1. Kapitel. Zankteufelchen.

Inhaltsverzeichnis


»Schscht – Kinder, könnt ihr denn keine Ruhe halten, was ist denn bloß schon wieder los, das ist ja ein Lärm und ein Geplärr – – –«

»Muttchen – das Zankteufelchen – – –«

»Mutti – der Neinerich und der Weinerich hat immer – – –«

»Nein, Muttel, sie fängt jedesmal an. Erst hat sie die Kleinen verwichst, und dann hat sie mir meine ganzen Soldaten geköpft, und ich wollte doch gar nicht französische Relution spielen – sieh nur, alle meine schönen Soldaten! Dem siebenjährigen Heinz liefen die blanken Tränen der Empörung über das frische Jungengesicht. Mit kriegerisch geballten Fäusten ging er von neuem auf die größere Schwester los.

Die hielt es doch für geratener, sich hinter Kurtchens Kinderstühlchen zu verschanzen.

»Hach – ein Junge petzt – pfui – so 'ne Petze – und was hast du getan?« begann sie aus ihrer Sicherheit heraus den Kleinen schon wieder zu reizen.

»Ich – ich wollt' halt bloß mit ihren Puppen auch 'ne Relution machen, und das will sie nu abselut nicht erlauben,« Heinz stand mit allen Fremdworten ebenso auf Kriegsfuß wie mit Schwester Liselotte.

»Herrgott, wer kann denn bei dem Radau Lateinisch lernen!« Bruder Norbert, der älteste, der unbekümmert um das ihn umtosende Kindergeschrei mit in die Ohren gestopften Zeigefingern seine Lektion hergesagt, begehrte jetzt auch auf.

»Kinder – Kinder – was soll bloß daraus werden, wenn ihr euch so schlecht vertragt. Liselotte, du bist doch schon elf Jahre alt, solch großes Mädchen, das müßte mich doch schon bei den Jungen vertreten,« die Mutter wußte, daß sie bei ihrem Töchterchen nur mit Liebe etwas ausrichten konnte.

Liselotte senkte denn auch ein wenig zerknirscht den braunen Krauskopf mit dem winzigen, steifabstehenden Zöpfchen.

»Vier Jungs, Muttel, das ist doch a bissel viel,« meinte sie plötzlich mit ernsthaftem Gesicht.

Mutti verbarg ein Lächeln.

»Na, Liselotte, wenn sie mir und Vatern nicht zu viel sind, wirst du dich wohl auch darein schicken müssen.«

»Das Zankteufelchen verträgt sich ja nich amal mit einem einzigen,« triumphierte Heinz, der am meisten schlesisch sprach.

»Mit dir freilich nicht, du dummer Junge,« Liselotte hatte Heinz beim Schlafittchen gepackt, und der Streit drohte wieder hell aufzulodern.

Da trat Mutter trennend zwischen die kleinen Kampfhähne.

»Ruhe – jetzt bitte ich mir aber ernstlich Frieden aus. Du, Heinz, marsch, zu deinen Spielsachen, und Liselotte, du setzt dich ins Nebenzimmer und lernst dein Gedicht. Und ihr Kleinen? Wollt ihr mit hineinkommen und artig guten Tag sagen, ja?«

»Nein,« meinte das vierjährige Edchen, genannt der Neinerich, gewohnheitsgemäß, während das um ein Jahr jüngere Kurtchen, der Weinerich, bereits den Mund jämmerlich zu einem neuen Gebrüll verzog.

»Ihr solltet euch doch schämen, Kinder, immer wenn Besuch da ist, muß ich mich über euch ärgern, was soll nur die Frau Amtsrichter von euch denken!« mit diesen Worten schritt die Mutter, an der einen Hand den Neinerich, an der anderen den Weinerich, zu ihrem Gast zurück.

»Wir zanken uns auch, wenn kein Besuch da ist,« stellte Norbert trotz seiner lateinischen Deklination wahrheitsliebend fest, während Liselotte, vor sich hinbrummend, Mutters Ausweisung in das Nebenzimmer nachkam.

Paradiesischer Frieden herrschte wieder im Kinderzimmer.

Aber nicht lange.

Liselotte hatte ihren Platz zum Auswendiglernen eingenommen. Zu diesem schwierigen Geschäft war schon seit geraumer Zeit Mutters große Wäschekiste auserkoren worden. Dort oben hockte das kleine Mädchen nun, baumelte zum Zeitvertreib zuerst ein wenig mit den Beinen und begann dann aus geborenem Schönheitssinn die Wäschekiste mit Puppen und Püppchen zu bemalen. Darauf schlug sie noch eine Fliege tot und gähnte nach dieser anstrengenden Arbeit herzhaft.

Sie hatte es doch wirklich zu schwer!

Mit vier wilden Jungen sollte sie auskommen, und da verlangte die Muttel auch noch, daß sie liebevoll und verträglich mit ihnen war! Wie gern wollte sie Mutter bei der Erziehung unterstützen, ja – aber die Brüder rebellierten gegen jede energische Zurechtweisung der Schwester. Jungen mußten mit Strenge behandelt werden, das hatte sie mal irgendwo aufgeschnappt. Sie wollte doch nur ihr Bestes, wenn sie beständig an ihnen herumnörgelte und etwas auszusetzen hatte. Aber dann hieß es gleich: »Zankteufelchen – Zankteufelchen –« ach, wie Liselotte diesen Namen haßte – na, und so gab es jedesmal Krach. Und sie, sie allein, hatte dann immer die ganze Schuld – bloß weil sie ein Mädchen war! Liselottes blaue Augen füllten sich mit Tränen. Jawohl, warum hatte sie keine Schwester wie ihre Schulfreundin, Apothekers Hanni, die ihr beständig zum Muster ausgestellt wurde! Schwestern haben sich immer lieb, aber Brüder – und besonders, wenn sie in den Flegeljahren waren wie Norbert! Was solch Tertianer sich alles gegen eine Schwester herausnahm – es war wirklich schrecklich! »Kleinchen« nannte er sie, das ließ sie sich aber nicht gefallen, nein, und besonders nicht, seitdem Mutter ihr neues Kleid um eine Handbreit verlängert hatte. Und dabei war sie doch im Grund ihres Herzens Bruder Norbert ganz besonders gut, er imponierte ihr sogar heimlich ein bißchen mit seiner bunten Gymnasiastenmütze. Alle hatte sie ja lieb, die Kleinen und Heinz, trotz allen Zankens, aber kein Mensch sah das ein. Sie wurde selbst von den Eltern verkannt.

Und als das törichte kleine Mädchen bei diesem Gedanken angelangt war, zog sie ihr Taschentuch heraus und weinte heiße Tränen aus innigem Mitleid mit sich selbst.

»Der blinde König«, den sie zu morgen für die deutsche Stunde auswendig zu lernen hatte, lag vergessen neben ihr.

»Liselotte, willste mit mir Zirkus spielen, guck mal, ich habe mein Schaukelpferd tressiert, aber in den Zirküssen ist doch auch immer eine Schulmeisterin, das mußt du halt sein,« Heinz versuchte mit seinem Holzgaul das Hindernis der Türschwelle zu nehmen.

»Zirküsse heißt es nicht, und Schulmeisterin ist ja Quatsch, du meinst wohl Schulreiterin,« knurrte Liselotte in ihrer elfjährigen Weisheit hinter dem Taschentuch hervor.

Das Schaukelpferd hatte das Kunststück, über die Schwelle zu galoppieren, vollbracht.

»Nanu, was heulste denn?« Heinz sprang aus dem Sattel und auf Liselotte zu. Mit beiden Armen umfing der gutherzige kleine Bursche, der den Streit von vorhin längst vergessen, die große Schwester.

»Laß mich,« Liselotte stieß ihn unsanft von sich.

»Kumm ooch, Lilo« – das war der Kosename – »deine Puppen sind das Pubelkum, eine ist der Papa,« er versuchte Liselotte von der Wäschekiste herunterzuziehen.

Die aber war schon mit einem Satz an ihm vorbei.

Ritsch – ein großes Dreieck prangte in dem hübschen schottischen Kleid, sie war an einem Nagel hängen geblieben. Das verbesserte Liselottes Stimmung durchaus nicht.

»Du sollst meine Puppen nicht anfassen« – ihr Blick überflog prüfend das mit starren Glasaugen ringsum steif auf Stühlen lehnende Puppenpublikum. Und mit einem Jammerlaut riß sie ihr größtes Kind, Puppe Käthchen, empor.

»Ein Schnurrbart, ein schwarzer Schnurrbart!« Liselottes fünf Finger zeichneten sich plötzlich rot auf der Backe des verblüfften kleinen Heinz ab.

»Mutti – Muttel – der Heinz hat meinem Käthchen einen Schnurrbart angemalt – hu–u–uuh –«, ohne auf die Verteidigung des kleinen Heinz: »Aber sie soll doch der Papa sein,« zu hören, lief sie schluchzend zur Mutter.

Hier wurde ihr aber auch kein Recht – natürlich, sie bekam ja nie Recht – der Kleine hatte es doch nicht böse gemeint, und der Schnurrbart ließ sich ja abwaschen – und für das zerrissene Kleid gab es noch einen Verweis obendrein.

Nur gut, daß Frau Amtsrichter inzwischen schon gegangen war, sonst hätte Amtsrichters Edith es sicher morgen in der ganzen Schule herumerzählt, was Baumeisters für Rangen hatten.

Im Kinderzimmer war allgemeines Wehklagen.

Liselotte rasierte schluchzend Puppe Käthchens stattlichen Bartwuchs mit Sand und Seife, Heinz rieb weinend seine geschlagene Backe, und der Weinerich fiel natürlich auch sofort ein und vervollständigte das Terzett. Norbert nannte Liselotte ein Zankteufelchen über das andere, nur der Neinerich war mit dem Gang der Dinge durchaus einverstanden. Der thronte jetzt als Alleinherrscher auf dem großen Schaukelpferd von Heinz und hatte auf alle Aufforderungen, herunterzukommen, nur sein beständiges »Nein!«

»Liselotte, du könntest mal zum Schlächter gehen und Aufschnitt besorgen, die Mädchen sind bei der Wäsche,« rief die Mutter aus dem Nebenzimmer.

Das kleine Mädchen trocknete die Tränen. Einholen tat sie für ihr Leben gern. Und der Schlächter nannte sie sogar schon »Sie« und »kleines Fräulein«! Das war sehr wohltuend, besonders wenn es zu Hause eine Strafpredigt gesetzt hatte.

Sie stülpte die Matrosenmütze auf und schlüpfte in die Jacke.

Ach Gott – der blinde König – da lag das Lesebuch, Mutter würde sehr böse sein, daß sie noch nicht gelernt hatte. Na, sie konnte es ja heute vor dem Schlafengehen ein paarmal überlesen und das Buch unter das Kopfkissen legen – dann konnte sie's morgen. Anna Hintze, die Letzte aus der Klasse, sagte, das helfe bestimmt, und die war doch schon vierzehn Jahre alt.

»Norbert kann dich begleiten, Lilo, es dunkelt bereits. Aber zankt euch nicht unterwegs und laßt euch das Geld richtig herausgeben, du hast fünf Mark mit.«

Bruder und Schwester trabten nebeneinander her.

Liselotte bemühte sich, möglichst nicht auf den Strich der zusammenstoßenden Steine des Trottoirs zu treten. Sie machte die Probe. Wenn sie zwanzigmal nicht den Strich berührt hatte, dann würde sie morgen in der Schule ihr Gedicht können. Mit kühnen Sätzen sprang sie von einem Pflasterviereck in das andere, da ihre Beinchen beim gewöhnlichen Schritt nicht ausreichten.

»Hopse doch nicht wie 'ne Heuschrecke, geh' doch anständig,« Norbert hatte sie fest am Arm gepackt.

Bums – da war sie auf einen Strich getreten, wütend machte sie sich von der Hand des älteren Bruders frei.

»Das geht dich gar nichts an, ich kann gehen, wie ich Lust habe,« sie gab ihm einen derben Stoß und bekam gleich darauf einen Heidenschreck. Norbert war durch den unvermuteten Angriff aus dem Gleichgewicht gekommen und gegen eine vorübergehende Dame geprallt, die mit ernsten Augen auf den verlegen die Mütze ziehenden Knaben und das entsetzt knicksende, kleine Mädchen blickte. Diese Augen – Liselotte kannte sie wohl, die gehörten Fräulein Rau, der allgemein verehrten, aber auch sehr strengen Lehrerin, die deutschen Unterricht erteilte. Der blinde König lastete wieder schwer auf Liselottes Herzen.

»Wenn ich morgen eine Drei in Deutsch kriege, hast du schuld,« murrte sie.

»Heiliges Kanonenrohr« – das war der neueste Kraftausdruck, dessen sich die Untertertia befleißigte –, »du hast mich doch geschubst, nun mußt du dir's auch halt gefallen lassen, wenn dich Fräulein Rau morgen in der Schule noch nachträglich ansäuselt.«

»Was du auch immer für flegelige Ausdrücke hast,« Liselotte rümpfte das Näschen.

Der verletzte Gymnasiastenstolz begehrte in Norbert auf.

»Das verbitte ich mir, hörst du –«

»Muttel hat es heute erst wieder gesagt –«

»Was Muttel sagt, darfst du noch lange nicht, so ein kleines Jör –«

»Oho,« Liselotte richtete sich in ihrer ganzen stattlichen Größe – sie ging dem hochaufgeschossenen Norbert noch nicht bis zur Schulter – empor. »Oho, ich soll Mutters Stelle bei euch Jungen vertreten und –«

Norberts Hohngelächter unterbrach sie.

»Aber nicht als Zankteufelchen« – da war es wieder, das gräßliche Wort!

Liselotte rettete sich in den Schlächterladen, hier wenigstens gab es Balsam für ihre wunde Seele.

Sie stellte sich auf die Fußspitzen und reckte den Hals wie eine Giraffe – o Glück – »und Sie, Fräuleinchen?« fragte der Schlächter so laut, daß alle Kunden es hören mußten. Wenn nur der Norbert nicht so niederträchtig gelächelt hätte!

Daß sie in ihrer stolzen Aufregung fast den Lachsschinken vergessen und ein Zweimarkstück aus dem Kassenbrett bestimmt liegen gelassen hätte, wenn Norbert sie nicht noch rechtzeitig erinnert, verringerte ihre Freude nur wenig.

Sie versuchte auf dem Heimweg sogar zu dem Bruder möglichst liebenswürdig zu sein, allerdings gelang es ihr meistens vorbei.

Hinter der Stadtkirche, in dem dunklen, einsamen Gäßchen, blieb Norbert stehen. Er trug das Paket. Sein Finger hatte kunstvoll ein Loch in das Papier gebohrt.

»Du, Lilo, das Paket geht uff, wir müssen es noch mal zusammenwickeln,« meinte er pfiffig.

»Ist nicht wahr, du willst bloß wieder naschen,« Liselotte kannte die schwache Seite des Bruders. Der hatte bereits die einzelnen Päckchen einer gründlichen Durchsicht unterzogen. Der feine Sprühregen, der naßkalt vom Himmel herniederging, störte ihn nicht bei seiner Beschäftigung.

»Na, Lilo, wie ist's?« er hielt eine Scheibe Leberwurst dem kleinen Mädchen verlockend vor das Gesicht.

Liselotte war kein Kostverächter, die Wurstscheibe verschwand zwischen ihren weißen Zähnchen.

»Nu komm' ich ran,« Norbert öffnete erwartungsvoll den Mund.

Liselotte sah die Notwendigkeit, sich zu revanchieren, durchaus ein, ihre Finger schoben eine ganz gleiche Scheibe – beileibe keine größere – dem Bruder zwischen die Lippen.

Und so standen sie beide im Regen in dem dunklen Kirchgäßchen und steckten sich gegenseitig von jedem Päckchen eine kleine Kostprobe in den Mund.

»Botenlohn«, nannte es Norbert, da Liselotte das Herz doch recht laut pochte – sie empfand sehr wohl, daß sie etwas Unrechtes tat. Sie waren jetzt ein Herz und eine Seele.

O weh – ein Endchen Blutwurst hatte sich heimtückisch aus der Papierhülle gedrängt, Norbert konnte es nicht mehr erwischen – hops – da lag es weichgebettet im düsteren Straßenschlamm.

Liselotte begann bitterlich zu weinen.

»Du bist schuld, du ganz allein, ich wollte nicht naschen,« schluchzte sie, »du bist immer so gefräßig« – das Zankteufelchen meldete sich bereits wieder.

»Hör' bloß mit dem dämlichen Geflenne auf, hier, halt' lieber mal die Pakete – aber fest –«, es war ihm doch beim Anblick der schwärzlichen Blutwurst nicht ganz wohl zumute.

Behutsam kriegte er sie mit spitzen Fingern am Zipfel zu packen, die Wurst selbst war sauber, nur die Pelle sah recht wenig appetitlich aus.

»Den Schaden wollen wir schnell wieder kurieren, da drüben ist ja 'ne Pumpe!« Und während die weinende Liselotte hilflos mit ihren vielen Päckchen im Regen stehen blieb, eilte er zum Brunnen.

»Hurra – nun ist sie ganz sauber, jetzt merkt keen Mensch was,« er trocknete die Blutwurst vorsichtig mit seinem Taschentuch ab.

»Hahaha – grüßt Vater, und er soll sich die Blutwurst gut schmecken lassen« – hinter den zusammenschreckenden Kindern schlug krachend ein Fensterflügel zu.

Sie fuhren herum. Da stand an dem Apothekenfenster, das in die Kirchgasse hinausging, der dicke Herr Apotheker und drohte den beiden lächelnd. Die grüßten entsetzt – und heidi – rannten sie davon.

»Norbert, wir sind verloren – Herr Apotheker hat alles mitangesehen, morgen erfährt es Vatchen am Stammtisch und übermorgen weiß es sicher schon die ganze Schule, am Ende darf Hanni gar nicht mehr mit mir verkehren – ach, du abscheulicher Bengel, du hast mich dazu verleitet – – –«

»Brülle nicht so, sonst hört es gleich die ganze Stadt, sogar der taube Nachtwächter,« Norbert strich sich aufgeregt die feuchten Haare aus der Stirn. »Und nu sei amal verständig, Kleinchen, der Herr Apotheker hat sicher nur gesehen, daß ich die Wurscht herunterfallen ließ, hätte er wohl sonst gelächelt? Außerdem ist Hanni ja deine Busenfreundin, wenn du sie bittest, zu schweigen – – aber nee, ihr Weibsleute könnt ja die Futterluke nicht halten,« trotzdem Norbert vor der Schwester so großartig tat, war ihm doch recht gottjämmerlich zumute.

»Mach' ein fideles Gesicht, sonst riecht man gleich Lunte« – ein aufmunternder Stoß mit dem Ellenbogen, und dann betraten sie die freundlich mit hellen Fensteraugen in den düsteren Garten hinausschauende väterliche Villa.

»Mein armes Mädel, ganz durchweicht bist du ja, flink die Schuhe gewechselt, auch du, Norbert,« liebevoll empfing die Mutter ihre Kinder.

Ach – was hätte Liselotte darum gegeben, wenn sie jetzt die Arme um Mutters Hals hätte schlingen können, und ihr all das Häßliche, was ihr das Herz beschwerte, ins Ohr flüstern. Aber nein, dann war sie ja eine Petze, und die Jungen aus Untertertia verachteten sie sämtlich. Lieber sah sie krampfhaft an den gütigen Mutteraugen vorbei.

Die Kleinen waren schon zu Bette. Seit einem halben Jahr durfte Liselotte wie Norbert mit den Eltern zusammen Abendbrot essen. Sie war ungeheuer stolz darauf, aber heute hätte sie gern auf das Vorrecht verzichtet.

»Was ist denn bloß mit meiner wilden Hummel los – Schelte gekriegt, Mädel, so was pflegst du doch sonst abzuschütteln, wie der Pudel das Wasser – hm? Vater hatte seinen Liebling, seinen »fünften Jungen«, wie er sie zu nennen pflegte, an dem winzigen Rattenschwänzchen gepackt.

»Du ziepst mich, Vatel,« wagte Liselotte nur ganz bescheiden zu äußern, anstatt dem Vater wie sonst aufs Knie zu klettern. Mit scheuem Blick schielte sie zu der Platte Aufschnitt hin.

»Kinder, habt ihr denn ein Viertel oder nur ein Achtel Leberwurst geholt?« sagte jetzt die Mutter kopfschüttelnd. »Ich werde doch wohl von dem Schlächter am Markt abgehen müssen, wenn er so schlechtes Gewicht gibt.« Sie sah fragend zu Liselotte hinüber.

Die wurde dunkelrot. Norbert aber biß gleichmütig in sein Brot.

»Am Ende Mäuse in der Speisekammer,« meinte der Vater lächelnd zur Mutter, »neulich hast du doch das kleine Kindermädel bei der Kuchenbüchse erwischt, sie wird Leberwurst auch ganz gern essen.«

»Ach wo – i bewahre« – entfuhr es Liselotte, während Norbert ihr geschwind mahnend auf den Fuß trat.

»Wie meinst du, Kind?« die Mutter richtete die klaren Augen voll zu dem bald rot, bald blaß werdenden Töchterchen.

»Ich – ach – ich – ich meinte nur, wir haben die Wurst doch eben erst gekauft,« stotterte Liselotte.

»Du wirst aber doch von dem Schlächter abgehen müssen, die Blutwurst hier zeige ihm jedenfalls erst, ehe du sie den Hühnern gibst. Die ist so unsauber, daß er polizeilich dafür belangt werden kann,« der Vater schob seinen Teller fort.

Liselotte blickte flehend zu dem Bruder hin. Sagte er denn noch immer nichts? Sie blinkte ihm beschwörend zu – aber Norbert schwieg. Ob das auch gepetzt war, wenn sie die Schuld ganz allein auf sich nahm? Aber ehe sie noch zu einem Resultat ihres angestrengten Nachdenkens gekommen, deckte Marie bereits den Tisch ab.

»Geht schlafen, Kinder, ihr müßt morgen zeitig heraus, ist auch die Mappe gepackt?« Liselotte fiel das nicht gelernte deutsche Gedicht für Fräulein Rau zentnerschwer auf die ohnehin genügend belastete Seele. Sie nickte stumm und verbarg das verlegene Gesicht schnell zum Gutenachtkuß in Vaters Vollbart. Irrte sie sich oder hatte Mutti sie heute nicht so zärtlich ans Herz gezogen wie sonst?

Stumm stiegen die beiden kleinen Missetäter die Treppe zu den im oberen Stockwerk gelegenen Schlafräumen empor.

»Wir haben uns hundsjämmerlich benommen!« sagte Norbert schließlich mit schwerem Seufzer. Liselotte schlang in jäher Aufwallung die Arme um seinen Hals.

»Komm, wir wollen wieder hinuntergehen und alles eingestehen, ja, komm' doch, Norbert,« sie versuchte ihn mit fortzuziehen. Aber Norbert stand bocksteif da.

»Fällt mir nicht ein, nachträglich noch zu Kreuze zu kriechen, morgen kräht kein Hahn mehr danach,« damit machte er die Tür zu seinem Zimmer, das er mit Heinz teilte, auf. Er hielt es für unmännlich, sein Unrecht einzugestehen und um Verzeihung zu bitten.

Liselotte konnte nicht schlafen. Immer wieder wälzte sie den braunen Krauskopf auf den Kissen hin und her. Sie lauschte auf das Klatschen und Prasseln des Regens gegen die Scheiben, auf das Rauschen und Brausen in der Dachrinne und das Heulen des Windes im Ofen. Aber lauter als Regen und Wind tobte es in ihrer jungen Brust, das Gewissen wollte und wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen.

Wenn der Vater den Schlächter beim Bürgermeister anzeigte, dann kam er am Ende in das Gefängnis, das Vater gerade baute, jenes große rote Haus mit den winzigen vergitterten Fensterchen hinter der dicken grauen Mauer. Der arme Mann, der gar nichts verbrochen hatte, der sie sogar »Fräuleinchen« und »Sie« titulierte – nein, Liselotte sprang mit beiden Beinen aus dem Bett, ihretwegen sollte keiner unschuldig leiden! Sie war unverträglich, ein Zankteufelchen, ja, aber schlecht und lügenhaft war die Liselotte nicht!

Leise pochte sie an die Wand, an der Norbert schlief. Aber keine Antwort kam. Da entschloß sich Liselotte, auf eigene Faust zu handeln. Sie brauchte ja Norbert nicht mit zu verraten, dann war sie ja keine Petze!

Tap – tap – wie der Wind ist sie in ihren weichen Pantöffelchen die Treppe hinab. Jetzt steht sie an der geöffneten Speisezimmertür. Vater sitzt bei seiner Zeitung, und Mutter bessert die zerlöcherten Höschen der kleinen Reißdeibelchen aus. So friedlich sieht es da drinnen aus – und da soll sie den Eltern solchen Kummer machen – ob sie noch umkehrt ...

Nein – zwei weiche Arme umstricken plötzlich den Hals der erschreckten Mutter, und ein kleines Persönchen im langen, weißen Nachtgewand bettet das tränenüberströmte Gesicht an der Mutter Brust. Und nun kommt es stoßweise heraus, daß sie die Leberwurst genascht, daß dabei die Blutwurst in den Schmutz gefallen, und daß sie es auch ganz gewiß nie wieder tun wolle. Von Norbert sagt Liselotte nichts.

Mutter schweigt, sie ist betrübt über ihre Kinder. Aber Vater, der seinen Liebling nicht weinen sehen kann, wickelt die Liselotte wie eine Puppe in die warme Chaiselonguedecke.

»Erledigt – morgen bekommst du deine Dresche – aber jetzt marsch ins Bett, willst dir wohl 'n Schnupfen holen?«

Liselotte gibt dem allerbesten Vatchen der Welt einen dankbaren Kuß. Bei Mutti traut sie es sich noch nicht recht.

»Bist du noch böse, Muttel?« fragte sie so zerknirscht, daß auch Mutti nicht mehr zürnen kann.

»Ich bin nur froh, daß du schließlich doch noch den Weg zu uns gefunden hast, Kind,« sagte die Mutter ernst.

Federleicht ist es Liselotte zumute, als sie nun wieder in ihrem Bette liegt. Wie dämlich von Norbert, mit solcher Zentnerlast auf dem Herzen schlafen zu gehen!

Ja, wenn Vater und Mutter es wissen, dann ist gleich alles wieder gut!

2. Kapitel. Schulfreundinnen.

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Auf Regen folgt Sonnenschein.

Am anderen Morgen lachte goldene Sonne vom wolkenlosen Himmel, und ein übermütiger Sonnenstrahl tanzte lustig auf Liselottes Naschen. Die schlug geschwind die Augen auf, gerade als Marie an die Tür pochte, daß es Zeit zum Aufstehen sei. Ihre blauen Augen lachten mit der lieben Sonne um die Wette, nun konnte man doch endlich wieder nachmittags im Garten spielen! Ihr war heute so frei und fröhlich zumute, denn Vaters in Aussicht gestellte »Dresche«, die kannte sie schon. Allenfalls setzte es noch einen Nasenstüber.

Marie kam herein, um ihr das Zöpfchen zu flechten.

»Sieh mal, Liselotte, was ich heute beim Aufräumen auf der Wäschekiste gefunden habe, die beiden Kleinen haben wohl damit gespielt,« sie hielt Liselotte das vergessene deutsche Lesebuch hin.

Aber wie sah das aus! Seiten zerfetzt und zerrissen, der Deckel mit bunten Tuschfarben beschmiert, denn Edchen war ein zweiter Rafael, er bemalte alles, was er in die Hand bekam.

Liselotte stürzte zur Tür.

»Diese Rangen – diese ungezogenen Lümmel – aber wartet nur – ich verwichse euch – Mutti – Muttel – mein gutes Lesebuch haben sie mir verdorben,« schreiend wollte sie zur Tür hinaus.

Aber Marie hielt sie am Zöpfchen fest. »Erst die Haare kämmen und dann, was können denn die Kleinen dafür, wenn du deine Schulbücher herumliegen läßt!«

Aus Liselottes Augen strömten jetzt unaufhaltsam wieder Tränengüsse – aus Sonnenschein folgt manchmal auch Regen! Was würde Fräulein Rau bloß sagen, die Norbert noch dazu gestern auf der Straße angerempelt, wenn sie das verdorbene Buch sah – und ach – der blinde König –daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht! Ob sie sich schulkrank meldete? Aber sie hatte Mutti erst gestern abend versprochen, von nun an stets wahr und aufrichtig zu sein. Und »ein Mann, ein Wort!« sagte Norbert immer.

Mit verheultem Gesicht erschien sie am Kaffeetisch.

»Nanu, Mädel, schon wieder was ausgefressen?« Vater zog die Augenbrauen hoch.

»Ich nicht – aber die Jören – mein Schulbuch haben sie mir zerrissen und beschmiert,« Liselotte schien nicht übel Lust zu haben, auf die friedlich ihre Morgenmilch trinkenden Kleinen loszugehen.

Aber Mutter zog sie neben sich auf den Stuhl nieder. »Erst sage hübsch ›Guten Morgen‹, wie sich's gehört, nach dem Kaffee werden wir die Sache weiter untersuchen.«

Nun lag Liselotte eigentlich recht wenig daran, daß die Sache eingehender untersucht wurde, denn dann kam möglicherweise noch das ungelernte Gedicht ans Tageslicht. So war sie dem Vater sehr dankbar, als er zum Aufbruch trieb, da die Uhr nachging. Vater hatte sein Baubureau unweit des Gymnasiums und brachte seine beiden Großen – Heinz' Unterricht begann erst um neun Uhr – jeden Morgen selbst in die Schule.

»Entschuldige dich jedenfalls vorher bei Fräulein Rau wegen des Buches – vergiß dein Frühstück nicht – nein, solch ein Zankteufelchen!« Mutter wandte sich den plötzlich losheulenden Kleinen zu. Denn Liselotte hatte es sich doch nicht versagen können, im Vorbeigehen die kleinen Sünder wenigstens noch ins Ohrläppchen zu zwicken, was lebhaften Protest des Neinerich – »nein – nich doch – nein« und jämmerliches Gebrüll des Weinerichs zur Folge hatte.

»Du, Norbert,« Liselotte, die auch dem Bruder gegenüber ihrer nächtlichen Beichte wegen kein ganz reines Gewissen hatte, pirschte sich schnell im Garten, während Vater sich an seinen erblühten Spätrosen freute, an Norberts Seite. »Du, ich hab' gestern abend noch die ganze Wurstgeschichte eingestanden, ich konnte nicht schlafen, aber verklatscht habe ich dich nicht!«

»Bist ein anständiger Knopp, Lilo –«, Liselotte wurde ganz heiß vor Freude über das Lob des Bruders – »übrigens bin ich errötend deinen Spuren gefolgt und habe ebenfalls pater peccavi gesagt.« Das lateinische Worte schien Norbert die Ehre eines Untertertianers weniger zu beeinträchtigen als das deutsche »abbitten«.

»Das freut mich, ach, wie froh bin ich –« ja, Liselotte hätte ganz froh sein können, wenn nicht von neun bis zehn deutsche Stunde bei Fräulein Rau gedroht hätte. Sie hing sich an Vaters Arm und versuchte mit seinen langen Beinen Schritt zu halten. Aber sie mußte in einem fort knicksen, denn fast jeder Vorübergehende kannte den Vater und grüßte ihn.

»Knickebein!« uzte sie Norbert, ja, der hatte gut reden, der brauchte bloß seine bunte Mütze zu ziehen.

»Ich wäre auch lieber ein Junge!« sagte sie plötzlich aus tiefem Nachdenken heraus.

»Na, ein halber bist du ja,« lachte der Vater.

Am Marktplatz gesellten sich Apothekers Hanni und die um ein Jahr jüngere Anni zu Liselotte. Die beiden Schwestern waren unzertrennlich, sie trugen stets dieselben Kleider, sogar dieselben Zopfbänder. Was hätte Liselotte darum gegeben, wenn sie auch solch eine Schwester gehabt hätte! Dabei war sie eigentlich ein ganz klein bißchen eifersüchtig auf Anni, denn sie selbst wollte Hannis beste Freundin sein.

»Liselotte, wir müssen laufen, Fräulein Bergmann will noch vor Schulanfang eine neue Ordnerin für die nächste Woche erwählen – 'n Morgen, Herr Baumeister – 'n Morgen, Norbert,« die beiden nahmen Liselotte in die Mitte.

»Leb wohl, Vatel« – »mach' keine Dummheiten, Wildfang« – und da sauste das Kleeblatt auch schon mit dem jungen Morgenwind um die Wette quer über den Marktplatz. Denn gefährliche Automobile oder Wagen gab es in der schlesischen Kleinstadt nicht.

Fräulein Bergmanns Schule war ein altes, graues Haus – »räucherige Bude« nannten Norbert und seine Kameraden sie. Aber der große, ausgedehnte Garten, der sich an das Gebäude schloß und bis an das Wiesenbächlein hinunterging, war für die Schülerinnen ein herrlicher Tummelplatz in den Freistunden. Kam mal ein Fremder in die Stadt, dann blieb er wohl vor dem alten Haus, das so griesgrämig und mürrisch in die Welt guckte, stehen und wunderte sich über den lachenden Frühling, der da hinter den grauen Mauern sein Wesen trieb.

Die vierte Klasse war bereits versammelt. Denn das Ehrenamt einer Ordnerin wollte jede gern erringen. Liselotte war eine befähigte Schülerin, sie hatte den dritten Platz inne. Daß ihre Freundin Hanni über ihr saß, lag nur daran, daß Liselotte nicht immer ihre sieben Sachen und auch nicht ihre Gedanken beisammen hatte, während Hanni ein geordnetes, fleißiges Mädchen war. Die erste aber, Amtmanns Lenchen, mochten sie alle beide nicht recht leiden, die wußte alles stets besser und war nicht von ihrem ersten Platz herunterzukriegen.

Fräulein Bergmann, die Schulvorsteherin, betrat die Klasse. Die Schülerinnen hatten sich zum Gruße erhoben.

»Na, wem verleihen wir denn für diese Woche das Ehrenamt?« meinte Fräulein Bergmann, die junge Schar lächelnd durch die Brillengläser musternd. Neunundzwanzig Zeigefinger durchbohrten die Luft, der dreißigste, Liselotte angehörend, blieb unten. Denn diese benutzte die Zeit, um schnell noch einen Blick auf ihren blinden König zu werfen.

»Ei, Liselotte, liegt dir so wenig an dem Amt?« fragte Fräulein Bergmann erstaunt, denn sonst war die temperamentvolle Liselotte stets eine der lebhaftesten Bewerberinnen.

»O doch – jawohl,« Liselotte schnellte von ihrem Sitz empor.

»Na, Bescheidenheit muß belohnt werden, da du dich diesmal so zurückgehalten hast, sollst du für die kommende Woche für Ruhe und Ordnung in der Klasse Sorge tragen. Guten Morgen, Kinder,« die Vorsteherin verließ die Klasse und Herr Dr. Schwarz, der Rechenlehrer, trat ein.

Strahlend vor Freude, im Gefühl ihrer neuen Würde, lief Liselotte zum Katheder, legte dem Lehrer Ordnungsbuch und Rechenbuch hin und sammelte die Hefte mit den häuslichen Arbeiten ein. Außerdem hatte sie dafür zu sorgen, daß kein Frühstückpapier herumlag, daß die Schülerinnen in den Pausen paarweise die Klasse verließen und die Fenster geöffnet wurden. Und dann durfte man nach Herzenslust mit dem großen Schwamm die riesige Schultafel bearbeiten, zu diesem Zweck mußte man aber erst auf einen Stuhl klettern. Die Schülerinnen, die vor dem Eintritt des Lehrers ihr Mäulchen allzu lebhaft in Bewegung setzten, sollte die Ordnerin mit Kreide an die Schultafel schreiben. Aber das tat keine, nur Anna Hintze hatte mal eine notiert und hieß seitdem die »Petze«. Das schönste aber eigentlich an dem ganzen Ordnerinamt war, daß man zur Geographiestunde die Landkarten zu holen hatte und zur Naturgeschichtsstunde für Pflanzen und Tiere sorgen mußte. Für eine Woche war man die Königin der Klasse.

Liselotte hätte sich auch durchaus als kleine Königin gefühlt, wenn es bloß nicht – einen blinden König gegeben hätte. Sie hatte das Lesebuch heimlich unter dem Tisch geöffnet, und während Herr Dr. Schwarz sich bemühte, ihnen an der Tafel die Bruchrechnung klarzumachen, versuchte sie noch schnell, sich ein paar Strophen ins Gedächtnis zu prägen.

Hanni zupfte sie an der Schürze.

»Mach' doch das Lesebuch zu, Dr. Schwarz hat schon zweimal hergeguckt,« flüsterte die treue Freundin ihr zu.

Der Lehrer schien wirklich aufmerksam geworden zu sein.

»Wiederhole mir das, was ich soeben erklärt habe, Liselotte,« sagte er, da ihre Zerstreutheit ihm nicht entgangen war.

Liselotte sprang auf. Bums – lag das deutsche Lesebuch mit einem lauten Knall auf der Erde. Lustig flatterten die Seiten, welche Edchen und Kurtchen gestern unter den Händen gehabt, auf dem Fußboden umher.

Die Mitschülerinnen begannen zu kichern.

Mit hilflosen Augen blickte Liselotte zur Tafel. Da standen Zahlen, Striche und nochmals Zahlen, aber wie sie zusammenhingen, davon hatte das kleine Mädchen keine blasse Ahnung. Hätte sie doch bloß aufgepaßt – aber sie kam immer erst zu spät auf das Rechte.

»Wird's bald?« Herr Dr. Schwarz setzte sich in Bewegung.

Nur das nicht, wenn er das Lesebuch unten entdeckte – das war nicht auszudenken – half ihr denn keiner in der Not?

Ja, Suse Bertram, die vierte, die Tochter von Vaters Bausekretär, die Liselotte immer ein wenig über die Achsel ansah, stand ihr bei.

»Ein Achtel ist der achte Teil eines Ganzen,« flüsterte sie ihr hilfreich zu, so laut es anging.

Liselotte hatte auch verstanden.

»Ein Achtel ist der achte Teil einer Gans« – wie eine Erlösung kam es von Liselottes Lippen.

Ein nicht endenwollendes Gelächter folgte. Selbst Herr Dr. Schwarz lachte, daß der Anhänger von seiner Uhrkette hin und her hopste.

»Na, da wollen wir mal das Gänschen in den Gänsestall sperren, Liselotte, setze dich hier nach vorn auf die Strafbank!«

O diese Schmach!

Mit dunkelrotem Gesicht kam Liselotte der Aufforderung nach. Wie Amtmanns Lenchen sich freuen würde! Liselotte wagte einen schnellen Seitenblick, aber nein, Lenchen, Hanni und Suse, alle sahen sie mitleidig zu ihr hin.

»Wer ist die Wochenordnerin?« fragte der Lehrer.

Liselotte hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen, sie schwieg. Aber die anderen riefen:

»Liselotte – Liselotte Günther!«

»So, na du scheinst mir ja dafür zu passen, wie die Gans zum Bruchrechnen – so magst du dich selbst bei deiner Ordinaria melden, daß du drei Tage lang den Strafplatz in allen Stunden einnehmen wirst.« Er fuhr in seinen Erklärungen fort.

Liselotte aber stürzten jetzt doch die krampfhast zurückgehaltenen Tränen aus den Augen. Das war zu viel – sie sollte sich selbst bei Fräulein Rau, der Klassenordinaria anzeigen – ach, und wie würde es ihr in der deutschen Stunde erst gehen! Hätte sie doch bloß gestern gelernt, anstatt sich mit den kleinen Geschwistern herumzuzanken, davon kam alles Unheil heraus!

Eine Stunde hat leider nicht mehr als sechzig Minuten – es läutete – und der deutsche Unterricht rückte näher.

Hanni hatte ihr hilfreich das zerfetzte Lesebuch aufgesammelt.

»Um Himmels willen – wie sieht dein Buch aus, was hast du denn damit angefangen?«

»Gib her« – ungestüm riß ihr Liselotte das Buch weg, »du – du ganz allein bist schuld, daß Dr. Schwarz was gemerkt hat, wozu hast du mich auch an der Schürze gezupft – das Zankteufelchen meldete sich bereits wieder.

»Aber ich hab' es doch halt gut gemeint« – verteidigte sich Hanni.

»Ach was – du wolltest bloß, daß ich aus die Strafbank komme« – Liselotte wandte ihrer besten Freundin den Rücken.

So kam es, daß die Bruchrechnung auch zum Bruch zwischen den beiden Freundinnen führte.

Aber Hanni hatte ein gutes Herz. Trotzdem Liselotte ihr soeben mit ihrer ungerechten Beschuldigung sehr weh getan hatte, ging sie zum Klassenschrank und legte ein tadelloses Lesebuch vor Liselotte.

»Edith Wendler fehlt, ihr Lesebuch ist hiergeblieben, nimm das,« sagte sie.

Zankteufelchen hätte ihr am liebsten das Buch vor die Füße geworfen, aber die Angst vor Fräulein Rau war größer als Liselottes Stolz.

»Danke,« brummte sie möglichst feindlich und steckte die Nase ins Buch. An ihr Ordnerinamt dachte sie nicht mehr. So gingen die kleinen Mundwerke in der vierten Klasse denn lustig hin und her – keine Aufpasserin, keine, die ermahnte, man überhörte sogar das Klingelzeichen. Fräulein Rau stand plötzlich in der Klasse, ohne daß man ihrer zuerst gewahr wurde.

»Ruhe« – gebot sie streng, »das ist ja hier ein Geschnatter wie in einem Gänsestall« – zum zweitenmal wurde die vierte Klasse heute damit verglichen – eine furchtbare Blamage!

»Wo ist die Ordnerin?«

Liselotte trat mit gesenktem Haupt vor.

»Wenn du dein Amt so schlecht erfüllst, werden wir dich absetzen müssen – willst du noch etwas?«

Die grauen Augen musterten das kleine Mädchen scharf durch die Lorgnette.

Liselotte stand und druckste.

»Ich – ich muß drei Tage lang auf der Strafbank sitzen,« stieß sie plötzlich mit dem Mut der Verzweiflung heraus.

»Das ist ja recht feierlich – und du willst für Ordnung in der Klasse sorgen – fange nur vorläufig erst bei dir selbst mit der Ordnung an – Suse Bertram, du wirst das Amt verwalten.«

Abgesetzt – eine entthronte Königin – Liselotte ballte die Hände.

Nie war es vorgekommen, daß eine Schülerin vor Ablauf der Woche ihres Amtes verlustig gegangen; und gerade Suse Bertram ihre Nachfolgerin, deren Vater doch eigentlich ein Untergebener von Vatel war – das war noch viel demütigender! Daß Suse ein viel fleißigeres und gewissenhafteres Kind war als sie selbst, daran dachte die törichte Liselotte nicht. Langsam schritt sie zu ihrem Strafplatz zurück. Sie konnte doch unmöglich jetzt auch noch eingestehen, daß sie das Gedicht nicht gelernt habe. »Vielleicht komme ich gar nicht heran!« damit versuchte sie sich zu trösten.

Es schien wirklich, als ob sich der Unglücksstern, der Liselotte heute verfolgte, in einen Glücksstern verwandelt hätte. Fräulein Rau dachte nicht an das Gedicht, sondern begann einen Aufsatz durchzunehmen. »Meine Lieblingsbeschäftigung«, so hieß er. Jede sollte ihr sagen, welches ihre liebste Beschäftigung daheim sei.

Liselotte zerbrach sich den Kopf – welches war nur ihre Lieblingsbeschäftigung? Wenn sie ganz ehrlich sein wollte, sich mit den Geschwistern zu kabbeln und zu zanken. Aber das konnte sie doch unmöglich Fräulein Ran mitteilen. Was mochten nur die anderen sagen?