Über den Autor:
André Wiesler ist ein Mann vieler Talente. Er schreibt phantastische Romane wie diesen hier, steht als Lese-Komiker auf der Bühne, lehrt das Handwerk des Schreibens, arbeitet als Projektmanager und Spieleerfinder und ist nicht zuletzt glücklich verheiratet und Vater eines Sohnes.
Mehr Informationen zu ihm
findet man auf www.andrewiesler.de
Ein lustiger Mysteryroman
von André Wiesler
Besuchen Sie uns im Internet
www.verlag-torsten-low.de
© 2016 by André Wiesler
Erschienen in der Edition Schwarm
(Verlag Torsten Low, Rössle-Ring 22, 86405 Meitingen/Erlingen)
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: Thomas Michalski, Janina Wiesler
Lektorat und Korrektorat: Saskia Schulte, Janina Wiesler
Protektorlogo: Volker Konrad
Satz: Thomas Michalski
Druck und Verarbeitung:
CPI books GmbH,
Birkstraße 10,
25917 Leck
ISBN der EBookausgabe (EPUB): 978-3-940036-82-7
Widmung
Für Volker Imhoff, der Großzügigkeit und Eitelkeit in einer liebenswerten Melange vereint!
Danksagung
Ich bedanke mich herzlich bei allen Unterstützern, die dieses Buch möglich gemacht haben (sortiert nach ihren Vornamen)!
Aimée Ziegler
Alexander Borchers
Alexander Gudenau
Alexander Weise
Andre Geist
Andre Skora
Andreas G. Schramm
Andreas Haubrichs
Anja Bagus
Anja Eble
Anja Schünemann
Anke Udelhoven
Anne Wilming
Annelie Brux
Bastian Werner
Beate Senft
Benjamin Spang
Biggi Hirtz–Breitmar
Björn Weber
Boris Bernhard
Carsten Thurau
Christian Lange
Christian Vogt
Christoph Böhler
Christopher Hanke
Clemens Jaeckel
Cornelia Ulrich
Daniela Forni
Dirk Busa
Dirk Pullem
Dominic Hladek
Elina Lydia Müller
Frank Holldorff
Gabi Cervenka
Gerhard Fertl
Hendrik Höfs
Hermann Ritter
Holger Christiansen
Hubert Plattfaut
Ines Zimzinski
Inga Fernandez
Inge Thriene
Jan Kraeft
Jan Seemann
Jan–Henry Klawun
Janina Robben
Jan–Tobias Kitzel
Jen Adam
Jens Große–Brauckmann
Jens Schönheim
Johannes von Vacano
Jöarch´s Bücherregal
Jörg Häusler
Jörg Hoss
Katharina Rohlfing
Katja Kölkebeck
Juri Bender
Maik Teufer
Manuel Vögele
Marco See
Mark Kruse
Markus Sudbrock
Martin Wagner
Mathias Blühdorn
Matthias Vogel
Mia Steingräber
Michael Bisanz
Michael Braun
Michael Heide
Michael Taheri
Michael Wilming
Moritz Mehlem
Niklas Kramer
Oliver Stadler
Patrick Jedamzik
Patrick Mozer
Patrick Postorino
Philipp Lohmann
Philipp Specht
Ralf Sandfuchs
Rebecca Pähler
Regine Lukosch
Sandra Baumgärtner
Sandra Stünkel
Sascha König
Sebastian Sterz
Silke Winkelsträter
Simon Albrecht
Sören van Heek
Stefan Cernohuby
Stefan Günster
Stefan Herzmann
Stefan Holzhauer
Stefan Joss
Stefan Metzig
Stefan Rau
Stefan Rosengarten
Stefan Schweikert
Steffen Dähne
Sven Böttcher
Sven Flottmann
Sylvia Schlüter
Tanja Coen
Tecno Smurf
Thomas Bender
Thomas Blees
Thomas Braun
Thomas Markwart
Thomas Renner
Tobias Apfelbaum
Tobias Dröst
Tobias Eilers
Tom Gudella
Tom Höfle
Ulrich Strempel
Viola Plötz
Volker Konrad
Besonderen Dank an
meine Protektoren in Ausbildung:
Elisabeth Engelhardt, Markus Plötz und Volker Imhoff
Zudem bedanke ich mich bei:
Jan Coenen und Christofer Rott für ihre Unterstützung in Sachen toter Sprachen; Philipp Stapff für IT–Nerdhilfe; meiner Frau Janina und meinem Sohn Lorenz, die »Ich will noch Protektor schreiben« als Trumpf für so ziemlich alles andere akzeptiert haben und mich großartig unterstützen; Johannes von Vacano für seine sprachliche Goldwaage, die im Nanogrammbereich arbeitet; die Mädels von der Schreibgruppe (Inga Fernandez–Lopez, Sonja Beck, Jasmin Kischk, Kerstin Zegay, Sandra Stünkel), Michelle Weniger, die Fachfrau für Vampire und anderes Übernatürliches und Aimée M. Ziegler, mit der ich das große Nerdtum teile.
Vorwort des Autors
Manche Bücher sind wie der Genuss eines guten Weines. Völlig überbewertet, viel zu teuer und eine Verschwendung von wertvoller Lebenszeit. Ich hoffe sehr, dass dieses Buch anders ist. Eher sowas wie eine gute Currywurst (zur Not auch vegetarisch), Pommes, Schranke. Nehmen, genießen und das vage schlechte Gewissen zusammen mit den Ketchup– und Majo–Resten wegwischen.
Es hat lange gedauert, bis es vom ersten Entwurf zu diesem fertigen Prachtstück geworden ist, das Du jetzt in den Händen hältst. Es hat die bittere Ablehnung deutscher Publikumsverlage erlebt, die der Meinung waren, lustige Mystery könne nicht funktionieren.
Es hat das gnadenlose Anbiedern seines Autors bei wildfremden Leuten mit ansehen müssen, während ich mittels Crowdfunding das Geld für eine erste Auflage zusammenbettelte wie ein zu dick geratener Wandermönch.
Dann wurde es Stunde um Stunde erst ins Leben getippt und dann von kundigen Händen (vielen Dank an meine Frau Janina und meine Lektorin Saskia Schulte) so lange bearbeitet, bis es formschön dalag.
Und jetzt ist es gedruckt beziehungsweise in digitale Form gestanzt und fertig und ich schäme mich nicht, einzugestehen, dass eine einzelne Freudenträne meine Wange hinunterlief, während ich »Ende« unter den ersten Entwurf schrieb.
Sie wurde abgelöst von lauten Flüchen und mehreren Kilo Schokolade, als mir wieder einfiel, dass den ersten Entwurf eines Buches zu schreiben maximal die halbe Arbeit ist. Jetzt würde überarbeitet, korrigiert, umgeschrieben und gestrichen werden. Aber was tut man nicht alles dafür, ein Buch zu schaffen, das die deutsche Phantastikszene umkrempeln wird? Ich weiß es nicht, denn der Protektor wird ganz sicher kein solches Buch sein. Soll er auch nicht – er soll ein Buch sein, das Dich unterhält, mit dem Du Dir die Zeit vor dem Einschlafen, eine doofe Zugfahrt oder Deine nächste Therapiesitzung beim Eheberater versüßt. Und wenn Du schmunzelst, freut sich ein Engel, und wenn Du sogar laut lachst, dann hat der Teufel einen Orgasmus.
Auf jeden Fall wünsche ich Dir viel Vergnügen bei der Lektüre dieses Buches. Wenn es Dir gefällt, lass es mich wissen, unter autor@andrewiesler.de, auf meiner Facebook–Seite oder auf Twitter unter @Andre_Wiesler.
Wenn es Dir nicht gefällt, dann schreib Deine Meinung auf einen Zettel, steck ihn in eine Flasche und wirf ihn in einen Fluss. Wenn die Musen der Literatur Deine Meinung für wichtig genug halten, wird Deine Kritik mich erreichen.
Es gilt vielen Leuten dafür zu danken, dass es dieses Buch gibt. Zuallererst natürlich mal mir, wer hat den Kram denn schließlich geschrieben? Also, ich warte kurz, während Du mir dankst. Und dann verweise ich Dich auf die Leute, die irgendwo über diesem Vorwort stehen. Sie sind es, die mir im alltäglichen Kampf mit der Tastatur den Rücken freigehalten haben und die mir Vorschussvertrauen in Form von Crowdfunding–Unterstützungen gezollt haben. Vielen Dank an sie alle und natürlich an Dich, der oder die Du dieses Buch gekauft hast! Ohne sie und euch alle wäre dieses Buch voller leerer Seiten oder mein feuchter Traum geblieben!
Jetzt aber auf in die Welt von Klaus Holger, dem Monsterjäger mit Sockenschuss.
Dein André
P.S.: Es gibt auch ein Hörbuch zu diesem Buch.
P.P.S.: Man kann mich mit Lesungen und Comedy–Auftritten buchen: www.andrewiesler.de
P.P.P.S: Wenn Du dieses Buch hier raubkopiert hast, möge Dir das schlechte Gewissen Koliken und Aussatz bescheren. Aber ich biete Dir einen Ablasshandel an: Kauf das Buch, schenke es einem Freund, und wir sind quitt.
Ein humorvoller Mystery–Roman
Erstes Kapitel: Alte Freunde
(Knöpfe & Newsletter)
Es war Samstagabend und ich saß in meinem Fernsehsessel. Auf der Mattscheibe überboten sich dicke alte Frauen darin, die Vorteile von Stützunterwäsche anzupreisen, und tatsächlich ... vorher hatten sie einen dicken Bauch und danach hatten sie zwei dicke Bäuche, weil die eine Hälfte über der hornhautumbrafarbenen Strumpfhose herausquoll und die andere als kompaktes Paket bis auf die Oberschenkel gepresst wurde. Der Schauder des Ekels, der mich daraufhin erfasste, dauerte mehrere Sekunden.
Dass ich mir das überhaupt ansah, war purer Faulheit geschuldet. Die Batterie in meiner Fernbedienung war, während ich im Eiltempo durch die Programme zappte, ausgerechnet in dem Moment ausgefallen, als ich bei einem der unzähligen Verkaufssender landete.
Das Erschreckend–Anziehende hatte mich gepackt, wie bei einem Verkehrsunfall, bei dem man die Augen einfach nicht von der Blutwurst nehmen kann, die mal ein Porschefahrer war, oder bei den zwei sich paarenden Schnecken in diesem komischen französischen Insektenfilm.
Die übertriebene Begeisterung der Verkäuferin war zudem das Höchstmaß an Lebensfreude, das in diesen Tagen meine trübe Kammer erhellte. Seufzend lehnte ich mich über den Rand des Sessels, um das Notebook vom Boden zu klauben. Es stand, fast wie in einer modernen Installation, auf dem schmutzigen Teppich, zwischen leeren Bierdosen, eingetrockneten Single–Mahlzeiten und unkaputtbaren Cola–Light–Flaschen – ja, ich achte auf meine Linie. Ich trug übrigens ein weißes ... ehemals weißes T–Shirt und kein Feinrippunterhemd, aber trotz dieses kläglichen Versuchs, das Klischee zu durchbrechen, war es wohl nicht zu verhehlen: Ich war Langzeitarbeitsloser. Seit dem heutigen Mittag. Will sagen: Heute war der Schrieb vom Arbeitsamt eingetroffen. Entschuldigung, seit Neuestem nennt sich dieser Verein von Arbeitsverhinderern ja Agentur ... wollen wohl klingen wie die CIA, sind dabei aber so cool wie französische Barock–Lyrik. In dem Schreiben wurde mir jedenfalls mitgeteilt, dass ich ab dem nächsten Monat kein Arbeitslosengeld mehr, sondern Hartz IV beziehen würde.
Als wäre es Schicksal, hatte heute auch meine vor drei Monaten abgeschickte, letzte Bewerbung wieder im Briefkasten gesteckt, mit einem schicken Formbrief, bei dem unten der Pfad der Dokumentvorlage mit eingedruckt gewesen war: C:\Vorlagen\Bewerbungen\Absagen\Deppen_und_hoffnungslose Fälle.doc
Ich hoffte, ich zählte als einer der hoffnungslosen Fälle. Wenn sie mich angestellt hätten, wäre ihnen so ein Fauxpas übrigens nicht passiert, denn ich war IT–Fachmann und Programmierer. Oder, wie meine Mutter immer sagte: »So ein Computerhansel.« Sie sagte es nicht ohne Stolz und mit der Bewunderung der Unwissenden, aber es schwang auch immer das Bedauern mit, dass ich den Kurzwarenladen der Familie nicht hatte weiterführen wollen, als mein Vater in Rente ging. Ich dachte an den alten Kauz zurück.
Es ist 1994. Ich bin gerade sechzehn geworden und seit vier Wochen keine Jungfrau mehr, was wohl als Highlight der vergangenen Jahre angesehen werden muss, auch wenn sie fast zehn Jahre älter und fünfzig Kilo schwerer war als ich.
Mein Vater wird der Knopfkönig genannt. Das hat nicht etwa damit zu tun, dass er eine Märchengestalt wäre, auch wenn er aussieht wie eine Mischung aus dem bösen Wolf und dem Froschkönig. Er hat vielmehr im Großraum Köln–Düsseldorf–Wuppertal die umfangreichste Auswahl an Horn–, Plastik– und Metallknöpfen. Es ist ein langer Neujahrstag, an dem ich volltrunken direkt von der Silvesterparty in den Laden komme, um an der Inventur teilzunehmen. Kaum bin ich drin und halte mich an der Vitrine mit den alten Schmuck– und Elfenbeinknöpfen fest, kommt mein Vater auch schon auf mich zugestapft. Er hat ein Klemmbrett vor sich, schaut darauf und sieht dann mit kaum verhohlener Vorfreude zu mir auf. Seine Oberlippe zuckt dabei, was wegen seiner großen Schneidezähne an einen Hasen beim Orgasmus erinnert.
»Klaus«, spricht er mich an. »Zähl du mich mal die Platt– und Schlupfknöpfe, Messing und Kupfer.« Ich habe es längst aufgegeben, seine Horror–Grammatik zu korrigieren, beiße die Zähne zusammen und wappne mich, denn ich weiß, was jetzt kommt.
»Und dann kannste dich die eckigen Knöpfe vornehmen.«
Diesen Scherz macht mein Vater mit der Regelmäßigkeit einer Steuerprüfung und der Verlässlichkeit einer Zugverspätung jedes Jahr wieder. Es gibt im ganzen Laden keinen einzigen eckigen Knopf – die verkauft mein Vater aus Überzeugung nicht. Ich könnte an dieser Stelle über die Physik der Knopfform ins Detail gehen, wurde sie mir doch immerhin mit der Muttermilch eingetrichtert (oder eher Vatermilch, aber das klingt irgendwie anstößig), doch das erspare ich mir.
Er starrt mich Beifall heischend an und ich sage, einen Würgereiz unterdrückend: »Ha ... örg ... ha ...«
Jetzt platzt es aus meinem Vater heraus, er lacht schallend, klopft erst sich auf die Oberschenkel und dann mir auf die Schulter, was mich beinahe zu Boden schickt, denn elf Pils machen in meinen Innereien ein paar Jägermeister zu Gejagten.
Während mein Vater sich noch immer vor Lachen ausschüttet, schlurfe ich zum Knopfregal und fange an, die in unzählige kleine Kästchen einsortierten Knöpfe zu zählen.
Das Telefon klingelt, und mein Vater verschwindet für eines seiner berüchtigten Beratungsgespräche in das Hinterzimmer, während ich bei den Messingschellen, Größe 1 (für Karneval etc. usw. o. Ä.) angekommen bin. Die kleinen, glänzenden Dinger sehen lustig aus und ich wette mit mir selbst, wie viele ich davon herunterschlucken kann, bevor mein Vater wieder auftaucht. Ich schaffe 34, was jedoch nur daran liegt, dass wir nicht mehr auf Lager haben, so viel Stolz sei erlaubt.
Dann kommt mein Vater endlich wieder zum Vorschein. Er schüttelt den Kopf und sagt: »Das war sich die alte Schamutzke ... wollte wissen, ob ich’n Radioknopf für sie haben tu.«
Das nun reißt mich, bierselig wie ich bin, in einen schellenklingenden Lachanfall, der Verstärkung von einem Schluckauf bekommt. Wenige Augenblicke später knie ich vor der Kloschüssel und übergebe mich so musikalisch wie nie zuvor.
Unkaputtbare Mehrwegflaschen waren übrigens gar nicht unkaputtbar. Wenn man genug Langeweile, eine gesunde Missachtung für die eigene Gesundheit und eine Kochplatte hatte, auf die man verzichten konnte, bekam man sie kaputt. Oder wenn man kochendes Wasser hineinfüllte und sie in ein bereitstehendes Bad mit Eiswasser fallen ließ. Und auch ein Vorschlaghammer könnte ihnen sicher mit genug Fleiß den Garaus machen, aber den Beweis dafür bleibe ich bis auf Weiteres wegen meiner übertrieben lärmempfindlichen Nachbarn schuldig.
Ich legte mir das Notebook auf den Schoß und klappte es auf. Kurz ging mir durch den Kopf, ob der Elektrosmog direkt über meinen Kronjuwelen an meinem Problem schuld sein könnte, doch dann verwarf ich den Gedanken.
Sex mit sich selbst war immerhin besser als gar kein Sex. Aber gar kein Sex hatte auch seine Vorteile. Man hatte mehr Zeit für andere Sachen.
Mein Lachen übertönte sogar den Trockenorgasmus der geriatrischen Verkäuferin auf der Mattscheibe, die gerade verkündete, dass die Unterwäsche in Hautfarben und Rosé bereits ausverkauft sei.
Das Letzte, was ich brauchte, war mehr Zeit. Ich wusste ja ohnehin kaum, wie ich die Tage herumbringen sollte. Die gängigen Drogen wirkten bei mir nicht sonderlich gut: Das Fernsehen bot mir keine Ablenkung, besaufen konnte und wollte ich mich nicht ständig und seit meine Beinahegattin mich vor fast neun Monaten verlassen hatte (da sind wir wieder beim Thema Sex und Potenz) konnte ich mich nicht mal mehr streiten.
Dabei war ich so motiviert gewesen, nachdem ich rausgeflogen war. Ich hatte Hunderte von Bewerbungen verschickt, hatte mir vorgenommen, all die Bücher endlich mal zu lesen, die sich in drei Säulen neben meinem Bett stapelten (und die mittlerweile zur Standfläche meiner »Minibar« geworden waren). Ich wollte eine weitere Fremdsprache lernen, Yoga, Töpfern oder irgendwelche anderen VHS–Kurse belegen. Aber als die ersten paar Dutzend Absagen eingetrudelt waren, die drei Monate Bezugssperre wegen »eigenverschuldeter Kündigung« meine Ersparnisse aufgezehrt hatten und Estephania (oben erwähnte Verlobte) mir das Herz herausgerissen und darauf gespuckt hatte, war der Elan recht schnell verloren gegangen.
Das Notebook brauchte lang, um einen aktiven W–LAN–Zugang zu finden. Meine Nachbarn hatten die unangenehme Eigenschaft, ihre W–LAN–Router immer auszuschalten, wenn sie nicht selbst online waren. Es war nachgerade ein Wunder, dass sie nicht auch die gesetzlich verordneten Energiesparlampen herausdrehten, wenn sie die Zimmer verließen. In meiner Lampe strahlten noch immer drei protzerische 100–Watt–Birnen mit der Sonne um die Wette. Das sparte ja auf der anderen Seite wiederum erhebliche Heizkosten.
Zum Glück wohnte unter mir ein Student, der den ganzen Tag illegal Filme in HD saugte und so seine Leitung dicht machte, dafür aber dann die ganze Nacht über World of Warcraft zockte, so dass ich ab neun meist einen zuverlässigen Anschluss besaß. Sicher war das illegal, aber was sollte ich machen? Die Telekom hatte mir den Zugang abgeklemmt, nachdem ich einen ihrer Techniker gebissen hatte (nein, dafür gibt es keine Rückblende, das ist mir heute noch peinlich), und ich traute mich nicht, einen neuen zu beantragen, weil er dann vielleicht Anzeige erstatten würde.
Während das Notebook endlich ein Netz fand und sich einloggte, nahm ich die zurückgeschickte Bewerbung noch einmal zur Hand. Sie war in der Mitte geknickt und an einer Ecke angestoßen, weil der Briefträger die Wut über seinen miesen Job und das schlechte Wetter immer an meiner Post ausließ. Vielleicht hätte ich auf seine Weihnachtsgrüße nicht antworten sollen: »Wollen Sie jetzt ein Trinkgeld? Bei der Menge an Post, die ich kriege, sollten Sie lieber mir eines geben, immerhin bezahlt mein Porto Ihr Gehalt.«
Der Knick verlief genau durch das Foto, das ich extra für die Bewerbungen hatte machen lassen, und der Mann darauf war nicht mehr der, den ich morgens im Spiegel sah. Zum einen war er rasiert und hatte kurzes, schwarzes Haar, das durch einen selbst eingefügten Photoshop–Effekt leicht schimmerte. Das Gesicht zierte ein selbstsicheres Lächeln, bei dem sich keine von Bier und Fastfood aufgeschwemmten Wangen nach außen wölbten (kaschiert nur vom struppigen Bart), und das dunkle Jackett, das weiße Hemd und die schmale Krawatte ließen ihn souverän und zuverlässig wirken. Ich blickte an meinem T–Shirt hinab und zählte Flecken von elf verschiedenen Mahlzeiten darauf. Vielleicht sollte ich es mal wechseln.
Warum hatte dieser smarte Kerl auf dem Bild bloß keinen Job bekommen? Ich blätterte weiter und das Arbeitszeugnis meiner letzten Arbeitsstelle kam mir mit einem Vertigoeffekt entgegen, als stünde Hitchcock hinter der Gardine und riebe sich die Hände.
Es war, gelinde gesagt, miserabel, und dabei noch das Beste, was meine Anwältin hatte herausholen können. Dabei bin ich, das möchte ich vorausschicken, wirklich gut in meinem Job. So gut, dass mich die Arbeit bei Jongemann und Söhne, Damenhygiene Import und Export International einfach nicht mehr als drei Stunden am Tag beschäftigt hatte. Da hatte ich eben angefangen, mich anderweitig auszulasten. Es war vermutlich tatsächlich nicht das Schlauste gewesen, meine illegalen Downloads und meine Pornosammlung auf dem Firmenserver abzulegen. Oder über den Firmenanschluss mit meinem alten Schulkollegen Hannes in Südafrika zu telefonieren. Aber das waren andere Zeiten, damals.
Heute ist wieder ein besonders öder Tag, also lade ich eine Menge Krempel auf den Firmenserver hoch, während ich mit Hannes telefoniere, der mir die Vorzüge südafrikanischen Obstes schildert. Wenigstens hoffe ich, dass er von Obst spricht.
Die Uploads sind abgeschlossen und ich packe gerade die neuesten Downloadlinks in eine Rundmail, als mich die Gerhardt per Skype annervt. Ein kleines Textfenster erscheint mit dem Geräusch einer geöffneten Flensburgerflasche auf meinem Bildschirm und verkündet: »Lieber Klaus, es wäre supi, wenn du den Newsletter HEUTE noch rauschicken könntest. Kussi, Rita.«
Allein für dieses Supi sollte ich ihre Festplatte mal formatieren, aber bevor sie mich auch morgen noch damit nervt, schalte ich rasch um, programmiere den Newsletter zu Ende. Dabei höre ich Hannes weiter dabei zu, wie er von »prallen, süßen Melonen« und »geilen, knackigen Äpfeln« spricht. Langsam werde ich misstrauisch ...
Eigentlich will die Gerhardt den Newsletter noch mal gegenlesen, aber das ist mir heute zu stressig. Also haue ich das Ding einfach so raus.
Es vergeht ungefähr eine Viertelstunde, dann klingelt mein Telefon, intern, die Nummer der Gerhardt.
»Hör mal, Hannes, wir sprechen morgen ...«
»Klar, kein Problem«, schnattert er mir ins Ohr und hat aufgelegt. Ich schaue den Hörer noch einen Augenblick an, dann nehme ich das andere Gespräch entgegen.
»Äh ... Klaus ...«, fängt sie an.
»Ja, Rita?«, frage ich und widerstehe dem Drang, das Telefon aus der Buchse zu reißen, über den Flur zu stürmen und sie mit der Schnur zu erdrosseln.
»Klaus ... da scheint im Newsletter etwas mit dem Artikel elf Strich EU Querstrich neun schief gelau...«
Ihre Stimme versagt und ich höre im Hintergrund lautes Stöhnen aus ihren Computerlautsprechern. Eis breitet sich in meinem Magen aus und ich rufe den Newsletter auf. 11–EU/9, was ist das noch mal?
Ah ja, hygienische Einmalhandschuhe, Einheitsgröße. Die sind neu im Programm, und irgendein Vollidiot hat sich gedacht, dafür bräuchte man eine Video–Anwendungsanleitung, weil die Leute ja nicht wissen, wie man beschissene Gummihandschuhe anzieht.
Ich klicke auf den Link und erstarre, als der Browser kurz nachlädt und dann ein Video abspielt, in dem zwar ebenfalls Handschuhe vorkommen und sie werden auch, im weitesten Sinne des Wortes, angewendet, aber die Art des Einsatzes entspricht mit den daran beteiligten Körperöffnungen wohl nicht den Vorstellungen meiner Chefin – oder denen unserer 14.369 Kunden, die den Newsletter erhalten haben. Und ich sage Kunden, weil davon 90 % männlich sind. Warum die einen Newsletter zu Damenhygieneartikeln beziehen, will ich gar nicht wissen. Aber sicher ist: Ich bin am Arsch.
Die Staatsanwaltschaft stellte damals das Verfahren wegen Urheberrechtsverletzung gegen eine erhebliche Geldsumme ein, die geschädigten Film– und Softwarefirmen waren weniger genügsam. Unterm Strich blieb mir vom Arbeitslosengeld darum ungefähr ein feuchter Furz, von dem ich auch noch Miete, Essen und den Rest bezahlte. Kein großer Unterschied zu Hartz IV.
Ihr werdet verstehen, dass unter diesen Umständen der Drang, einer neuen, geregelten Arbeit nachzugehen, um dann lange, lange Jahre auch nicht mehr Geld zur Verfügung zu haben, schnell nachließ. Wenn man erstmal genug Selbstwertgefühl abgelegt hat, lebt es sich ganz erholsam am unteren Rand der Gesellschaft.
Ich pfefferte die Bewerbung in die Ecke und köpfte damit die Sonnenblume, die das letzte Bisschen Natur in meinem Wohnzimmer darstellte. Ich schreibe bewusst nicht »das letzte Bisschen Grün«, denn grün war sie schon lange nicht mehr, und außerdem gab es in meiner Spüle eine Menge pelzigen Belags in satten Grüntönen.
Endlich gab mein Notebook das ersehnte Ping von sich und ich war online. Sofort prasselten Skype–, Facebook– und Twitter–Nachrichten auf mich ein. Lauter interessante Leute da draußen.
Zumindest waren sie interessanter, als auf die Wand zu starren oder sich den Beleidigungen auszusetzen, welche die Fernsehsender Programm nannten.
»Wo warsn?«, wollte Hammer911 wissen, und ich berichtete ihm nicht ganz wahrheitsgemäß: »hab grad ne alte hier.«
Orthografie und vor allem Großschreibung hatte ich mir weitgehend abgewöhnt. Wenn dies hier jemals in einem Buch erscheinen sollte, hat sich vermutlich eine tapfere Lektorin bereits die gesamte Kauleiste daran ausgebissen, es in eine lesbare Form zu bringen.
»Geil?«, hakte Hammer911 nach, und ich schrieb nur knapp: »total!«, denn jetzt öffnete sich das Fenster von Julia_Love, die mir vorschlug: »Ich möchte dir schmutzige Sachen ins Ohr flüstern, während du kommst.«
So verlockend das auch klang, war es doch zu schön, um wahr zu sein, also korrigierte ich meinen Spamschutz nach. Die Hälfte der Fenster schloss sich daraufhin und ebenso viele Einträge verschwanden aus den Freundes–Listen der Programme.
»Das schon gesehen?«, fragte mich Honkomaster, zu dem ich eine locker–freundschaftliche Beziehung pflegte. Es folgte ein endlos langer Link, den ich anklickte, um einem Motorradfahrer dabei zuzusehen, wie er von der Straße abkam und mit dem Kopf in einem Pferdehintern landete. Ich antwortete mit einem lustigen Video, bei dem sich eine niedliche Cheerleaderin ein Bein brach. Ja, ich weiß, es heißt eigentlich nur Cheerleader, aber ich möchte verhindern, dass jemand auf die Idee kommen könnte, ich würde eine männliche Hupfdohle niedlich nennen. Dabei bin ich keineswegs homophob, muss aber das Bisschen natürlichen Machismo, den die Natur mir mitgegeben hat, eisern verteidigen. Wenn ich nicht gut aufpasse, komme ich sonst noch im rosa Ballettkleidchen im Stadtpark wieder zu mir.
Der Abend ging also mit eitlem digitalen Smalltalk ins Land, bis mein Handy klingelte. Es war ein einfaches Prepaid, denn auch Telefon wollte mir die Telekom nicht geben. Guthaben war auf der Karte schon lange nicht mehr, anrufen konnte man mich jedoch auch weiterhin.
Die Nummer war unterdrückt, doch mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen hatte (also unter Zuhilfenahme meiner Stimmbänder) und so ging ich trotzdem dran.
»Ja?«
»Rate!«, rief eine begeisterte Stimme, die ich sofort wiedererkannte.
»Hannes?«
»Genau! Rate!«
»Du hast jetzt ...«, setze ich an, aber ein Satz, den Hannes mich am Telefon zu Ende sprechen ließe, musste aus weniger als drei Silben bestehen.
»Ich bin im Land!«, sagte er. »Wir beide, heute Abend, Disse.«
»Ach, ich ...«, versuchte ich all die wichtigen Dinge unterzubringen, die mich heute Abend banden. Der Chat mit Till Schweiger auf Pro7.de beispielsweise, denn ich wollte den Kerl schon immer mal fragen, ob Pinocchio ihn bereits verklagt hatte, weil er seinen hölzernen Schauspielstil abkupferte, oder ob sich Kermits Anwälte gemeldet hätten, weil der Frosch seine Stimme wiederhaben wollte.
»Alter, morgen muss ich wieder weg. Also, heute!«
Ich wollte Hannes schon gern mal wiedersehen. »Ich habe gerade ...«
»Geht alles auf mich!«
Das gab den Ausschlag. »Okay.«
»Ich hol dich um elf ab.«
»Ich warte unten.«
Hannes legte auf. »Hallo?«, fragte ich wider besseren Wissens, ließ das Handy sinken und erschrak, als ich auf die kleine Uhr im Computerbildschirm blickte: 22:00. Ich hatte nur noch eine Stunde, um zu duschen, mich umzuziehen und zwei Kilometer durch die Stadt zu laufen, denn ich würde Hannes ganz sicher nicht verraten, dass ich aus meiner schicken Eigentumswohnung in dieses Loch gezogen war. Ich würde ihn darum vor meinem alten Haus erwarten und hoffte, dass er einigermaßen pünktlich war, denn es war ziemlich kalt.
Zweites Kapitel: Rentnerinnenjagd
(Lucy–Kurs)
Hannes war pünktlich. Er fuhr mit einem Wagen vor, den er vermutlich nicht bei Sixt bekommen hatte, es sei denn, man hatte dort jetzt tiefergelegte, rote Corvettes im Angebot, deren Soundanlage leistungsstark genug war, um die Scheiben in der ganzen Straße zum Vibrieren zu bringen.
Ich wartete hinter einem Kleinlaster, den ich als Windschutz genutzt hatte. Hannes fuhr erst einmal vorbei, um dann schlingernd und mit quietschenden Reifen zum Stehen zu kommen. Das Dröhnen treibender Karibikrhythmen ließ mir schon bei geschlossener Tür fast die Plomben schmelzen, trotzdem drückte Hannes mehrfach auf die Hupe, als wäre es auch nur entfernt denkbar, dass ich ihn noch nicht bemerkt hatte.
Ich öffnete die Tür, rief: »Hi!«, ließ mich in den viel zu tiefen Schalensitz fallen und drehte erstmal die Musik leiser. Gerade rechtzeitig, um ein erbostes: »Scheißekopfarsch, mache–su leise da unten!« von oben zu hören. Das war Vater Gönüleri, der vermutlich die orientalische Musik nicht mehr hören konnte, die bei ihm Tag und Nacht dudelte. Ich hatte früher unter den Gönüleris gewohnt und schon nach drei Wochen Klassiker wie »Sana Söz« und »Katula Katula« mitsingen können.
Hannes nickte mir zu, wobei sein bretthart nach hinten gegeltes Haar sich nicht ansatzweise bewegte, ebenso wenig wie der steif hochgewichste, breite Schnurrbart, der Federohrring im Ohr dafür aber umso wilder baumelte.
»Alles klar?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er. »Selbst?«
»Muss«, gab ich zurück. »Bronko?«
»Funkpalast«, korrigierte er meine Zieleinschätzung und gab Gas. Zwanzig Minuten auf der Autobahn rasten in Stille an uns vorbei. So redselig Hannes am Telefon war, so maulfaul gab er sich im direkten Gespräch.
Erst als wir abfuhren und Hannes zum Tanken anhielt, warf er mir einen Seitenblick zu und sagte: »Siehst scheiße aus.«
Ich zuckte mit den Schultern und er stieg aus, beugte sich dann aber noch mal durch die offene Tür hinein: »Hättest dich ja wenigstens mal rasieren können.«
»Dito«, gab ich zurück, was mir einen Mittelfinger einbrachte. Ich klappte die Sonnenblende herunter und musterte mich in dem Spiegel, der erstaunlich groß ausfiel. Vermutlich für die Ischen, die man in so einem Wagen mit größter Wahrscheinlichkeit auf dem Beifahrersitz vermuten durfte.
Der Bart war tatsächlich ein bisschen wild gewuchert, und der Versuch, ihn unter Zeitdruck mit der Küchenschere zu stutzen, hatte das Gesamtbild nicht aufgewertet. Direkt am Kinn klaffte jetzt eine große Schneise und links war der Bart erkennbar länger als rechts. Ich wuschelte hindurch, in der Hoffnung, dem Gestrüpp einen verwegenen Look zu verpassen, aber es war vergebens. Dann legte ich den Kopf schräg und tatsächlich wirkte der Bart nun gleichlang – dafür aber mein Gesicht schief. Das brachte auch nichts.
Hannes riss die Tür auf und ließ sich in den Wagen fallen. »Lippenstift auffrischen?«, kommentierte er das Bild, das sich ihm bot.
»Sehr witzig«, gab ich zurück. »Warum bist du eigentlich so bleich?«
Für jemanden, der sein Leben praktisch am Äquator verbrachte, sah er ziemlich käsig raus.
»Tod«, sagte er, startete und preschte los.
Es war ein wenig verwunderlich, dass ich die Argumentationskette, die sich hinter diesem einen Wort verbarg, noch immer verstand, obwohl wir uns seit über einem Jahr nicht mehr gesehen hatten.
Der Gedankengang war folgender: Hannes hatte Angst, von der gleißenden afrikanischen Sonne Hautkrebs zu bekommen und eines qualvollen Todes zu sterben, darum hielt er sich von der Sonne fern und war so bleich. Die Angst vor wuchernden Zellen hinderte ihn aber nicht daran, zu rauchen, zu saufen und dem Begriff Promiskuität eine ganz neue Dimension zu verleihen. Er gab das immense Vermögen, das die Weingüter seines Vaters abwarfen, mit beiden Händen aus.
Wir erreichten nach einigen weiteren Schweigeminuten den Parkplatz der Disko, wo Hannes zwei Kleinwagen abdrängte, den Motor ordentlich aufheulen ließ, um das Weibsvolk auf sich aufmerksam zu machen, und dann schwungvoll auf eine Parklücke zupreschte.
Er wandte sich mir zu und sagte mit bedeutungsschwerer Stimme: »Negerfrauen sind der Hammer!«
Bevor ich ihn darauf hinweisen konnte, dass seine Aussage ebenso politisch unkorrekt wie frauenfeindlich und zudem völlig unmotiviert war, tauchte plötzlich eine alte Frau direkt vor der Motorhaube auf.
»Brems!«, befahl ich und Hannes stieg in die Eisen, aber zu spät. Die kleine Gestalt wurde auf die niedrige Motorhaube geschaufelt, rutschte bis zur Scheibe, wo sie kurz antitschte, um dann langsam, aber unaufhaltsam wieder hinunter auf den Asphalt zu gleiten.
»Scheiße!«, rief Hannes. »Der Lack!«
Ich starrte ihn entgeistert an, sah wieder nach vorne, wo nur noch ein in gestreifte Socken gehüllter Fuß zu sehen war, der sich an der Stoßstange verfangen hatte, und dann wieder zu ihm.
Gleichzeitig stiegen wir aus, ich lief nach vorne zu der am Boden liegenden Frau, Hannes fuhr mit der Hand über seine Motorhaube, um nach Beulen und Kratzern zu suchen. Er wurde offensichtlich fündig, denn während ich hilflos neben der Frau auf die Knie sank, murmelte er: »Das zahlt die Schlampe!«
Die alte Frau lag auf dem Rücken, die Beine unzüchtig gespreizt, und ihre zahlreichen Röcke waren weit hochgerutscht. Weit genug, um mir zu zeigen, dass ihre Strümpfe halterlos waren und an rosa Strapsen hingen.
Scheiße, wir haben Pippi Langstrumpf überfahren, schoss es mir durch den Kopf, während ich den Blick langsam nach oben wandern ließ, über mehrere alte Hemden, die eine zum Teil falsch zusammengeknöpfte Masse bildeten, bis zu ihrem Gesicht. Die gute Nachricht war, dass ihr Gesicht nicht zerkratzt oder eingedrückt war; die schlechte, dass es sie nur hätte schöner machen können.
Eine riesige, krumme Nase mit einer fetten Warze darauf schob sich aus einem Faltenmeer. Der Mund mit schmalen, blassen Lippen war weit genug geöffnet, um schiefe, verfaulte Zähne zu offenbaren. Die buschigen Augenbrauen wucherten so wild, dass nur die drei langen, schwarzen Haare länger waren, die aus einer Warze an ihrem Kinn wuchsen. Sie waren dick wie Spinnenbeine und schienen bei jedem der schwachen Atemzüge der Alten zu zucken. Die faltigen Lider waren geschlossen, aber so flach, dass man glauben konnte, die Frau habe keine Augen im Kopf.
Passt ja, so wie die vors Auto gerannt ist, dachte ich.
Plötzlich röchelte die Alte und die Spinnenbeine tanzten nicht mehr.
»Hannes!«, rief ich erschrocken. »Die atmet nicht mehr.«
»Was? Ne!«, rief er besorgt. »Wenn die abkratzt, kann ich das selbst löhnen! Mach was!«
»Bin ich Jesus? Kann ich heilen?«, gab ich gereizt zurück und hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass sie keine Löcher hatten. »Was soll ich denn machen?«
»Mund–zu–Mund–Beatmung«, sagte eine Stimme hinter mir und als ich erschrocken herumwirbelte, sah ich eine kleine Traube Schaulustiger, die sich um uns versammelte.
»Nein!«, entfuhr es mir entsetzt.
»Lassen Sie mich durch!«, rief da zu meiner großen Erleichterung jemand und arbeitete sich nach vorne durch. »Lassen Sie mich durch, ich bin Arz...« Jetzt hatte er den Unfallort erreicht, sah die Alte am Boden liegen und verstummte mitten im Wort. »Lassen Sie mich durch, ich bin spät dran!«, fuhr er nach einem kurzen, beschämten Blick zur Seite fort, stieg über die Bewusstlose und drängte sich auf der anderen Seite mit umso größerer Vehemenz durch die Reihen der Gaffer. »Lassen Sie mich durch!«, rief er erneut und klang jetzt panisch.
Während ich dem Verpisser entgeistert nachsah, verkündete eine dicke Frau mit Kennermiene: »Gleich isse hin!«
»Klaus, mach voran!«, drängte mich Hannes.
In Notsituationen neigte ich dazu, zu tun, was man mir sagte, also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und drehte mich der Alten wieder zu. Sie hatte eine alte Wunde am Kinn, aus der dicker, gelber Eiter lief, so dass ich nicht wusste, wo ich hinpacken sollte, um ihren Kopf zu überstrecken, wie ich es damals gelernt hatte.
Es ist ein schöner Sommertag, den man eigentlich im Freibad oder im Park verbringen sollte, vor allem, wenn man gerade achtzehn geworden und verliebt ist. Na gut, scharf ist ... auf Lucy Trümmer, die nicht nur einen Namen wie eine Pornodarstellerin hatte, sondern auch die passende Figur. Sie hatte mich in der Woche zuvor gefragt, ob ich nicht an einem Erste–Hilfe–Kurs mit ihr teilnehmen wollte.
»Mund–zu–Mund–Beatmung? Brustmassage?«, fragte ich wenig subtil.
Sie lachte, warf das lange Haar zurück und sagte: »Das heißt glaube ich anders, aber so was, genau.«
Darum bin ich nun hier, Lucy sitzt neben mir, im kurzen Rock und bauchfrei, und der Kurs beginnt. Zuerst ist er recht interessant, dann wird es langweilig, daraufhin öde und schließlich ist es unerträglich. Darum weckt mich die Verkündung des Kursleiters, eines bebrillten, dicken Johanniters, dessen weißes Polohemd gute drei Nummern zu klein ist, aus einem unruhigen Halbschlaf: »Dann wollen wir das jetzt mal praktisch versuchen.«
Sofort bin ich hellwach, gebe vor, mir die Schuhe zubinden zu müssen, checke unter dem Tisch rasch noch einmal meinen Atem und werfe einen vorfreudigen Blick auf Lucys Oberschenkel. Als ich wieder hochkomme, lässt der Malteser Mops gerade einen Plastiktorso auf den Boden fallen.
»So, das ist der Otto.« Er lacht, als wäre an diesem ausdruckslosen Stück Plastikschrott irgendwas komisch. »So nennen wir den hier. Also, wer will anfangen?«
Ich hebe langsam, wie ferngesteuert die Hand. »Ja, äh ...« Ein Blick auf die Teilnehmerliste. »Holger?«
»Klaus!«, korrigiere ich wie in Trance und frage: »Was soll denn der Scheiß?«
Das bringt ihn aus dem Konzept. »Bitte?«
»Da, der Typ, das Otto ... wofür soll das gut sein?« Langsam vertreiben Wut und Enttäuschung das Entsetzen.
»Na ...« Er sieht sich um, als warte er auf ein Stichwort von den anderen Kursteilnehmern, die mich anstarren. Als keines kommt, sagt er: »Daran üben wir die Mund–zu–Mund–Beatmung und die Herz–Lungen–Massage.«
»Nein!«, rufe ich lauter als beabsichtigt und blicke in Lucys Ausschnitt hinab. »Wer braucht denn schon so einen Technikdreck? Kampf der Automatisierung! Computer töten Arbeitsplätze.« Mit jedem Wort bin ich lauter geworden.
Der Dicke kommt auf mich zu und gibt mir eine Ohrfeige. Ich sacke verblüfft auf meinen Stuhl zurück und reibe mir die schmerzende Stelle.
»Das muss man manchmal machen«, erklärt er dem Raum, »wenn jemand hysterisch wird.«
Ich gucke Lucy an, aber die rückt von mir weg. Wie es aussieht, bleibt Otto heute mein einziger Sexualkontakt.
Die Alte atmete noch immer nicht. Ich musste mich beeilen, also schlang ich mir kurzentschlossen die Haare der Warze um die Finger, zog das spitze Kinn daran nach unten und presste, bevor ich es mir anders überlegen konnte, den Mund auf die sich schmatzend öffnenden, schmalen Lippen der Frau.
Im selben Moment, wo ich ihre kalte, vor Trockenheit knisternde Haut berührte, schnellten ihre Arme hoch, packten mich im Nacken und sie verwandelte die Lebensrettungsmaßnahme in einen leidenschaftlichen Kuss. Von ihrer Seite leidenschaftlich vor Wollust, von meiner leidenschaftlich in dem Begehren, von ihr wegzukommen. Ihre dicke, viel zu lange Zunge presste sich in meinen Mund und zuckte darin umher wie ein sterbender Aal.
Endlich schaffte ich es, ihren grotesk starken Griff zu lösen und rutschte zurück, aber sie bekam mich an den Haaren zu fassen und zog mein Gesicht wieder über ihres. Ihre Augen flatterten auf und glühten in einem unirdischen, pulsierenden Blutrot.
»Du wirst leiden, für die Welt, an der Welt, in der Welt«, raspelte sie mit rauer Stimme, die viel zu dunkel für ihre schmale Gestalt war. »Leiden, für das Gute, am Bösen, im Raum zwischen dem, was nicht sein darf und was sein muss.« Aus ihrem Mund strömte mir eine eisige Kälte entgegen, so dass mein eigener Atem zu Wolken gefror.
»Scheiße, hast du einen Mundgeruch«, entfuhr es mir. Da lachte sie wie eine Irre und ließ mich los. Während ich zurückwich und würgend ausspuckte, sprang sie mühelos auf die Beine, trat im Vorbeilaufen den Scheinwerfer der Corvette ein und war im Nu im Dunkel der hinteren Autoreihen verschwunden.
»Was sollte das denn?«, fragte Hannes.
Ich winkte ab, spuckte erneut aus und hob die Hand zur Wange. Die Fingerspitzen wurden kalt. Ich warf einen Blick in den Seitenspiegel. Dort, wo ihr Atem mich berührt hatte, lag eine dünne Eisschicht auf meiner Haut, die verschlungene Symbole bildete. Es lief mir kalt den Rücken herunter.
Die Umstehenden murrten enttäuscht, weil nun doch keiner starb, und die Menge löste sich langsam auf. »Und dafür frier ich mir hier den Arsch ab ...«, hörte ich es leise aus den hinteren Reihen klingen.
»So eine Hexe!«, sagte Hannes, und wenn ich damals geahnt hätte, wie richtig er damit lag, hätte ich ihm allein dafür in die Eier getreten.
Drittes Kapitel:
Verführung mit Hindernissen
(Aufwärtshakenkreuz)
Mir war die Lust auf Disko ordentlich vergangen, aber Hannes ließ keine Ausreden gelten. Er zerrte mich mit einem grollenden: »Los, muss jetzt was Dämliches flachlegen« an der Schlange vor der Kasse vorbei. Als das Pärchen an der Spitze (er: Typ aufgedonnerter Bengel in der Bankausbildung, sie: Backwarenfachverkäuferin mit großer Ähnlichkeit zum Teig, mit dem sie täglich umging) sich beschweren wollte, drückte Hannes ihnen wortlos einen Hunderter in die Hand, schob einen weiteren durch die Klappe im Kassenhäuschen und sagte: »Ein Erwachsener, ein Kind.«
»Sehr witzig«, sagte ich und tänzelte um Hannes herum, damit der breitgebaute Mann von der Sicherheit zuerst ihm eine einschenken würde. Doch der Mann nickte Hannes nur wohlwollend zu und dann waren wir auch schon auf dem Weg ins Innere des riesigen Unterhaltungstempels. Er warb mit fünf verschiedenen Diskos: Techno, Metal, Hip–Hop, Schlager und Oldies. Im Vorbeigehen am großen Lageplan sorgte der Zusatz »Oldies (90er)« dafür, dass ich mich sehr, sehr alt fühlte.
Im Inneren ging von einem zentralen Innenhof der Weg in die unterschiedlichen Bereiche ab und es war eine besondere Art von Kakophonie, wenn Wolfgang Petri und SlipKnot in einer unheiligen Allianz auf der einen Seite von der Hölle sangen, während wortlose treibende Technoböller auf der anderen Seite den Geräuschteppich für ein Duett von Michael Jackson und Sido bildeten.
Hannes steuerte zielstrebig die Schlagerdisko an. Als ich mich mit einem entsetzten Quieken gegen die Richtung wehrte, verdrehte er die Augen und brüllte mir ins Ohr: »Die Friseusen da sind leichte Beute!«
»Hölle, Hölle, Hölle«, kündigte Wolle mir an, was mich in seinen heiligen Hallen erwarten würde.
»Lass mal! Ich geh in die Oldies«, erklärte ich darum.
Hannes verdrehte erneut die Augen und folgte mir dann widerstrebend. Ein Bier und drei Lieder später war klar, dass wir die einzigen Oldies in der Oldies–Disko waren. Das älteste Lied war knapp vor der Jahrtausendwende ein Hit gewesen und bei unserem Eintritt hatten wir das Durchschnittsalter locker um fünf Jahre angehoben.
Das störte Hannes offensichtlich nicht. Während ich mich mit einem zweiten Bier darauf beschränkte, in die Schwaden der übertrieben häufig eingesetzten Nebelmaschine (ich mochte keine Nebelmaschinen) zu starren und mich zu fragen, ob diese Kinder nicht schon längst ins Bett gehörten, hatte Hannes diese Frage für sich bereits beantwortet: Sie gehörten, und zwar in sein Bett. Darum war er schon jetzt von zahlreichen weiblichen Geschöpfen umgeben, von denen ich beschloss, sie trotz gegenteiliger Indizien für junge Frauen und nicht für pubertierende Mädchen zu halten. Wie der Rattenfänger von Hameln lockte Hannes sie mit Alkopops an, die er großzügig in alle Richtungen verteilte. Es wäre ein spannendes mathematisches Problem, zu errechnen, ab wie viel Euro in Naturalien Hannes’ Schnurrbart attraktiv wurde.
Meine Gedanken wurden von zwei Teenagern abgelenkt, die mit Sicherheit eigentlich noch nicht trinken durften. Die Mädchen, das eine im engen schwarzen Strickkleid, das andere in hautengen Lederhosen und knappem Top mit Glitzertotenkopf, knutschten auf der Tanzfläche und rieben sich aneinander. Ich glaubte über Madonnas Frozen (bei dem ich immer Frohsinn verstand) sogar das Quietschen ihrer aneinanderschabenden baugleichen Julia–Roberts–Gedenkstiefel zu hören.
, versuchte ich die Lage zu retten, aber er grunzte bloß. »Tolle Ti ... Frisur«, fuhr ich fort und wich einen Schritt zurück. »Nichts für ungut!«
Ich wollte mich wegdrehen, aber der Mann wirbelte mich am Arm mühelos herum, stieß mich gegen die Theke und holte aus. Während ich mich noch fragte, ob er jetzt hochspringen oder auf einen der Hocker klettern würde, um mich zu schlagen, sauste seine Faust auf meinen Bauch zu. Ich kniff die Augen zusammen und sah vor meinem geistigen Auge das Gesicht des letzten Glatzkopfs, der mich verprügelt hatte.