Da kannst du auch sagen, wegen dir bräuchte ich das Klo nicht zu putzen, hatte sie gesagt. Der Punkt ist aber doch, dass man ein Klo nun mal putzen muss, wenn man nicht in einer total versifften Hütte hausen will. Das ist ja super, Kastner, du ziehst dir hier Lasagne und Spinatpfannkuchen rein und tust dann so, als würde ich das zu meinem privaten Vergnügen kochen … Sie hatte sich richtig in Rage geredet, und schließlich hatte er zugegeben, dass er froh war, nicht jeden Abend Käsebrot essen zu müssen. Bevor er mit Mirjam zusammengezogen war, hatte er sich abends von Tiefkühlpizza und Tütensuppen ernährt, und er sehnte sich nicht danach zurück.

»Du hast recht, Hase«, sagte er deshalb diplomatisch und versuchte sich an George Clooneys Augenaufschlag. »Ich bin eine Niete. Zu nichts zu gebrauchen. Totalausfall. Ich gelobe Besserung und hoffe, dass du mir noch eine Chance gibst.«

Sie starrte ihn an.

»Um Gottes willen, Kastner. Versuchst du etwa, charmant zu sein?«