Marcel Proust

Die Gefangene
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Band 5

Suhrkamp

Schon frühmorgens, den Kopf noch der Wand zugekehrt und ohne auch nur die Tönung des Lichtstreifens über den großen Vorhängen am Fenster wahrgenommen zu haben, wußte ich, wie das Wetter war. Die ersten Straßengeräusche hatten es mir mitgeteilt, je nachdem ob sie von Feuchtigkeit gedämpft und gebrochen zu mir drangen oder wie schwirrende Pfeile im hallenden, leeren Raum eines weiten, eisigen und klaren Morgens; schon beim Rollen der ersten Straßenbahn hatte ich gehört, ob sie im Regen fröstelte oder aufbrach in azurne Bläue. Vielleicht aber war diesen Geräuschen eine schnellere, durchdringendere Emanation vorausgeeilt, war durch meinen Schlaf geglitten und erfüllte ihn mit dem Trübsinn, der den Schnee ankündigt, oder ließ ein gewisses intermittierendes kleines Wesen zum Ruhm der Sonne so harmonische Hymnen anstimmen, daß diese mir, der ich noch im Schlaf bereits zu lächeln begann und dessen Lider sich auf blendendes Licht gefaßt machten, zuletzt ein ohrenbetäubendes Erwachen bescherten, ganz in Musik.1 Überhaupt nahm ich in jener Zeit das äußere Leben vor allem von meinem Zimmer aus wahr. Ich weiß, daß Bloch erzählte, er habe, wenn er mich abends besuchen kam, Töne wie von einer Unterhaltung gehört; da meine Mutter in Combray war und er nie einen Menschen in meinem Zimmer antraf, kam er zu dem Schluß, ich spreche zu mir selbst. Als er viel später erfuhr, daß Albertine damals bei mir wohnte, und begriff, daß ich sie vor aller Welt verborgen hatte, erklärte er, jetzt endlich begreife er, weshalb ich zu jener Zeit meines Lebens nie hatte ausgehen wollen. Er täuschte sich. Dies allerdings war äußerst verzeihlich, denn die Wirklichkeit gehorcht zwar den Gesetzen der Notwendigkeit, doch ist sie nicht völlig voraussehbar, und jene, die aus dem Leben eines anderen ein an sich zutreffendes Detail erfahren, ziehen auf der Stelle Folgerungen, die keine sind, und sehen in der neuentdeckten Tatsache die Erklärung für Dinge, die in gar keiner Beziehung zu ihr stehen.

Wenn ich mir jetzt vorstelle, wie meine Freundin seit unserer Rückkehr von Balbec nach Paris unter dem gleichen Dach mit mir lebte, wie sie den Gedanken an eine Seereise aufgegeben hatte,1 wie ihr Zimmer zwanzig Schritte von dem meinen entfernt lag, im Arbeitskabinett meines Vaters mit den Wandbespannungen, und wie sie jeden Abend, sehr spät, bevor sie mich verließ, ihre Zunge in meinen Mund gleiten ließ, wie ein tägliches Brot, eine stärkende Nahrung, beinahe mit der Weihe eines jeden Leibes, dem die um seinetwillen erduldeten Leiden schließlich eine Art von Sanftmut verliehen haben, so denke ich auch alsbald zum Vergleich nicht etwa an jene Nacht, die Rittmeister von Borodino mir in der Kaserne zu verbringen gestattete – eine Gunst, die alles in allem einem nur vorübergehenden Unbehagen abhalf –, sondern an jene andere, in der mein Vater Mama geheißen hatte, in dem kleinen Bett neben dem meinen zu schlafen.2 Wenn das Leben uns ein weiteres Mal von einer Seelenqual befreien will, die unvermeidbar schien, wie verschieden, ja gegensätzlich sind die Bedingungen, unter denen das geschieht, so daß es beinahe einem offenen Sakrileg gleichkommt festzustellen, es handle sich um die gleiche Art Gnadenbeweis!

Wenn Albertine von Françoise erfahren hatte, daß ich im Dunkel meines Zimmers mit den noch geschlossenen Vorhängen nicht schlief, genierte sie sich nicht, bei der Morgentoilette in ihrem Bad etwas Lärm zu machen. Anstatt eine spätere Stunde abzuwarten, begab ich mich dann oft in ein Badezimmer, das neben dem ihren lag und ein Ort voller Annehmlichkeiten war. Früher gab ein Theaterdirektor Hunderttausende von Francs aus, um den Thron einer Diva, die eine Kaiserin spielte, mit echten Smaragden zu bestirnen. Von den Ballets Russes1 haben wir gelernt, daß einfache, aber mit Bedacht eingesetzte Lichteffekte ebenso prächtige und obendrein noch mannigfaltigere Juwelen hervorbringen. Trotzdem ist diese bereits immateriellere Ausstattung noch immer nicht so anmutig wie die, wodurch um acht Uhr morgens die Sonne jene andere ersetzte, die wir gewöhnlich erblickten, wenn wir uns erst um die Mittagsstunde erhoben. Damit uns von draußen niemand sehen konnte, waren die Fenster unserer beiden Badezimmer nicht glatt, sondern von künstlichem und aus der Mode gekommenem Rauhreif gekörnt. Mit einemmal ließ die Sonne dann dieses Glasgekräusel in gelbem Licht erstrahlen, vergoldete es und legte in mir behutsam einen jungen Mann aus früheren Tagen wieder frei, den die Gewohnheit lange verborgen hatte, wobei sie mich in einen Erinnerungsrausch versetzte, als befände ich mich mitten in der Natur vor golddurchleuchtetem Laubgewoge, in dem nicht einmal ein Vogel fehlte, hörte ich doch Albertine ohne Unterlaß pfeifen:

Les douleurs sont des folles,

Et qui les écoute est encore plus fou.2

Töricht sind die Schmerzen,

Törichter ist, wer auf sie hört.

Ich liebte sie zu sehr, um nicht über ihren schlechten musikalischen Geschmack vergnügt zu lächeln. Dieses Chanson hatte übrigens Madame Bontemps im vorigen Sommer in Entzücken versetzt; bald aber hörte sie sagen, es sei albern, so daß sie es, anstatt Albertine zu bitten, es vorzusingen, wenn sie Gäste hatte, durch folgendes ersetzte:

Une chanson d’adieu sort des sources troublées,1

Aus trüber Quelle fließt ein Abschiedslied,

was seinerseits zu einer »alten Schnulze von Massenet, mit der die Kleine uns die Ohren vollbläst« wurde.

Eine Wolke zog vorüber, sie verdunkelte die Sonne, ich sah den schamhaften, blätterwebenden Glasvorhang erlöschen und in farblose Grisaille zurücksinken.2

Die Trennwand zwischen unseren beiden Badezimmern (das von Albertine, das ganz dem meinen glich, war ein Bad, das Mama, da sie noch ein anderes im entgegengesetzten Teil der Wohnung besaß, nie benutzt hatte, um mich nicht durch Geräusche zu stören) war so dünn, daß wir, während wir uns jeder in dem seinen wuschen, miteinander sprechen und unsere Unterhaltung, die nur vom Geräusch des Wassers unterbrochen wurde, in jener Intimität fortsetzen konnten, die im Hotel durch die Winzigkeit der Zimmer und die Nähe der Räume häufig ermöglicht wird, in Paris jedoch ungemein selten ist.

Andere Male blieb ich liegen und träumte, solange ich wollte, denn ich hatte angeordnet, daß niemand in mein Zimmer kommen dürfe, bevor ich geläutet hatte; das aber war, weil die elektrische Klingel über meinem Bett recht unbequem angebracht war, so umständlich, daß ich oft, überdrüssig, nach ihr zu tasten, und ganz zufrieden, allein zu sein, fast wieder eingeschlummert noch länger liegenblieb. Dabei war ich nicht etwa gleichgültig gegen Albertines Aufenthalt bei uns. Durch ihre Trennung von ihren Freundinnen blieben meinem Herzen neue Leiden erspart. Dank ihrer verharrte es in einem Zustand der Ruhe, einer fast gänzlichen Reglosigkeit, mit deren Hilfe es sicher heilen würde. Der Friede, den meine Freundin mir gab, bestand aber eigentlich in Beschwichtigung des Leidens und nicht in Freude. Gewiß erlaubte er mir, davon wieder manche Formen zu kosten, die der allzu lebhafte Schmerz mir verschlossen hatte, aber weit entfernt, sie Albertine zu verdanken – die ich übrigens kaum noch hübsch fand, mit der ich mich langweilte und die ich im Grunde nicht mehr liebte, wie ich deutlich empfand –, genoß ich diese Freuden, gerade wenn Albertine nicht bei mir war. Daher ließ ich sie auch, wenn ich meinen Morgen begann, nicht auf der Stelle rufen, zumal wenn schönes Wetter war. In dem Bewußtsein, daß jenes mich mehr beglückte als sie, blieb ich für ein Weilchen allein mit dem kleinen Wesen in meinem Inneren, das singend die Sonne begrüßt und von dem ich schon gesprochen habe. Von den verschiedenen Personen, die unser Ich ausmachen, sind nicht jene die wesentlichsten, die man zunächst gewahrt. Wenn einst die Krankheit sie in mir eine nach der anderen zu Boden geworfen haben wird, werden zwei oder drei übrigbleiben, die zählebiger sind als die anderen, insbesondere ein gewisser Philosoph, der nur dann glücklich ist, wenn er zwischen zwei Werken oder zwischen zwei Empfindungen etwas Gemeinsames entdeckt hat.1 Doch der letzte von allen wird wohl, wie ich mir manchmal gedacht habe, jenes kleine Männchen sein, das einem anderen sehr ähnlich sieht, das der Optiker von Combray in seinem Schaufenster plaziert hatte, um das jeweilige Wetter anzuzeigen, und das seine Kapuze abzog, sobald die Sonne schien, sie aber wieder aufsetzte, wenn es Regen gab. Ich weiß nur zu gut, wie egoistisch dieses Männchen ist; ich kann an einem Erstickungsanfall leiden, den nur das Einsetzen von Regen beruhigen würde, ihm ist das völlig gleich: Bei den ersten ungeduldig erwarteten Tropfen verliert er seine Heiterkeit und zieht übellaunig die Kapuze über den Kopf. Andererseits glaube ich, daß das Barometermännchen in meiner Todesstunde, wenn alle anderen »Ichs« nicht mehr am Leben sind, beim ersten Sonnenstrahl, während ich meine letzten Seufzer aushauche, sich äußerst munter fühlen, die Kapuze ablegen und ausrufen wird: Ah! Endlich wird es schön!1

Ich schellte nach Françoise. Ich schlug den Figaro auf. Ich suchte darin vergeblich einen Artikel – zumindest sollte es einer sein –, den ich an diese Zeitung geschickt hatte und der, nur in etwas zurechtgestutzter Form, den vor kurzem wiedergefundenen Seiten entsprach, die ich einst im Wagen des Doktors Percepied beim Anblick der Kirchtürme von Martinville verfaßt hatte.2 Dann las ich Mamas Brief. Sie fand es seltsam, ja ungehörig, daß ein junges Mädchen allein mit mir zusammen wohne. Am ersten Tag, in dem Augenblick, als wir Balbec verließen, als sie mich so unglücklich sah und sich Sorgen machte, mich allein zu lassen, war sie vielleicht froh gewesen, als sie erfuhr, daß Albertine mit uns abreisen würde, und sah, daß neben unseren Koffern ( jene Koffer, mit denen ich weinend die Nacht im Hotel von Balbec verbracht hatte) diejenigen Albertines, schmale schwarze Behältnisse, die mir die Form von Särgen zu haben schienen, von denen ich nicht wußte, ob sie dem Haus Leben oder Tod bringen würden, auf die Blindschleiche geladen wurden. Diese Frage hatte ich mir allerdings gar nicht gestellt, denn ich war ganz der Freude hingegeben, nach dem Grauen, das ich bei dem Gedanken empfunden hatte, in Balbec bleiben zu müssen, an diesem strahlenden Morgen Albertine mit mir hinwegzuführen. Wenn Mama diesem Vorhaben zunächst nicht feindselig gegenübergestanden hatte (sie sprach mit meiner Freundin so einfühlsam wie eine Mutter, deren Sohn schwer verwundet wurde und die der jungen Geliebten Dank weiß, daß sie ihn mit Aufopferung pflegt), tat sie es denn doch, seitdem es nur allzu wirklich geworden war und der Aufenthalt des jungen Mädchens bei uns sich in die Länge zog, ein Aufenthalt noch dazu in Abwesenheit meiner Eltern. Ich kann nicht sagen, daß Mama mich diese Feindseligkeit jemals merken ließ. Wie früher, wenn sie mir nicht länger meine Nervosität, meine Trägheit vorzuwerfen wagte, hegte sie jetzt Bedenken – die ich vielleicht im Augenblick nicht ganz als solche erkannte oder erkennen wollte –, durch gewisse Vorbehalte, die sie in bezug auf das junge Mädchen machte, mit dem ich mich, wie ich ihr gesagt hatte, verloben wollte, mein Leben zu verdüstern, meine künftige Ergebenheit meiner Frau gegenüber zu mindern und vielleicht für die Zeit, da sie selbst nicht mehr sein würde, Reuegefühle darüber in mir zu erzeugen, daß ich sie durch meine Heirat mit Albertine betrübt hätte. Mama zog vor, eine Wahl scheinbar zu billigen, von der mich abzubringen sie sich nicht vorstellen konnte. Doch alle, die sie zu jener Zeit sahen, haben mir gesagt, daß zu ihrem Schmerz über den Verlust ihrer Mutter eine unaufhörliche Sorge hinzugetreten sei. Diese Anspannung des Geistes, diese innere Auseinandersetzung versetzten Mamas Schläfen in ein ständiges Glühen; sie öffnete unaufhörlich die Fenster, um sich abzukühlen. Eine Entscheidung jedoch wagte sie nicht zu treffen, aus Furcht, mich in einem ungünstigen Sinne zu »beeinflussen« oder das zu beeinträchtigen, was sie für mein Glück hielt. Sie konnte sich nicht einmal dazu entschließen, mich daran zu hindern, daß ich Albertine einstweilen im Hause behielt. Sie wollte sich nicht strenger zeigen als Madame Bontemps, die die Sache ja in erster Linie anging und die offenbar nichts dagegen hatte, was meine Mutter sehr verwunderte. Auf alle Fälle bedauerte sie, daß sie uns beide hatte allein lassen müssen, daß sie gerade in jenem Augenblick nach Combray gereist war, wo sie möglicherweise viele Monate würde verbringen müssen (tatsächlich blieb sie so lange), in denen meine Großtante sie Tag und Nacht ständig nötig hatte. Alles wurde ihr dort übrigens leicht gemacht dank der Güte, der Ergebenheit von Legrandin, der keine Mühe scheute und von Woche zu Woche seine Rückkehr nach Paris aufschob, ohne meine Tante eigentlich näher zu kennen, zunächst einfach weil sie eine Freundin seiner Mutter gewesen war, dann aber auch, weil er fühlte, daß die todgeweihte Kranke an seiner Fürsorge hing und es nicht ohne ihn würde aushalten können. Der Snobismus ist zwar eine ernste Krankheit der Seele, aber örtlich begrenzt und kann sie nicht ganz und gar zerstören. Ich hingegen war – im Gegensatz zu meiner Mutter – um so glücklicher über ihren Aufenthalt in Combray, als ich sonst gefürchtet hätte, sie könne, da ich Albertine nicht wohl sagen konnte, sie möge darüber schweigen, deren Freundschaft mit Mademoiselle Vinteuil entdecken. In den Augen meiner Mutter wäre das ein unumstößliches Hindernis nicht nur für eine Heirat gewesen, von der noch nicht endgültig zu meiner Freundin zu sprechen sie mich übrigens gebeten hatte und an die zu denken mir immer unerträglicher war, sondern sogar dafür, daß diese einige Zeit in unserem Haus verbrachte. Abgesehen von einem so schwerwiegenden Grund, von dem sie jedoch nichts wußte, war meine Mutter durch die Doppelwirkung der erhebenden und befreienden Nachahmung meiner Großmutter, die als Bewunderin von George Sand Tugend einzig im Adel des Herzens gesehen hatte, und andererseits meines eigenen verderblichen Einflusses jetzt nachsichtig Frauen gegenüber, deren Verhalten sie früher streng getadelt hätte – oder sogar heute noch tadelte, sofern sie zu dem Kreis ihrer bürgerlichen Freundinnen aus Paris oder Combray gehörten –, deren große Seele ich ihr aber rühmte und denen sie viel verzieh, weil sie mich so gern hatten. Trotz allem und ganz abgesehen von der Frage, was sich gehört, glaube ich, daß Albertine Mama unerträglich gewesen wäre, da diese von Combray, von Tante Léonie, von ihrer ganzen weiblichen Verwandtschaft her gewisse Vorstellungen von Ordnung übernommen und bewahrt hatte, von denen meiner Freundin die elementarsten Grundbegriffe fehlten. Sie hätte nie eine Tür geschlossen, umgekehrt aber sich ebensowenig gescheut, durch eine offenstehende einzutreten wie ein Hund oder eine Katze. Ihr etwas unbequemer Charme bestand darin, im Hause nicht wie ein junges Mädchen, sondern eher wie ein Haustier anwesend zu sein, das in ein Zimmer eintritt und es wieder verläßt, sich überall befindet, wo man es nicht erwartet, und sich – mir gab das ein tiefes Gefühl von Ruhe – neben mich auf mein Bett warf und sich dort einen Platz aussuchte, von dem sie sich nicht mehr rührte, ohne dabei wie sonst ein menschliches Wesen zu stören. Dennoch paßte sie sich schließlich den Stunden an, in denen ich schlief, nicht nur, insofern sie nicht mehr in mein Zimmer einzudringen versuchte, sondern auch, indem sie keinen Lärm mehr machte, bevor ich geläutet hatte. Françoise war diejenige, die ihr diese Regeln einimpfte. Sie gehörte zu jenen Bedienten aus Combray, die den Rang ihres Herrn kennen und wissen, daß es ihre Aufgabe ist, ihm ungeschmälert zukommen zu lassen, was ihm ihrer Meinung nach gebührt. Wenn ein fremder Besucher Françoise ein Trinkgeld gab, das sie mit dem Küchenmädchen teilen sollte, so hatte der Spender kaum seine Börse wieder eingesteckt, als Françoise ebenso geschwind wie diskret und energisch dem Küchenmädchen Bescheid gesagt hatte, die denn auch nicht mit undeutlich stammelnden Worten, sondern freimütig und mit lauter Stimme sich bedankte, wie Françoise es ihr beigebracht hatte. Der Pfarrer von Combray war kein Genie, aber auch er wußte, was sich schickte. Unter seiner geistlichen Leitung war die Tochter von protestantischen Verwandten Madame Sazerats zum Katholizismus übergetreten, und die Familie hatte sich ihm gegenüber mustergültig betragen. Es war die Rede von einer Heirat mit einem Adligen aus Méséglise. Die Eltern des jungen Mannes schrieben, um Erkundigungen einzuziehen, einen ziemlich hochmütigen Brief, in dem die protestantische Herkunft mit Verachtung erwähnt wurde. Der Pfarrer von Combray antwortete in einem solchen Ton, daß der Adlige aus Méséglise zu Kreuze kroch und einen zweiten, sehr anderslautenden Brief verfaßte, in dem er als besonders hohe Gunst erbat, sich mit dem jungen Mädchen verbinden zu dürfen.

Für Françoise lag kein Verdienst darin, bei Albertine Rücksicht auf meinen Schlaf zu erwirken. Sie war durchdrungen von der Tradition. Durch ihr Schweigen oder ihre unmißverständliche Antwort, als Albertine einmal ganz harmlos zu mir hineingehen oder mich um etwas bitten lassen wollte, begriff diese verblüfft, daß sie sich in einer seltsamen Welt mit unbekannten Bräuchen befand, die, was die Lebensform betraf, von Gesetzen gelenkt wurde, an deren Überschreitung nicht zu denken war. Sie hatte schon einen ersten Vorgeschmack davon in Balbec bekommen, aber in Paris gab sie jeden Widerstand auf und wartete Morgen für Morgen geduldig mein Schellen ab, bis sie irgendein Geräusch zu machen wagte.

Die Erziehung, die Françoise ihr zuteil werden ließ, war im übrigen heilsam auch für unsere alte Dienerin selbst, denn sie ließ allmählich das Gejammer verstummen, das seit unserer Rückkehr aus Balbec unablässig aus ihrem Munde kam. In dem Augenblick nämlich, als wir in den Zug stiegen, hatte sie bemerkt, daß sie vergessen hatte, sich im Hotel von der »Gouvernante« zu verabschieden, einer schnurrbärtigen Person, die den Etagendienst überwachte und Françoise kaum kannte, aber vergleichsweise höflich zu ihr gewesen war. Françoise wollte unbedingt umkehren, aus dem Zug steigen, ins Hotel zurückeilen, sich von der Gouvernante verabschieden und erst am folgenden Tag nachkommen. Die Vernunft und vor allem mein plötzliches Grauen vor Balbec hinderten mich daran, ihr diese Gunst zu gewähren, aber sie litt daraufhin an krankhafter, fiebriger schlechter Laune, für deren Verschwinden der Luftwechsel nicht genügt hatte, sondern die auch in Paris weiter anhielt. Denn nach dem Sittenkodex von Françoise, wie ihn die Bas-Reliefs von Saint-André-des-Champs darstellen, ist es zwar nicht verboten, einem Feind den Tod zu wünschen, ja ihn ihm zu geben, aber furchtbar ist, nicht zu tun, was sich gehört, eine Höflichkeit nicht zu erwidern, sich, bevor man abreist, wie eine wahrhaft ungehobelte Person nicht von einer Gouvernante zu verabschieden, der eine Etage untersteht. Während der ganzen Fahrt hatte die immer wieder neu in ihr aufsteigende Erinnerung, daß sie dieser Frau nicht Lebewohl gesagt hatte, im Gesicht von Françoise eine beängstigende Röte heraufbeschworen. Und wenn sie bis Paris Essen und Trinken ablehnte, so vielleicht mehr noch deswegen, weil diese Erinnerung ihr wahrhaftig »auf den Magen drückte« ( jede gesellschaftliche Klasse hat ihre eigene Pathologie), als um uns zu bestrafen.

Zu den Ursachen dafür, daß Mama mir alle Tage einen Brief schickte, und zwar einen Brief, in dem niemals ein Ausspruch von Madame de Sévigné fehlte, gehörte das Andenken an meine Großmutter. Mama schrieb mir zum Beispiel: »Madame Sazerat hat uns zu einem jener kleinen Essen eingeladen, deren Geheimnis sie allein besitzt und die, wie die arme liebe Großmama mit den Worten der Madame de Sévigné gesagt hätte, uns der Einsamkeit entreißen, ohne uns durch Gesellschaft dafür zu entschädigen.«1 In meinen ersten Antworten besaß ich die Torheit, an Mama zu schreiben: »An diesen Zitaten würde Deine Mutter Dich auf der Stelle erkennen.« Das trug mir drei Tage später die folgende Bemerkung ein: »Mein liebes Kind, wenn Du mich an meine Mutter erinnern willst, ist der Hinweis auf Madame de Sévigné nicht sehr angebracht. Sie hätte Dir geantwortet, wie sie es Madame de Grignan gegenüber tat: ›Bedeutet sie Ihnen denn nichts? Ich wähnte Euch verwandt.‹«2

Indessen hörte ich die Schritte meiner Freundin, die aus ihrem Zimmer trat oder sich dorthin begab. Ich schellte, denn es war die Stunde, zu der Andrée mit dem von den Verdurins zur Verfügung gestellten Chauffeur Albertine abholen kam. Zu dieser hatte ich von der entfernten Möglichkeit einer Heirat zwischen uns gesprochen, aber ich hatte es niemals in aller Form getan; sie selbst hatte, als ich sagte: »Ich weiß nicht, aber es wäre vielleicht möglich«, voller Zurückhaltung mit einem schwermütigen Lächeln den Kopf geschüttelt und gemeint: »Aber nein, das wäre es nicht«, was heißen sollte: »Ich bin zu arm.«. Handelte es sich um Zukunftspläne, bemerkte ich auch weiterhin: »Es ist alles noch ganz unbestimmt«, doch was die Gegenwart betraf, tat ich alles, um sie zu zerstreuen und ihr das Leben angenehm zu gestalten, wobei ich unbewußt vielleicht auch in ihr den Wunsch wachzurufen suchte, mich zu heiraten. Sie mußte selbst über soviel Luxus lachen. »Was für ein Gesicht würde Andrées Mutter machen, wenn sie mich als reiche Dame sähe, wie sie selbst eine ist, das, was sie eine Dame nennt, die ›Pferde, Wagen und Gemälde‹ besitzt. Wie? Ich habe Ihnen niemals erzählt, daß sie das immer sagt? Oh! Sie ist ein Original! Es wundert mich nur, daß sie Gemälde auf die gleiche Stufe wie Wagen und Pferde stellt.«

Später wird man nämlich sehen, daß Albertine ungeachtet törichter Sprachgewohnheiten, die sie beibehielt, sich doch erstaunlich entwickelt hatte, was mir völlig gleichgültig war, denn überlegene geistige Qualitäten haben mich bei einer Frau immer so wenig interessiert, daß ich, wenn überhaupt, nur aus purer Höflichkeit der einen oder anderen solche Qualitäten attestiert habe. Einzig der kuriose Geist von Céleste hätte mir vielleicht gefallen können.1 Unwillkürlich mußte ich einen Augenblick lächeln, wenn sie zum Beispiel die Gelegenheit nutzte, wo, wie sie wußte, Albertine nicht anwesend war, um mit folgenden Worten auf mich zuzutreten: »Himmlische Gottheit, die du auf ein Bett gesetzt bist!« Ich sagte dann: »Schon gut, Céleste, aber warum denn ›himmlische Gottheit‹?« – »Oh, wenn Sie meinen, Sie hätten irgend etwas mit denen gemein, die auf unserer elenden Erde wandeln, so täuschen Sie sich sehr!« – »Aber warum denn ›gesetzt‹ auf ein Bett? Sie sehen doch, ich liege einfach da.« – »Sie liegen nie einfach da. Hat man je einen Menschen so daliegen sehen? Sie kamen und setzten sich dahin. In Ihrem weißen Pyjama und mit Ihren Halsbewegungen sehen Sie jetzt gerade wie eine Taube aus.«

Selbst im Bereich ganz läppischer Dinge drückte Albertine sich völlig anders aus als das kleine Mädchen, das sie vor ein paar Jahren in Balbec noch gewesen war. Jetzt erklärte sie aus Anlaß einer politischen Begebenheit, die sie tadelte: »Ich finde das unqualifizierbar«; und ich weiß nicht, ob es nicht zur selben Zeit war, daß sie sagen lernte, um auszudrücken, ein Buch scheine ihr schlecht geschrieben: »Es ist interessant, aber wissen Sie, der Autor schreibt wie ein Schwein.«

Über das Verbot, in mein Zimmer zu kommen, bevor ich geschellt hatte, amüsierte sie sich sehr. Da sie unsere Familiengewohnheit des Zitierens angenommen hatte und sich zu diesem Zweck die Stücke zunutze machte, die sie in der Klosterschule mit aufgeführt hatte und von denen ich sagte, ich liebte sie besonders, verglich sie mich immer mit Assuérus:

Et la mort est le prix de tout audacieux

Qui sans être appelé se présente à ses yeux.

Rien ne met à l’abri de cet ordre fatal,

Ni le rang, ni le sexe, et le crime est égal.

Moi même …

Je suis à cette loi comme une autre soumise,

Et sans le prévenir il faut pour lui parler

Qu’il me cherche ou du moins qu’il me fasse appeler.1

Und jeden trifft der Tod, wer dreist und ungefragt

Sich vor dem Angesicht des Herrn zu zeigen wagt.

Ohn Unterschied die Schuld, ohn Gnade das Verbot:

Nicht Rang und nicht Geschlecht beschirmt dich vor dem Tod.

Ich selber …

Ich weiß mich dem Gesetz gleich anderen verfallen,

Mit meinem eignen Wort komm ich ihm nie zuvor,

Nur wenn er wünscht und winkt, hab ich des Königs Ohr.

Auch äußerlich hatte sie sich verändert. Ihre schmalen blauen Augen – die noch länger schienen – hatten nicht die gleiche Form bewahrt; sie hatten zwar noch dieselbe Farbe, wirkten aber wie verflüssigt. Wenn sie sie schloß, so war es, als hinderten einen Vorhänge daran, auf das Meer zu blicken. Zweifellos war es dieser Teil von ihr, an den ich mich abends, wenn ich sie verließ, vor allem erinnerte. Denn ganz im Gegensatz dazu überraschte mich beispielsweise jeden Morgen die Kräuselung ihrer Haare lange Zeit wie etwas Neues, das ich noch nie gesehen hatte. Und doch – gibt es über dem lächelnden Blick eines jungen Mädchens etwas Schöneres als diesen gelockten Kranz, der aus schwarzen Veilchen zu bestehen scheint? Das Lächeln verheißt mehr Freundschaft, aber das glänzende Geringel des gleichsam blühenden Haares, in dem der Körper, dem es so nahe verwandt ist, nur in kleine Wellen umgesetzt scheint, weckt stärker das Verlangen.

Kaum war sie in mein Zimmer getreten, sprang sie auf mein Bett und beschäftigte sich manchmal mit Definitionen meiner Art von Klugheit und gelobte in aufrichtigem Überschwang, sie wolle lieber sterben als sich von mir trennen; das war an den Tagen, an denen ich mich rasiert hatte, bevor ich sie zu mir kommen ließ. Sie gehörte zu den Frauen, die den Grund für ihre Gefühle nicht klar zu erkennen vermögen. Das Vergnügen, das ihnen der Anblick eines frischen Gesichts bereitet, erklären sie sich aus den seelischen Vorzügen desjenigen, der ihnen für die Zukunft ein Glück zu garantieren scheint, das jedoch in dem gleichen Maße abzunehmen und weniger unerläßlich zu erscheinen vermag, wie er seinen Bart von neuem sprießen läßt.

Ich fragte sie, wohin sie zu gehen vorhabe. »Ich glaube, Andrée will mich zu den Buttes-Chaumont1 mitnehmen, die ich noch nicht kenne.« Gewiß war es mir unmöglich zu erraten, ob unter so vielen anderen Worten gerade diese eine Lüge verbargen. Im übrigen vertraute ich darauf, daß Andrée mir immer sagen würde, wohin sie mit Albertine ging. Als ich in Balbec Albertines allzu überdrüssig gewesen war, hatte ich vorgehabt, lügnerischerweise zu Andrée zu sagen: Liebe Andrée, hätte ich Sie doch nur etwas eher wiedergesehen! Dann hätte ich nämlich Sie geliebt! Jetzt aber ist mein Herz anderweitig vergeben. Dennoch wollen wir uns oft sehen, denn meine Liebe zu jener anderen bereitet mir großen Kummer, Sie aber werden mir helfen, mich ein wenig zu trösten. Nun aber waren ebendiese verlogenen Reden kaum drei Wochen darauf wahr geworden. Vielleicht hatte Andrée in Paris geglaubt, daß es tatsächlich eine Lüge sei und daß ich sie liebte, wie sie es zweifellos in Balbec geglaubt hätte. Denn die Wahrheit wandelt sich für uns so stark, daß die anderen Mühe haben, sich darin zurechtzufinden. Da ich nun wußte, daß sie mir alles erzählen würde, was Albertine und sie unternahmen, hatte ich sie gebeten – und sie hatte es übernommen –, diese fast jeden Tag abzuholen. So würde ich ohne Sorge zu Hause bleiben können. Andrées Prestige als eines der Mädchen der kleinen Schar ließ mich darauf vertrauen, sie werde alles, was ich wünschte, bei Albertine erreichen. Wahrlich, ich hätte ihr jetzt in aller Ehrlichkeit sagen können, daß sie mir Ruhe zu schenken vermöge.

Andererseits war meine Wahl Andrées (die sich in Paris befand, da sie auf ihr Vorhaben, nach Balbec zurückzukehren, verzichtet hatte) als Begleiterin meiner Freundin auch darauf zurückzuführen, daß Albertine mir von der Zuneigung erzählt hatte, die jene für mich in Balbec zu einem Zeitpunkt hegte, als ich gerade befürchtete, ihr lästig zu fallen; hätte ich es damals gewußt, wäre vielleicht Andrée diejenige gewesen, die ich geliebt hätte. »Wie, Sie wissen das nicht?« sagte Albertine zu mir, »wir haben untereinander oft darüber gelacht. Haben Sie denn überhaupt nicht bemerkt, wie sehr sie angefangen hatte, zu reden und zu denken wie Sie? Besonders, wenn sie eben erst von Ihnen kam, war es geradezu frappant. Sie brauchte uns nicht erst zu sagen, ob sie Sie gesehen hatte. Wenn sie ankam und bei Ihnen gewesen war, merkte man es bereits in der ersten Sekunde. Wir sahen uns nur gegenseitig an und mußten schon lachen. Sie war wie ein Köhler, der einem einreden will, er sei gar kein Köhler, obwohl er ganz schwarz ist. Ein Müller braucht auch nicht zu sagen, daß er Müller ist, man sieht es am Mehl, das er an sich hat, und außerdem an der Stelle, wo er die Säcke trägt. Mit Andrée war es ebenso, sie zog die Augenbrauen hoch wie Sie, und dann ihren langen Hals, ach, ich kann es nicht so genau erklären. Wenn ich ein Buch nehme, das in Ihrem Zimmer gewesen ist, kann ich es draußen lesen, man weiß dennoch ganz genau, daß es eines von Ihnen ist, weil noch irgend etwas von Ihren abscheulichen Räucherungen1 daran hängt. Es ist nur ein Hauch, ich kann es kaum beschreiben, aber eigentlich auch wieder nett. Jedesmal, wenn jemand freundlich von Ihnen gesprochen hatte oder in einer Weise, als halte er viel von Ihnen, war Andrée vor Entzücken ganz aus dem Häuschen.«

Um zu verhindern, daß irgend etwas ohne mein Wissen angezettelt wurde, riet ich trotz allem, für diesen Tag die Buttes-Chaumont aufzugeben und lieber nach Saint-Cloud oder sonstwohin zu fahren.

Dabei liebte ich Albertine nicht im geringsten, und ich war mir dessen auch bewußt. Vielleicht ist die Liebe nichts anderes als die Ausbreitung jener Brandungswellen, die nach einer Erschütterung die Seele bewegen. Ein Wogenprall dieser Art hatte meine Seele völlig aufgewühlt, als Albertine in Balbec mir gegenüber Mademoiselle Vinteuil erwähnt hatte, doch war er inzwischen zur Ruhe gekommen. Ich liebte Albertine nicht mehr, denn es gab in mir keinen Rest jener nun geheilten Seelenqual, die ich in der Lokalbahn ausgestanden hatte, in Balbec, als ich erfuhr, welcher Art Albertines Jugend gewesen war, vielleicht sogar mit Besuchen in Montjouvain. An all das hatte ich nun schon zu lange gedacht, die Wunde war verheilt. Doch brachten mich augenblicksweise gewisse Redewendungen Albertines auf die Vermutung – ich weiß nicht weshalb –, sie habe im Verlauf ihres noch so kurzen Lebens bereits viele Komplimente, viele Liebeserklärungen entgegengenommen, und zwar mit Vergnügen, einem sinnlichen Vergnügen. So pflegte sie bei jedem Anlaß zu fragen: »Ist das wahr, ist das wirklich wahr?« Gewiß, wenn sie wie eine Odette gefragt hätte: »Soll das wirklich wahr sein, diese dicke Lüge?«, so hätte mich das nicht beunruhigt, denn gerade in der Lächerlichkeit dieser Worte hätte ich nichts als banales Weibergeschwätz gesehen. Doch ihre fragende Miene bei diesem »Ist das wahr?« erweckte einerseits den seltsamen Eindruck eines Geschöpfs, das sich nicht selbst über die Dinge Rechenschaft zu geben vermag, das an das Zeugnis eines anderen appelliert, als ob es nicht die gleichen Fähigkeiten wie jener besäße (man konnte ihr zum Beispiel sagen: »Jetzt sind wir eine Stunde unterwegs« oder: »Es regnet«, so fragte sie: »Ist das wahr?«). Unglücklicherweise war aber andererseits diese mangelnde Fähigkeit, sich ein eigenes Urteil über äußere Phänomene zu bilden, nicht der wahre Grund dieses »Ist das wahr, ist das wirklich wahr?«. Es schien vielmehr, daß solche Worte seit ihrer frühen fraulichen Reife Antworten auf Wendungen gewesen waren wie: »Wissen Sie, ich habe niemals jemanden so reizend gefunden wie Sie« oder »Wissen Sie, ich bin ganz schrecklich verliebt in Sie, bin völlig aufgereizt« – Beteuerungen, auf die mit kokett zustimmender Bescheidenheit jene »Ist das wahr, ist das wirklich wahr?« antworteten, die nun Albertine mir gegenüber nur noch dazu dienten, mit einer Frage auf eine Aussage zu antworten wie: »Sie haben mehr als eine Stunde geschlafen.« – »Ist das wahr?«

Ohne mich im geringsten in Albertine verliebt zu fühlen, ohne die Augenblicke, die wir zusammen verlebten, unter meine Freuden einzureihen, beschäftigte ich mich doch unaufhörlich damit, wie sie ihre Zeit verbrachte; gewiß war ich aus Balbec geflüchtet, um sicher zu sein, daß sie diese oder jene Person nicht mehr sehen könne, mit der – wie ich so sehr fürchtete – sie lachend, vielleicht sogar lachend über mich, das Böse tun konnte, daß ich geschickt versucht hatte, mit einem einzigen Schlag durch meine Abreise all ihre üblen Beziehungen zu lösen. Albertine wiederum besaß eine derartige Kraft der Passivität, eine so große Fähigkeit, zu vergessen und sich zu fügen, daß die betreffenden Beziehungen wirklich zerschlagen waren und die Phobie, die mich heimgesucht hatte, damit geheilt war. Doch kann sie so viele Formen annehmen wie das unbestimmte Übel, das ihr Gegenstand ist. Solange meine Eifersucht sich nicht in neuen Wesen verkörperte, hatte ich nach meinen vergangenen Seelenqualen eine Spanne der Ruhe genossen. Doch eine chronische Krankheit nutzt den geringsten Vorwand, um wieder aufzuleben, und ebenso das Laster des Wesens, das die Ursache dieser Eifersucht ist, die kleinste Gelegenheit, um sich nach einer Keuschheitspause von neuem zu betätigen, nur eben mit anderen Wesen. Ich hatte Albertine von ihren Komplizinnen trennen und dadurch meine Halluzinationen bannen können; wenn man jedoch auch bewirken konnte, daß sie die Personen vergaß und die Beziehungen zu ihnen nicht von Dauer waren, so war ihre Neigung zum Vergnügen andererseits chronisch und wartete nur auf eine Gelegenheit, wieder freien Lauf zu nehmen. Deren aber bot Paris ebenso viele wie Balbec.

In welcher Stadt auch immer, sie brauchte nicht zu suchen, denn das Übel wohnte ja nicht in Albertine allein, sondern auch in anderen, denen jede Gelegenheit zum Vergnügen recht war. Ein Blick der einen, der sofort von der anderen verstanden wird, nähert die beiden, die sich in Begierde verzehren, einander rasch an. Es ist leicht für eine geschickte Frau, so zu tun, als sehe sie nicht, dann aber fünf Minuten darauf auf die Person zuzutreten, die wohl verstanden und in einer Seitenstraße auf sie gewartet hat, um sich mit ihr in zwei Worten zu verabreden. Wer kann das jemals wissen? Es war ja für Albertine einfach, mir, damit alles so weitergehen konnte, zu sagen, sie wünsche eine bestimmte Stelle in der Umgegend von Paris wiederzusehen, die ihr gefallen habe. So genügte es, daß sie verspätet nach Hause kam, daß ihr Spaziergang unerklärlich lange gedauert hatte – obwohl vielleicht alles ganz leicht zu erklären war (ohne daß man irgendeinen sinnlichen Grund hätte hinzuziehen müssen) –, damit mein Leiden wieder auflebte, diesmal mit Vorstellungen verknüpft, die nichts mit Balbec zu tun hatten, die ich aber wie früher zu zerstören bemüht sein würde, als ob die Beseitigung einer momentanen Ursache die eines eingewurzelten Übels mit sich ziehen könne. Ich machte mir nicht klar, daß ich bei diesen Vernichtungsversuchen, bei denen ich Albertines Wandlungsfähigkeit, ihre Gabe, das vor kurzem noch vorhandene Objekt ihrer Liebe zu vergessen, ja beinahe zu hassen, zu Helfershelfern hatte, manchmal diesem oder jenem der unbekannten Wesen, mit denen sie sich nacheinander vergnügt hatte, tiefen Schmerz zufügte und daß ich diesen Schmerz ganz unnötigerweise bereitete, denn die Betreffenden würden zwar verlassen, aber durch andere ersetzt werden, und parallel zu dem Weg, der durch so viele von ihr leichthin begangene Treulosigkeiten markiert war, würde für mich ein anderer verlaufen, der ebenso erbarmungslos und kaum von kurzen Etappen der Ruhe unterbrochen war, so daß, hätte ich es recht bedacht, meine Leiden nur mit Albertine oder mit mir selbst ein Ende finden konnten. In der ersten Zeit nach unserer Ankunft in Paris hatte ich sogar, unbefriedigt durch die Auskünfte, die Andrée und der Chauffeur mir über ihre Spazierfahrten mit meiner Freundin gaben, die Umgebung von Paris als ebenso grausam wie die von Balbec empfunden und war mit Albertine ein paar Tage verreist. Doch überall war die Ungewißheit darüber, was sie tat, die gleiche, die Möglichkeit, daß es das Böse sei, überall gleich groß, die Überwachung noch schwieriger, so daß ich schließlich mit ihr nach Paris zurückgekehrt war. Tatsächlich hatte ich geglaubt, mit Balbec auch Gomorrha hinter mir zu lassen und Albertine völlig daraus zu lösen; aber ach! Gomorrha war bis in alle Winkel der Erde zerstreut. Halb aus Eifersucht, halb aus Unkenntnis dieser Freuden (ein sehr seltener Fall) hatte ich unbewußt das Versteckspiel arrangiert, bei dem Albertine sich mir immer entziehen würde.

Ich stellte aus heiterem Himmel die Frage an sie: »Übrigens, Albertine, träume ich, oder haben Sie mir gesagt, Sie kennten Gilberte Swann?« – »Ja, das heißt, sie hat mich in der Schule einmal angesprochen, sie hatte die Hefte über französische Geschichte. Sie war sogar sehr nett und hat sie mir geborgt, ich habe sie ihr zurückgegeben, sobald ich sie wieder gesehen habe.« – »Gehört sie auch zu der gewissen Sorte von Frauen, die ich nicht leiden kann?« – »O nein, ganz im Gegenteil.«

Anstatt mich aber nachforschenden Gesprächen dieser Art hinzugeben, wandte ich oft an das bloße Vorstellen von Albertines Spazierfahrt die Kräfte, die ich nicht darauf verwendete, daran teilzunehmen, und sprach zu meiner Freundin mit jenem Feuereifer, der sich bei unausgeführten Plänen ungebrochen erhält. Ich bekundete eine derartige Lust, ein bestimmtes Glasfenster der Sainte-Chapelle wiederzusehen, und ein so schmerzliches Bedauern, es nicht mit ihr allein tun zu können, daß sie liebevoll zu mir sagte: »Aber mein lieber Junge, wenn Sie so große Lust dazu haben, wie es scheint, dann geben Sie sich doch einen Ruck und kommen Sie mit. Wir warten gern, solange Sie wollen, bis Sie fertig sind. Wenn Sie im übrigen mehr Lust haben, mit mir allein zu sein, brauche ich ja Andrée nur nach Hause zu schicken, sie kommt dann ein andermal.« Doch mehrten gerade diese Bitten auszugehen die Ruhe, die es mir erlaubte, zu Hause zu bleiben.

Ich bedachte nicht, daß die Apathie, mit der ich die Sorge, meine Unruhe zu beschwichtigen, in dieser Weise auf Andrée und den Chauffeur abwälzte, indem ich ihnen die Sorge überließ, Albertine zu überwachen, in mir all jene Bewegungen der Einbildungskraft, des Verstandes, all jene Eingebungen des Willens, dank deren wir erraten und verhindern können, was jemand zu tun beabsichtigt, steif und träg machte. Das war um so gefährlicher, als mir meiner Natur nach die Welt des Möglichen stets zugänglicher gewesen ist als diejenige der tatsächlichen, kontingenten Wirklichkeit. Dies ermöglicht, die Seele kennenzulernen, doch durch die Individuen läßt man sich irreführen. Meine Eifersucht entstand aus Bildern, aus einer Seelenqual heraus, nicht aber nach Maßgabe der Wahrscheinlichkeit. Nun aber kann im Leben der Menschen wie in dem der Völker (auch in dem meinen sollte es einst so sein) ein Tag kommen, an dem man im Inneren einen Polizeipräfekten, einen klarblickenden Diplomaten, einen Chef der Sicherheitspolizei braucht, der nicht etwa darüber nachsinnt, was der Erdkreis an Möglichem wohl in sich bergen könne, sondern logisch argumentiert und sich sagt: Wenn Deutschland dies erklärt, so heißt das, daß es etwas anderes vorhat, nicht etwas beliebiges anderes, das ganz im Unbestimmten liegt, sondern genau dies oder das, was sogar bereits in die Wege geleitet ist. – Wenn irgendeine Person flüchtig geworden ist, so hat sie sich nicht nach den Zielen A, B oder D gewandt, sondern nach dem Ziel C, und der Ort, nach dem man alle Nachforschungen ausrichten muß, ist, usw.! Bedauerlicherweise war diese Fähigkeit bei mir nicht sehr gut entwickelt, und ich ließ sie dadurch einschlafen, kraftlos werden, schwinden, daß ich mich daran gewöhnte, in dem Augenblick beruhigt zu sein, wo andere sich damit beschäftigten, an meiner Stelle zu wachen. Den Grund nun für meinen Wunsch hätte ich Albertine nur sehr ungern erklärt. Ich sagte ihr gewöhnlich, der Arzt habe mir befohlen, liegenzubleiben. Das war aber nicht wahr. Und wäre es wahr gewesen, so hätten dennoch seine Vorschriften mich nicht daran hindern können, meine Freundin zu begleiten. Ich bat sie also darum, nicht mit ihr und Andrée ausfahren zu müssen. Ich möchte dafür nur einen Grund – einen verstandesmäßigen – nennen. Wenn ich mit Albertine ausging, so verspürte ich, wenn sie auch nur einen Augenblick ohne mich war, bereits lebhafte Unruhe: Ich stellte mir vor, sie habe vielleicht mit irgend jemandem gesprochen oder auch nur jemanden angeschaut. War sie nicht besonders guter Laune, so dachte ich, sie versäume vielleicht um meinetwillen irgend etwas, was sie plante, oder schiebe es auf. Die Wirklichkeit ist immer nur der Anfang eines Weges ins Unbekannte, auf dem wir nicht sehr weit voranschreiten können. Besser ist, nicht zu wissen, so wenig wie möglich zu denken und der Eifersucht nicht das allerkleinste konkrete Detail zur Verfügung zu stellen. Zu unserem Unglück aber treten auch ohne das äußere Leben Zwischenfälle in unserem inneren Leben auf; auch ohne die Spazierfahrten Albertines bekam ich durch Zufälle, wie sie im Lauf von Überlegungen auftauchten, die ich für mich allein anstellte, jene kleinen Fragmente des Wirklichen an die Hand, die nach Art eines Magneten etwas von dem Unbekannten an sich ziehen, das von da an schmerzhaft wird. Man kann sich noch so sehr in einen luftleeren Raum zurückziehen, die Ideenverbindungen und Erinnerungen setzen ihr Treiben fort.

Doch ergaben sich diese inneren Zusammenstöße nicht sogleich; kaum war Albertine zu ihrer Spazierfahrt aufgebrochen, als ich auch schon – wenn auch vielleicht nur für wenige Augenblicke – mich durch die beflügelnden Kräfte der Einsamkeit belebt fühlte. Ich genoß meinerseits die Freuden des beginnenden Tages; das willkürliche Verlangen – die launenhafte und ganz und gar nur mir eignende Geneigtheit –, sie auszukosten, hätte nicht genügt, um sie in meine Reichweite zu bringen, hätte nicht das ganz besondere Wetter des betreffenden Tages nicht allein die Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen, sondern auch ihre gegenwärtige, für alle Menschen, die nicht ein zufälliger und infolgedessen unwesentlicher Umstand zwang, zu Hause zu bleiben, zugängliche Wirklichkeit bestätigt. An gewissen schönen Tagen war es derart kalt und man befand sich in so intensivem Kontakt mit der Straße, daß es schien, als hätten die Mauern des Hauses sich geteilt, und das Klingeln der Straßenbahn, die vorüberfuhr, klirrte jedesmal wie ein silbernes Messer, das auf ein Haus mit gläsernen Wänden traf. Vor allem aber in mir selbst vernahm ich freudetrunken den neuen Klang, den die innere Geige erklingen ließ. Ihre Saiten werden durch einfache, von außen erzeugte Unterschiede in Temperatur oder Beleuchtung gespannt oder entspannt. In unserem inneren Wesen, einem Instrument, das die Einförmigkeit der Gewohnheit zum Verstummen gebracht hat, entsteht der Gesang aus solchen Abweichungen, solchen Variationen, der Quelle jedweder Musik: An gewissen Tagen führt uns das Wetter alsbald von einer Klangfarbe zu einer anderen. Wir finden die vergessene Melodie wieder, deren mathematische Notwendigkeit wir hätten erraten können und die wir im ersten Augenblick mitsingen, ohne sie zu erkennen. Nur diese inneren, obgleich von außen kommenden Modifikationen erneuerten für mich die äußere Welt. Verbindungstüren, die seit langem zugemauert waren, öffneten sich in meinem Hirn. Das Leben gewisser Städte, die Heiterkeit gewisser Spaziergänge fanden in mir wieder ihren Platz. Vom Klang der vibrierenden Saite ganz und gar erbebend, hätte ich mein trübes Leben von ehemals sowie mein künftiges Leben – ein Leben, ausgewischt vom Radiergummi der Gewohnheit – für diesen besonderen Zustand hingeben mögen.

Ich hatte mich zwar nicht aufgemacht, Albertine auf ihrer langen Ausfahrt zu begleiten, doch mein Geist würde desungeachtet umherschweifen, und dafür, daß ich es abgelehnt hatte, mit meinen Sinnen diesen Vormittag zu kosten, genoß ich in der Vorstellung alle vergleichbaren vergangenen oder möglichen Vormittage, genauer gesagt, einen gewissen Typus von Vormittagen, von denen alle der gleichen Art angehörigen nur eine intermittierende Erscheinungsform waren und den ich rasch erkannte; denn die frische Luft wendete ganz von allein die richtigen Seiten um, und so fand ich, wohlbezeichnet, damit ich ihm von meinem Bett aus folgen könne, das Evangelium des betreffenden Tages aufgeschlagen vor. Dieses Ideal einer bestimmten Art von Vormittag erfüllte meinen Geist mit unwandelbarer, allen vergleichbaren Vormittagen gemeinsamer Gegenwart und verlieh mir eine Beschwingtheit, die mein geschwächter Zustand nicht mindern konnte; da nämlich unser Wohlbefinden sehr viel weniger aus unserem guten Gesundheitszustand als aus dem ungenutzten Überschuß unserer Kräfte resultiert, können wir es ebensogut wie durch Vermehrung letzterer durch Beschränkung unserer Aktivität erlangen. Diejenige, von der ich überströmte und deren Potential ich in meinem Bett liegend intakt erhielt, ließ mich innerlich zucken und springen wie eine Maschine, die sich nicht vom Platz rühren kann und im Leeren läuft.

Françoise kam das Feuer anzünden und warf, damit es anbrannte, ein paar Reiser darauf, deren den ganzen Sommer über vergessener Geruch rings um den Kamin einen magischen Kreis wob, in dem ich mich selbst wiederfand, entweder lesend in Combray oder auch in Doncières, und ich war daraufhin, ganz auf mein Zimmer in Paris beschränkt, so vergnügt, als hätte ich gerade vor, mich auf einen Spaziergang in Richtung von Méséglise zu begeben oder mich mit Saint-Loup und seinen Freunden zu treffen, die zur Felddienstübung ausgerückt waren. Es kommt häufig vor, daß das Vergnügen, das alle Menschen bei der Wiederbegegnung mit den in ihrem Gedächtnis gesammelten Erinnerungen überkommt, gerade bei jenen lebhafter ist, denen die Tyrannei des körperlichen Leidens und die tägliche Hoffnung auf Heilung einerseits die Möglichkeit rauben, in der Natur die Bilder zu suchen, die ihren Erinnerungen ähnlich sind, andererseits aber genügend Vertrauen belassen, es bald wieder zu können, damit ein Zustand des Wünschens, der Begehrlichkeit in ihnen erhalten bleibt und sie jene nicht nur als Erinnerungen, als bloße Bilder betrachten. Aber hätten sie niemals etwas anderes als das für mich sein und mir nur durch Erinnern wieder sichtbar werden können, so hätten sie dennoch aus mir, aus meinem ganzen Ich vermittels einer mit der damaligen identischen Empfindung unversehens den Knaben, den Jüngling wiedererschaffen, der sie gesehen hatte. So hatte nicht nur draußen ein Wetterwechsel oder in meinem Zimmer eine Modifikation der Gerüche stattgefunden, sondern auch in mir selbst eine Veränderung des Alters, die Ersetzung der einen durch eine andere Person. Der Geruch der Reiser in der eisigen Luft war wie ein Stück Vergangenheit, eine unsichtbare Eisscholle, die sich aus einem Winter von ehemals losgelöst und bis in mein Zimmer vorgeschoben hatte, oft im übrigen von einem Geruch und einem Lichtschein wie von verschiedenen Jahren durchwebt, in die ich mich nun dank der Beschwingtheit seit langem aufgegebener Hoffnungen zurückgetaucht, von denen