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Klaus-Rüdiger Mai

Die

Zukunft

gestalten

wir!

Wie wir

den lähmenden Zeitgeist

endlich überwinden

»Was heute nicht geschieht, ist morgen nicht getan,

Und keinen Tag soll man verpassen.

Das Mögliche soll der Entschluss

Beherzt sogleich beim Schopfe fassen,

Er will es dann nicht fahren lassen

Und wirket weiter, weil er muss.«

Johann Wolfgang von Goethe

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© 2021 LMV, ein Imprint der Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: istockphoto, GettyImages

Autorenfoto: © Sebastian Flemming

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-7844-8499-3

www.langenmueller.de

Inhalt

Vorbemerkung: Kampf um die Freiheit

I. Teil: Was ist geschehen?

Unser Leben – nur eine schlechte Angewohnheit?

Was auf dem Spiel steht

Die nervöse Gesellschaft

Der Lauf der Geschichte

Teil II: Was ist notwendig?

Ohne Kultur keine Demokratie

Herrschaft des Volkes oder für das Volk

Die Reform der Demokratie

Eine Grundform der Freiheit

Ungewisses Deutschland

Die gebildete Nation

Demokratisch formulierte Wirtschaft

Nachbemerkung: Ein Traum von Deutschland

Quellennachweise

Vorbemerkung: Kampf um die Freiheit

Blicken wir zunächst in die Gegenwart und in die Geschichte der Staaten der Erde, scheint die Demokratie als Regierungsform nicht die Regel, sondern die Ausnahme zu sein, eine Anomalie zwar, aber eine, wirft man den zweiten Blick auf den wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfolg der demokratisch verfassten Staaten, die sich als ausgesprochen zweckvoll erweist. Die Demokratie ist die politische Form der Freiheit.

In unseren Tagen spricht leider einiges dafür, dass diese »Anomalie« in Deutschland unter Beibehaltung des Begriffs Demokratie Stück für Stück abgeschafft wird, indem die Bürgerrechte und mithin die bürgerlichen Freiheiten eingeschränkt werden. Eingeschränkte Freiheiten sind keine mehr, und die Rechte der Bürger zu beschneiden bedeutet, die Demokratie abzuschaffen, denn in der Demokratie geht die Herrschaft vom Volk, von den Bürgern aus. Wie kann die Herrschaft von den Bürgern ausgehen, wenn ihre Rechte dafür beschnitten werden? Hierzulande wird der Wert der Freiheit unterschätzt.

Es ist Ihnen wie mir selbstverständlich, dass menschliches Zusammenleben nicht ohne Hierarchien funktioniert. Aber bei näherem Hinsehen ist es genauso selbstverständlich, dass Hierarchien zur Verstetigung von Macht tendieren, während ein Ziel der Demokratie im Wechsel der Mächtigen besteht. Die Demokratie bleibt also ihrer Natur gemäß ein fragiles Gebilde, das stets von der Bildung informeller Mächte bedroht wird, die dazu neigen, Demokratie durch bürokratische oder charismatische Herrschaft zu ersetzen. Auch sogenannte herrschaftsferne oder anarchistische Gebilde kommen nicht ohne Macht- oder Hierarchiesysteme aus. Nur weil sie sich anders organisieren, heißt das längst nicht, dass sie keine Strukturen der Herrschaft ausbilden, Herrschaften übrigens eher charismatischer Art mit emotionalen statt rationalen Gefügen. Das Mittel der Herrschaft nennen wir Macht, denn Macht bedeutet, die Möglichkeit zu besitzen, die eigenen Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen. Oder in den Worten von Max Weber ausgeführt: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.«1

Nun erkennt man eine funktionierende Demokratie an zweierlei, zum einen daran, dass in ihr die Macht stets »rechtfertigungsbedürftig« ist, weil »alle Machtanwendung« »Freiheitsbegrenzung«2 ist, und zum anderen daran, dass sie sich festsetzende Strukturen von Macht immer wieder durchbricht, denn wo Machtakkumulation und Machterstarrung nicht durchbrochen werden, wird auch Stück für Stück die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Macht kassiert.

Wir stoßen hier auf eine zwar sehr einfache, doch enorm wichtige Tatsache, die aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit aus den Augen zu geraten droht – und, ist sie in Vergessenheit geraten, alles andere als selbstverständlich sein wird. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Macht gehört nämlich zu den Grundbedingungen der Demokratie. In dem Moment, indem eine politische Klasse sich der Rechtfertigung enthoben glaubt, verlässt sie auch schon den Boden der Demokratie. Damit würde der stete, für die Demokratie als Balanceakt bestimmende Konflikt, ihr dynamisches Moment von Macht und Freiheit, wegfallen. Dort, wo die Balance sich zugunsten der Freiheit verschiebt, entsteht Anarchie, wenn jedoch die Macht über die Freiheit siegt, bilden sich Oligarchien heraus. Eine Demokratie, die keine starken Elemente von Checks and Balances und keine Institute der Diskontinuität besitzt, sie durch die Kontinuität der Macht ersetzt hat, versteinert. Dieser Staat funktioniert lediglich als Machtmaschine einer Clique. Daraus ergibt sich die Frage, deren Beantwortung für eine erforderliche Reform der Demokratie entscheidende Bedeutung besitzt, ob die Regularien eines demokratischen Staates auf Verewigung und Verstetigung oder auf Veränderung und Wechsel von Macht angelegt sind.

Die deutsche Demokratie befindet sich im Übergang, in einer Verschiebung der beschriebenen Balance, sie wird bürokratischer, sie wird oligarchischer. Ist Ihnen der Ton noch nicht aufgefallen, mit dem Sie von Politikern, von Medien in den letzten Jahren verstärkt angesprochen werden, so, als wären Sie ein Kind? Die Beispiele hierfür sind Legion. Ich nenne nur die Ansprachen in der Pandemie: Weil Sie als Bürger nicht brav waren, sich nicht am Riemen gerissen haben, nicht, wie es der Chef des RKI, Wieler, sagte, die Pobacken zusammengepresst haben, werden Sie nun mit dem Lockdown bestraft. Das haben Sie nun von Ihrer Bockigkeit. Übrigens werden Sie schon lange nicht mehr als Bürger angesprochen, sondern als Mensch, als Sozialstaatsobjekt. Die Ersetzung des mündigen Bürgers durch den medial zu betreuenden Menschen kenne ich aus dem Sozialismus. Glauben Sie mir, ist der »Bürger« erst einmal durch den »Menschen« ersetzt, ist der Tag nicht mehr fern, an dem aus den »Menschen« »unsere Menschen« werden. Wollen Sie Angela Merkels oder Annalena Baerbocks Mensch sein?

Sie können es allenthalben und allerorten beobachten, dass führende Politiker den Bürger nicht mehr achten, sondern ihm mit einer herablassenden Gouvernantenhaftigkeit begegnen, weil in ihren Augen, aber eben auch in der Realität nicht die Wahl, sondern der Listenplatz entscheidet, nicht der Bürger, sondern der Parteivorstand. Volksvertretern, die gestern noch das Grundgesetz gefeiert haben, fällt nicht einmal mehr auf, dass sie das Grundgesetz außer Kraft setzen, wenn sie ein Gesetz beschließen, das die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Demonstrations- und Versammlungsfreiheit und das Recht auf Freizügigkeit abschafft.3 Manche werden einwenden, dass im Gesetzestext das Wort »eingeschränkt« steht, aber das ist nur eine billige Camouflage, denn eine eingeschränkte Freiheit ist eben keine Freiheit mehr. Politiker, die den Bewegungsradius der Bürger auf 15 km im Umkreis begrenzen wollen und Ausgangssperren verhängen, spielen Diktatur, sie drohen einem weitaus schlimmeren Virus, dem Virus der Unfreiheit zu erliegen.

Erschreckender sind für mich jedoch die unverhohlenen totalitären Neigungen, die wieder fröhliche Urständ feiern, die Leichtigkeit, mit der die Freiheit aufgehoben und Wahlen »rückgängig«4 gemacht werden sollen, die Respektlosigkeit dem Wählervotum gegenüber. Der deutsche Untertanengeist reüssiert, und zur Überraschung besitzt er keinerlei politische Bindung, fühlt er sich rechts so wohl wie links. Der wahre Liberalismus ist in Deutschland unbehaust, weil die Parteiliberalen die Liberalität und die Freiheit in Erfurt und oft auch noch danach verraten haben. Die Parteiliberalen haben das Gespür für Freiheit verloren, wenn sie es denn je besaßen. Die Linken zumindest haben es nie gehabt. So bleibt als Aufgabe des politischen Deutschlands, Ihre und meine und Ihrer Nachbarn Aufgabe, den klassischen Liberalismus zu entdecken, dessen Grundüberzeugung in der nicht verhandelbaren und nicht einschränkbaren Freiheit des Bürgers, Ihrer Freiheit, besteht, zu deren Bedingtheiten das Recht auf das Eigentum und die Verantwortung gehören, denn Freiheit ohne Verantwortung mündet in Verwahrlosung, während wiederum die Übernahme von Verantwortung Freiheit voraussetzt. Ich werde in meinem Buch zeigen, dass der Wert der Freiheit weitaus größer ist, als man gemeinhin annimmt.

Der Kampf für unsere Zukunft wird ein Kampf für die Freiheit sein. Reaktionäres Denken können Sie leicht erkennen, auch wenn es sich jugendlich schminkt und kleidet und jeden Tag die ganze Welt, das heißt nur die Guten in der Welt umarmen will, stets die Phrase von Nachhaltigkeit, von Verantwortung für kommende Geschlechter, vom Ende des Wachstums und vom Umdenken oder Neudenken im Munde führt, wir erkennen es schlicht daran, dass es die Freiheit und die Bürgerrechte einschränken oder aufheben will, was beides auf das Gleiche hinausläuft, nämlich auf die Annullierung der Freiheit und der Bürgerrechte aufgrund höherer, sogenannt ethischer Ziele. Die Zukunft, für die sie einzutreten glauben, von deren Ende sie meinen zu denken, ist in Wahrheit nur die Gegenwart ihres Herrschaftsausbaus.

Reaktionäres, obrigkeitsstaatliches Denken denunziert die grundlegende Prämisse der Aufklärung, nach der sich der Bürger kritisch und mündig verhalten soll, und will stattdessen den Bürger nötigen, sich vorbehaltlos und tief gläubig den »Interpretationseliten«5, wie von dem Steinmeier-Biografen Torben Lütjen in der FAZ gefordert, oder unseren »Wahrheitssystemen«6, wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer meint, anzuvertrauen, um bloß nicht durch eigenes Denken und Nachfragen auffällig zu werden. John Stuart Mill, den es gerade in unserer Zeit lohnt zu lesen, hat in der Schrift »Betrachtungen über die Repräsentativregierung« die Bürger in aktive und passive eingeteilt. Tiefgläubige Bürger, die den Interpretationseliten oder unseren Wahrheitssystemen folgen, wären nach Stuart Mills Klassifikation passive Bürger, die von den Regierenden bevorzugt werden, weil sie leicht zu leiten sind. Wollen Sie ein passiver Bürger sein, nach neuer Terminologie der »Mensch«? Denn der passive Bürger oder der Mensch der Regierung regrediert zum Untertanen.

Es ist daher vollkommen klar, dass die Forderung, der Bürger habe der Regierung Vertrauen entgegenzubringen und sich nicht etwa der Führung seines Verstandes, sondern der Führung durch die Interpretationseliten anzuvertrauen, schließlich die Demokratie selbst infrage stellt. So bezweifelt der FAZ-Redakteur Mark Siemons, dass »die komplexen demokratischen Verfahren überhaupt in der Lage« sind, ernsthafte Situationen zu meistern, beispielsweise »vor außergewöhnlichen Bedrohungen wie der einer weltweiten Seuche zu schützen«7. Wer so fragt, plädiert für das Durchregieren einer Regierung, die durch nichts, durch keine Parlamente, durch keinen Föderalismus, durch keine »Diskussionsorgien« mehr gehindert werden kann. Erinnern Sie sich beispielsweise an die Bergwerkunglücke in China oder an den Super-GAU in Tschernobyl. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass eben genau das Krisenmanagement in Diktaturen im Vergleich zu Demokratien weitaus verheerender stattfindet. Nicht die »komplexen demokratischen Verfahren« versagen in der Coronakrise, sondern konkret die Regierung Merkel.

Der Obrigkeitsstaat bereitet seine Neuauflage vor und bekommt durch die Vielzahl der Krisen, der echten wie der Coronapandemie und der propagierten wie der Klimakrise, Wind unter den Flügeln, denn er rechtfertigt sich mit der durchsichtigen Behauptung »Not kennt kein Gebot« und nötigt die Bürger mit Verboten, denn Not ist inzwischen immer. Er reduziert die Freiheit zugunsten der Macht – und bekommt dafür von Kultur- und Medienschaffenden viel Beifall. Das wirkt auf den ersten Blick paradox, weil doch gerade jene Kräfte stets im Namen der Freiheit auftreten, erklärt sich aber aus der einfachen Tatsache, dass der Obrigkeitsstaat diesmal von links kommt. Wenn Sie den Aktivismus der Kultur- und Medienschaffenden zu verstehen wünschen, der die Objektivität zur veralteten und überdies schlechten Angewohnheit erklärt, so schlagen Sie einfach Wladimir Iljitsch Lenins Schrift »Parteiorganisation und Parteiliteratur« aus dem Jahr 1905 auf, denn Aktivismus ist nur ein neuer Name für den alten Begriff der Parteilichkeit. Lenin fordert darin eine strikte Parteilichkeit der Arbeiter des Wortes: »Die literarische Betätigung muss ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden.«8

Es droht vor lauter »Kampf gegen rechts« die Tatsache in Vergessenheit zu geraten, dass zumindest im Osten das letzte Mal in Deutschland der Obrigkeitsstaat von links kam, schon einmal sich die Liberalen als Gefolgsleute dieses autoritären Geistes von links erwiesen und die Christdemokraten auch, indem sie mit der SED gemeinsam den demokratischen Block bildeten.

Andererseits macht mir der Soziologe und Theoretiker der Macht Heinrich Popitz Mut: »Wo ein neues, sensibilisiertes Freiheitsbewusstsein durchbricht, werden Machtverhältnisses in Frage gestellt.«9 Es besteht also keinerlei Veranlassung, die Rolle des Untertans einer Gemeinwohltyrannis anzunehmen und sich der Macht zu fügen, denn niemand besitzt ein Abonnement auf Macht, und es ist doch mehr als fraglich, ob jemand überhaupt die Macht auf Dauer in seinem Besitz zu halten vermag, denn zuerst hat man die Macht, und dann hat die Macht einen. Hat die Macht den Machthaber, unternimmt er alles, um sie zu behalten, wird zum Getriebenen der Macht, das ist exakt der Moment, wo er beginnt, sie zu verlieren. Popitz ist überzeugt – und ich mit ihm: »Macht ist machbar, Machtordnungen sind veränderbar, eine gute Ordnung entwerfbar: es kann getan werden.«10 Wenn es also getan werden kann, weshalb tun wir es dann nicht, Sie und ich? Mutiger, als für die Freiheit in der Stunde ihrer Verleugnung und Geringschätzung einzutreten, ist nichts, moderner und fortschrittlicher, dabei auch noch uns gemäßer erst recht nichts, denn wir werden nur eine Zukunft in Freiheit haben, weil die Freiheit die Grundbedingung für Innovationen, für Erfindungen, für erfolgreiches Wirtschaften und schließlich für Wohlstand ist.

In einer Situation, in der die Spannung zwischen dem Wirklichen und dem Gewünschten sich in dem Grade steigert und schließlich erhitzt, in dem der Wirklichkeitsverlust der Herrschenden durch ihren Wunschwillen kompensiert wird, erweist sich in einer Welt aus Alternativen nur eins als tatsächlich alternativlos: endlich die Debatte zu eröffnen, die sich nicht in der Kritik oder in einem wehmütigen Blick in die besonnte Vergangenheit erschöpft, sondern in der eine Alternative zur angestrebten Oligarchie mit Blick auf die Zukunft endlich formuliert wird.

Es ist tragisch zu sehen, dass dem Konservatismus in diesem Umbruch Aufgaben aufgebürdet werden, die nicht seiner Natur entsprechen und die er allein zu lösen nicht die geringste Chance besitzt. So notwendig ein progressiver Konservatismus ist, wird er nur ein Teil der Lösung, aber nicht die Lösung in toto sein können.11 Konservatismus ist ehrbar, reicht aber bei Weitem nicht aus. Wer nur bewahren will, verliert, was er zu behüten beabsichtigt, er muss es im Hegel᾽schen Sinne aufheben. Er muss Teil einer politischen Vernunft werden, die undogmatisch aus der europäischen Tradition erstens des Konservatismus mit Blick auf unsere kulturelle Identität, zweitens des Sozialismus mit Blick auf die soziale Frage, die von den Linken und von der SPD vollständig vergessen wurde, und drittens des Liberalismus mit Blick auf die Freiheit schöpft in diesem großen Epochenumbruch, in dem wir uns bereits befinden und den ich im Folgenden Paradigmenwechsel nenne. Das Elend unserer Zeit besteht darin, dass der Konservatismus, was er bewahren will, der Sozialismus die soziale Frage und der Liberalismus die Freiheit vergessen haben. Sind die drei großen politischen Ideen Europas, der Konservatismus, der Sozialismus und der Liberalismus, ausgebrannt, leer und überholt?

Von den Linken, den Sozialdemokraten, den Grünen, aber auch von der CDU, selbst vom Weltwirtschaftsforum in Davos wird inzwischen unsere Gesellschaftsordnung infrage gestellt und eine tiefgreifende Veränderung bis hin zum Systemwechsel gefordert, nur glauben all jene, dass sie allein zur Antwort berechtigt seien. Dieses Buch wird die großen politischen Ideen neu lesen und Alternativen zu einem Zeitgeist formulieren, der unsere Gesellschaft transformieren will.

Bevor wir jedoch sagen können, was getan werden muss, haben wir zunächst zu verstehen, wie wir überhaupt in diese Situation geraten sind, denn die Coronapandemie ist nicht die Schöpferin dieser neuen Verhältnisse, sie erzwingt sie auch nicht, wie man uns glauben machen möchte, sie trägt lediglich als effektiver Katalysator zum ohnehin angestrebten Gesellschaftsumbau bei. Es gilt also, diejenigen in den Blick zu nehmen, die einen Gesellschaftsumbau oder einen Systemwechsel vorantreiben, ihre Ziele, ihre Motive und ihre Strategien, wes Geistes und welcher Mächte Kind sie sind.

I. Teil: Was ist geschehen?

»Man muss jede Sphäre der deutschen Gesellschaft als die partie honteuse der deutschen Gesellschaft schildern, man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt! Man muss das Volk vor sich selbst erschrecken lehren, um ihm Courage zu machen.«

Karl Marx

»… dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.«

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno

»Ein Käfig geht einen Vogel fangen.«

Franz Kafka

Unser Leben – nur eine schlechte Angewohnheit?

Die Geschichte im engeren Sinne, die zu verstehen ist, beginnt im Jahr 1990. In jenem Jahr prangte von einer Häuserwand im Osten Berlins der trotzige Spruch: »Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übrig geblieben.« Man lächelte darüber, auch ich. Aber die Stunden des großen Sieges sind zugleich Stunden der großen Niederlage, und die wenigsten Triumphatoren hören auf den Sklaven, der im Triumphwagen neben ihnen steht, obwohl er ihnen unablässig warnend ins Ohr flüstert: »Respice post te, hominem te esse memento (Sieh dich um; denke daran, dass auch du ein Mensch bist).«

Im Gefühl des großen Sieges über den Kommunismus feierte sektkorkenknallend der amerikanische Politologe Francis Fukuyama den Erfolg des liberalen Projekts in der ultraliberalen Schrift »Das Ende der Geschichte«, denn sowohl der Sozialismus als auch der Konservatismus waren zu dieser Stunde vollkommen tot.

Nach dem Untergang des Kommunismus durch die friedlichen Revolutionen in Ost- und Südosteuropa sowie in Ostdeutschland und dem Zusammenbruch der UdSSR 1989 glaubte Francis Fukuyama, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft im Kampf der Systeme endgültig durchgesetzt hätten und der liberale Westen ungehindert von Erfolg zu Erfolg schreiten würde. Marktwirtschaft und Demokratie hätten deshalb gesiegt, weil sie letztlich den größten Wohlstand für die meisten Menschen, allen die größte Freiheit und soziale Anerkennung brächten.

Im Sinne Hegels, meinte Fukuyama damals, habe die Geschichte mit dem Sieg des Westens, der liberalen Demokratie ihr Ziel erreicht und sei demzufolge zu ihrem Ende gekommen, auch wenn die liberale Demokratie keineswegs schon auf der gesamten Welt verwirklicht worden wäre und sie selbst noch und immer wieder optimierungsbedürftig sei.

Die deutsche Übersetzung dieser Vorstellung legte gewissermaßen der Historiker Heinrich August Winkler mit dem zwar nicht in der Historikerzunft, dafür aber in politischen Kreisen einflussreichen Werk »Der lange Weg nach Westen« vor. Mit der deutschen Wiedervereinigung in Freiheit und Demokratie wäre auch die deutsche Geschichte an ihr Ziel gelangt, wäre Deutschland endlich im Westen angekommen. Winkler bemühte zwar die abwegige Sonderwegthese, nachdem die Deutschen in der Geschichte lange Zeit einem Sonderweg gefolgt wären: »Deutschlands Weg nach Westen war lang und auf weite Strecken ein Sonderweg«12, was die Frage aufwirft, was in der europäischen Geschichte Norm und was Abweichung war.

Will man verstehen, wie in Deutschland speziell das liberale in ein linksliberales Projekt kippte, genügt als Indiz der erhellende Blick auf die Einmütigkeit der politisch unterschiedlich verorteten Laudatoren von Winklers Buch. Joschka Fischer nannte das Werk des Historikers ein »ungewöhnlich gedankenreiches, pointiertes und spannendes Werk«, Gerhard Schröder attestierte dem Historiker, dass er »Geschichte als Vermächtnis und als Verpflichtung zur Gestaltung von Gegenwart und Zukunft« begreife und dass deshalb Winklers Werk auch »für Politiker so wertvoll« sei. Wolfgang Schäuble wurde grundsätzlicher, wenn er einschätzte: »Wer Deutschland am Beginn des neuen Jahrtausends verstehen will und wer Antworten sucht, welchen Weg das vereinte Deutschland in die europäische Zukunft wählen sollte, der darf auf Heinrich August Winklers Werk nicht verzichten.«13 Sie bezogen sich auf Winklers Diktum, dass die Deutschen »der Vergegenwärtigung ihrer Geschichte« bedürfen, überlasen, bis auf Gerhard Schröder – vielleicht – Winklers Mahnung: »Eine europäische Identität wird sich nicht gegen die Nationen herausbilden, sondern nur mit ihnen und durch sie.«14

Gleichwohl verschaffte Winklers Geschichtsbelletristik grünen wie sozialdemokratischen als auch christdemokratischen Politikern in damals noch seltener Einmütigkeit die erhabenen Gefühle einer grenzenlosen Postnationalität. Nichts schätzt man in Deutschland höher als erhabene Gefühle, es ist sozusagen eine Nationalkrankheit, ein romantisches Laster, dem alle frönen von links bis rechts, vom ergrünten Chef des evangelischen Kirchenamtes, wenn er auf die sogenannte Seenotrettung, bis zum AfD-Mann, wenn er auf seine Deutschlandflagge schaut.

Vor allem wurde Winklers Werk als die schnellstmögliche Auflösung des gerade wiedervereinigten Deutschlands in eine wie auch immer geartete Europäische Union gefeiert, in einen Westen, von dem niemand im Westen mit Ausnahme der deutschen Eliten träumte. Winkler hatte allerdings eine sehr deutsche Vorstellung vom Westen abgeliefert. Übrigens – und das ist symptomatisch – erscholl das Lob der zitierten Politiker zeitgleich mit der Einführung des Euros, die ebenfalls mit der Lyrik historischer Sinnstiftung und nicht fiskalpolitisch orchestriert wurde. Politisch gehören Winklers EU-Panegyrik und die Einführung des Euros zusammen, geradeso wie verso und reverso einer Münze. Nicht umsonst hat die Bundeskanzlerin verkündet: »Scheitert der Euro, scheitert Europa.« Für die deutsche Bundeskanzlerin ist der Euro Europa.

Einstweilen bleibt festzuhalten, dass nicht Heinrich August Winkler einer neuen Elite die Confessio und das Manifest verfasst, sondern er lediglich dem, was die neuen Eliten denken und fühlen, eine historische Rechtfertigung geliefert hat, ihrem Traum vom Aufgehen Deutschlands in einem europäischen Zentralstaat als Erlösung vom Deutschsein, was immer das auch sein mag. Doch der Wunsch nach Erlösung vom Deutschsein ist deshalb problematisch, weil er von etwas zutiefst Deutschem angetrieben wird, von einem aufs Ganze gehenden Moralismus, von den behaglichen Träumen einer politischen Romantik.

Dreißig Jahre später, nachdem die Inschrift auf der Berliner Häuserwand längst anderen weichen musste, dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Siegeszug des Westens, der sich zu Tode gesiegt hat, weil er keinen Sinn mehr zu stiften vermag, und zum anderen der Globalisierung, die nicht nur im Westen zum Aufschwung und zu einem wachsenden Wohlstand führte, spielt sich plötzlich Erstaunliches vor unseren Augen ab, etwas, das sich niemand hätte damals vorstellen können. Ein längst tot geglaubtes Gespenst entstieg den Geisterbeschwörungen kleiner, verschworener Kreise und ging erneut in Europa um. Karl Marx und Friedrich Engels hatten 1848 den Kommunismus als ein Gespenst, das in Europa umginge und gegen das sich die Mächte Europas verschworen hätten, begrüßt.

Auch wenn die beiden Klassiker des Sozialismus den Kommunismus ironisch als Spukgestalt einführten, ließ die launige Camouflage doch tief blicken und besaß einige Berechtigung. Zum einen erinnerten Karl Marx und Friedrich Engels daran, dass der Kommunismus als untote Hoffnung auf soziale Gerechtigkeit durch die Menschheitsgeschichte geistert, zum anderen verkündeten sie damit ihren Vorsatz, dem Gespenst Leben einzuhauchen, indem sie im »Kommunistischen Manifest« der spukenden Idee eine möglichst realistische Programmatik verliehen. Sie fassten die Geschichte soziologisch und die Soziologie historisch. Das Gespenst blieb natürlich Gespenst trotz aller Rationalisierungsbemühungen, und seine Ordnung realisierte sich dementsprechend als gespenstisch. Diese Ordnung, die man wahlweise Kommunismus oder Sozialismus nannte, musste daher, als die Spannung schließlich zwischen Utopie und Realität zu groß geworden war, implodieren, wie es dann 1989 auch geschah. Letztendlich siegte der politische Rationalismus über die Vorstellungen einer romantischen Politik, gegen die politische Romantik schlechthin – zumindest für eine Weile. Ideen kann man ad acta legen, Gefühle jedoch nicht, und Ideen, die auf Gefühlen beruhen, erst recht nicht.

Die große Hoffnung auf Gerechtigkeit, die Marx und Engels vom Kopf auf die Füße zu stellen versuchten und von der die Menschheit schon träumt, seitdem die urgeschichtliche Gleichheit schwand, endete leider und dennoch notwendigerweise in einer der größten Katastrophen der menschlichen Geschichte, der lichte Traum im finsteren Albtraum, weil die große Abwesende dieses Gesellschaftsumbaus die Freiheit war, die Freiheit im politischen, im wirtschaftlichen, im kulturellen Bereich. Kein anderes soziales Experiment in der Geschichte der menschlichen Gesellschaft hat mehr Leben zerstört als dieses. Und als hätte sich all das nicht ereignet – und sogar vor nicht allzu langer Zeit –, schickt sich zu meinem Erstaunen dieses Gespenst an, erneut seine Erleuchteten über die Lande zu schicken, die gründlich die schaurigen Folgen seiner Herrschaft vergessen haben, nur in anderer Gestalt, nur, dass sich diesmal »alle Mächte des alten Europas« nicht gegen dieses Gespenst einer neuen, gerechten Gesellschaftsordnung »verbündet«15, sondern, dass die neuen Eliten dieses Gespenst beschworen und schließlich in einer Art Geisterbeschwörung wiedererweckt haben.

Die Liberalität der Konsumgesellschaft, der beträchtliche Wohlstand hatte beim juste milieu der Bundesrepublik eine existenzielle Langeweile und eine metaphysische Not ausgelöst, sodass man nach einer neuen Idee verlangte, die nicht nur unverbraucht, neu, juvenil, sondern auch sinnstiftend auf ein innerweltliches Heil hin zu sein hatte, auch auf die Gefahr hin, dass sie eine alte war. Johan Huizinga berichtet, dass im Spätmittelalter in der Zeitenwende zur Neuzeit in Burgund dieselben Menschen, die an einem Tag dem Luxus und dem Spektakel frönten, sich tags darauf harter Askese unterwarfen, um bald schon wieder das Wohlleben zu genießen. Manche trugen unter der feinsten Seide grobe und kratzende Unterwäsche, um an ihre Sündhaftigkeit erinnert zu werden. Heute geschieht es eher umgekehrt, weil der Wunsch nach Erlösung und Ablass nicht mehr auf ein Transzendentes hin, sondern strikt innerweltlich gerichtet ist. Inzwischen ist es die Erde, die der Himmel ist, die Buße für die Sünden erwartet. Die ins Extrem getriebene persönliche Freiheit suchte nach einem Ausgleich, einem Zwang, einer neuen Metaphysik, die es im Moralismus fand, in dem guten alten, in den Laboratorien der politischen Wissenschaften verjüngten Gespenst. Ein wenig Sehnsucht nach Ablass und dem Genuss schaurig-anheimelnder Schuldgefühle spielte dabei mit.

Niemand will inzwischen mehr etwas mit dem Kapitalismus zu tun haben. Wolfgang Schäuble fasste diese neue Abneigung dem Kapitalismus gegenüber in die Worte, die im Duktus der Reue eines älteren Herrn angesichts seiner wilden Jugend daherkommen: »Wir haben es mit dem Kapitalismus übertrieben.«16 

Linke, Grüne, Sozialdemokraten, die Bundeskanzlerin, aber auch der Initiator des Weltwirtschaftsforums von Davos, Klaus Schwab, stehen plötzlich vereint in dem Ziel, den Kapitalismus entweder abzuschaffen oder ihn so weit zu reformieren, bis tatsächlich nichts mehr von ihm übrig bleibt und sein unverzeihlicher Sieg rückgängig gemacht wurden ist. Plötzlich darf nichts mehr bleiben, wie es ist, allein schon deshalb nicht, weil ein neuer Imperativ verlangt, dass nichts mehr bleiben darf, wie es ist. Die Art und Weise, wie wir uns in den letzten Jahren »angewöhnt« hätten zu leben, sei so schlecht, so unzeitgemäß, dass sie im großen Stil zu verändern wäre, wie die Bundeskanzlerin in Davos befand.17

Ihr und mein Leben also als eine schlechte Angewohnheit? Politik als Erziehungsanstalt, die Ihnen und mir diese schlechte Angewohnheit austreiben möchte wie das Kauen an den Fingernägeln? Wollen Sie wirklich erzogen werden? Möchten Sie sich von Studenten der Politikwissenschaft sagen lassen, wie Sie zu leben haben? Gesellschaftliche Bewegungen, insbesondere die sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), und die politischen Eliten steigern sich gegenseitig und miteinander in einen Tabularasa-Rausch hinein, in einen Tanz um das gute alte, ein wenig verwunderte Gespenst, der an das berühmte Gleichnis von dem Esel erinnert, der aufs Glatteis läuft, weil es ihm zu gut geht.

Wie ich in der Theorie vom Paradigmenwechsel zeigen werde, befindet sich in der Tat die westliche Gesellschaft in einem tiefen Umbruchsprozess. Von daher reagieren die Eliten teils auf objektive Prozesse, nur wird erstens festzustellen zu sein, dass die Lösungen, die beispielsweise von der Kanzlerin als alternativlos vorgeschlagen werden, es keineswegs sind, und zweitens werde ich untersuchen, welche anderen Perspektiven dieser Veränderungsprozess bietet.

Die Eliten reagieren in der Tat auf einen echten Umbruch, nur tun sie es mit einem falschen Bewusstsein dieses Umbruchs.