Während die junge Reichsgräfin Sturm das weiße Schloß und den aristokratischen Boden für immer verließ, ging der Minister in seinem Arbeitszimmer auf und ab – es sah aus, als zermartere der Mann sein Gehirn nach einem einzigen klaren Gedanken. Das Haar, das sonst einen glatten Bogen über die Stirn beschrieb, fiel wirr durcheinander – die Hand fuhr dann und wann, ganz gegen die Gewohnheit des eine tadellose Außenseite streng festhaltenden Diplomaten, in grimmiger Hast durch die parfümierten, graugesprenkelten Strähnen.
Endlich warf er sich erschöpft an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Die schöne, junge Braut mit den großen Taubenaugen und den Feldblumen in den Händen lächelte fort und fort von der Wand hernieder auf den Mann, dem allmählich leichte Schweißperlen auf die wachsbleiche Stirn traten, während die Zähne wie im Fieber hörbar zusammenschlugen und die Hand, die sonst einem eisernen Willen auch in eisern starren, festen Linien gehorchte, krause, unsichere Hieroglyphen auf das Papier warf.
Schon nach wenigen Zeilen schleuderte er die Feder weit von sich, nahm den Kopf zwischen die Hände und rannte abermals in unbeschreiblicher Aufregung hin und her... War es doch, als scheue er sich vor dem zierlichen Tisch dort vor dem Fenster, der einen kleinen Mahagonikasten auf seiner runden Platte trug. Das Tischchen stand immer auf derselben Stelle, seit Baron Fleury das weiße Schloß sein eigen nannte und nach seinem Geschmack eingerichtet hatte, und der Mahagonikasten war der unzertrennliche Reisebegleiter Seiner Exzellenz und befand sich auch im Bureau des Ministerhotels zu A. stets in seiner Nähe. Während aber jetzt sein Fuß dem unscheinbaren Möbel sichtbar auswich, glitten die scheuen Augen immer wieder hinüber, als zucke aus dem kleinen Kasten ein magnetisch bezaubernder Schlangenblick...
Und mit jeder vorüberrollenden Viertelstunde, welche die Uhr mit seinem silbernen Klange unerbittlich pünktlich anzeigte, verdoppelten sich die Schritte des Auf- und Abwandernden, bis er plötzlich, wie mittels eines gewaltsamen Ruckes, halb atemlos vor dem Tischchen stehen blieb und mit hastigen, unsicher tappenden Händen den Kasten aufschloß... Er sah nicht hinein in das kleine, elegant ausgestattete Viereck – seine Augen irrten über den türkischen Fenstervorhang, wie wenn sie die orangegelben Arabesken zählen müßten, während seine Rechte einen Gegenstand ergriff und in die Brusttasche gleiten ließ.
Diese einzige Bewegung gab plötzlich der haltlos zusammengebrochenen Erscheinung des Mannes einen Anschein von Entschlossenheit zurück... Er schritt nach der Tür. Auf der Schwelle wandte er sich noch einmal um – durch die klaffende Tür und das schräg gegenüberliegende geöffnete Fenster fuhr der Nachtwind und jagte die Flamme aus der auf dem Schreibtisch stehenden Kugellampe – sie züngelte nahe am Vorhang hin.
Der Minister stieß ein leises, hämisches Lachen aus; er verfolgte einen Augenblick die Flammenzunge, wie sie sich reckte und streckte und, um wenige Linien zu kurz, vergeblich an dem Stoff zu lecken versuchte – unwillkürlich streckte er die Hand aus, als müsse er ihr zu Hilfe kommen – bah, wozu? Das Schloß war zu einer enorm hohen Summe versichert, und die drunten tanzten, waren längst entflohen, bis die Flammen an den Deckenbalken fraßen und die Kronleuchter hinunterschleuderten!...
Er schloß die Tür leise und glitt auf den Zehen durch mehrere anstoßende Zimmer. Vor dem Gemach seiner Gemahlin blieb er stehen und drückte das Ohr an die Türspalte – leise Klagelaute drangen heraus... Jetzt kam die namenlose Verzweiflung, die er bisher noch niedergedrückt und verbissen hatte, zum Ausbruch und packte und schüttelte den lauschenden Mann. – Die Frau, die da drin so schmerzlich weinte, war sein Abgott, das einzige Wesen, das er je geliebt, und das ihn, den alternden Mann, noch jetzt mit ungeminderter, glühender Leidenschaft erfüllte.
Bis zur Unkenntlichkeit entstellt in seiner Erscheinung, drückte er geräuschlos die Tür auf und blieb auf der Schwelle stehen.
Da lag die schöne Titania auf ein Ruhebett hingestreckt. Sie hatte das Gesicht tief in die Kissen eingewühlt, über Busen und Rücken wogte das entfesselte, nachtschwarze Haar, und die weißen, bis an die Schultern entblößtem Arme hingen wie leblos über die atlasgepolsterte Lehne des Ruhebettes hinab – nur die kleinen Füße hatten offenbar nichts von ihrer Energie eingebüßt; sie standen auf dem zu Boden geschleuderten brillantenen Fuchsienkranz und schienen ihn in Atome zertreten zu wollen.
»Jutta!« rief der Minister.
Bei diesen markerschütternden Lauten fuhr sie empor, wie von der Tarantel gestochen. Mit einer wilden Gebärde schüttelte sie das niederflutende Haar aus dem Gesicht und stand plötzlich auf ihren Füßen – das Bild einer entfesselten Furie.
»Was willst du bei mir?« schrie sie auf. »Ich kenne dich nicht! Ich habe nichts mit dir zu schaffen!« Sie deutete nach der Richtung des Salons, wo sie den Fürsten wußte, und stieß ein grauenhaftes Gelächter aus. »Ja, ja, die Wände haben Ohren gehabt, mein Herr Diplomat, und ich genieße das Vorrecht, das große Staatsgeheimnis um einige Stunden früher zu wissen, als das staunende Publikum!... Die Hölle kann ihre Qualen nicht raffinierter ersinnen, als ich sie dort drüben, hinter der Tür durchlitten habe!« Ihre Mundwinkel bogen sich in vernichtendem Hohne niederwärts. »Exzellenz, es war mir sehr überraschend zu hören, daß Sie das Fürstenhaus so reizend getäuscht haben!... Und da liegt die Herrlichkeit« – sie stieß mit dem Fuße verächtlich nach dem Fuchsienkranz –, »mit der Sie ›Ihren Abgott‹ zu schmücken beliebten!... Wie sie wohl alle jubeln und triumphieren werden, die boshaften Neider, bei der unschätzbaren Entdeckung, daß sich die Diamantenfee in lächerlicher Unwissenheit mit Rheinkieseln und böhmischem Glas bestreut hat!«
Die kleinen Hände der halb wahnwitzigen Frau wühlten in den Haarmassen, die von den Schläfen niedersanken.
Der Minister ging schwankenden Schrittes auf sie zu – sie floh und stieß mit den Händen nach ihm.
»Du wirst dich nicht unterstehen, mich zu berühren!« drohte sie. »Du hast keine Rechte mehr an mich!... Oh, wer mir die verlorenen elf Jahre zurückgäbe!... Ich habe meine Jugend, meine Schönheit an einen Dieb, an einen Fälscher, an einen Bettler verschleudert!« –
»Jutta!«
In diesem Augenblick fand der Mann seine Haltung wieder. Es war noch einmal die überlegene Ruhe des allmächtigen Ministers, mit der er Schweigen gebietend der Frau die Rechte entgegenstreckte.
»Du bist wieder einmal sinnlos vor Leidenschaft«, sagte er streng. »Ich habe dich in solchen Momenten stets wie ein verzogenes, unartiges Kind behandelt, dem man Muße läßt, sich auszuschreien. Dazu bleibt mir jetzt keine Zeit.« – Er verschränkte mit scheinbarer Gelassenheit die Arme über der Brust. »Wohl, du hast recht« – fuhr er fort –, »ich habe gefälscht und betrogen – ich bin ein Bettler! Es bleibt uns nicht einmal das Kopfkissen, um das Haupt darauf zu legen, wenn sie alle kommen werden, die verbriefte Rechte an mich haben... Nie hast du einen Vorwurf, ein Bedenken von mir gehört; aber wenn du diese Stunde lediglich dazu benutzest, mich zu schmähen, dann muß ich dir auch sagen, für wen ich mich ruiniert habe... Jutta, denke zurück und überzeuge dich, daß du mit jedem Jahr unserer Ehe mehr deine Ansprüche bis ins Maßlose gesteigert hast – selbst die Fürstin konnte zuletzt mit deinem glanzvollen Auftreten nicht mehr Schritt halten... Ich habe ohne Widerrede stets herbeigeschafft, was du begehrtest – ich habe deine Hände buchstäblich im Gold wühlen lassen. Meine unselige, blinde Liebe zu dir hat mich zum gefügigen Werkzeug deiner schrankenlosen Verschwendungssucht gemacht... Es klingt geradezu kindisch und lächerlich, wenn du die elf Jahre unserer Ehe als verloren beklagst; sie haben dir Gelegenheit gegeben, das Leben mit seinen Genüssen bis auf die Neige auszukosten; und daß du das gründlich verstanden hast, kann ich dir mit meinem Soll und Haben erschöpfend beweisen.«
Die Baronin hatte bis dahin mit abgewendetem Gesicht in einer fernen Fensternische gestanden. Jetzt fuhr sie herum; die dämonisch schönen Augen funkelten in tiefster Gereiztheit und Rachsucht.
»Ach, du kannst es ja ganz vortrefflich, das alte Lied, das auch die zuvorkommende Welt stets anstimmt, wenn ein Haus zusammenbricht: ›Die Frau ist schuld!‹ lachte sie auf. »Schade, mein Freund, daß ich so oft zugegen war, wenn du in Baden-Baden oder in Homburg, oder wie sie alle heißen mögen, die verführerischen grünen Tische, Unglück zum Verzweifeln hattest!... Ich habe mich bei dergleichen Gelegenheiten stets mit Befriedigung überzeugt, daß auch deine Hände vortrefflich im Golde zu wühlen verstanden; aber willst du etwa leugnen, daß du zu allen Zeiten ein notorischer Spieler gewesen bist?«
»Es fällt mir nicht ein zu leugnen oder auch nur noch eine Silbe zu meiner Verteidigung zu verlieren... Wer, wie ich, im Begriff ist, einen dunklen Weg anzutreten –«
»Jawohl, dunkel, dunkel!« unterbrach sie ihn und trat um einen Schritt näher an ihn heran. »Mit der Exzellenz ist's freilich aus und vorbei,« zischte sie. »Baron Fleury steigt herab von seiner Höhe und betritt den einzigen Weg, der ihm übrig bleibt, die Laufbahn des – Croupiers!«
»Jutta!« stieß er hervor. Er ergriff die weißen Arme, die die Wonne seiner Augen gewesen waren, und schüttelte sie ingrimmig.
Sie riß sich los und flüchtete nach einer Tür, aber ihre zurückgewendeten Augen hingen mit unverhohlenem Abscheu an den Händen, die sie zum erstenmal schonungslos gepackt hatten.
»Du sollst mir nicht mehr nahe kommen – mir graut vor dir!« rief sie hinüber. »Du fängst es schlau an! Indem du mir die Schuld aufbürdest, willst du mich zwingen, in Gemeinschaft mit dir ihre Folgen zu tragen!... Aber täusche dich nicht! Ich werde dir niemals in die Schande, die Dunkelheit und den Mangel folgen!... Ich habe dir gegenüber keine Pflichten mehr – sie sind erloschen in dem Augenblick, da du als ehrlos entlarvt wurdest... Wenn etwas in diesen furchtbaren Stunden mich mit Genugtuung erfüllt, so ist es das Bewußtsein, daß ich dir geistig niemals verwandt gewesen bin – ich habe dich nie geliebt!«
Das war der letzte Schlag für den von der Sonnenhöhe einer beneideten Lebensstellung, eines angemaßten Glückes in den tiefsten Abgrund hinabstürzenden Mann – es konnte keiner mehr kommen; aber auch keiner konnte sich in der Wirkung mit den letzten wenigen Worten messen, die der rote Frauenmund so unbarmherzig hinwarf.
Der Minister taumelte nach der Tür zu, als wolle er das Zimmer verlassen, allein die Füße schienen ihm treulos zu werden – er lehnte sich mit bedecktem Gesicht an die Wand.
»Du hast mich, trotz aller deiner Schwüre und Beteuerungen, nie geliebt, Jutta?« fragte er nach einem minutenlangen tödlichen Schweigen in das Zimmer zurück.
Die Frau schüttelte mit einer Art von wildem Triumph energisch den Kopf.
Er stieß ein bitteres Hohnlachen aus.
»O Weiberlogik!... Diese Frau setzt sich hoch auf den Richterstuhl strenger Tugend; sie stößt den Betrüger erbarmungslos von sich und gesteht dabei mit liebenswürdiger Naivität ein, daß sie ihren Mann auf die empörendste Weise elf Jahre lang betrogen und – am Narrenseil herumgeführt hat!... Geh, geh, auch du wirst Karriere machen! Noch liegen einige gerettete Jahre der Jugend und Schönheit vor dir; aber das Ende dieser Karriere – nun, ich will diskreter sein als du und diesen Wänden nicht erzählen, wie die Karriere der Frau Baronin Fleury, Exzellenz, schließlich verlaufen wird!«
Er ging zur Tür hinaus; aber beim Schließen derselben warf er noch einen Blick in das eben verlassene Zimmer. Die Frau hatte sich wieder auf das Ruhebett geworfen – sie sah geknickt, innerlich zerbrochen aus; nie war sie hinreißender gewesen, als in diesem Augenblick. Das glühende Gefühl für das schöne Weib überwog alle anderen Leidenschaften, die im Innern dieses gefährlichen Mannes wühlten; er vergaß, daß in den wunderbaren Körperformen dort eine erbärmliche Seele wohnte, er vergaß, daß dieses begehrliche, unersättliche Herz nie für ihn geschlagen hatte – er kehrte stürmisch in das Zimmer zurück.
»Jutta, gib mir deine Hand und sieh mich noch einmal an,« sagte er mit brechender Stimme.
Sie verschränkte die Arme fest unter dem Busen und drückte sie und das Gesicht tief in die Polster.
»Jutta, sieh auf – wir gehen für immer auseinander!«
Die Gestalt regte sich nicht – kaum daß man das Heben und Sinken der atmenden Brust sah.
Er biß in wildem Schmerz die Zähne zusammen und verließ das Zimmer. Wie vorher auch, glitt er geräuschlos durch den Korridor, dann stieg er die Treppe hinab. Stimmen, die zu ihm heraufdrangen, hemmten seine Schritte; er bog sich über das Treppengeländer und sah drunten auf einem Treppenabsatz drei Herren, die glücklichen Besitzer des Kammerherrnschlüssels, stehen. Sie hatten verstörte Gesichter und sprachen in gedämpftem Tone – trotzdem konnte der Minister jedes Wort verstehen.
»Also, meine Herren,« sagte einer dieser würdigen Kavaliere, indem er den weißen, knappen Handschuh über die fette Hand zog und sorgsam zuknöpfte – »ich werde jetzt dem Befehle unseres Allerhöchsten zufolge in den Saal zurückkehren und mit möglichst unverfänglicher Miene die Honneurs machen – ein blutsaures Geschäft, wenn man einen ganzen Sack voll schlimmer Neuigkeiten bei sich hat!... An und für sich ist es eine Lächerlichkeit, daß der Fürst für heute noch um jeden Preis den Skandal vertuschen will – morgen läuft er doch von Mund zu Mund. – Herrgott, den Aufruhr in unserer guten Residenz will ich sehen – das gibt einen Eklat!... Meine Herren, was habe ich Ihnen immer gesagt? Habe ich recht gehabt, oder nicht? Er war ein Halunke durch und durch, und so schmerzlich ich auch den Fürsten bedaure, es kann ihm doch ganz und gar nicht schaden, zu erkennen, welch sauberem Patron der alte, angestammte Adel sich so lange hat unterordnen müssen.«
Die Herren nickten bekräftigend und verschwanden nach verschiedenen Richtungen.
»Oh, mein Herr von Bothe, Sie wären samt Ihrem alten, angestammten Adel verhungert, wenn ich nicht war!« murmelte der Minister grimmig zwischen den Zähnen, während er weiter hinabstieg. »Bah, wir sind quitt – Sie waren das unverdrossenste, bereitwilligste Werkzeug, das mir je zu Gebote gestanden hat!«
Er durchschritt einen langen, einsamen Gang und trat hinaus in den Hofraum. Da lief die Stallbedienung eilig durcheinander; man zog die Pferde aus den Ställen und rollte den Wagen des Fürsten aus der Remise.
»Du, ich glaub's nicht mit dem reitenden Boten«, sagte einer der Männer zu einem anderen in dem Augenblick, als der Minister ungesehen an ihnen vorüberschlüpfte. »Ich bin doch nicht blind und nicht taub, und so ein reitender Bote kann doch auch nicht durch die Luft fliegen.«
»Blind und taub bist du freilich nicht; aber geschlafen hast du wie eine Katze. Ich sage dir, der Bote aus A. ist dagewesen – der gnädige Herr von Bothe hat mir's selbst vorhin gesagt – der Fürst soll gleich zur Fürstin kommen – es wär' was passiert.«
Der Minister schritt mit rückwärts gekreuzten Händen durch die Alleen des Schloßgartens... Das gellte und jubelte und schmetterte aus dem Saal hernieder, und die Kerzen flammten, die man noch angezündet hatte auf den Wink des Mannes, der jetzt als Bettler heimatlos drunten umherirrte.
Und nun rollte der fürstliche Wagen vor. Mit möglichster Vermeidung allen Geräusches und Aufsehens erschien die schmächtige Gestalt des Fürsten, umgeben von den flüsternden Herren seines Gefolges, in der Halle.
Bei diesem Anblick ballte der tiefgefallene Mann in der dunklen Allee die Fäuste und schlug sie wild und wiederholt gegen die Brust.
Der Wagen rollte davon, und die Musik droben machte auch eine Pause – es wurde für einen Augenblick totenstill im ganzen weiten Garten. Noch einmal scholl das donnernde Gepolter der fürstlichen Equipage herüber – sie fuhr über die Brücke –, das war das Ende der »glänzenden Genugtuung«, die der Fürst seinem Günstling »den Schreiern« gegenüber geben wollte...
Seltsam – hatte der gewandte, elegante Kavalier seine schwierige Mission doch nicht mir der gewohnten Meisterschaft durchgeführt, oder war die tanzende Menge da oben bereits zu aufgeklärt, um sich eine »Hoflüge« aufbinden zu lassen?... Wagen auf Wagen fuhr vor, und die geschmückten Gestalten schlüpften scheu und eilig hinein, als gelte es Flucht, schnelle Flucht...
Die Klänge des Orchesters erbrausten abermals – sie hallten fast schauerlich von den Wänden des geleerten, mächtigen Saales wider, und die wenigen tanzenden Paare flogen an den Fenstern hin, wie die letzten verlorenen Seelen eines bacchantischen Festes, die sich an der überschäumenden Lust nicht satt trinken können.
Der Minister schritt weiter und weiter. Sein Fuß verirrte sich immer tiefer in die abgelegenen Boskette des Schloßgartens, die in künstlich erhaltener Wildnis die tiefste Ruhe atmeten, kaum daß ein aufgescheuchter, schlaftrunkener Vogel durch die Zweige flatterte oder der Nachtwind hoch oben durch die Ulmenkronen strich... Jetzt wurde es lebendig in dieser Todeseinsamkeit – ächzende Seufzer entflohen den Lippen eines furchtbar aufgeregten Menschen; in wilder Hast wühlte er sich durch pfadloses Gebüsch, die gewaltsam niedergebogenen Zweige knackten und schlugen rauschend zurück in das Gesicht des nächtlichen Störers...
Halbverloren taumelten noch einzelne Klänge der Ballmusik herüber, dann verstummten auch sie, und jetzt, mit dem letzten zwölften Schlag, den das Neuenfelder Turmglöckchen zitternd verhallen ließ, rollte und donnerte es noch einmal von ferne – das war der letzte Wagen, der von dannen fuhr.
Das Auge des Ministers richtete sich starr auf den feurigen Würfel des Schlosses, der noch einen kurzen Moment feenhaft durch das flüsternde Laub flimmerte... Da sanken die Kronleuchter des Saales, und geschäftige Hände löschten Kerze um Kerze, die einem schauerlich gestörten Fest geleuchtet hatten. Die langen, strahlenden Linien der Korridore verschwanden spurlos in der Nacht – ein Licht um das andere versank – dort huschte noch eins hin und wider, es lief mit dem Feuerwächter, der seine Runde machte... da erlosch es – und mit ihm fiel ein Schuß in den abgelegenen Bosketten des Arnsberger Schloßgartens...
»Da wildert einer«, sagten die aufgeschreckten Schläfer in Neuenfeld, drehten sich um in ihren Betten und schliefen weiter den Schlaf des Gerechten...
Es war im Monat September. Der erste herbe Hauch des Herbstes mischte sich in die Sommerlüfte und betupfte die Waldwipfel hier und da mit schwachrötlichen Tinten und einem leichten Goldduft. Tief im geschützten Herzen des Waldes aber hielt sich noch die volle, wonnige Sommerwärme versteckt; sie lag auf dem kräftig wuchernden Rasen, der den Kiesplatz vor dem Waldhause einfaßte, und bestreute ihn unermüdlich mit Blumenglocken. Und die Blätter der Aristolochia lagen so breit und glänzend und zuversichtlich auf dem grauen Mauerwerk, als könne nie eine Zeit kommen, wo sie sich schmerzlich zusammenkrümmen und als unscheinbare Mumien auf den Atem der Winterstürme die traute Wohnstätte verlassen würden.
Sie waren übrigens heute nicht der einzige Schmuck des Waldhauses. Über der Terrasse, einen Turm mit dem anderen verbindend, schwebten Blumengewinde, und auch die gewaltige eichene Haupttür, die in die Halle führte, umsäumte eine dicke Eichenlaubgirlande. Selbst auf den lockigen Köpfen der steinernen Edelknaben lagen Efeukränze, und lange blätterreiche Brombeerranken wanden sich um die Jagdhörner, in denen das Halali versteinert schlief. Diese seltsame Ausschmückung hatte »Pfarrers Röschen« durchgesetzt – »die armen Männer« sollten doch auch ihre Freude haben.
Noch festlicher geschmückt aber erschien das traute Haus innen. Wohin der Blick fiel, in Girlanden und Vasen, selbst auf den Steinfliesen der Halle lachten und strahlten die bunten Häupter der Georginen, Astern und Spätrosen, und aus der geöffneten Tür des südlichen Turmzimmers wehten die Düfte der vornehmen Heliotropen.
Wir haben das Turmgemach zu verschiedenen Zeiten gesehen: jetzt hat es sich abermals eine Umwandlung gefallen lassen müssen – es ist das Wohnzimmer einer jungen Frau geworden. Weiße Mullvorhänge schweben vor den hohen Fenstern und nehmen dem Zimmer sofort den düsteren Charakter. Helle bequeme Möbel, wohlgefüllte Blumentische stehen an den Wänden, und auf dem Fußboden liegt ein dicker, warmer Smyrnateppich. In einer der tiefen Fensternischen, vor dem gestickten Lehnstuhl, steht ein Nähtisch, und darüber hängt ein blanker Messingkäfig mit kleinen, buntgefiederten brasilianischen Vögeln... An den Hauptwänden hängen sich zwei große Ölbilder gegenüber – ein schönes, junges Mädchen, das Feldblumen im Schoße und in den schlanken, weißen Händen hält, sieht mit den großen, glückseligen Taubenaugen hinüber in das Gesicht des jungen Mannes, dem der prächtige Vollbart blond vom Kinn niederwallt und der in den über der Nasenwurzel zusammengewachsenen Brauen den Stempel des Unglücks, eines traurigen Schicksals trägt. Um beide Bilder legen sich Blumengewinde frisch und glänzend und hauchen einen schwachen Lebensodem über die jugendlichen Gestalten, die längst unter der Erde schlafen.
Was alles wußte heute die geschwätzige Fontäne vor dem Waldhause zu erzählen!... Der Mann mit der majestätischen Rittergestalt, der dort hauste, hatte heute in der Abendstunde neben »dem schönen, blonden Mädchen im blauen, wallenden Gewande« gestanden – nicht in der fein ehrbaren Weise, wie sie der Brauch und das Herkommen vorschreiben – nein, sein starker Arm hatte fest und innig die zusammenschauernde, schlanke Gestalt umschlungen in dem Augenblicke, als die Abendsonne golden durch das Fenster der Neuenfelder Dorfkirche auf sein und des Mädchens Haupt gesunken war und der Pfarrer mit ergreifenden Worten den Bund ihrer Herzen eingesegnet hatte... Dann waren sie still und glücklich, nur zu zweien durch den Wald gewandelt, und der Mann hatte sein junges Weib buchstäblich über den blumenbestreuten Kiesplatz in sein Haus getragen.
Bertold Ehrhardt hatte in einer fast fieberhaften Angst seine möglichst rasche Vereinigung mit Gisela betrieben. Der Pfarrerin gegenüber war ihm das Geständnis entschlüpft, daß ihm das schreckliche Schicksal seines Bruders, der Verrat, den ein Weib an ihm geübt, einen unauslöschlich schlimmen Eindruck gemacht habe – er würde nicht eher ruhig sein können, bis er sein unschuldiges Mädchen in das Waldhaus gerettet habe... Nie durfte die Witwe des Barons Fleury in seiner Gegenwart genannt werden. Sie selbst machte aber auch im Lande nicht mehr von sich reden – sie hatte sich mit der kleinen Pension, die ihr der Fürst gewährte, nach Paris zurückgezogen... Auch Frau von Herbeck war aus der Gegend verschwunden. Sie bezog ein Jahrgeld von Gisela und lebte vergessen in einer kleinen Stadt »ihren Erinnerungen«.
Am Hofe zu A. erregte die Wahl der jungen Sturm gewaltiges Aufsehen. Der Fürst konnte einige Nächte nicht schlafen über den Gedanken, daß der Portugiese abermals die Axt an die Wurzeln des hochfürstlichen Prinzips lege, indem er vor aller Augen beweise, daß eine geborene Reichsgräfin Sturm eine schlichte Frau Ehrhardt werden könne, ohne daß die Welt darüber aus den Fugen ging.
Das Resultat dieser schlaflosen Nächte war eine geheime Mission, die er in die Hände der Frau mit der feinen Zunge und den klugen, scharfen Augen vertrauensvoll niederlegte. Die Gräfin Schliersen machte eines Tages der Braut einen Besuch im Pfarrhause und ließ den anwesenden Bräutigam mit ausgesuchter diplomatischer Feinheit merken, daß der Fürst »den ersten Industriellen« seines Landes durch das Adelsdiplom auszuzeichnen gedenke... Mit derselben ausgesuchten Feinheit vergoldete »der starrköpfige Portugiese« seine Antwort – der bittere Kern aber, der trotz alledem geschluckt werden mußte, ließ sich nicht anders übersetzen, als: Der also Beehrte gehöre nicht zu denen, die den Adel so lange bekämpften, als sie ihn nicht selbst besäßen. Die Neuzeit habe derartige Renegaten genug aufzuweisen, die unter dem Motto: »Nur im Interesse meiner Kinder« sich selbst wieder zu Stützen und Bausteinen einer altersmorschen Institution machten, die sie vorher bespöttelt und verlacht hatten. Er finde an seinem Namen nichts auszusetzen und wünsche ihn nicht zu verändern.
Die Diplomatin kehrte unverrichteter Dinge nach A. zurück. Übrigens erhielt die Braut sehr bald einen Beweis, daß sich die fürstliche Ungnade nicht auch auf sie erstreckte. Unter der Petition der Neuenfelder Gemeinde, die um Belassung ihres Pfarrers im Amte bat, hatte auch der Name »Gisela, Gräfin Sturm« gestanden. Man behauptete allgemein, diese Unterschrift sei schwer ins Gewicht gefallen – die Neuenfelder behielten ihren Pfarrer...
Eine leichte Dämmerung webt bereits um das Waldhaus. »Der Portugiese« hält sein junges Weib umschlungen und tritt mit ihr heraus auf die Terrasse. Noch fließt der Brautschleier von ihrem Haupt, und auf der weißen Stirn liegen die zartgebogenen Myrtenblätter. Mit zurückgeworfenem Kopf sieht sie unverwandt in das schöne Antlitz dessen, der sie hier im tiefen, dämmernden Wald gleichsam einmauern will... Wie leuchtet dieses Antlitz!... Der Mann, hinter dem eine düstere Vergangenheit voller Kämpfe und Schmerzen liegt, steht am himmlischen Ziel. Sein höchstes Kleinod hält er in den Armen. Er steht auf einer Art Oase im Weltgetriebe. Draußen lauert das protestantische Papsttum und schlägt mit Ruten auf die Geister, die sich aufwärts bäumen, und hier, in seiner selbstgeschaffenen Kolonie, darf die freie Anschauung von Gott und seinem Wort ungestört die Flügel entfalten... Draußen herrscht und regiert fort und fort der unbegrenzte Egoismus, und eine Kaste sucht der anderen auf den Nacken zu steigen; hier aber waltet die Liebe, und man erhält den unwiderleglichen Beweis, daß sich das Musterbild der Menschheit, wie es die oft verlachte Humanität anstrebt, in der Tat verwirklichen läßt. Der Mann im Waldhause sieht glückliche, zufriedene Gesichter, wohin sein Blick sich wendet. Das lächerliche Jagen nach Ämtern und Orden dringt nicht herein – dafür kommt das höchste Streben, das die Menschenseele erfüllen soll, das Streben nach innerer Entwicklung und Befreiung um so besser zur Geltung.
»Gisela!« ruft es schnarrend und mißtönend neben der jungen Dame. Sie wendet sich überrascht um – der Papagei schwingt sich lustig auf seinem Ring, und in der Haustür steht lachend der alte Sievert... Das bräutliche Weib streckt ihm beide Hände entgegen; er hat dem Vogel mit unsäglicher Mühe den Namen der künftigen Hausfrau eingelernt und die letzten schauerlichen Worte des sterbenden Herrn von Eschebach aus dem Gedächtnis des Tieres verwischt... Er nimmt sacht und behutsam die gebotenen feinen Finger zwischen seine großen, braunen Hände, und, was Gisela nie geglaubt, die alten, finster dräuenden Augen können auch feucht schimmern.
Und jetzt tritt auch die Pfarrerin aus der Halle – sie hat einen Schal um die Schultern geschlagen und will heim.
»Junges Frauchen, ich habe den Teetisch drin hergerichtet, denn von der Liebe allein lebt man nicht«, meinte sie schelmisch und deutet nach dem einen Fenster des südlichen Turmzimmers, das nach der Terrasse mündet... In der heimlichen Dämmerung da drin, fast auf derselben Stelle, wo einst die Teemaschine der alten, blinden Frau gestanden, lodert die kleine, blaue Flamme, die den Abend in der Wohnstube so behaglich und gemütlich macht.
»Und nun, Gott sei mit euch, ihr lieben, lieben Leute!« sagt die Frau, und ihre klangvolle Stimme schmilzt in Weichheit.
Der »Portugiese« küßt ihr ehrfurchtsvoll die hartgearbeitete Hand, und Gisela legt die Arme um ihren Hals. Dann steigt sie die Treppe hinab und schreitet festen, kräftigen Fußes in den Wald hinein.
Allmählich fließt ein silberglänzendes Licht über Waldwipfel, Haus und Wiese – der Mond steigt groß und voll herauf. Wieder sieht er auf der Terrasse eine hohe, majestätische Männergestalt stehen, an die sich ein junges Wesen hingebend schmiegt; aber diesmal werden die Schwüre, welche die flüsternden Lippen austauschen, nicht gebrochen werden!
Es war noch früh am Abend... Die kleine Neuenfelder Turmglocke erhob pflichtschuldigst ihre Stimme und schlug sechsmal an – das klang wie ein halbersticktes Wimmern; denn der Sturm sauste durch die Schallöcher und zerblies die dünnen Schläge nach allen vier Winden. Dabei lagerte bereits die undurchdringliche Finsternis einer lichtlosen Dezembernacht über der Erde... Daß da droben die funkelnden Sternbilder in wandellosem Glanze allmählich aus dem tiefdunkeln Grunde hervortraten, daß es unbeirrt leuchtete und glühte wie über der wolkenlosen, blütenduftenden Maiennacht – wer dachte daran angesichts der vorübersausenden Wetterwand, die Erde und Himmel schied?... Und wer dachte an lieblichen Mondenglanz, an das matte Silberlicht der nachtgeborenen himmlischen Wanderer inmitten der gewaltigen vier Wände, die wie ein riesiger Würfel in das Dunkel hineinragten und an deren Ecken der Sturm machtlos seine Flügel zerstieß?... Da drin funkelte und leuchtete es auch, aber in jener unheimlichen Glut, die ein Feuerstrom, durch Menschenhand gelenkt und gebändigt, um sich verbreitet. Der Neuenfelder Hochofen war in voller Tätigkeit.
Ein greller, blutigroter Schein entströmte dem Feuerkern des Vorherdes und floß über die nackten Quadern der Mauern und die geschwärzten Gesichter der schweißtriefenden Arbeiter.
Was dort hervorquoll in flutender Bewegung und als glühende Tränen geschmeidig vom Gießlöffel herabtropfte, das waren die Erze, die, Jahrtausende starr und kalt im Panzer der Erde zusammengeschichtet, nun während eines einzigen furchtbaren Lebensmomentes ineinander rannen, um dann nach menschlicher Willkür und Laune in irgendeiner Form zu erstarren.
Die Fenster des mächtigen Baues schimmerten nur matt nach außen, aber droben aus der Esse lohte die weithin sichtbare Glut, dann und wann eine Funkengarbe ausstoßend, als ob eine vermessene Faust eine Handvoll Sterne gegen den Himmel schleudern wollte – sie zerstoben wirkungslos im Dunkel, wie der Menschengedanke an den sieben Siegeln des großen Geheimnisses über uns.
In dem Augenblick, als es sechs Uhr schlug, wurde die Haustür der unweit der Gießerei gelegenen Hüttenmeisterwohnung leise aufgemacht; das sonst so vorlaute, unermüdlich nachklingende Türglöckchen schwieg dabei – es wurde offenbar mit vorsichtiger Hand gehalten, während eine Frau auf die Schwelle trat.
»Ei du liebe Zeit, 's ist unterdes Winter geworden! Da haben wir ja mit einemmal den allerschönsten Weihnachtsschnee!« rief sie. In diesem Ausruf lag eine heitere Überraschung, ein Ton, den man anschlägt beim plötzlichen Wiedersehen eines alten, lieben Bekannten... Die Stimme klang fast zu tief und markig für eine Frauenstimme; allein das verschlug den Pfarrkindern von Neuenfeld sehr wenig – sie schwuren auf das, was die Stimme ihrer Pfarrerin sagte, wie auf das Evangelium.
Die Frau schritt vorsichtig die schlüpfrige Freitreppe hinab. In dem langhingestreckten, schwachrötlichen Lichtstreifen, den ihr Laternchen über den Weg warf, flirrte und flimmerte es einen Augenblick ungestört im lautlosen Niedersinken. Aber nun fegte ein jäher Windstoß um die Ecke; er warf der Pfarrerin den großen Kragen ihres Mantels über den Kopf und zerstiebte den lockeren, federweißen Flaum auf Weg und Steg abermals in Atome.
Die Pfarrerin schlug den Kragen zurück, schob mit der Linken den gelockerten Kamm fester in die gewaltigen Haarflechten des Hinterkopfes und zog das um die Ohren gebundene Tuch schützend über die Stirn. Wie ein Reckenweib stand die große, festgegliederte Gestalt inmitten des staubenden Schneewirbels, und der Laternenschein beleuchtete Züge voll Kraft und Frische, eines jener energischen Gesichter, über die der strenge Atem des Winters, wie der Wechsel des Lebens gleich erfolglos hinstürmten.
»Nun will ich Ihnen etwas sagen, mein lieber Hüttenmeister!« wandte sie sich an den Mann zurück, der sie begleitet hatte und auf der Türschwelle stand. »Da drin durft' ich's nicht... Meine Tropfen sind gut, und auf den Fliedertee lasse ich auch nichts kommen, aber es kann nicht schaden, wenn die alte Röse heute nacht aufbleibt – vielleicht behalten Sie auch einen von den Hüttenleuten in der Nähe, wenn etwa doch der Doktor herüber müßte.«
Der Mann machte eine Bewegung des Schreckens.
»Tapfer, tapfer, lieber Freund, es kann nicht immer so glatt abgehen im Leben!« ermutigte die Pfarrerin. »Übrigens ist ja solch ein Doktor beileibe kein Werwolf, und man braucht nicht gleich an das Schlimmste zu denken, wenn man einmal mit ihm zu tun hat... Ich bliebe gern noch da – denn wie ich merke, sind Sie durchaus kein Held am Krankenbett –, aber meine kleinen Panduren daheim wollen essen; ich habe den Kellerschlüssel bei mir, und Rosamunde kann nicht zu den Kartoffeln... Und nun Gott befohlen! Geben Sie die Tropfen hübsch pünktlich – morgen in aller Frühe bin ich wieder da!«
Sie ging. Ihre Kleider blähten sich und flatterten wild auf, und der falbe, zitternde Lichtfleck der beunruhigten Laternenflamme hing bald droben an knarrenden Baumästen, bald kroch er scheu am Boden hin; aber mochte der Sturm auch wütend hinter ihr hersausen, die Frau ließ sich nicht treiben, ihre Schritte blieben fest und gleichmäßig, bis sie verhallten.
Der Hüttenmeister lehnte noch einen Moment in der Tür, und seine Augen verfolgten den tröstlichen Lichtschein, bis er in der Ferne erlosch.
Mittlerweile war es in den Lüften stiller geworden – der Sturm hielt den Atem an; von fern her tosten die niederstürzenden Wasser eines Wehres, und aus der Gießerei scholl das dumpfe Geräusch der Arbeit. Aber auch eilig sich nähernde Fußtritte wurden laut, und bald darauf bog eine männliche Gestalt um die Hausecke. Ein Soldatenmantel flog um die hageren Glieder des Mannes; er hatte sich die Schildmütze mit dem Taschentuch auf dem Kopfe festgebunden, und vor ihm her fiel es hell aus der großen Stallaterne, die er in der Linken trug.
»Was, zwischen Tür und Angel bei dem Lüftchen, Hüttenmeister?« rief er, als das Laternenlicht auf den einsam dort lehnenden Mann fiel. »Aha, da ist also der Student nicht angekommen, und Sie schauen noch nach ihm aus wie?«
»Ach nein, Bertold ist schon seit heute nachmittag da, aber er ist krank und macht mir viel Sorge«, entgegnete der Hüttenmeister. »Kommen Sie doch herein, Sievert!«
Sie traten in das Haus.
Es war eine große, ziemlich niedrige Stube, die der Hüttenmeister öffnete. Draußen tobte eben der Sturm mit erneuter Wut gegen die alten Wände, die, nach innen so traut und friedlich, liebe Familienbilder auf ihrer helltapezierten Fläche trugen. Ein feiner Luftzug drang freilich durch die Fensterritzen und bewegte dann und wann leise die großgeblumten Kattunvorhänge, aber sie verhüllten fest zusammengezogen die Scheiben und das wilde Schneetreiben jenseits derselben. Ist etwas geeignet, eine Familienstube auf dem Thüringer Wald heimisch und gemütlich zu machen, so ist es der gewaltige Kachelofen, der oft selbst im Hochsommer seine Tätigkeit nicht einstellt. Auch hier ragte er riesig und dunkel weit in das Zimmer hinein, und die erhitzten Kacheln verbreiteten eine gleichmäßige köstliche Wärme. So hätte die altväterlich eingerichtete Eckstube leicht das Gefühl der Behaglichkeit erwecken können, wäre nicht der ominöse Duft des Fliedertees gewesen, der die Luft erfüllte; ein eilig aus grünem Papier hergestellter Schirm dämpfte das Lampenlicht, und der Perpendikel hing bewegungslos in der hölzernen Wanduhr – lauter Anstalten, die eine vorsorgliche Frauenhand verrieten.
Der Gegenstand aller dieser Umsicht und Fürsorge schien sich jedoch vorläufig noch energisch gegen die Krankenrolle zu sträuben. Es war ein blutjunges Menschenkind, das den Kopf unaufhörlich zwischen den weißen Kissen des einstweilen auf dem Sofa hergerichteten Lagers hin und her warf; die wärmende Decke war zum Teil auf den Fußboden herabgeglitten, und der ungeduldige Patient schob eben die gefüllte Teetasse grollend weit von sich, als die beiden Männer eintraten.
Wir sehen jetzt den Hüttenmeister in einem vollen Strahl der Beleuchtung, den der unbedeckte Teil der Lampe auf ihn wirft. Er ist ein auffallend schöner junger Mann von imposanter Gestalt. Wir begreifen nicht, wie er sich unter der niedrigen Zimmerdecke so zwanglos bewegen kann – man meint, sie müsse seinen lockigen Scheitel streifen. Seltsam kontrastiert das aschblonde Haupt- und Barthaar mit den schöngeschwungenen, sehr dunkeln Brauen; sie sind über der Nasenwurzel zusammengewachsen und geben dem Gesicht etwas unbeschreiblich Melancholisches – der Volksglaube sieht in dieser eigentümlichen Bildung einen Stempel des Unglücks, die untrügliche Prophezeiung eines traurigen Schicksals.
Dem unbeteiligten Beobachter würde es sicher nicht einfallen, den Kranken und diesen hochgewachsenen Mann für Blutsverwandte zu halten. Dort das knabenhafte, magere Gesicht mit dem bleichen, alabasterartigen Teint und der römischen Profillinie unter einer köstlichen Fülle bläulich-schwarzer Locken, und hier der deutsche Typus, eine blühend kräftige, blondbärtige Männergestalt, das untadelhafte Bild der Thüringer Edeltanne – und doch sind die beiden Brüder, zwei Menschen, die nur noch ein Familienband besitzen, das unter sich.
Der Hüttenmeister trat rasch an das Bett, hob die Decke empor und verhüllte den Kranken bis über die Schultern; dann nahm er die verächtlich weggeschobene Tasse und hielt sie an dessen Lippen. Das geschah schweigend, aber mit einem unabweisbaren Ernst, gegen den sich schlechterdings nichts einwenden ließ. Der rebellische Patient wurde plötzlich sanftmütig und leerte die Tasse pflichtschuldigst bis auf die Neige; darauf ergriff er mit einer leidenschaftlich zärtlichen Gebärde die Hand des Bruders, und seine Wange daran schmiegend, zog er sie mit sich auf das Kissen nieder.
Währenddem war der Mann im Reitermantel auch näher getreten.
»Na, junger Herr, ist das auch eine Art, ins Quartier einzurücken? Pfui, schämen Sie sich!« sagte er, indem er die Laterne auf den Tisch stellte. Diese Anrede sollte jedenfalls humoristisch klingen; durch die eigentümlich rauhe und ungefügige Stimme des Mannes erhielt sie jedoch weit mehr den Charakter einer derb polternden Zurechtweisung – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch das unwandelbar finstere Gepräge der Gesichtszüge – sie sahen fast zigeunerhaft dunkel aus der Umhüllung des grellroten baumwollenen Taschentuchs.
Der Angeredete fuhr empor; eine jähe Röte flammte über das blasse Gesicht, und seine aufgeregten Augen hefteten sich finster forschend auf den Eingetretenen, den er bis dahin nicht bemerkt hatte. Dabei zuckte seine Rechte unwillkürlich nach dem auf dem Tisch liegenden Cereviskäppchen, dem Abzeichen seiner Würde als Student und Burschenschafter.
»Laß gut sein, Bertold!« sagte, lächelnd über diese Bewegung, der Hüttenmeister. »Es ist ja unser alter Sievert –«
»Ei, was wird denn das junge Blut vom alten Sievert wissen?« fiel ihm der Mann im Soldatenmantel trocken in das Wort. »Als flotter Bursche weiß einer nicht mehr, wie gut ihm der Kinderbrei geschmeckt hat – gelt, Herr Student?... Da, just auf der Stelle, wo Sie jetzt liegen, stand dazumal die Wiege, und da lag der kleine Kerl drin und strampelte und schrie nach der toten Mutter und schlug dem Vater und der Röse den Breilöffel aus der Hand – weiß der Henker, was Ihnen an meinem Gesicht so besonders gefallen hat, aber da wurden Boten über Boten in das Schloß geschickt, und der Sievert mußte her und den Kleinen füttern... Hei, wie er lachte! Die Tränen kollerten noch über die Backen, aber der Brei rutschte glücklich hinunter!«
Der Student reichte dem Sprechenden beide Hände über den Tisch hinüber. Der knabenhafte Trotz in seinen Zügen war einem fast mädchenhaften kindlichen Ausdruck gewichen. »Das hat mir mein Vater oft genug erzählt«, entgegnete er mit weicher Stimme, »und seit Theobald Hüttenmeister in Neuenfeld geworden ist, hat er mir auch viel von Ihnen geschrieben.«
»So, so – kann sein«, brummte Sievert. Damit schien er jede weitere Erörterung abschneiden zu wollen. Er schlug seinen Mantel zurück, und der Anblick, den er jetzt darbot, machte den Studenten hell auflachen. Am rechten Arm hing ihm ein Henkeltopf aus weißem Blech, daneben ein Weidenkorb, in dem ein Brot lag; an einem seiner Rockknöpfe baumelte ein Bündel Unschlittkerzen, und aus der Brusttasche guckte der Glasstöpsel eines Rumfläschchens im Verein mit einer gefüllten Papiertüte.
»Ja, ja, da lachen Sie nun!« sagte der Alte – diesmal konnte man leicht eine starke Dosis Groll, aber auch einen Anstrich von Resignation aus der harten Stimme heraushören. »Dazumal war ich Kindermagd, und jetzt bin ich Küchenjunge – hat mir mein Vater auch nicht an der Wiege gesungen... Was soll man nun da sagen!... Die alte Frau trinkt keine Ziegenmilch, das weiß Fräulein Jutta besser als ich, aber wenn ich nicht daran denke, daß Kuhmilch im Dorfe geholt wird, da geschieht es auch ganz gewiß nicht... Ich komme heute mit todmüden Beinen aus dem Walde, habe ein hübsches Bündel Holz zusammengeschlagen und freue mich auf die warme Stube – ja post festum, da ist die Milch vergessen, keine Krume Brot im Schranke, und auf dem Leuchter steckt das letzte Stümpfchen Licht. Fräulein Jutta aber ist aufgedonnert, als ging's zu einer Hoftafel beim Kaiser von Marokko, und spricht von – Teegesellschaft; na, die hätte uns noch gefehlt im Waldhause! Möchte nur wissen, mit was sie den Herrn Studenten hat traktieren wollen! O über –«
Während Sieverts Schilderung war der Hüttenmeister flammendrot geworden; bei dem letzten Ausruf aber hob er drohend den Zeigefinger, und ein so zornsprühender Blick traf den Alten, daß er scheu die Augen wegwandte und den Satz unvollendet ließ. Der Student dagegen war das Bild der gespanntesten Aufmerksamkeit – er hatte beide Arme auf den Tisch gelegt, und seine Augen hingen unverwandt an den Lippen des Sprechenden.
»Na, und Bauernbrot kann ich der alten Frau auch nicht auf den Tisch bringen«, fuhr Sievert nach einer Pause ablenkend fort; »da bin ich noch nach Arnsberg gelaufen, und der Schloßverwalter hat mir nolens volens dies Brot da herausrücken müssen... Der weiß übrigens auch nicht, wo ihm der Kopf steht. In der Küche hantiert der Koch aus A.; ein halb Dutzend Bediente rennt hin und her; es wird gesäubert, geheizt und beleuchtet aus Leibeskräften – Seine Exzellenz, der Minister, kommt trotz Sturm und Schneewetter heute abend noch nach Arnsberg. In A. und ganz besonders in seinem Hause ist der Typhus ausgebrochen, und da will er die kleine Gräfin in Person auf das einsame Arnsberg reiten.«
Ein Zug tiefen Mißbehagens ging durch das schöne Gesicht des Hüttenmeisters. Er schritt rasch einigemal im Zimmer auf und ab.
»Und wissen Sie nicht, wie lange der Minister hier bleiben will?« fragte er stehen bleibend.
Sievert zuckte die Achseln.
»He, was weiß ich!« sagte er. »Ich denke mir übrigens, es ist ihm weniger um das Kind als um seine eigene Person zu tun, und da wird er ja wohl abwarten, bis Freund Hein aus A. wieder abgezogen ist.«
Das waren offenbar keine erfreulichen Nachrichten für den jungen Mann; er blieb einen Augenblick nachdenklich mitten im Zimmer stehen, enthielt sich jedoch jeder weiteren Bemerkung.
»Sievert«, sagte er nach einer Pause, »erinnern Sie sich des Herrn von Eschebach?«
»Ei ja – er war Leibarzt beim Prinzen Heinrich und hat mir einen Armbruch glücklich kuriert... Vor etwa sechzehn Jahren ist er übers Meer gegangen und hat nie wieder ein Sterbenswort von sich verlauten lassen – soviel ich mir denke, haben ihn die Seefische gefressen.«
»Bis jetzt noch nicht, Sievert!« entgegnete lächelnd der Hüttenmeister. »Heute nachmittag kam ein weitgereister, an meinen verstorbenen Vater adressierter Brief in meine Hände. Der Totgeglaubte schreibt eigenhändig, daß er mit wehmütiger Freude der Zeit gedenke, wo er von Schloß Arnsberg aus nach dem Hüttenmeisterhaus in Neuenfeld gewandert sei, um dicke Milch unter den Linden zu essen... Er lebt unverheiratet und kinderlos in Brasilien, ist unumschränkter Besitzer großer Bergwerke, Eisengießereien und so weiter, führt aber ein völlig einsiedlerisches Leben und bittet schließlich meinen Vater, ihm einen seiner Söhne zu schicken, da er oft leidend sei und einer Stütze bedürfe.«
»Hei, da gibt's eine fette Erbschaft!«
»Sie wissen, Sievert, daß ich um keinen Preis von Neuenfeld fortgehen werde«, sagte der Hüttenmeister kurz.
»Und mir fällt es nicht ein, mich auf diese Weise von Theobald zu trennen – Herr von Eschebach mag seine Gold- und Silberminen behalten! – rief lebhaft der Student, auf dessen Wangen allmählich zwei Fieberflecken zu glühen begannen.
»Nu, nu, da behält er sie eben!« brummte Sievert, indem er, sich, wie in Gedanken verloren, mechanisch auf einen Stuhl niederließ. »So, so, der ist also reich geworden!« sagte er nach einer Weile und rieb sich nachdenklich das stachlige, graubärtige Kinn. »Von Haus aus war er eigentlich ein armer Schlucker –«
»Und weshalb ist er nach Brasilien gegangen?« unterbrach ihn der Student.
»Ja, weshalb – da fragen Sie mich zu viel. Übrigens – gedacht hab' ich mir manchmal, daß den eine einzige schlimme Nacht fortgetrieben hat.«
In diesem Augenblick schnob der Sturm mit einem schrillen, anhaltenden Pfeifen draußen um die Ecke. Die Fenster klirrten, und ein Dachziegel krachte zerberstend auf das Steinpflaster.
»Hören Sie?« fragte Sievert, mit dem Daumen über die Schulter nach dem Fenster zeigend. »Just so eine Winternacht war's – eine Nacht, in der die ganze Höllenjagd über den Thüringer Wald hintobte. Das heulte, pfiff und gellte, es rüttelte an dem alten Arnsberger Gemäuer, daß die Bilder an den Wänden zitterten, und aus den Kaminen schossen die Flammen weit in die Zimmer hinein – es war, als sollte das Schloß von der Erde weggefegt werden... Am anderen Morgen lagen alle Steinbilder umgerissen im Schloßgarten, dickstämmige Bäume waren geknickt und zersplittert wie Rohr, und im Schloßhof lagen Glassplitter, Ziegelscherben und zerbrochene Fensterladen handhoch durcheinander – auf dem verwüsteten Dach aber steckte die Trauerfahne, und drin in Arnsberg wurde mit allen Glocken geläutet, weil in der Nacht Prinz Heinrich gestorben war.«
Er schwieg einen Moment; dann lachte er rauh auf.
»Was half ihnen alles Läuten!« fuhr er fort. »Was half der Fürstin die kohlschwarze Schleppe und Schneppe und dem Lande das schwarzgeränderte Wochenblatt – sie mußten sich doch alle den Mund wischen, denn es war Todfeindschaft gewesen bis ans Ende... Das müssen Sie ja noch wissen, Hüttenmeister!«
»Ja – ich war damals noch ein Kind; aber ich erinnere mich recht gut, daß Gehässigkeiten zwischen A. und Arnsberg hin und her flogen, und daß der Prinz seinen Leuten nicht einmal den Umgang mit den fürstlichen Beamten gestatten wollte – mein Vater hatte als herrschaftlicher Hüttenmeister auch darunter zu leiden.«
»Richtig – und wer von den Kavalieren hielt damals zu dem Prinzen Heinrich und hauste mit ihm auf Arnsberg?«
»Nun, das waren Ihr Herr, Sievert, der Major von Zweiflingen, Herr von Eschebach und der jetzige Minister Baron Fleury.«
»Ja der!« lachte Sievert abermals bitter auf. »Der war ein Pfiffikus sein Leben lang! Die beiden anderen kamen nie in die Stadt, geschweige denn an den Hof – es wär' ihnen auch schlecht genug bekommen –, Seine Exzellenz aber scharwenzelte hüben und drüben. Weiß der Henker, wie er's angefangen hat, aber jede Partei drückte die Augen zu, wenn er mit der anderen verkehrte – das kann eben nur so ein französischer Windbeutel, und dem glückt's auch bei den pfiffigen Deutschen... Ja, die am Hofe zu A. haben wohl gemeint, der könne Frieden stiften und ihnen schließlich zu ihrem Erbe verhelfen – ha, ha, sie alle waren dem Weiberkopfe nicht gewachsen, der im Wege stand!«
»Die Gräfin Völdern!« warf der Hüttenmeister ein – ein tiefer Schatten breitete sich über sein Gesicht.