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Hans Bürger

Wir werden nie genug haben

96 Fragen an Kurt W. Rothschild
und ein Essay zur verlorenen Zeit

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HANS BÜRGER

Wir werden nie
genug haben

96 Fragen an
Kurt W. Rothschild
und ein Essay
zur verlorenen Zeit

Vorwort von
Gouverneur
Ewald Nowotny

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Der Autor verwendet aus Gründen der besseren Lesbarkeit keine geschlechtsneutralen Formen. Die weibliche Form ist stets mitgemeint.

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1. Auflage 2016

Coverzeichnung: © Ingolf Ortner

ISBN E-Book: 978-3-99100-176-8

INHALT

Vorwort von Gouverneur Ewald Nowotny

Vorrede

96 Fragen an Kurt W. Rothschild

Wir werden nie genug haben – Essay zur verlorenen Zeit

Referenzen

Danksagung

VORWORT

VON GOUVERNEUR EWALD NOWOTNY

Kurt W. Rothschild hat keine wissenschaftliche „Schule“ geschaffen und hat eher allergisch auf diese „mittelalterliche Schüler-Meister-Romantik“ reagiert. Rothschild hat aber viele Menschen nachhaltig in ihrem wissenschaftlichen – und oft auch in ihrem persönlichen – Leben beeinflusst und geformt. Zu diesen Menschen gehört der profunde ORF-Journalist Hans Bürger – und zu diesem durchaus großen Kreis zähle auch ich, der ich das Glück hatte, in den Anfangsjahren der Johannes Kepler Universität als Assistent und in einer späteren Phase als Kollege von Kurt Rothschild arbeiten zu können.

Hans Bürger hat gemeinsam mit Kurt Rothschild mit dem Buch „Wie Wirtschaft die Welt bewegt“ eine faszinierende systematische Gesamtsicht des Denkens von Kurt Rothschild dargestellt. Das nun vorliegende Buch zeigt Rothschild von der für ihn so typischen „sokratischen Seite“, als Partner von Gesprächen von bleibendem Wert. Gerade in diesen Gesprächen des „herrschaftsfreien Dialogs“ wird das umfassende ökonomische Wissen, wie auch die skeptisch-humane Weisheit Kurt Rothschilds besonders spürbar. Dies entspricht den von Beobachtern gezeigten Prinzipien der Rothschild’schen „Common Sense Economics“: „Es ist besser, eine wichtige Frage zu stellen, als eine unwichtige zu beantworten“ und „Es ist besser, eine Frage ungefähr richtig als präzise falsch zu beantworten“.

Bertolt Brecht beschließt seine „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration“ mit den Versen: „Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, dessen Name auf dem Buche prangt. Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt.“

Hans Bürger hat die Chance genutzt, 2009 mit dem damals 94-jährigen Kurt Rothschild lange Gespräche zu führen und festzuhalten. Für dieses „Abverlangen“ sei Hans Bürger herzlich gedankt – er hat uns damit Orientierungen und Wissen weitervermittelt, die gerade auch heute für alle, die sich bemühen, „Wirtschaft“ in einem umfassenden Sinn zu verstehen, von höchstem Wert sind.

Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Ewald Nowotny
Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank

VORREDE

„So hören S’ doch auf mit diesem Professoren-Getue.“

Immer wieder hat vor nunmehr sieben Jahren Universitätsprofessor Dr. Kurt W. Rothschild unser Gespräch über Ökonomie mit diesem Aufruf unterbrochen, bis ich schließlich aufgegeben hatte. Aber vielleicht ist es so wie mit Schullehrern, die man Jahrzehnte später trifft und sie noch immer siezt und sie dich noch immer duzen. Und Kurt Rothschild war tatsächlich mein Universitätsprofessor für Volkswirtschaft und ich im Herbst 1985 sogar sein letzter Prüfling.

24 Jahre später also „Herr Rothschild“. Nun gut. Und es sind diese spontanen, meist von Augenzwinkern und Verschmitztheit begleiteten Zwischenbemerkungen, Bonmots, Weisheiten und willkommenen Abschweifungen in die ökonomische Tiefe gewesen, die das damalige Gespräch zu einem „herrschaftsfreien Dialog von bleibendem Wert“ gemacht haben. – Nicht nur für diese schöne Formulierung sei Gouverneur Ewald Nowotny ganz herzlich gedankt, auch für sein einfühlsames Vorwort.

Seit damals tauchte immer wieder der Gedanke auf, irgendwann das Originaltranskript zu veröffentlichen. Im November 2015 fiel schließlich nach Rücksprache mit dem Chef des Braumüller Verlags, Bernhard Borovansky, die Entscheidung. Die nur in Papierform und einmalig vorhandenen Originalmanuskripte des Gesprächs von Mai bis Juli 2009 sind auch trotz oder gerade wegen des zeitlichen Abstandes eine neue Betrachtung wert. Diese rund 250 Seiten werden so manch ökonomisch, politisch, philosophisch und historisch Interessierten nochmals daran erinnern: 2010 ist ein ganz Großer von uns gegangen, der Doyen der österreichischen Nationalökonomie mit einem Ruf weit über den deutschsprachigen Raum hinaus.

Kurt Rothschild ist fast auf den Tag genau ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches „Wie Wirtschaft die Welt bewegt“ verstorben. Davor freute er sich noch über die zwei größten Buch-Auszeichnungen in Österreich: „Buchliebling des Jahres“ und „Wissenschaftsbuch des Jahres“. Ich musste damals einen Teil des umfangreichen Manuskripts zur Seite legen, weil die äußeren Umstände ein Buch mit Fokus auf die Wirtschaftskrise verlangten und nicht „nur“ einen Abriss der Geschichte der Ökonomie, was unser ursprünglicher Plan gewesen war.

Ich befasste mich mit der Krise, der Professor gab mündlich den großen historischen Überblick von 1776 bis Anfang des 21. Jahrhunderts, den ich daraufhin schriftlich neu formulierte. Rothschild haderte ein wenig mit dem „zu journalistischen“ Zugang, konnte sich aber letztlich mit dem Produkt anfreunden.

Wenn man die in 12 Treffen und rund 80 Stunden Gespräch im Verlag entstandenen Mitschriften heute erneut liest, beeindruckt die ruhige Gelassenheit, mit der Rothschild die Entwicklungen richtig einschätzte. Nur eine Warnung gleich zu Beginn: Einem echten Neoliberalen werden nicht alle, oder sagen wir ehrlicherweise, viele der Antworten wenig Lesefreude bereiten.

Aus einem hat Kurt W. Rothschild nie ein Hehl gemacht. Er war immer, seit Ende der 1920er-Jahre, damals war er 16, davon überzeugt, dass der freie Markt allein nie alle ökonomischen Probleme lösen werde können.

Gegen den Kapitalismus hatte er im Großen und Ganzen nichts einzuwenden. So wie auch John Maynard Keynes nicht. Aber Rothschild hat immer die Frage gestellt, welchen Kapitalismus die Menschen brauchen, um auch halbwegs zufrieden leben und arbeiten zu können. Ob eine Selbstbestimmung im System noch möglich ist oder nicht.

Den sogenannten Casino-Kapitalismus betreffend, war seine Antwort eindeutig: Nein, der mache nur noch ganz wenige glücklich und ganz viele unglücklich. Den Ausdruck Casino-Kapitalismus hat übrigens Keynes schon 1936 verwendet, die Wortkreation wird also im Jahr des Erscheinens dieses Buches stolze 80 Jahre alt. Casino-Kapitalismus gab es also offenbar schon immer. Wenn auch nie in diesem unglaublich zerstörerischen Ausmaß wie in den letzten zehn Jahren.

Warum wollte Rothschild auf keinen Fall ein Buch über die Krise schreiben?

„Weil es nichts bringt.“

Eine seiner vielen trockenen Antworten, die auch Tausende seiner Studenten an der Johannes Kepler Universität in Linz in den Vorlesungen zur theoretischen Volkswirtschaftslehre so geschätzt haben. Fast 20 Jahre lang, und auch nach seiner Emeritierung noch in Hunderten Vorträgen. Rothschild wollte die Dinge von Grund auf erklären und nicht „irgend so ein Krisenbuch zur Schnellerklärung“ derselben hinwerfen.

Abschweifen, so wie der Autor eben jetzt, das hat auch unsere Gespräche von damals geprägt, aber beim Wiederlesen nach knapp sieben Jahren zeigt sich ein anderes Bild. Es war nie ein Abschweifen und wenn, dann in eine inhaltliche Tiefe, die die folgenden Gesprächssequenzen nur noch mehr belebte. Rothschild erklärte anders als andere. War er der Meinung, dass genau an dieser Stelle ein Sprung ins Historische oder ein Einwurf aus der Soziologie notwendig sei, dann glitten wir eben ab. Und so zieht sich auch wie ein Faden, welcher Farbe auch immer, ein Gedanke durch die vielen Gesprächsstunden: Die Ökonomie ist nicht nur keine Naturwissenschaft mit immer gleichen und sicheren Gesetzen, wie es Neoklassiker so gerne hätten, sondern sie kann auch nie ganz alleine stehen. Ökonomie braucht Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften, Geschichte, Philosophie und natürlich auch Mathematik, Statistik, Ökonometrie. Aber sie ist und bleibt eine Wissenschaft rund um den Menschen und nicht nur rund um Zahlen. Und genau das hat Kurt Rothschild zu erklären versucht. Eben von 1776 an. Dem anerkannten Beginn der Ökonomie als wissenschaftliche Richtung mit ihrem Gründervater Adam Smith. Nach rund 40 Stunden Gespräch waren wir dann doch im Jahr 2008 gelandet und beim denkwürdigen 15. September, als man in den USA die Riesen-Investmentbank Lehman Brothers zum Entsetzen der Bankenwelt in Konkurs gehen ließ. Aber Rothschild weigerte sich, genau auf die sogenannten Giftpapiere einzugehen, die die Krise verursacht hatten. Ich solle mir doch diese CDOs (Collaterilized Debt Obligations), CDS (Credit Default Swaps) oder ABS, nein, kein Bremssystem, sondern Asset Backed Securities, selbst recherchieren, was ich dann zwar tat, aber mit diesen Kapiteln im gemeinsamen Buch wolle er nichts zu tun haben. Mein „Warum nicht?“ wurde klar beantwortet: „Weil wir uns sowieso nie ganz auskennen werden.“ Und wenn wir auch verwirrt bleiben würden, so nach der Recherche zumindest „verwirrt auf einem höheren Niveau“. Mittlerweile seien die Erfinder dieser Giftpapiere angestellte Mathematiker in der Wall Street oder in den Wertpapierabteilungen der großen Banken und – das sei besonders wichtig: „Sie sind viel g’scheiter als die Beamten in den jeweiligen Finanzministerien, und deshalb wird das alles nie aufhören, solange man nicht auch dort solche Leute hat.“ Als Vorwurf gegen Finanzbeamte wollte er das überhaupt nicht verstanden wissen. Der tiefe Sinn seiner Argumente war ein anderer und deckte sich mit dem, der seinen Unwillen zur Recherche in der verrückten Welt der Finanzprodukte erklärte. „Es geht doch nicht um diese Papierln (Wienerisch für Wertpapiere) – es geht darum, dass die Wirtschaft schon lange die Politik vor sich hertreibt und nicht umgekehrt.“ Rothschild machte diesen Befund aber nicht nur anhand der Vorgänge in der Finanzkrise fest, er sah auch die Rolle der multinationalen Konzerne in der globalisierten Welt als Riesengefahr für die Politik. Sie werde dadurch immer mehr gelähmt, traue sich wegen der dann ausgesprochenen Abwanderungsdrohungen immer weniger das gerechtfertigte Ausmaß an Unternehmenssteuern einzutreiben und werde durch Großkonzerne generell in ihren Handlungsspielräumen immer mehr eingeengt.

Was erfahren Sie nun, wenn Sie sich auf Teile dieses Gesprächs aus dem Jahre 2009 einlassen? Es sind Einschätzungen und Prognosen eines großen, damals 94-jährigen Ökonomen. Geboren zu Beginn des Ersten Weltkrieges kann Kurt Rothschild von sehr viel selbst Erlebtem berichten, nie wird in unserem Gespräch ein Buch aufgeschlagen, nichts wird ge-„googelt“. Obwohl echte Prognosen so gar nicht Rothschilds Sache waren, zitierte er schon 2009 nicht nur einmal Karl Valentin: Prognosen sind sehr schwer, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen. Zu Einschätzungen, wohin uns das derzeitige Wirtschaftssystem im besten, aber auch im schlechtesten Fall führen würde, war der berühmte Nationalökonom aber sehr wohl bereit. Er hat 1969 sogar ein wissenschaftliches Lehrbuch mit dem Titel „Wirtschaftsprognose, Methoden und Probleme“ verfasst und 2005 schreibt er unter „Prognosen, Prognosen. Eine kleine Prognosendiagnose“:

„Prognosen sind unmöglich und unentbehrlich. Unmöglich, weil die Zukunft ungewiss und undurchschaubar ist, und unentbehrlich, weil viele unserer Handlungen zukunftsorientiert sind und daher nicht ohne irgendwelche Annahmen über die Zukunft durchgeführt werden können. Der Ausweg aus diesem Widerspruch besteht in der Anerkennung des notwendigerweise fragilen Charakters jeder Prognose. Weder darf der Prognosekonsument vernichtende Urteile abgeben, weil Prognosen nicht hundertprozentig verlässlich sind, noch darf der Prognostiker beleidigt sein, wenn man seine Prognosen nicht immer unkritisch akzeptiert. Alles, was man von einer Prognose und insbesondere von einer andauernden Prognosetätigkeit verlangen kann, ist, dass sie im Großen und Ganzen einigermaßen richtig ist.“1

Rothschilds Leben geht quer durch zwei Weltkriege, einmal als Kleinkind, dann schon als ökonomisch interessierter Jurist, der sogar mit John Maynard Keynes in Kontakt ist. Nationalökonomie studiert der zur Emigration gezwungene Wiener erst während des Zweiten Weltkrieges in Glasgow. Als Keynes sein Hauptwerk schreibt, ist Rothschild 22 Jahre alt und tief beeindruckt. Endlich schreibt jemand, was kritische Ökonomen schon lange vermuten. Die Sache mit dem Gleichgewicht auf allen Märkten funktioniert nicht ganz. Dass der Markt über Löhne, Preise, Zinssätze sowohl den Gütermarkt, den Arbeitsmarkt als auch den Kapitalmarkt immer wieder selbst ins Gleichgewicht bringt. Wo kommt dann Massenarbeitslosigkeit her? Und handelt der Mensch auf Märkten wirklich immer und überall rational? Keine Panik, kein Herdentrieb, aber auch keine Fairness? Nichts? Ist er wirklich immer und überall nur stur an Preisen, Löhnen und Zinssätzen orientiert? Und kann man von Einzelphänomenen wirklich unmittelbar auf Massenphänomene schließen?

Natürlich nicht. Aber wie wir in diesem Gespräch sehen werden, Rothschild geht es nie um die Verteufelung anderer Theorien. Alle haben ihre Berechtigung, aber nicht alle Vertreter der einen oder anderen Richtung können mit Kritik gut umgehen. Als der bis heute gefeierte und verhasste Ökonom John Maynard Keynes erkennt, dass die Märkte eben nicht mehr allein ins Gleichgewicht finden, wenn es zu heftigen Störungen kommt, wie etwa dem Börsendesaster 1929, drehen die traditionellen Ökonomen, wir werden sie hier im Wesentlichen als Neoklassiker bezeichnen, die Argumentation um. Die Störungen kämen immer nur vom Staat und aus der Politik. Würde man den Markt in Ruhe lassen, würden sich Märkte selbstverständlich wieder von selbst – durch die berühmte unsichtbare Hand – einpendeln. Diese Ansicht setzt sich ab Mitte der 1970er-Jahre – nach einer langen Phase des Keynesianismus, der natürlich nie in seiner wahren Form, eher länderspezifisch (zum Beispiel: Austrokeynesianismus) auftritt – langsam, aber mit Beharrlichkeit durch.

Dennoch sollte man unterscheiden. Aufseiten der Ökonomen dominiert dann wieder die Lehre der Neoklassik, auch an den Universitäten, während der Neoliberalismus eigentlich keine ökonomische Richtung darstellt, sondern die politische Ausprägung der Neoklassik ist. Privatisierung, Liberalisierung, Deregulierung. Von Margaret Thatcher über Ronald Reagan, aber auch Gerhard Schröder bis zum Schüssel/Grasser-Kurs in Österreich. Und genau durch diese Maßnahmen, Privatisierungen, Liberalisierungen oder der Propagierung der sogenannten dritten Säule in der Pensionspolitik (Pensionskassen!) wird in Europa sehr viel Geld frei. Geld, das auf Veranlagung wartet. In dieser Zeit spielen die riesigen institutionellen Anleger, die hohe Renditen sehen wollen, die Hauptrolle. Auf den üblichen Märkten sind diese aber nicht zu erzielen, schon gar nicht jene 25 Prozent, die der damalige Chef der Deutschen Bank jährlich sehen will – eine Forderung, mit der er berühmt wird. Der Finanzkapitalismus kommt und mit ihm eine Denkweise, die sich durchaus mit dem Satz zusammenfassen lässt: Geld muss mehr Geld bringen.

Wenn auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten zu wenig zu verdienen ist, dann müssen eben mit Geld Geldprodukte gekauft werden. In dieser Zeit beginnen mathematisch begabte Finanzgenies oder überhaupt Mathematiker, bestimmte strukturierte Pakete zu entwickeln und erobern damit den Weltmarkt. Alles andere ist bekannt.

Im Gespräch mit Kurt Rothschild beschäftigen wir uns immer wieder mit der Frage, ob man die Gefahrenpotenziale für diese internationale Krise nicht vorher hätte entdecken können. Oder ob sie nicht zumindest rasch nach Ausbruch zu stoppen gewesen wären. Und natürlich auch mit der seit Jahren gestellten Frage, ob wirklich alle Ökonomen versagt haben.

Haben sie nicht, jedenfalls nicht alle, aber auf die, die gewarnt haben, hat man nicht gehört.

Einer von ihnen ist Robert Shiller, Nobelpreisträger für Ökonomie (obwohl dieser Preis streng genommen nicht als Nobelpreis bezeichnet werden darf). Er gilt als Prophet der Dotcom-Blase im Jahr 2000 und der Finanzkrise ab 2008. Seit Beginn 2015 warnt er wieder und das nicht nur ein Mal. Und erneut vor gewaltigen Rückschlägen an den Börsen. Aber nicht mehr so laut. Wenn er nach dem Grund für die Zurückhaltung gefragt wird, sagt er: „Um endlich den Ruf zu verlieren, ein Crash-Prophet zu sein!“2 Er sei schließlich kein negativer Mensch, der das Ende der Welt herbeirede und immer nur auf Zahlen, Fakten, Märkte und Nachrichten schaue. Er gilt als Keynesianer, bezieht aber menschliche Verhaltensweisen wie irrationale Übertreibungen, Lemmingverhalten oder die Spieltheorie in seine Arbeit mit ein. Shiller ist auch als Mitbegründer der Verhaltensökonomie bekannt.

Das Menschenbild nimmt im Gespräch mit Professor Rothschild einen breiten Raum ein. Wir sind eben mehr als nur Zahlen und Daten. Wir haben Gefühle, wir empfinden Neid, haben soziale Statuswünsche und lassen uns vom Marketingkonzept gewiefter Konzerne immer öfter Bedürfnisse einreden, die wir bisher nicht hatten. Und haben wir sie dann endlich (aus Sicht des Unternehmens), können sie gar nicht mehr schnell genug befriedigt werden. Zuweilen hat man den Eindruck, dass der Wunsch nach neuen Smartphone-Modellen bald monatlich erfüllt werden sollte. Wenn es nach dem Konsumenten geht – nicht nach dem Produzenten.

Womit wir endlich beim Titel dieses Buches sind: „Wir werden nie genug haben.“ Einmal die Betonung auf genug, dann auf haben. Beginnen wir mit dem „haben“. Hier treibt der Ex-Schüler seinen Ex-VWL-Professor an den Rand der Verzweiflung. Dazu muss gesagt werden, dass schon das Thema meiner Diplomarbeit „Sättigungstendenzen Ursache dauerhafter Nachfrageschwäche?“ (1985) gelautet hat.

„Sie mit Ihrer Sättigung!“ – die Worte des Professors im Gespräch 2009. Der Mensch werde nie genug haben. Der Wunsch nach Neuem werde immer da sein. Aber warum eigentlich? Sogar Keynes hatte schon 1930 prophezeit, dass der Mensch in 100 Jahren, also 2030, genug haben werde. Bis dahin wäre der Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten erreicht und die Menschen könnten sich endlich ihren Freuden, ihren Hobbys, ihren Lüsten oder einfach der Muße hingeben. Es werde dann nur noch eine tägliche Arbeitszeit von drei Stunden notwendig sein, um den Wohlstand zu erhalten.

Daraus wird wohl nichts. Auch nicht bis 2030. Der Mensch ist nicht so. Er wird auch nicht genug haben. Im Sinne von „Jetzt reicht’s mir. Ich verlasse die belastende Welt der Arbeit, siedle ans Meer und werde zum Fischer – für den Eigenbedarf, versteht sich.“

Natürlich sind die „Heimat- oder Land-/Liebe-/Lust-/Freude-oder-wie-auch-immer“-Zeitschriften mit Themen und Einzelkämpfern dieser Art voll. Doch die Mehrheit bleibt. Hier. Und sie arbeitet. Bald 300 Millionen Überstunden in einem Jahr (Österreich) und auf der anderen Seite 30 Millionen Krankenstandsstunden wegen psychischer Erkrankungen, fast eine Verdreifachung in 15 Jahren. Die Milchmädchenrechnung: Zehn Überstunden stehen einer Stunde Krankenstand wegen Überlastung gegenüber. Wer da nicht an Neuverteilung denkt … Egal. Es wird sich nichts ändern. So wie beim „Haben“ Gier, Neid und ein wenig Angeberei eine „menschliche“ Rolle spielen, sind es beim (noch nicht) „Genug“ der Wunsch nach Anerkennung im Beruf, den die Menschen durch Kräfte antreiben, die sie selbst nicht kennen oder – wohl eher – nicht wahrhaben wollen.

Auch um Fragen wie diese (der insgesamt 96) wird es im Gespräch mit dem 96 Jahre alt gewordenen Dauer-Optimisten Kurt Rothschild gehen, der sein halb so altes Gegenüber nicht nur einmal gefragt hat: „Was sind S’ denn immer so pessimistisch? Die Firmen werden immer was Neues erfinden, die Menschen werden das auch kaufen und jede Krise geht irgendwann vorbei.“

Auch wenn alles so bleibt, wie es ist. Beim Thema Arbeit wird sich die Politik dennoch etwas einfallen lassen müssen. Jahr um Jahr wird das Wirtschaftssystem weniger Menschen brauchen, um es aufrechtzuerhalten. Acht Stunden am Tag an seinem Arbeitsplatz zu verweilen, in einem festen Verhältnis zum Arbeitgeber, ist klare Vergangenheit. Heute nicht über Arbeitszeitverkürzung zu sprechen, ist angesichts der technischen Entwicklungen nahezu naiv. Die Technik wird in Bereiche vordringen, die noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen sind. Smartphones, auch wenn sie an der Hand oder sonst wo Platz gefunden haben, werden von unseren Kindern nur noch belächelt werden. VR wird die Zauberabkürzung der künftigen Gegenwart sein. Virtuelle Realität mittels einer Art digitaler Taucherbrille. Video-Chats in der dritten Dimension. Klappt das neue 3D-VR-Projekt und die ersten Superbrillen kommen beim Konsumenten halbwegs an, könnte die gesamte Dienstreisewelt auf den Kopf gestellt werden. Die VR-Brille wird es auch möglich machen, bei Konzerten oder Sportevents wo auch immer auf dieser Welt virtuell vorbeizuschauen und dem Anwender ein Gefühl des „als ob dabei sein“, des „fast live“, spüren zu lassen. Mehr geht dann eigentlich nicht mehr. Möchte man meinen. Doch wie oft haben wir das schon gesagt, und tatsächlich könnte es noch viel schlimmer kommen. „Innerhalb der winzigen Elite der Milliardäre, die die Cloud-Computer betreiben, herrscht der laute, zuversichtliche Glaube, dass die Technologie sie eines Tages unsterblich machen wird. Google zum Beispiel finanziert eine große Organisation mit dem Ziel, ‚den Tod zu überwinden‘. Und es gibt viele Beispiele mehr. Ich kenne einige der Hauptbeteiligten der Anti-Tod- oder posthumanen Bewegung, die im Herzen der Silicon-Valley-Kultur sitzt, und ich bin der Ansicht, die meisten von ihnen leben in einer Traumwelt, die weit weg von jeder rationalen Wissenschaft ist“3, sagt Jaron Lanier, Informatiker, Künstler, Autor und Unternehmer aus New York, dessen Eltern aus Wien und der Ukraine stammen.

Tatsächlich verspricht der Google-Entwicklungschef Ray Kurzweil, Pionier in der Forschung zu künstlicher Intelligenz und Kopf der transhumanistischen Bewegung: 2030 haben die Computer den Tod abgeschafft. Sogenannte Nanobots, sehr kleine Roboter, die in die menschliche Blutbahn verfrachtet werden, könnten Viren, Bakterien und Krebszellen direkt bekämpfen. Und den Moment der „Singularität“ sieht Kurzweil schon in naher Zeit: die Fusion von künstlicher und menschlicher Intelligenz, womit eine digitale Kopie von Personen möglich gemacht werde.

Auch die Europäische Union investiert Hunderte Millionen Euro in das „Human Brain Project“ zur digitalen Ausleuchtung, Messung und Simulation des menschlichen Gehirns. Damit könnten früher oder später erkrankte Teile im Kopf durch Computerchips ersetzt werden. Implantate machen uns unsterblich, Roboter als Arbeitskraft überflüssig. Was machen wir dann noch da?

Selbst Stephen Hawking warnt: Die Entwicklung von vollständiger künstlicher Intelligenz könnte das Ende der menschlichen Spezies bedeuten.4 Und Nick Bostrom, Philosophieprofessor in Oxford und Mitgründer des „Centre for the Study of Existential Risk“ in Cambridge, zählt die Entwicklung künstlicher Intelligenz neben einem Nuklearkrieg zu den schwersten Bedrohungen für die Existenz der Menschheit.5

Ist der Mensch also bald nicht mehr als ein Netz aus Datenströmen, abgebildet in Zahlencodes? Wer kann wen noch bremsen? Sehen wir auch hier einen Auswuchs des ungezügelten Kapitalismus?

Zumindest könnte man an die Wissenschaft, und eben nicht nur an die Naturwissenschaften, appellieren, wieder Forschungseinrichtungen wie „Informatik und Gesellschaft“ zu fördern. So weit war man schon einmal. In Deutschland. Jetzt fehlt das Geld für interdisziplinäre Lehrstühle, wie sie übrigens auch Kurt Rothschild immer wieder gefordert hat.

„Wir müssen bei allen technologischen und ökonomischen Fragen immer danach fragen, ob sie demokratiekompatibel sind. Wir haben das Problem, dass der Liberalismus sich gewissermaßen selbst kannibalisiert, sich selbst auffrisst, indem er im ökonomischen Bereich auf die Spitze getrieben wird.“6 Der deutsche Kultursoziologe und Autor Thomas Wagner spricht gar von „technikbesessenen Silicon-Valley-Milliardären, die uns durch noch so attraktive und auch auf den ersten Blick nützliche Instrumente in eine Art Schlangenwürgegriff nehmen.“7

Sich mit den Auswirkungen der Einführung komplett neuer Technologien nicht zu beschäftigen, ist in der Tat ein unerklärliches Phänomen dieser Zeit. Im Silicon Valley denken jedenfalls immer mehr Software-Stars darüber nach, wie ein Gehirn in die virtuelle Realität „ge-loaded“ werden kann. Milliarden von Dollar fließen in diese Simulationsentwicklung und niemand stellt mehr die Frage des „warum“ und schon gar nicht jene nach der Gefahr, was denn passieren werde, wenn sich menschliches und computersimuliertes Gehirn gegenübersitzen werden. Lanier etwa plädiert für alten Humanismus statt neuer künstlicher Intelligenz. Dabei geht es nie um einen Stopp für die Entwicklung künstlicher Intelligenz oder menschenähnlicher Roboter-Mechanismen. Es geht um die Gefahr einer autonomen Funktion von nichtmenschlicher Intelligenz, deren Funktion eigentlich immer jene des Werkzeuges bleiben sollte. Der Soziologe Thomas Wagner meint dazu: „In gewisser Weise machen wir uns schon fit, indem wir ein Smartphone besitzen und uns daran gewöhnen, Tag und Nacht mit diesem Ding in Konversation zu treten; indem wir unsere geistigen Möglichkeiten eben auch organisch mit den Computern vernetzen.“8

Doch zurück in die Gegenwart. Noch ist es nicht so weit, noch beschäftigen wir uns mit den klassischen Fragen der Volkswirtschaftslehre, etwa mit jener der Beschäftigung. Industrie 4.0, 3D-Drucker, Roboterisierung, weitere Automatisierung in Bürojobs, Dienstleistungsberufen und für Transportfirmen (Drohnen als Paketzusteller usw.), selbstfahrende Autos – niemand kann seriös sagen, was diese technische Revolution für den Arbeitsmarkt bedeuten wird. Schätzungen gehen von jedem zweiten Job, der weltweit dadurch verloren gehe, bis zur völligen Kompensation der Jobverluste durch neue Arbeitsbilder aus. Noch sagt die Politik, dass sie trotz fortschreitender Roboterisierung mit Arbeitsmarktpolitik versuche, so viele Menschen wie nur irgendwie möglich im Beschäftigungsprozess zu halten. Aber wer glaubt das noch? Und werden die revolutionären technischen Entwicklungen tatsächlich den Wohlstand heben? Wenn ja, von wem?

Von jenen, die neue Softwares entwickeln, die an künstlicher Intelligenz, Transhumanismus und Singularität basteln, die Roboter erfinden, konstruieren, produzieren und verkaufen, mit Sicherheit. Wohl auch von jenen Kommunikationsstars, die zwischen den neuen Produktions- und Arbeitswelten und verunsicherten Konsumenten vermitteln, Lobbyisten und Beratern. Auch über sie wird Kurt Rothschild sprechen. Aber wer wird leer ausgehen bei den Digitalisierungsgewinnen innerhalb der kommenden 20 Jahre? Wenn immer weniger „menschliche“ Arbeit zu finden ist, wer finanziert dann unsere Sozialsysteme?