Cover: Das Motiv by Patrick M. Lencioni

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Dieses Buch ist Schwester Regina Marie Gorman und Weldon Larson gewidmet: Für ihr wertvolles Beispiel des Vertrauens und der großen Bescheidenheit als Führungskräfte.

Einleitung

Wenn ich auf Examensfeiern Redner höre, die ihre Studentinnen und Studenten auffordern, sie mögen nun „in die Welt hinausziehen und Führungskräfte werden«, dann möchte ich am liebsten immer aufspringen und dazwischenrufen: „Nein!!! Bitte, werdet keine Führungskräfte! Es sei denn, ihr werdet es aus den richtigen Gründen, und das ist wahrscheinlich nicht der Fall!« Lassen Sie mich das erklären.

Das ist hier der elfte oder zwölfte Wirtschaftsratgeber, den ich schreibe, je nachdem wie Sie zählen. Sollte sich nun jemand zum ersten Mal mit diesem Stapel meiner Bücher befassen wollen, würde ich ihm oder ihr empfehlen, mit genau diesem Buch hier anzufangen.

Denn alle übrigen Bücher, die ich bisher geschrieben habe, konzentrieren sich vor allem darauf, wie man Führungskraft ist: Wie man ein gesundes Unternehmen leitet, wie man ein gut zusammenarbeitendes Team führt, wie man eine Gruppe von Angestellten managt. Im Laufe der Jahre bin ich allerdings zu der Erkenntnis gelangt, dass etliche Menschen meine Empfehlungen einfach nicht aufgreifen, und zwar infolge der Gründe, warum sie überhaupt zur Führungskraft werden wollten.

In meiner Kindheit haben die Leute mich und meine Altersgenossen ständig aufgefordert, doch Anführer zu werden. Ich nahm diese Aufforderungen für bare Münze und suchte stets Gelegenheit, Menschen oder Organisationen zu führen, sobald ich auch nur in die Lage kam, Leiter eines Teams zu werden oder für eine Studentenvertretung zu kandidieren. Aber wie so viele andere Menschen auch nahm ich mir nie die Zeit, mich zu fragen, warum ich überhaupt Führungskraft werden sollte.

Wie sich zeigt, ist das Hauptmotiv, warum die meisten jungen Menschen, und auch viel zu viele ältere, Führungskräfte werden wollen, die Belohnung, die das Führen mit sich bringt. Also Dinge wie Ruhm, Status und Macht. Aber Menschen, die durch solche Dinge motiviert sind, werden sich nicht den Anforderungen stellen, die das Führen mit sich bringt, sobald sie keine oder nur eine geringe Verbindung zwischen dem Erfüllen ihrer Pflichten und dem Erlangen dieser Belohnungen sehen. Sie werden ihre Zeit und Energie vielmehr darauf ausrichten, was sie dafür bekommen, statt danach, was sie den von ihnen zu führenden Menschen geben sollten. Das ist ebenso gefährlich, wie es verbreitet ist. Das Ziel dieses Buches ist, dieses Vorgehen ein klein bisschen weniger verbreitet zu machen.

Ich hoffe, das Buch wird Ihnen dabei helfen, Ihr eigenes Motiv fürs Führen zu verstehen und gegebenenfalls anzupassen, damit Sie sich das schwierige und bedeutsame Wesen der Aufgabe, ein Unternehmen oder eine Organisation zu führen, bereitwillig zu eigen machen. Oder es wird Ihnen vielleicht dabei helfen, in aller Ruhe zu dem Schluss zu gelangen, dass Sie eigentlich gar keine Führungskraft sein wollen, und Ihnen so ermöglichen, für Ihre Fähigkeiten und Interessen eine bessere Verwendung in einer anderen Rolle zu finden.


Die Fabel


Die Situation

Shay Davis wusste, dass es noch zu früh war, als dass er schon gefeuert werden könnte. Selbst der aggressivsten Beteiligungsgesellschaft reichten sechs Monate nicht aus, um einen gerade erst beförderten CEO schon wieder abzusägen. Allerdings reichte diese Zeit durchaus, um an eine solche Möglichkeit schon mal zu denken.

Man konnte nun nicht direkt sagen, dass es bei Golden Gate Security in der kurzen Zeit von Shays Unternehmensführung den Bach runtergegangen wäre. Das Unternehmen, das seinen Hauptsitz in Emeryville hatte, einer Handelsstadt am Ostufer der San Francisco Bay, war durchaus gewachsen, allerdings weit langsamer als die meisten anderen regionalen Sicherheitsfirmen im Westen. Und auch die Gewinnmargen waren ganz ordentlich, wenn sie auch armselig wirkten gegenüber denen von All‐American Alarm, dem riesigen und höchst aggressiven landesweit tätigen Unternehmen auf dem Sicherheitsmarkt für Privathäuser und Kleinunternehmen.

Shay ging davon aus, dass die Leute von der Beteiligungsgesellschaft ihm wohl noch so etwa neun Monate Zeit geben würden, um Golden Gate wieder richtig in Schwung zu bringen, aber so lange wollte er nicht warten. Nachdem er mehr als zwei Jahrzehnte lang die Leiter immer höher hinaufgestiegen war und es am Ende bis ganz nach oben geschafft hatte, wollte er schließlich nicht, dass diese ganzen Jahre harter Arbeit umsonst gewesen wären.

Und so beschloss er, seinen Stolz über Bord zu werfen und einen höchst unangenehmen Telefonanruf zu tätigen.


Nachforschungen

Lighthouse Partners war eine kleine Beratungsfirma mit Sitz in Half Moon Bay (Kalifornien), die den Ruf hatte, mit interessanten und erfolgreichen Kunden zusammenzuarbeiten. Einer dieser Kunden war Del Mar Alarm, ein Unternehmen mit Sitz in San Diego und Star der regionalen Sicherheitsbranche Kaliforniens – und somit für Shay Davis so etwas wie ein Dorn im Auge.

Ob es nun bei den Podiumsdiskussionen einer Messe war oder in den Artikeln einer Fachzeitschrift, Del Mar und ihr aus Großbritannien stammender CEO Liam Alcott wurden regelmäßig gepriesen, sowohl für ihre außerordentliche Profitabilität als auch für ihre Fähigkeit, sich gegen landesweit tätige Konkurrenten wie All‐American zur Wehr zu setzen.

Normalerweise hätte Shay niemals in Betracht gezogen, die Beratungsfirma eines Konkurrenten zu engagieren, aber er war inzwischen verzweifelt genug, um auch etwas völlig Neues auszuprobieren. Als er nun die Beraterin kontaktierte, die bei Lighthouse mit Del Mar zusammenarbeitete, erklärte ihm diese, dass sie zuerst bei ihrem Kunden nachfragen müsse, ob es für ihn okay sei, wenn sie mit einem weiteren Unternehmen aus der Branche zusammenarbeite. Shay ging daher davon aus, dass er nichts mehr von ihr hören würde. Damit hatte er recht.

Er hätte allerdings nie damit gerechnet, was nun als Nächstes passierte.


Nemesis

Es ist zwar etwas schwierig, eine Person zu hassen, die man gar nicht kennt, aber Shay fand, in Bezug auf Liam Alcott war er darin schon ziemlich gut.

Abgesehen von einem gelegentlichen Händedruck oder einer flüchtigen Begrüßung auf einer Branchenveranstaltung hatte Shay ihn zwar noch nie wirklich kennengelernt, aber er hatte Alcott schon ein paarmal reden gehört und mehr Print‐Interviews mit ihm gelesen, als ihm lieb war. Er hatte sich angewöhnt, die Freundlichkeit dieses Mannes als aufgesetzt zu verabscheuen, dem alles so leicht zu fallen schien, was Shay selbst bisher noch nicht so gut konnte.

Als seine Assistentin Rita zu ihm ins Büro kam, um ihm mitzuteilen, dass auf Leitung eins ein Mann namens Liam für ihn am Apparat sei, nahm Shay daher an, dass in Wirklichkeit einer seiner eigenen Manager anrufe, um ihm einen Streich zu spielen. Aber bevor er den Hörer abnahm, um bei dem Spielchen mitzumachen, bemerkte er die Vorwahl 619 und kam zu dem Schluss, dass der Anrufer am Ende doch seine Nemesis aus San Diego sein könnte.

Er atmete einmal tief durch und nahm das Gespräch an: „Shay Davis.«

„Hallo Shay! Liam Alcott.«

Shay war sich sofort darüber im Klaren, dass es sich hier nicht um den Streich eines Kollegen handelte. Dafür war er geradezu erleichtert, dass ihm sogar die Stimme dieses Mannes unsympathisch war, seinem englischen Akzent zum Trotz, den er affektiert zu finden beschloss. Er entschied sich dafür, sich übertrieben freundlich zu geben.

„Was kann ich für Sie tun, Liam?«

„Also zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich mich letzten Sommer nicht bei Ihnen gemeldet habe, um Ihnen zu Ihrer Beförderung zu gratulieren. Ich fühle mich wie ein Stoffel.«

Shay war nicht überzeugt, dass der Mann es ernst meinte, aber er wollte sich auch nichts anmerken lassen. „Kommen Sie! Wenn einer weiß, wie viel Sie um die Ohren haben, dann bin ich das.«

„Da mag etwas dran sein. Aber ich rufe auch an, weil mir Amy von der Agentur Lighthouse mitgeteilt hat, dass Sie bei ihr angerufen hätten, weil Sie gerne mit ihr zusammenarbeiten wollten.«

Shay spürte, wie eine Woge der Scham ihn überflutete, und nahm an, dass Liam ihn für seinen Versuch zur Rede stellen wollte, ihm seine Berater zu stehlen, ganz zu schweigen von seinem geistigen Eigentum. Shay versuchte, cool zu bleiben. „Ja. Ich dachte halt, dass die mit unserer Branche vertraut sind, und wenn sie keine Probleme damit hätten ...«

Liam ging dazwischen. „Klar. Das verstehe ich. Damit habe ich auch überhaupt kein Problem. Amy ist eine hervorragende Beraterin und Lighthouse hat uns auch schon äußerst gute Dienste geleistet. Sie würden sehr gut mit ihr zusammenarbeiten.«

Mehr als nur ein bisschen überrascht ruderte Shay etwas zurück, um ein wenig von seinem Stolz zu wahren. „Ja, wir werden aber natürlich auch noch andere Firmen kontaktieren, wir haben uns da noch nicht festgelegt.«

Liam blieb unbeeindruckt. „Das ist vernünftig. Und bevor Sie überhaupt irgendwelche Berater engagieren, sollten Sie ohnehin zunächst mal Eines tun.«

Shay machte sich jetzt auf irgendeinen herablassenden Ratschlag gefasst. „Und das wäre?«

„Lassen Sie mich erzählen, was wir von Lighthouse gelernt haben, damit Sie beurteilen können, ob das auch für Sie das Richtige wäre.«

Jetzt wusste Shay nicht mehr, was er sagen sollte. Hatte er gerade richtig gehört?

Aber bevor ihm etwas einfiel, hatte Liam auch schon weitergeredet. „Also es ist so, dass ich nächsten Donnerstag zu einer Konferenz bei Ihnen in der Gegend bin, und übers Wochenende bleibe ich dann bei meiner Schwägerin in Walnut Creek – sollen wir uns da nicht vielleicht nächsten Freitag einmal treffen?«

„Also da müsste ich erst mal bei meiner ...«

„Mit Ihrer Assistentin Rita habe ich darüber gerade schon gesprochen. Rita heißt sie doch, oder?«

„Ja.«

„Sie sagte, dass bei Ihnen am Freitag alles frei sei. Sie hätten da ursprünglich zwar einen Lagebericht vorstellen sollen oder so etwas, aber das sei um ein paar Wochen verschoben worden.«

Shay fühlte sich nun von allen verraten – von Rita, von den Beratern bei Lighthouse, von jedem. Er war nicht bereit, das eindeutig dubiose Angebot seines Gegners anzunehmen, und ging in Abwehrhaltung.

„Nehmen Sie's mir nicht übel, Liam ...« Er machte eine Pause. „Aber haben Sie denn gar keine Bedenken, Ihre Betriebsgeheimnisse mit einem Konkurrenten zu teilen?«

Liam lachte. „Konkurrenten? Ich finde nicht, dass wir Konkurrenten sind. Ich meine, wenn wir das wären, dann hätte ich mit Sicherheit etwas dagegen gehabt, dass Lighthouse mit Ihnen zusammenarbeitet. Aber es ist doch nicht so, dass wir einander unsere Kunden stehlen. Es sei denn, Sie verfolgten Pläne, ins Sicherheitsgeschäft in San Diego einzusteigen. Von daher sehe ich hier eigentlich keine Konflikte.«

Shay suchte verzweifelt nach einer Ausrede.

Aber Liam fuhr schon fort. „Ich sehe eher All‐American als unseren gemeinsamen Gegner, und ich würde es gar nicht gern sehen, wenn die noch ein weiteres regionales Standbein in Nordkalifornien dazubekämen.« Er machte eine Pause. „Es sei denn, Sie wissen schon, wie Sie mit denen umgehen wollen.«

Nun wollte Shay zwar ungern irgendwelche Schwächen zugeben, aber andererseits wollte er sich auch keine Tipps entgehen lassen, die Liam möglicherweise für ihn haben könnte. „Nein, da bleibt für uns schon noch ein bisschen Arbeit zu tun.«

„Okay«, rief Liam begeistert. „Das wäre doch schon mal ein Gebiet, auf dem ich Ihnen helfen könnte. Und ich bin mir ganz sicher, Sie haben umgekehrt auch ein paar Tipps für mich.«

Shay trug eine leicht falsche Bescheidenheit zur Schau. „Ach, das weiß ich nicht.« Da ihm nun aber einfach kein guter Grund mehr einfiel, Liams Angebot abzulehnen, ließ er sich schließlich darauf ein. „Aber na gut. Wann sollen wir uns am Freitag denn treffen?«

Als das Gespräch beendet war, sagte sich Shay, dass er ja noch ein paar Tage Zeit hätte, um einen guten Grund zu finden, warum er Ende nächster Woche nicht in der Stadt sein könnte.