Marcel Proust

Die wiedergefundene Zeit
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Band 7

Suhrkamp

Den ganzen Tag – in jenem etwas allzu typisch ländlichen Haus, das aussah, als sei es lediglich ein Ort zum Haltmachen zwischen zwei Spaziergängen oder bei einem Unwetter, eines jener Häuser, in denen jeder Salon wie ein Gartenzimmer aussieht und auf den Tapeten der Zimmer in dem einen die Rosen aus dem Garten, in dem anderen die Vögel aus den Bäumen gekommen sind, um uns Gesellschaft zu leisten, schön der Reihe nach, denn es waren alte Tapeten, auf denen jede Rose weit genug von der nächsten entfernt war, daß man sie, wäre sie lebendig gewesen, hätte pflücken und jeden Vogel in einen Käfig setzen und zähmen können, völlig verschieden von den großflächigen Wandbekleidungen heutiger Zimmer, auf denen sich vor einem silbergrauen Hintergrund sämtliche Apfelbäume der Normandie eingefunden haben, um sich im japanischen Stil abzuzeichnen und die Stunden, die wir im Bett verbringen, mit Halluzinationen zu erfüllen –, den ganzen Tag verbrachte ich damals in meinem Zimmer, das auf das schöne Grün des Parks und die Flieder am Eingang blickte, auf das grüne Laub der großen, von Sonne gleißenden Bäume am Wasser und auf den Wald von Méséglise. Im Grunde betrachtete ich das alles nur deshalb mit Vergnügen, weil ich mir sagte: Es ist hübsch, so viel Grün vor dem Fenster meines Zimmers zu haben, bis ich in dem weiten, ganz in Grün gehaltenen Gemälde den Turm der Kirche von Combray erkannte, doch dunkelblau gemalt, weil er weiter weg war. Nicht eine Darstellung des Turms, nein, den Turm selbst, der sich inmitten des leuchtenden Grüns, doch ganz anders getönt, so dunkel, daß er beinahe mit dem Stift hingesetzt schien, im Rahmen meines Fensters abzeichnete und mir so die Entfernung an Meilen und Jahren vor Augen führte. Und wenn ich mein Zimmer für einen Augenblick verließ, erblickte ich am Ende des Korridors, denn er führte in eine andere Richtung, gleich einem scharlachfarbenen Band die Wandbespannung eines kleinen Salons, die nichts als schlichter Musselin war, aber ganz rot und zu feurigem Aufflammen bereit, sobald ein Sonnenstrahl sie traf.1 Während dieser Spaziergänge erzählte mir Gilberte, wie Robert sich, allerdings um anderer Frauen willen, von ihr abzuwenden schien. Tatsächlich war sein Leben voller Frauen, wie das Leben von Männern, die Frauen lieben, oft voller Männerfreundschaften ist, jener Art von unnötigem Selbstschutz und sinnlos beanspruchtem Platz, wie ihn in den meisten Häusern Gegenstände einnehmen, die zu nichts nütze sind. Er erschien mehrmals in Tansonville, während ich mich dort aufhielt. Er war ganz anders, als ich ihn gekannt hatte. Sein Leben hatte ihn nicht schwerfälliger und langsamer gemacht wie Monsieur de Charlus, sondern im Gegenteil eine konträre Verwandlung in ihm bewirkt und ihn mit dem flotten Äußeren eines Kavallerieoffiziers bedacht – obwohl er bei seiner Verheiratung aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war –, wie er es vorher nie besessen hatte. In dem Maße, in dem Monsieur de Charlus gewichtiger geworden war, hatte Robert (zweifellos war er unendlich viel jünger, aber man spürte, daß er sich diesem Ideal mit den Jahren immer mehr nähern würde), gleich gewissen Frauen, die entschlossen ihr Gesicht der schlanken Taille opfern und von einem gewissen Zeitpunkt an sich kaum noch aus Marienbad fortrühren (in dem Gedanken, daß sie nun einmal nicht mehrere Arten von Jugend gleichzeitig festhalten können, die der Gestalt aber am ehesten noch die anderen ersetzen kann), an Schlankheit und Schnelligkeit gewonnen, was der jeweils entgegengesetzte Effekt ein und desselben Lasters war.2 Diese Schnelligkeit hatte im übrigen verschiedene psychologische Gründe: die Furcht gesehen zu werden, den Wunsch nicht den Anschein zu erwecken, diese Furcht zu hegen, die Fieberhaftigkeit, wie sie aus Unzufriedenheit mit sich selbst und aus Mißmut entsteht. Er hatte die Gewohnheit, gewisse übelbeleumdete Häuser zu besuchen, und da er nicht wollte, daß man ihn hineingehen oder herauskommen sah, stürzte er in sie hinein, um den scheelen Blicken etwaiger Vorübergehender möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, in der gleichen Weise, wie man zum Sturm ansetzt. Diese Windstoßallüre war ihm geblieben. Vielleicht schematisierte sie ihm auch die zur Schau getragene Unerschrockenheit eines Menschen, der seine Furchtlosigkeit beweisen und sich keine Zeit zum Nachdenken nehmen will. Der Vollständigkeit halber sollte man noch den mit zunehmendem Alter wachsenden Wunsch nach einem jugendlichen Auftreten und sogar die Ungeduld jener immer gelangweilten, immer blasierten Männer berücksichtigen, die zu gescheit sind für das verhältnismäßig müßige Leben, in dem sie ihre Fähigkeiten nicht entfalten können. Zweifellos kann sich der Müßiggang solcher Naturen gerade in einer gewissen Lässigkeit ausdrücken. Besonders aber seitdem Leibesübungen aller Art in Gunst stehen, hat der Müßiggang sportliche Form angenommen, selbst außerhalb der dem Sport gewidmeten Stunden, eine Form, die sich nicht mehr in Lässigkeit, sondern in einer fieberhaften Lebhaftigkeit zeigt, die der Langeweile weder Zeit noch Raum zur Entwicklung zu lassen wähnt.1 Mein Gedächtnis, das unwillkürliche Gedächtnis sogar, hatte die Liebe zu Albertine verloren. Doch es scheint, als bestünde ein unwillkürliches Gedächtnis der Glieder – eine blasse und unfruchtbare Nachahmung des anderen –, das ein längeres Leben hat, so wie gewisse seelenlose tierische oder pflanzliche Gebilde länger leben als der Mensch. Beine und Arme sind voll von schlummernden Erinnerungen. Einmal, als ich mich ziemlich früh von Gilberte getrennt hatte, wachte ich mitten in der Nacht in dem Zimmer in Tansonville auf, und noch halb schlafend rief ich: »Albertine«. Ich hatte dabei weder an sie gedacht noch von ihr geträumt, noch sie mit Gilberte verwechselt: Einzig eine in meinem Arm erwachende Reminiszenz hatte bewirkt, daß ich hinter meinem Rücken nach der Schelle suchte wie in meinem Zimmer in Paris. Da ich diese aber nicht fand, hatte ich »Albertine« gerufen, denn ich glaubte, meine verstorbene Freundin ruhe neben mir, wie sie es oft am Abend tat, wenn wir zusammen einschliefen und später beim Erwachen auf die Zeit vertrauten, die Françoise brauchte, bis sie kam, so daß Albertine, ohne unvorsichtig zu sein, die Klingelschnur ziehen konnte, die ich nicht fand.1 Er wurde – zumindest während dieser leidigen Phase – viel spröder und bezeugte gegenüber seinen Freunden, zum Beispiel mir, keinerlei Gefühle mehr. Bei Gilberte dagegen praktizierte er bis zur Farce getriebene, abstoßende Demonstrationen von Gefühlsduselei. Nicht daß ihm Gilberte in Wirklichkeit gleichgültig gewesen wäre. Nein, Robert liebte sie. Doch belog er sie unausgesetzt; seine unaufrichtige Haltung, ja sogar was sich hinter seinen Lügen verbarg, wurde regelmäßig offenbar; dann aber glaubte er sich nicht anders aus der Affäre ziehen zu können, als indem er bis zur Lächerlichkeit die ehrliche Betrübnis übersteigerte, daß er Gilberte Kummer bereitete. Er kam nach Tansonville, genötigt, wie er sagte, am folgenden Morgen aufzubrechen wegen irgend eines Herrn aus der Gegend, der ihn angeblich in Paris erwartete und der, wenn wir ausgerechnet ihn am gleichen Abend in der Nähe von Combray trafen, ohne es zu wollen die Lüge, von der ihn in Kenntnis zu setzen Robert versäumt hatte, aufdeckte, indem er erzählte, er sei hierher gekommen, um sich vier Wochen lang auszuruhen, und werde bis dahin keinen Fuß nach Paris setzen. Robert errötete, sah das von feiner Melancholie getränkte Lächeln Gilbertes, schickte den Tolpatsch unter lauten Verwünschungen zum Teufel, kehrte vor seiner Frau nach Hause zurück, ließ ihr ein paar Zeilen voller verzweifelter Beteuerungen des Inhalts überbringen, er habe sich dieser Lüge bedient, um sie nicht zu betrüben, damit sie nicht, wenn sie ihn wegen eines Grundes, den er ihr nicht nennen könne, nach Paris zurückkehren sähe, denken solle, er liebe sie nicht mehr (was alles, obwohl er es als Lüge niederschrieb, im großen ganzen der Wahrheit entsprach), fragte dann bei ihr an, ob er zu ihr kommen dürfe, woraufhin er dort – teils aus echter Traurigkeit, teils aus Überdruß an diesem Leben, teils in täglich dreisterer Simulation – schluchzte, sich mit kaltem Wasser übergoß, von seinem nahen Tode sprach oder sich auf das Parkett fallen ließ, als fühle er sich schlecht. Gilberte wußte nicht, wieweit sie ihm glauben sollte, hielt ihn zwar in jedem einzelnen Fall für einen Lügner, wähnte sich jedoch im allgemeinen geliebt und beunruhigte sich über seine Todesahnungen, da sie dachte, er habe vielleicht eine Krankheit, von der sie nur nichts wisse, weshalb sie es nicht wagte, ihn zu verdrießen und zum Verzicht auf seine Reisen zu bewegen.

Obendrein verstand ich um so weniger, weshalb er sie unternahm, als Morel zugleich mit Bergotte1 überall, wo die Saint-Loups sich aufhielten, ob in Paris oder in Tansonville, wie der Sohn des Hauses behandelt wurde. Morel wußte Bergotte wundervoll nachzuahmen. Mit der Zeit brauchte man ihn gar nicht mehr darum zu bitten, eine Nachahmung zum besten zu geben. Wie jene Hysteriker, die man gar nicht mehr hypnotisieren muß, damit sie zu dieser oder jener Person werden, schlüpfte er ganz unvermittelt in die Rolle.2 Françoise, die schon mit angesehen hatte, was Monsieur de Charlus für Jupien getan hatte und was nun Robert de Saint-Loup für Morel tat, schloß daraus nicht, daß es sich hier um einen Zug handelte, der in verschiedenen Generationen bei den Guermantes auftrat, sondern war vielmehr – da auch Legrandin Théodore viel Hilfe angedeihen ließ –, obwohl sonst eine so moralische und von Vorurteilen beherrschte Person, zu dem Glauben gelangt, dies sei ein Brauch, den seine weite Verbreitung ehrbar mache. Von einem jungen Mann, ob es sich nun um Morel oder um Théodore handelte, sagte sie stets: »Er hat einen Herrn gefunden, der sich immer für ihn interessiert hat und sich seiner angenommen hat.« Und da in solchem Falle stets die Beschützer die Liebenden, Duldenden und Verzeihenden sind, zögerte Françoise bei der Wahl zwischen ihnen und den Minderjährigen, die sie verführten, nicht, ersteren die edle Rolle zuzuerkennen und zu finden, sie bewiesen »viel Herz«. Ohne Zaudern tadelte sie Théodore, der Legrandin viele Streiche gespielt hatte, schien aber gleichwohl wenig Zweifel über die Natur ihrer Beziehungen zu hegen, denn sie fügte hinzu: »Da hat der Kleine begriffen, daß er jetzt an der Reihe ist, und hat gesagt: ›Nehmen Sie mich mit, ich will Sie lieben und immer nett zu Ihnen sein‹, und wahrhaftig, der Herr hat so viel Herz, daß Théodore ganz gewiß vielleicht sogar mehr von ihm bekommt, als er im Grunde verdient, denn er ist ein Tollkopf, aber dieser Herr ist so gut, daß ich oft zu Jeanette« (der Verlobten Théodores) »gesagt habe: ›Kleine, wenn du je Kummer hast, dann geh nur zu Monsieur. Er würde lieber selbst auf dem Boden schlafen, um dir sein Bett zu überlassen. Er hat den Kleinen‹« (Théodore) »›zu sehr geliebt, als daß er ihm je die Tür weisen würde. Ganz bestimmt wird er ihn niemals im Stich lassen.‹« 1 Aus Höflichkeit fragte ich die Schwester Théodores, der jetzt im Süden lebte, nach dessen Familiennamen. »Aber das ist ja der, der mir auf meinen Artikel im Figaro geschrieben hat!« rief ich aus, als ich erfuhr, daß er Sautton1 hieß.

Ebenso schätzte sie Saint-Loup höher als Morel; sie war der Meinung, daß trotz aller Gemeinheiten, die der Kleine (Morel) begangen hatte, der Marquis ihm niemals seine Hilfe vorenthalten würde, denn er ist ein Mann mit zu viel Herz, es sei denn, ihm selbst wären große Widrigkeiten zugestoßen.

Er bestand darauf, daß ich in Tansonville blieb, und ließ einmal durchblicken, obwohl er mir damit offensichtlich nicht einmal schmeicheln wollte, mein Kommen habe für seine Frau eine so große Freude bedeutet, daß sie nach ihren eigenen Worten einen ganzen Abend lang außer sich vor Vergnügen darüber gewesen sei, an einem Abend zumal, an dem sie sich so traurig gefühlt hatte, daß ich sie durch mein unvermutetes Erscheinen wundergleich vor der Verzweiflung gerettet hatte – »vielleicht vor Schlimmerem noch«, fügte er hinzu. Er bat mich, sie zu überzeugen zu versuchen, daß er sie liebe, wobei er mir erklärte, die Frau, die er außerdem liebe, liebe er weniger als Gilberte und er werde bald mit ihr brechen. »Und dennoch«, fuhr er mit einer solchen Eitelkeit und in einem solchen Bedürfnis, sich mitzuteilen, fort, daß ich immer wieder erwartete, der Name »Charlie« werde gegen Roberts Willen »präsentiert werden« wie die Nummer einer Lotterie, »hatte ich allen Grund, stolz zu sein. Diese Frau, die mir so viele Beweise ihrer Zärtlichkeit gegeben hat und die ich Gilberte zuliebe aufgeben will, hatte sich vorher nie aus einem Mann etwas gemacht; sie selbst hatte das Gefühl, unfähig zur Liebe zu sein. Ich bin der erste. Ich wußte, daß sie sich allen anderen gegenüber so ablehnend gezeigt hatte, daß ich, als ich von ihr den anbetungswürdigen Brief erhielt, in dem sie mir sagte, sie könne ein Glück einzig mit mir erleben, es kaum zu fassen vermochte. Gewiß hätte ich allen Grund, mich daran zu berauschen, wenn mir nicht der Gedanke an die in Tränen aufgelöste Gilberte unerträglich wäre. Findest du nicht, daß sie etwas von Rachel hat?« sagte er zu mir. Tatsächlich war mir eine gewisse Ähnlichkeit aufgefallen, die man zwischen den beiden jetzt möglicherweise feststellen konnte. Vielleicht lag es an einer wirklichen Ähnlichkeit einzelner Züge (die auf den gleichwohl bei Gilberte so wenig spürbaren jüdischen Ursprung zurückgehen mochte), daß sich Robert, als seine Familie auf seiner Verheiratung bestand, bei gleichen Vermögensvoraussetzungen eher zu Gilberte hingezogen gefühlt hatte. Es lag aber auch daran, daß Gilberte, seitdem sie einige Photographien der ihr damals nicht einmal dem Namen nach bekannten Rachel gefunden hatte, Robert zu Gefallen bestimmte Gewohnheiten der Schauspielerin zu kopieren bemüht war, zum Beispiel wie diese rote Schleifen im Haar und am Arm ein schwarzes Samtband zu tragen, und sich die Haare färbte, um brünett zu erscheinen. Dann, als sie spürte, daß der Kummer ihrem Gesicht die Frische nahm, versuchte sie, etwas nachzuhelfen. Sie tat sogar manchmal des Guten zuviel. Eines Tages, als Robert auf vierundzwanzig Stunden nach Tansonville kommen sollte, sah ich sie zu meiner Verblüffung bei Tisch so befremdlich anders nicht nur als früher, sondern auch als an gewöhnlichen Tagen aussehen, daß ich so verblüfft war, als hätte ich eine Schauspielerin, eine Art Theodora1 vor mir. Ich spürte, daß ich sie in meiner Neugier festzustellen, was an ihr verändert war, unwillkürlich allzusehr anstarrte. Diese Neugier wurde übrigens gleich darauf zufriedengestellt, als Gilberte sich die Nase putzte, und trotz aller Vorsichtsmaßregeln, die sie traf. An den vielen Farben, die als reiche Palette auf ihrem Taschentuch sichtbar wurden, sah ich, daß sie über und über angemalt war. Davon also hatte sie diesen blutroten Mund, dem sie den Ausdruck lachender Heiterkeit zu geben versuchte in der Meinung, es stehe ihr gut, während der Umstand, daß die Stunde der Ankunft des Zuges immer näher rückte, ohne daß Gilberte wußte, ob ihr Mann wirklich kommen oder ob er eine jener Depeschen schicken würde, die Monsieur de Guermantes mit dem Witzwort charakterisiert hatte: »Kommen unmöglich, Lüge folgt«, ihre Wangen unter dem von Schminke violett gefärbten Schweiß erbleichen ließ und dunkle Ringe um ihre Augen legte.

»O ja, weißt du«, sagte er zu mir mit einer geflissentlich herzlichen Miene, die zu der spontanen Herzlichkeit von früher in schroffem Gegensatz stand, mit Trinkerstimme zudem und dem Tonfall eines Schauspielers, »dafür, Gilberte glücklich zu wissen, würde ich alles geben! Sie hat so viel für mich getan. Du kannst es dir gar nicht vorstellen.« Am unerfreulichsten dabei war indes seine Eigenliebe, denn er fühlte sich geschmeichelt, weil Gilberte ihn liebte, und ohne daß er zu sagen wagte, daß er selbst Charlie liebe, gab er gleichwohl über die Liebe, die der Geiger ihm angeblich entgegenbrachte, Einzelheiten zum besten, von denen Saint-Loup wußte, daß sie stark aufgebauscht, wenn nicht ganz und gar erfunden waren, verlangte doch Charlie täglich mehr Geld von ihm.1 Indem er Gilberte mir anvertraute, fuhr er wieder nach Paris zurück.

Ich hatte übrigens Gelegenheit (um etwas vorzugreifen, da ich mich jetzt ja noch in Tansonville befinde), ihn dort einmal in Gesellschaft zu beobachten, und zwar aus einer Entfernung, dank der ich in seiner Sprechweise, die trotz allem lebendig und reizvoll geblieben war, die Vergangenheit wiederzufinden vermochte; ich war überrascht, wie sehr er sich veränderte. Er wurde seiner Mutter immer ähnlicher; die hochmütige Schlankheit, die er von ihr geerbt hatte und die bei ihr vollkommen war, wirkte bei ihm infolge vollendetster Erziehung übertrieben und starr; der durchdringende Blick, der allen Guermantes eigentümlich war, gab ihm das Aussehen, als ob er alle Stätten, an denen er sich bewegte, einer Inspektion unterzöge, aber auf eine nahezu unbewußte Art, gleichsam aus Gewohnheit und als handle es sich um eine Art Gattungsmerkmal. Selbst wenn er unbeweglich stand, verlieh ihm die besondere Färbung, die ihn mehr als alle übrigen Guermantes auszeichnete und nichts als die Materie gewordene Sonnenfülle eines goldenen Tages zu sein schien, etwas wie ein fremdartiges Gefieder, ordnete ihn einer so seltenen, kostbaren Spezies zu, daß man ihn gern für eine ornithologische Sammlung besessen hätte; und wenn sich dieser zu einem Vogel gewordene Lichtschimmer in Bewegung, in Aktion setzte, wenn ich zum Beispiel Saint-Loup auf einer Soiree erscheinen sah, die ich selbst besuchte, hatte er eine Art, den mit dem goldenen Reiherbusch seines etwas gelichteten Haars gekrönten Kopf seidenweich und stolz aufzurecken und Halsbewegungen zu machen, die weit geschmeidiger, anmaßender und koketter waren als solche, wie Menschen sie zeigen, daß man sich in einer Mischung aus Neugier und halb mondän, halb zoologisch bestimmter Bewunderung bei seinem Anblick fragte, ob man sich im Faubourg Saint-Germain oder im Jardin des Plantes1 befinde, ob man einen vornehmen Herrn oder einen Vogel einen Salon durchqueren oder in seinem Käfig promenieren sehe. Diese ganze Rückkehr jedoch zu der gefiederten Eleganz der Guermantes mit dem spitzen Schnabel und den stechenden Augen wurde für sein neues Laster nutzbar gemacht, indem es sich ihrer bediente, um eine gewisse Haltung aufrechtzuerhalten. Je mehr er sich ihrer bediente, desto mehr nahm er das Aussehen einer – wie Balzac sagt – Tante2 an. Mit etwas Phantasie konnte man den Gesang nicht minder als das Gefieder auf diese Weise deuten.3 Er fing jetzt an, Bemerkungen zu machen, die er für »Grand Siècle« hielt, und ahmte darin die Manieren der Guermantes nach. Durch ein undefinierbares Etwas aber wurden daraus gleichzeitig Manieren von Monsieur de Charlus.1 »Ich verlasse dich einen Augenblick«, sagte er auf dieser Abendgesellschaft, als Madame de Marsantes sich in einiger Entfernung von ihm befand. »Ich muß meine Mutter jetzt ein bißchen hofieren.«

Was jene Liebe anbetraf, von der er unaufhörlich redete, handelte es sich dabei nicht nur um die zu Charlie, wenn diese auch als einzige für ihn zählte. Welcher Art die Liebeserlebnisse eines Mannes sein mögen, immer täuscht man sich über die Zahl der Personen, mit denen er Affären unterhält, weil man fälschlich Freundschaften für Affären ansieht, woraus sich ein Additionsfehler ergibt, aber andererseits auch, weil man meint, eine offenkundige Affäre schließe eine weitere aus, was einer anderen Gattung von Irrtümern angehört. Zwei Personen können sagen: Ich kenne die Geliebte von X. und zwei verschiedene Namen nennen, ohne daß eine von ihnen sich irren müßte. Eine Frau, die man liebt, genügt selten allen unseren Bedürfnissen, und man betrügt sie eben mit einer, die man nicht liebt. Was nun die Art von Liebschaften angeht, wie Saint-Loup sie von Monsieur de Charlus geerbt hatte, macht ein Ehemann, der zu ihnen neigt, seine Frau meist glücklich. Das ist eine allgemeine Regel, von der die Guermantes abzuweichen geruhten, weil diejenigen von ihnen, die solche Neigungen hatten, den Glauben wecken wollten, sie hätten im Gegenteil eine Neigung für Frauen. Sie zeigten sich ungeniert mit der einen oder anderen und brachten ihre eigene dadurch zur Verzweiflung. Die Courvoisier stellten es klüger an. Der junge Vicomte von Courvoisier hielt sich für den einzigen sowohl auf Erden als auch seit Anbeginn der Welt, der sich durch einen Angehörigen seines eigenen Geschlechts in Versuchung geführt fühlte. Da er vermutete, diese Neigung sei satanischen Ursprungs, kämpfte er gegen sie an, heiratete eine entzückende Frau und machte ihr mehrere Kinder. Dann klärte ein Cousin ihn auf, daß diese Neigung ziemlich verbreitet sei, und ging in seiner Güte soweit, ihn in gewisse Häuser einzuführen, in denen er ihr frönen konnte. Monsieur de Courvoisier liebte seine Frau daraufhin um so mehr, verdoppelte seinen Fortpflanzungseifer, und er und sie wurden als das beste Ehepaar von ganz Paris zitiert. Von Saint-Loups Ehe hingegen sprach man nicht in diesem Ton, da Robert, anstatt sich mit der Homosexualität zu begnügen, seine Frau tödlich eifersüchtig machte, indem er ohne Vergnügen Mätressen unterhielt.

Möglicherweise stellte Morel, der ungewöhnlich dunkel war, für Saint-Loup eine so unerläßliche Ergänzung dar wie der Schatten für das Sonnenlicht. Man kann sich sehr gut in dieser so alten Familie einen vornehmen goldblonden, mit Klugheit und allen äußeren Vorteilen begabten Herrn denken, der in den Tiefen seines Inneren eine niemandem bekannte geheime Neigung zu Negern verbirgt.

Robert ließ im übrigen niemals die Unterhaltung jene Art von Liebe berühren, der er huldigte. Wenn ich ein Wort darüber sagte, reagierte er mit so betontem Desinteresse, daß er sogar sein Monokel fallen ließ: »Ach, weißt du, von diesen Dingen habe ich keine Ahnung. Wenn du darüber Aufklärung haben willst, mein Lieber, kann ich dir nur raten, dich anderswohin zu wenden. Ich bin Soldat, Punkt, Schluß. Im gleichen Maß, wie diese Dinge mich kaltlassen, verfolge ich mit brennender Spannung den Balkankrieg. Früher hat so etwas auch dich interessiert, ich meine die Etymologie der Schlachten. Ich sagte dir damals, man könne selbst unter völlig veränderten Bedingungen typische Schlachten wiedererkennen, zum Beispiel den großen Versuch einer Umgehung vom Flügel her wie in der Schlacht von Ulm. Nun, wenn auch die Balkankriege etwas ganz Besonderes sind, so ist doch Lüle-Burgas immer noch Ulm, eine Umgehung vom Flügel her.1 Das sind Themen, über die du dich mit mir unterhalten kannst. Aber in solchen Sachen, wie du sie da erwähnst, kenne ich mich so wenig aus wie in Sanskrit.«

Diese Themen, die Robert so entschieden ablehnte, schnitt dagegen Gilberte, wenn er abgereist war, gern im Gespräch mit mir an. Freilich dachte sie dabei nicht an ihren Mann, denn sie wußte nichts über ihn oder gab dies zumindest vor. Doch verbreitete sie sich gern darüber, soweit es andere betraf, sei es, daß sie darin indirekt eine Entschuldigung für Robert suchte, sei es, daß dieser, wie sein Onkel sowohl zu strengem Schweigen über diesen Gegenstand entschlossen als auch von dem Bedürfnis getrieben, sein Herz auszuschütten und über andere zu lästern, ihr in dieser Hinsicht vieles anvertraut hatte. Unter allen übrigen wurde auch Monsieur de Charlus nicht geschont; zweifellos konnte Robert, ohne ausdrücklich von Charlie zu Gilberte zu sprechen, in ihrer Gegenwart nicht unterlassen, ihr in der einen oder anderen Form zu wiederholen, was er von dem Geiger erfahren hatte. Dieser nun verfolgte seinen einstigen Wohltäter mit seinem Haß. Diese Unterhaltungen, die Gilberte sehr liebte, gestatteten mir, sie zu fragen, ob parallel dazu Albertine, deren Namen ich seinerzeit zum erstenmal von ihr gehört hatte, als sie sich im Unterricht angefreundet hatten, solche Neigungen gehegt habe.2 Gilberte vermochte mir keine Auskunft zu geben. Im übrigen interessierte es mich schon seit langem nicht mehr. Nur erkundigte ich mich weiterhin ganz automatisch danach, wie ein Greis, dem das Gedächtnis abhanden gekommen ist, von Zeit zu Zeit nach dem Sohn fragt, den er verloren hat.

Was merkwürdig ist, worüber ich mich aber hier nicht weiter verbreiten kann, ist die Beobachtung, bis zu welchem Ausmaß zu jener Zeit alle Personen, die Albertine geliebt hatte, alle diejenigen, die bei ihr alles erreicht hätten, was sie wollten, wenn nicht meine Freundschaft, so doch wenigstens die Bekanntschaft mit mir wünschten, erbaten, ja, ich wäre fast geneigt zu sagen: erbettelten. Es wäre nicht mehr nötig gewesen, Madame Bontemps Geld anzubieten, damit sie Albertine zu mir zurückschickte. Daß diese Wendung in meinem Leben sich vollzog, als sie mir nichts mehr nützte, betrübte mich tief, weniger wegen Albertine, die ich ohne Vergnügen empfangen hätte, selbst wenn sie mir nicht aus der Touraine, sondern aus dem Jenseits zurückgebracht worden wäre, sondern wegen einer jungen Frau, die ich liebte und vergebens zu Gesicht zu bekommen versuchte. Ich sagte mir, daß, wenn sie stürbe oder ich sie nicht mehr liebte, all jene, die mich ihr hätten näherbringen können, ihre Bedeutung für mich verlören. Vorläufig aber bemühte ich mich vergeblich, auf sie einzuwirken, denn die Erfahrung hatte mich nicht geheilt, obwohl sie mich doch hätte lehren sollen – wenn sie je etwas lehren würde –, daß das Lieben einer bösen Verzauberung gleicht, wie sie im Märchen vorkommt und gegen die man nichts vermag, bis der Zauber gebrochen ist.

»Das Buch, das ich da habe, handelt gerade von solchen Dingen«, sagte sie. (Ich erwähnte Robert gegenüber jenes rätselhafte »Wir hätten uns gut verstanden«. Er erklärte, er erinnere sich nicht daran und es habe auf jeden Fall keine spezielle Bedeutung.)1 »Es ist ein alter Balzac, den ich durchackere, um mich auf das Niveau meiner Onkel zu heben, La Fille aux yeux d’or.2 Es ist aber absurd, unwahrscheinlich, ein gräßlichschöner Traum. Überhaupt kann eine Frau vielleicht von einer anderen Frau in dieser Weise überwacht werden, niemals aber von einem Mann.« – »Da täuschen Sie sich, ich kannte eine Frau, die von einem Mann, der sie liebte, geradezu eingekerkert wurde; sie durfte niemanden sehen und nur in Begleitung zuverlässiger Betreuer das Haus verlassen.« – »Oh, wie entsetzlich muß das gerade Ihnen vorkommen, der Sie ein so gutes Herz haben! Erst kürzlich haben Robert und ich gesagt, daß Sie heiraten sollten. Ihre Frau würde Sie gesundpflegen, und Sie würden sie glücklich machen.« – »O nein, ich bin eine zu unverträgliche Natur.« – »Aber gehen Sie doch!« – »Ich versichere es Ihnen. Ich war ja einmal verlobt, konnte mich aber nicht entschließen, sie zu heiraten (sie selbst hat darauf verzichtet wegen meiner unentschlossenen und schikanösen Natur).« Ja, auf diese allzu einfache Weise beurteilte ich jetzt mein Abenteuer mit Albertine, jetzt, da ich dieses Abenteuer nur noch von außen sah.

Als ich mich wieder auf mein Zimmer begab, betrübte mich der Gedanke, daß ich kein einziges Mal die Kirche von Combray besucht hatte, die mich im Grün hinter dem violett durchleuchteten Fenster zu erwarten schien. Was soll’s, sagte ich mir, vielleicht in einem anderen Jahr, wenn ich bis dahin nicht gestorben bin, denn ich sah keinen anderen Hinderungsgrund als meinen eigenen Tod, da ich an den der Kirche nicht dachte, von der ich meinte, sie müsse mich noch lange überleben, so wie sie schon lang vor meiner Geburt bestanden hatte.

Eines Tages jedoch sprach ich zu Gilberte von Albertine und fragte sie, ob diese Frauen geliebt habe. »Aber nein, überhaupt nicht!« antwortete sie. »Früher haben Sie mir aber doch gesagt, sie habe sich schlecht benommen!« – »Habe ich das wirklich gesagt? Da müssen Sie sich täuschen. Jedenfalls, wenn ich es gesagt habe – aber sicher irren Sie sich! –, habe ich im Gegenteil Liebeleien mit jungen Männer gemeint. In ihrem damaligen Alter ging so etwas wahrscheinlich ohnedies nicht sehr weit.« Sagte Gilberte das, um mir gegenüber zu vertuschen, daß sie selbst, wie Albertine behauptet hatte, Frauen liebte und Albertine Anträge gemacht hatte? Oder wußte sie, daß ich (denn die anderen wissen oft über unser Leben besser Bescheid, als wir glauben) Albertine geliebt hatte, daß ich um ihretwillen eifersüchtig gewesen war, und meinte sie (denn die anderen mögen mehr über uns wissen, als wir denken, gehen aber manchmal auch zu weit darin und gelangen durch übertriebene Vermutungen zu Irrtümern, die wir bei ihnen zwar voraussetzen, doch aus der Hoffnung heraus, sie vermuteten überhaupt nichts), daß ich es noch immer sei, weshalb sie mir aus Güte die Binde vor die Augen legte, die man für Eifersüchtige immer bei der Hand hat? Auf alle Fälle folgten die Worte Gilbertes von der Behauptung des »schlechten Benehmens« Albertines bis zu dem Zeugnis ihres untadeligen Lebenswandels und ihrer guten Sitten dem umgekehrten Weg wie die Beteuerungen Albertines, die zuletzt fast etwas wie Beziehungen mit Gilberte eingestanden hatte. Albertine hatte mich damit ebenso in Erstaunen gesetzt wie Andrée mit dem, was sie mir gesagt hatte, denn zuerst, bevor ich sie näher kannte, hatte ich diese kleine Schar für verderbt gehalten und dann eingesehen, daß meine Vermutungen falsch waren, wie es ja oft vorkommt, daß man in einem Milieu, das man zu Unrecht für höchst verworfen hielt, einer ehrbaren jungen Person begegnet, die von den Realien der Liebe kaum etwas ahnt. Dann hatte ich den umgekehrten Weg genommen, das heißt meine anfänglichen Vermutungen wieder als wahr angesehen. Vielleicht aber hatte mir Albertine so etwas nur gesagt, um erfahrener zu wirken, als sie war, und mich in Paris durch einen Nimbus von Verderbtheit zu blenden, wie sie es das erstemal in Balbec mit dem der Tugend versucht hatte. Vielleicht auch ganz einfach, weil sie, als ich von Frauen sprach, die Frauen liebten, nicht völlig ahnungslos hatte erscheinen wollen, wie man eine wissende Miene annimmt, wenn in einem Gespräch die Rede auf Fourier oder auf Tobolsk1 kommt, auch wenn man gar nicht weiß, worum es sich dabei handelt. Sie hatte vielleicht in nächster Nähe von Mademoiselle Vinteuils Freundin und von Andrée gelebt, war aber doch von beiden, da diese annahmen, sie »gehöre nicht dazu«, durch eine hermetisch dichte Scheidewand getrennt geblieben und hatte sich – wie eine Frau, die einen belesenen Mann heiratet und daraufhin für ihre geistige Kultur etwas zu tun bemüht ist – diese Kenntnisse später nur um meinetwillen verschafft, indem sie die Fähigkeit erwarb, auf meine Fragen Antwort zu geben, bis sie begriff, daß diese meiner Eifersucht entsprangen, und sie den Rückzug antrat. Es sei denn, daß Gilberte mich belog. Ich kam auf den Gedanken, daß Robert sie vielleicht nur geheiratet hatte, weil er im Lauf eines Flirts, den er in die ihn interessierende Richtung gelenkt hatte, von ihr erfahren haben mochte, daß sie Frauen nicht abgeneigt war, und sich Genüsse erhoffte, die er jedoch offenbar zu Hause nicht fand, da er sie nun anderswo suchte. Keine dieser Hypothesen war absurd, denn bei Frauen wie der Tochter Odettes oder den Mädchen der kleinen Schar findet sich eine solche Anhäufung verschiedenartigster Neigungen, die vielleicht sogar gleichzeitig nebeneinander bestehen, daß der Verbindung mit einer Frau ohne weiteres die Liebe zu einem Mann folgen kann; so bleibt es denn offen, welche die wirkliche und vorherrschende Neigung ist.

Ich wollte mir von Gilberte La Fille aux yeux d’or nicht ausleihen, da sie das Buch gerade las. Sie borgte mir aber zum Einschlafen an diesem letzten Abend, den ich in ihrem Haus verbrachte, ein Werk, das in mir einigermaßen starke und recht gemischte Gefühle weckte, die allerdings nicht lange vorhalten sollten. Es war ein Band des unveröffentlichten Tagebuches der Brüder Goncourt.2 Als ich nun, bevor ich meine Kerze löschte, die Seiten las, die ich weiter unten wiedergebe, erschien mir meine fehlende Befähigung für den Schriftstellerberuf, die ich einst schon in der Gegend von Guermantes geahnt und bei diesem Aufenthalt, dessen letzten Abend ich jetzt verbrachte, bestätigt gefunden hatte – jenem Abend vor der Abreise glich, an dem man immer, aus der Starre nunmehr endender Gewohnheiten gelöst, sich selber klar zu beurteilen versucht –, weniger bedauerlich, als ob die Literatur keine tiefere Wahrheit enthüllte; und zugleich fand ich es traurig, daß die Literatur nicht war, wofür ich sie gehalten hatte. Andererseits aber schien mir der kränkelnde Zustand wiederum weniger bedauerlich, der mich in ein Sanatorium verbannen würde, wenn die schönen Dinge, von denen die Bücher sprechen, nicht schöner waren als das, was ich gesehen hatte. Doch durch einen bizarren Widerspruch bekam ich jetzt, als dieses Buch mir davon sprach, Lust, sie von neuem zu sehen. Ich lasse die Seiten folgen, die ich damals las, bis die Müdigkeit mir die Augen schloß:1

»In der Absicht, mich zum Diner in seinem Haus abzuholen, taucht vorgestern plötzlich Verdurin, der ehemalige Kritiker von La Revue2 , bei mir auf, der Verfasser jenes Buches über Whistler, in dem wahrhaftig Faktur und artistisches Kolorit dieses echten Amerikaners von Verdurin als Liebhaber aller gemalten Raffiniertheiten und Hübschheiten wiedergegeben sind. Und während ich mich ankleide, um mit ihm zu gehen, da beginnt er einen langen Bericht, den er stellenweise wie eine Beichte verängstigt herunterbetet, über den gleich nach seiner Heirat mit der ›Madeleine‹ Fromentins3 geleisteten Verzicht zu schreiben, einen Verzicht, der auf die Gewohnheit, Morphium zu nehmen, zurückzuführen sein soll und Verdurins Worten zufolge bewirkt haben soll, daß die meisten Habitués des Salons seiner Gattin gar nicht wüßten, daß der Gatte je geschrieben habe, und von Charles Blanc, Saint-Victor, Sainte-Beuve1 oder Burty wie von Individuen sprächen, denen er ihrer Meinung nach niemals das Wasser reichen könnte. ›Und dabei, sagen Sie selbst, Goncourt, Sie wissen doch, und Gautier wußte es auch, daß meine Salons ein anderes Niveau hatten als diese jämmerlichen Maîtres d’autrefois, die in der Familie meiner Frau als Meisterwerk gelten.‹ Dann, während die in der Nähe des Trocadéro vom letzten Aufflammen einer Glut erhellte Dämmerung herabsinkt, in der die Türme dieses Bauwerks ganz und gar den mit Johannisbeergelee überzogenen Türmen altmodischer Konditoren2 gleichen, geht die Plauderei im Wagen weiter, der uns zum Quai Conti bringen soll, wo das Privathaus liegt, von dem der Besitzer behauptet, es sei früher der Palast der venezianischen Gesandten gewesen; dort soll es ein Rauchzimmer geben, das Verdurin als einen Saal bezeichnet wie in Tausendundeiner Nacht,3 der aus einem berühmten Palazzo, dessen Namen ich vergessen habe, geholt worden sein soll, mit einer Brunneneinfassung, auf der eine Krönung der Heiligen Jungfrau dargestellt ist, von der Verdurin steif und fest behauptet, sie sei ein erstklassiger Sansovino4 und diene seinen Gästen als Ascheneimer für ihre Zigarrenasche. Und wahrhaftig habe ich bei unserer Ankunft in dem meergrünen, diffusen Mondlicht, das dem ähnelt, in das auf Bildern der klassischen Malerei Venedig eingebettet liegt, und in dem die als Silhouette erscheinende Kuppel des Institut wie die Salute auf den Bildern Guardis wirkt, ein wenig die Illusion, mich am Canal Grande zu befinden.5 Diese Illusion wird genährt durch die Bauart des Hauses, von dessen erstem Stock aus man den Quai nicht sieht, und durch die phantasiefördernde Behauptung des Hausherrn, der Name der Rue du Bac – der Teufel soll mich holen, wenn ich daran jemals gedacht habe – leite sich von der Bezeichnung der Fähre her, mit der die Nonnen früherer Zeiten, die Miramionen, zum Hochamt in Notre-Dame übergesetzt wurden.1 Ein ganzes Stadtviertel, in dem meine Kindheit umherstreifte, als meine Tante de Courmont2 dort wohnte, und das ich wiederzulieben beginne, als ich fast an das Haus der Verdurins anstoßend das Ladenschild des Petit Dunkerque3 wiederfinde, eines jener Lädchen, die sonst nur in Gestalt der Bleistift- und Frottis-Vignetten von Gabriel de Saint-Aubin4 fortleben und in denen das neugierig stöbernde achtzehnte Jahrhundert seine müßigen Augenblicke mit dem Erhandeln französischer und ausländischer Niedlichkeiten und all dessen zubrachte, was die Künste an Neuestem produzieren, wie eine Rechnung des Petit Dunkerque besagt, eine Rechnung, von der nur Verdurin und ich, glaube ich, noch je ein Exemplar besitzen, und die wahrhaftig eines jener flüchtigen Meisterwerke auf verziertem Papier darstellt, die das Zeitalter Ludwigs XV. für seine Rechnungen benutzte, mit einem Briefkopf in Form eines wogenden, mit Schiffen beladenen Meeres, eines Meeres mit Wellen, die wie eine Illustration zu der Fabel von der Auster und den Klägern5 in der Éditions des Fermiers Généraux aussehen. Die Hausherrin, die mir einen Platz an ihrer Seite geben wird, teilt mir liebenswürdig mit, daß sie als Tafelschmuck nur japanische Chrysanthemen gewählt, diese aber auf Vasen verteilt habe, die ganz erlesene Kunstwerke sind, deren eines aus Bronze gefertigt ist, auf der Blütenblätter aus rötlichem Kupfer den Eindruck wecken, als hätten sich lebendige Blumen entblättert. Anwesend sind Cottard, der Arzt, seine Frau, der polnische Bildhauer Viradobetski6 , der Sammler Swann, eine vornehme Dame aus Rußland (eine Fürstin mit einem auf ow7 endenden Namen, auf den ich mich nicht besinnen kann), und Cottard flüstert mir ins Ohr, daß sie es gewesen sei, die aus nächster Nähe auf Erzherzog Rudolf geschossen habe, und daß nach ihren Worten ich selbst in Galizien und im nördlichen Polen eine unerreichte Sonderstellung genösse,1 da dort ein junges Mädchen niemals die Hand einem Mann zum Ehebund reiche, solange es nicht wisse, ob der zukünftige Ehemann auch ein Bewunderer von La Faustin2 ist. ›Ihr könnt das nicht verstehen, ihr Westeuropäer‹, wirft abschließend die Fürstin ein, die mir, meiner Treu, den Eindruck eines gänzlich überlegenen Geistes macht, ›dieses eindringliche Erfassen der intimsten Bereiche der Frau durch den Schriftsteller.‹ Ein Mann mit ausrasiertem Kinn, ausrasierten Lippen und mit Koteletten wie ein Oberkellner gibt in herablassendem Ton Scherze von sich nach Art eines Gymnasiallehrers, der bei der Saint-Charlemagne-Feier3 mit den Klassenbesten Umgang hat: Brichot, der Universitätsprofessor. Als Verdurin meinen Namen nennt, findet er kein Wort, das unsere Bücher kennen würde, und da erwachen in mir Enttäuschung und Zorn, erregt durch jene Verschwörung, die die Sorbonne gegen uns ins Werk setzt, wobei sie den Widerspruch, das Feindselige eines gewollten Schweigens bis in das liebenswürdig gastliche Haus trägt, in dem ich gefeiert werde. Wir gehen zu Tisch und haben vor uns eine Flucht von Tellern, die nicht mehr und nicht weniger als wahre Meisterwerke des Porzellanmalers sind, dessen künstlerischem Geplauder die geschmeichelte Aufmerksamkeit des Kunstliebhabers bei einem delikaten Mahl am bereitwilligsten lauscht – Teller aus der Yen-Tsching-Epoche mit kapuzinerblumenfarbenen Tönungen am Rand, mit bläulichen Schattierungen und dem fülligen Blättergewirr der Wasserschwertlilie, in wahrlich dekoratistischer Weise von einem morgenrotfarbenen Flug von Fischreihern und Schnepfen durchquert, gekennzeichnet von ebenjenen Nuancen des Frühlichts, auf die täglich mein Blick beim Erwachen am Boulevard Montmorency1 fällt – Meißner Teller, die spielerischer wirken in ihrer graziösen Faktur und mit dem schläfrigen Welken ihrer schon fast violett getönten Rosen, dem dunkelrot gefransten Rand einer Tulpe, den Rokokoformen einer Nelke oder eines Vergißmeinnichts – Sèvres-Teller mit der feinen Guillochearbeit der weißen, goldlinierten Kannelierung oder auf dem cremefarben ausgesparten Grund des Porzellans tändelnd vom Relief eines goldenen Bandes zusammengehalten – und zuletzt ein komplettes Silbergeschirr aus Luciennes mit Myrtengirlanden, die die du Barry2 wiedererkennen würde. Was aber vielleicht eine ebenso große Seltenheit ist, das ist die wirklich hervorragende Qualität der Dinge, die darin aufgetragen werden3 , aufs sublimste zubereitete Köstlichkeiten, wie sie die Pariser – man darf das laut sagen – auch bei den größten Festessen einem niemals bieten und die mich an gewisse gefüllte Kalbsschnitzel von Jean d’Heurs4 erinnern. Selbst die Gänseleber hat keinerlei Ähnlichkeit mit der faden Mousse, die man uns gewöhnlich unter diesem Namen serviert; und ich kenne nicht viele Orte, wo ein schlichter Kartoffelsalat aus Kartoffeln zubereitet wird, die die Festigkeit japanischer Elfenbeinkugeln mit der Textur jener Elfenbeinlöffelchen vereinen, mit denen die Chinesinnen Wasser auf den Fisch gießen, den sie gefangen haben. In dem venezianischen Glas, das ich vor mir habe, entsteht ein reiches Juwelengefunkel aus Rottönen, hineingezaubert durch einen ganz außergewöhnlichen Léoville,5 der bei der Versteigerung der Bestände von Monsieur Montalivet erworben wurde; eine Weide aber für das Auge und – ich stehe nicht an, es zu sagen – für die Einbildungskraft des Körperteils, den man früher als das Maul bezeichnet hat, ist es, wenn ein Glattbutt hereingetragen wird, der nichts von den etwas unfrischen Glattbutten an sich hat, die selbst auf den luxuriösesten Tafeln erscheinen und denen sich die Etappen der langen Reise in Form der Gräten in die Haut eingezeichnet haben; ein Glattbutt, der zudem nicht mit dem klebrigen Brei serviert wird, den unter dem Namen einer weißen Sauce so viele Küchenchefs produzieren, sondern in Begleitung einer echten weißen Sauce, die mit Butter zu fünf Francs das Pfund zubereitet ist; wenn dieser Glattbutt noch dazu auf einer herrlichen Tsching-Hun-Platte hereingetragen wird, auf der in Purpurstreifen das Abendrot sich über ein Meer ergießt, vor dem in drolliger Prozession eine Kette von Langusten einherschwimmt, deren rauh gekörnte Oberfläche so körperhaft wiedergegeben ist, als habe man die Schalen lebendiger Tiere als Formen benutzt, einer Platte, deren Handgriff die Angel eines kleinen Chinesen mit einem Fisch daran bildet, den der bläuliche Silberglanz seines Bauches zu einem wahren Wunderwerk perlmutterschimmernden Farbenspiels macht. Als ich Verdurin gegenüber bemerke, welch erlesenes Vergnügen ihm eine so raffinierte Kost in solchen Sammlerobjekten machen müsse, wie kein Fürst sie heutigentags in seinen Vitrinen besitzt, wirft die Hausherrin melancholisch ein: ›Man sieht, daß Sie ihn nicht kennen!‹ Und dann schildert sie mir ihren Gatten als einen kauzigen Besessenen, der all diesen Niedlichkeiten gleichgültig gegenüberstehe: ›Ja, ein Besessener‹, wiederholt sie, ›ja, genau das, ein Mensch, der eher Lust auf eine Flasche Apfelwein hätte, wie man ihn in der etwas derben Kühle eines normannischen Bauernhofs trinkt.‹ Und diese bezaubernde Frau, deren Redeweise liebevoll das Kolorit einer Gegend aufnimmt, erzählt uns voll überschwenglicher Begeisterung von jener Normandie, in der sie gewohnt haben, einer Normandie, die ihren Schilderungen zufolge eine unermeßlich große englische Parkanlage ist, mit dem Wohlgeruch ihrer Hochstammgruppen à la Lawrence1 , dem kryptomerienfarbenen Samt ihrer natürlichen Rasenflächen in der porzellanenen Einfassung rosenroter Hortensien, dem zartknittrigen Blütengewirr schwefelfarbener Rosen, die sich über die Haustür eines Bauernhauses neigen, auf der die Einlegearbeit zweier ineinander verschlungener Birnbäume ein überaus ornamentales Wahrzeichen bildet, und die anmutige Neigung eines Blütenzweigs an einem bronzenen Armleuchter von Gouthière1 ins Gedächtnis rufen, einer Normandie, von der die Pariser Feriengäste überhaupt nichts ahnen und die von den Schranken jeder ihrer Einfriedungen beschützt wird, Schranken, welche sämtlich zu öffnen die Verdurins, wie sie mir gestehen, nicht unterlassen haben. Gegen Abend, im schläfrigen Erlöschen aller Farben, wenn ein Lichtschein einzig noch von dem in molkebläulichen Tönen gerinnenden Meer herrührt (›O nein, es hat nichts von dem Meer, das Sie kennen‹, beteuert leidenschaftlich meine Nachbarin, als ich einwerfe, Flaubert habe meinen Bruder und mich in Trouville herumgeführt, ›überhaupt nichts, nein, nichts, Sie müssen mit mir hinfahren, sonst bekommen Sie niemals einen Eindruck davon‹), traten sie den Heimweg durch Rhododendronbüsche an, die mit ihren wie aus rosenfarbenem Tüll gefalteten Blüten wahre Wälder bildeten, völlig benommen von dem Geruch der Sardinenräuchereien, von dem ihr Mann furchtbare Asthmaanfälle bekam – ›Ja‹, beteuerte sie nachdrücklich, ›es ist, wie ich Ihnen sage, wahre Asthmaanfälle‹. Im darauffolgenden Sommer fuhren sie gleichwohl wieder hin und installierten eine ganze Künstlerkolonie in einem herrlichen mittelalterlichen Domizil in Gestalt eines alten Klosters, das sie für ein Butterbrot gemietet hatten. Und ich muß schon sagen, wenn ich diese Frau erzählen höre, die durch so viele wahrhaft vornehme Milieus hindurchgegangen ist und gleichwohl etwas von der Unverbrauchtheit der Rede einer Frau aus dem Volk bewahrt hat, dank der uns die Dinge in der Färbung erscheinen, die unsere Phantasie ihnen verleiht, läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn sie mir das Leben schildert, das sie dort geführt haben, wie jeder in seiner Zelle arbeitete, und in dem Salon, der so groß war, daß er zwei Kamine besaß, alle vor dem Mittagessen zu einer Unterhaltung wirklich erlesenen Stils zusammenkamen, die mit Gesellschaftsspielen abwechselte, was mich an die Art des Daseins erinnerte, die Diderots meisterhafte Briefe an Mademoiselle Volland1 vor uns erstehen lassen. Dann, nach dem Mittagessen, begab sich alles ins Freie, selbst wenn es gehagelt hatte, sobald ein Sonnenstrahl sich zeigte und Regenfeuchte mit lichtem Schimmer die Knorren einer prächtigen Allee hundertjähriger Buchen umgab, die vor dem Hintergrund des Parkgitters, von allerlei Strauchwerk durchsetzt, an dessen Gezweig blütenknospengleich Regentropfen hingen, die Schönheit des Pflanzlichen verkörperten, die dem achtzehnten Jahrhundert so teuer war. Man blieb stehen, um das von der Kühle beschwingte zarte Gezwitscher eines Dompfaffen anzuhören, der in der Blütenkrone einer weißen Rose wie in einer reizenden winzigen Badewanne aus Nymphenburger Porzellan plätscherte. Als ich zu Madame Verdurin etwas über die von Elstir in so zarten Pastelltönen wiedergegebenen Landschaften und Blumen jener Gegenden sage, wirft sie zornig den Kopf zurück: ›Aber erst durch mich hat er das alles kennengelernt, jawohl, all die kuriosen Winkel, all diese Motive; ich habe es ihm aber ins Gesicht gesagt, als er uns verließ, nicht wahr, Auguste2 ? Jedes einzelne Motiv, jawohl! Die Gegenstände kannte er schon, das muß man ihm gerechterweise zubilligen. Aber Blumen hatte er noch nie gesehen, er konnte eine Althaea nicht von einer Stockrose3 unterscheiden. Ich habe ihn erst gelehrt – Sie werden es kaum glauben –, den Jasmin zu erkennen.‹ Man muß gestehen, daß es merkwürdig zu denken ist, der Blumenmaler, den die Kunstkritiker uns heute als den herausragenden, ja als sogar Fantin-Latour überlegen preisen, hätte ohne diese Frau neben mir möglicherweise niemals einen Jasminzweig wiedergeben können. ›Ja, mein Ehrenwort, Jasmin! Alle Rosen, die er gemalt hat, hat er entweder bei mir gemalt, oder ich habe sie ihm gebracht!

Bei uns hieß er immer nur Monsieur Tiche121