Dieses »Morgen« kam, und mit ihm eine vollkommene Verwandlung der Szene. Friedlich segelten der Delphin und der Pfeil Seite an Seite; die Fahne Englands wehte wieder vom Flaggentopp des Pfeil, während der Delphin eine nackte Gaffelspitze zeigte. Die Beschädigungen, die Sturm und Gefecht verursacht hatten, waren so weit wieder ausgebessert, daß beide stattliche Schiffe dem gewöhnlichen Auge gleich fähig erscheinen mußten, die Gefahren der See oder des Krieges abermals zu bestehen. Ein langer, blauer Nebelstreif nach Norden zu, deutete die Nähe von Land an; und drei oder vier leichte Küstenfahrer jener Gegenden, die unfern segelten, bewiesen, daß die Freibeuter jetzt nichts weniger als feindliche Absichten im Sinne führten.
Was indessen ihre eigentliche Bestimmung sei, blieb noch immer ein in der Brust des roten Freibeuters allein vergrabenes Geheimnis. Nicht nur auf den Zügen seiner Gefangenen, sondern auch auf denen seiner eigenen Leute malten sich abwechselnd die Spuren von Zweifel, Bewunderung und Mißtrauen; die ganze lange Nacht hindurch, die auf den letzten, ereignisreichen, wichtigen Tag folgte, hatte man ihn in brütendem Schweigen auf dem Hüttendeck auf und ab wandeln sehen. Nur dann und wann vernahm man einige Laute aus seinem Munde; es waren Kommandoworte in Beziehung auf die Richtung, die dem Schiffe gegeben werden sollte, ein Wink, dem niemand Gehorsam zu versagen wagte, reichte hin, um jeden zu entfernen, der so kühn war, sich seiner Person zu nahen, ohne daß es der Dienst erforderte, und sicherte ihm die gewünschte Einsamkeit. Zwar sah man ein- oder zweimal den Knaben Roderich in seiner Nähe, allein es war so, wie man sich einen um den Gegenstand seiner Sorgfalt weilenden Schutzgeist denkt, und fast dürfte man hinzusetzen: unsichtbar. Als aber nun, glanzreich und herrlich, die Sonne dem östlichen Gewässer entstieg, wurde eine Kanone abgefeuert, das Zeichen für eines der nahesegelnden Küstenschiffe, an die Seite des Delphin heranzukommen; und nun schien es, daß der Vorhang vor der Schlußszene des Dramas aufgezogen werden sollte. Die Mannschaft auf dem tieferen Deck vor ihm versammelt und die vorzüglichsten Personen seiner Gefangenen oben bei ihm auf dem Deck, redete der Rover seine Leute also an:
»Jahrelang hat uns ein gemeinsames Los vereint. Lange gehorchten wir einem und demselben Gesetze. Wenn ich schnell war in der Bestrafung, so war ich nicht minder bereit, unseren Gesetzen zu gehorchen. Ihr könnt mich keiner Ungerechtigkeit zeihen. Allein der Bund hat nunmehr sein Ende erreicht. Zurück nehme ich mein gegebenes Pfand, zurück gebe ich euch eure verpfändete Treue. Ihr zürnt? Ihr stutzt? Ihr murrt? Lasset das! Der Vertrag ist zu Ende, und mit ihm unsere Gesetze. Damit ihr keinen Grund zum Vorwurfe habet, sei mein Schatz euch geschenkt. Seht,« sagte er, indem er jene blutige Flagge wegzog, mit der er so oft der Macht der Nationen Trotz geboten, und die Säcke voll des Metalls, das seit Jahrhunderten die Welt regiert, sehen ließ – »seht! Dies war mein, es ist nun euer! Es soll in jenes Küstenschiff gebracht werden; dort mögt ihr es selbst unter denen verteilen, die euch am würdigsten scheinen. Geht; das Land ist nah. Zerstreut euch, zu euerm eigenen Besten, zerstreut euch. Verzieht nicht, zu gehorchen; denn ohne mich, das wißt ihr gar wohl, würde dies Fahrzeug des Königs von England jetzt euer Herr sein. Das Schiff selbst gehört mir bereits, von dem Rest der Beute verlange ich nichts als diese Gefangenen. Lebt wohl!«
Stummes Staunen folgte auf diese unerwartete Anrede. In der Tat zeigte sich einen Augenblick lang einige Neigung zur Meuterei; allein zu gut hatte der Rover seine Maßregeln gegen Auflehnung genommen. Entlang dem Delphin lag der Pfeil, dessen Mannschaft mit brennenden Lunten an den schweren Seitenbatterien kampffertig stand. Unvorbereitet, ohne Anführer und überrascht wäre Widerstand Wahnsinn gewesen. Kaum waren sie von ihrem ersten Staunen zurückgekommen, so stürzte ein jeder Freibeuter fort, seine eigenen Habseligkeiten auf das Verdeck des Küstenschiffes und dort in sichere Verwahrung zu bringen. Als alle, bis auf die Bemannung eines einzigen Bootes, den Delphin verlassen hatten, wurde ihnen das verheißene Gold ausgehändigt, und bald sah man das beladene Fahrzeug dem Schutze einer verborgenen Bucht zueilen. Still wie der Tod schaute der Rover diesem Auftritte zu. Hierauf wandte er sich gegen Wilder und sprach nach einer mächtigen, aber erfolgreichen Anstrengung, um seine Gefühle zu unterdrücken:
»Und nun müssen auch wir scheiden. Ihrer Sorgfalt empfehle ich meine Verwundeten. Ich muß sie notwendig in den Händen Ihrer Wundärzte zurücklassen. Ich weiß, Sie werden für die Ihnen Anvertrauten Sorge tragen.« »Mein Wort als Unterpfand für ihre Sicherheit«, erwiderte der junge de Lacey.
»Ich glaube Ihnen. – Madame,« fuhr er fort, indem er sich der älteren Dame mit einem Blicke näherte, in dem der Kampf zwischen Zaudern und Entschlossenheit sichtbar erschien, »wenn ein verfolgter und schuldiger Mann Sie noch anreden darf, so gewähren Sie eine Bitte.«
»Nennen Sie sie; nie kann dem, der einer Mutter das Kind erhielt, ihr Ohr verschlossen sein.«
»Wenn für dies Kind Ihre Gebete gen Himmel steigen, so vergessen Sie nicht, daß es auch außer ihm noch ein Wesen gibt, dem sie frommen können! – Genug. – Und jetzt,« fügte er hinzu, indem er, entschlossen das Weh des Augenblicks, es koste, was es wolle, ganz zu durchfühlen, den schmerzvollen Blick über das vor kurzem von regem, tosendem Leben volle, nunmehr einsame Verdeck schweifen ließ; »und jetzt – ja – jetzt scheiden wir! Das Boot wartet Ihrer.«
Wilder bedurfte nur wenig Zeit, um seine Mutter und Gertraud in die Pinasse zu begleiten; allein er selbst kehrte wieder zurück. Es war ihm, als könne er das Verdeck nicht verlassen.
»Und Sie,« sagte er, »was wird aus Ihnen werden?«
»Ich werde bald ... vergessen sein. – Leben Sie wohl!«
Die Art, wie der Rover diese Worte sprach, verbot jedes längere Zaudern. Der Jüngling stockte, drückte ihm die Hand und ging.
Seinem eigenen Schiffe wiedergeschenkt, dessen Kommando durch Bignalls Tod auf ihn überging, erteilte Wilder sogleich den Befehl, die Segel beizusetzen und auf den nächsten Hafen seines Vaterlandes zuzusteuern. Solange als die Gesichtskraft die Bewegungen des auf dem Delphin zurückgebliebenen Menschen zu erreichen vermochte, war kein Blick von dem regungslosen Schiff abgewendet. Da lag es, das Oberbramsegel am Mast, ein schöner Bau, lieblich anzusehen in seinem Ebenmaße und vollkommen in allen seinen Teilen, wie durch Feenmacht hingepflanzt. Man entdeckte eine menschliche Gestalt, die rasch auf der Hütte hin und her ging, und ihr zur Seite schwebte ein Wesen, das aussah wie der verjüngte Schatten der bewegten Figur. Endlich verschlang die Entfernung auch diese schillernden Bilder! Das Auge mühte sich nunmehr umsonst, von den inneren Bewegungen des ferner und ferner zurückweichenden Schiffes eine Spur aufzufangen. Allein bald endete jeder Zweifel. – Ein Flammenstreif blitzte plötzlich vom Verdeck hervor, wild aufwärts von einem Segel zum andern springend. Nun entquoll dem Rumpfe eine ungeheure Rauchwolke und dann das gedämpfte Gebrüll des losgehenden Geschützes. Diesem folgte das erhabene, nicht minder anziehende als furchtbare Schauspiel eines im Brande stehenden Schiffes. Eine unermeßliche Rauchhülle lagerte sich über der Stelle, und das Ganze endete mit einem Krach, von dem trotz der Entfernung die Segel des Pfeil erzitterten und in ungewisse Schwankung gerieten, als wenn die Passatwinde ihren ewigen Strich verlassen hätten. – Als sich die schwarze Wolke von der Meeresfläche weghob, blieb dem Blick nichts mehr als eine fortgesetzte Wasseröde sichtbar; vergebens strebte das Auge, den Fleck wiederzufinden, wo so kürzlich jenes schöne Erzeugnis menschlicher Geschicklichkeit geschwommen hatte. Einige von denen, die mit Ferngläsern versehen, die obersten Stengen des königlichen Kreuzers erklettert hatten, glaubten zwar einen einsamen schwarzen Punkt auf der See zu erblicken; ob es aber ein Boot oder einige Trümmer des Wracks gewesen, hat man nie erfahren können.
Von jener Zeit an begann sich die Geschichte des gefürchteten roten Freibeuters nach und nach, verdrängt durch die neuen Ereignisse auf jenen belebten Seegegenden, zu verlieren. Doch geraume Zeit noch pflegten Seefahrer sich die langen Wachen der Nacht mit den Erzählungen tollkühner Taten zu verkürzen, die unter dessen Befehlen ausgeführt worden sein sollten. Das Gerücht verfehlte nicht, sie auf alle erdenkliche Weise auszuschmücken und zu entstellen, bis der wahre Charakter, ja der Name des Mannes mit dem anderer großer Frevler zusammenfloß. Auch traten Vorfälle von höherem, erhebenderem Interesse ein, die alle Einzelheiten verwischten und nur noch eine unbestimmte, von vielen für schimärisch und unwahrscheinlich gehaltene, Sage übrig ließen. Die britischen Kolonien empörten sich gegen die Regierung der Krone, und ein lang sich hinziehender Krieg führte endlich den gewünschten Erfolg herbei. Newport war bald von den Truppen des Königs von England, bald von denen jenes Monarchen besetzt, der eine ritterliche Schar seines Volkes geschickt hatte, um in dem Kampfe hilfreiche Hand zu leisten, der dem nebenbuhlerischen Reiche dessen ungeheuere Besitzungen entriß.
Der schöne Hafen hatte feindliche Flotten beherbergt und die friedlichen Landhäuser gedröhnt unter dem Gejauchze junger Krieger. – Über zwanzig Jahre waren seit den erzählten Ereignissen in das Buch der Zeiten eingetragen, als die Inselstadt abermals der Schauplatz eines solchen Freudenfestes war, wie es die erste Szene unserer Erzählung schilderte. Die verbündeten Truppen hatten durch Geschicklichkeit und größere Anzahl den unternehmendsten Anführer der Engländer gezwungen, sich und seine Armee gefangen zu geben. Man glaubte, der Krieg sei zu Ende, und die werten Städter waren, wie gewöhnlich, etwas laut in dem Ausbruch ihrer Freude gewesen. Doch mit dem Tage nahmen auch die Lustbarkeiten ein Ende; und als die Farbe der Abenddämmerung sich in die schwärzere der Nacht zu verschmelzen anfing, verbreitete sich auch über den Ort die gewöhnliche Stille eines Provinzialstädtchens. Eine stattliche Fregatte, die gerade auf demselben Fleck vor Anker lag, wo das Fahrzeug des Rover erst dem Leser erschienen ist, hatte bereits die bunten, heiteren Farben der Alliierten niedergelassen, die, weil es ein Galatag war, vereint geflattert hatten, und nur eine einzige Flagge von gemischten Farben, mit einer Gruppe glänzender, aufgehender Sterne, sah man noch an ihrer Gaffelspitze wehen. In diesem Augenblick erschien auf der offenen See draußen ein Fahrzeug, bei weitem kleiner, das aber ebenfalls die Flagge der jungen Staaten führte. Da die Flut eben zurückkehrte und der Wind die Segel nicht faßte, so ließ es in der Durchfahrt zwischen den Eilanden Connecticut und Rhode einen Anker fallen, und sofort wurde ein Boot sichtbar, das von den Armen sechs stämmiger Männer nach dem innern Hafen zuruderte. Als die Barke einen etwas abgelegenen und verlassenen Teil der Kaje erreichte, konnte ein Mann, der einsam dastand und ihre Bewegungen beobachtet hatte, unterscheiden, daß sie eine mit Vorhängen verhüllte Tragbahre und eine einzige weibliche Gestalt enthielt. Aber ehe noch die erwachte Neugier des einsamen Beobachters Zeit hatte, sich in allerhand Mutmaßungen zu ergehen, waren schon die Ruder aus dem Wasser geschwungen, berührte schon das Boot die Schälung, und die Tragbahre, von den Seeleuten getragen und von dem Weibe begleitet, hielt vor ihm.
»Sagen Sie mir, ich bitte,« erklang es von einer Stimme, in deren Tönen Schmerz und Entsagung wunderbar vereint waren, »ob Kapitän Heinrich de Lacey von der Kontinentalmarine47 ein Haus in dieser Stadt besitzt?«
»Das hat er,« antwortete der von der Frau angeredete Alte, »das hat er; oder wie man eigentlich sagen könnte, zwei, indem die Fregatte dort nicht weniger sein ist, als das Wohngebäude hier auf der Anhöhe.«
»Du bist zu alt, um uns den Weg zu zeigen; doch, wenn ein Enkelchen oder irgend jemand, der nichts zu tun hat, in der Nähe ist; hier ist Silber, ihn zu belohnen.«
»Ei du guter Gott, gnädige Frau!« erwiderte der andere, sie wegen ihrer demütigen Erscheinung mit einem Seitenblick betrachtend, der gleichsam den gegebenen Titel wieder zurücknehmen sollte, und dabei mit ganz besonderer Sorgfalt die angebotene kleine Münze in die Tasche steckend. »Ei du guter Gott, Madame! Bin ich auch alt und einigermaßen geschwächt durch Strapazen und wunderbare Abenteuer zu See und zu Land, so will ich doch gern für jemand in Ihrer Lage einen so kleinen Dienst tun. Folgen Sie mir, und Sie werden sehen, daß Ihr Lotse nicht ganz unbekannt mit dem Pfade ist.«
Noch ehe der Alte mit dieser selbstgefälligen Anpreisung seiner Tüchtigkeit fertig war, hatte er rechtsum geschwenkt und den Weg eingeschlagen, der von der Kaje abführte. Die Seeleute und die Frau folgten, letztere an der Seite der Tragbahre, in stille Schwermut versunken.
»Solltet Ihr etwa Erfrischungen nötig haben,« sagte ihr Wegführer und zeigte dabei über die Schulter weg, »dort ist ein wohlbekanntes Wirtshaus, das seinerzeit von Matrosen stark besucht wurde. Nachbar Joram und der Unklare Anker sind in ihren Tagen berühmt gewesen, so gut wie der größte Krieger im Lande; der ehrliche Joram ist freilich eingetan zu seinen Vätern, aber das Haus steht noch so fest wie an dem Tage, da er es zuerst betrat. Er ist als ein gottseliger Christ gestorben, und jeder bange Sünder sollte zum Heil seiner Seele dessen frommes Beispiel vor Augen haben.«
Hier vernahm man aus dem Innern der Tragbahre einen tiefen, dumpfen Seufzer; der Wegweiser stand stille und lauschte, allein kein ferneres Zeichen bot sich dar, wodurch er hätte auf die Spur kommen können, wer sich wohl drinnen befinden möchte.
»Der kranke Mann leidet,« nahm er wieder auf; »aber körperlicher Schmerz und alle Leiden, die wir im Fleische erfahren, dauern nur eine bestimmte Zeit. Sieben blutige und grausame Kriege hab' ich erlebt, der siebente, der jetzt wütet, wird, Gott woll' es, der letzte sein. Im sechsten hab' ich Ihnen Wunder gesehen, Gefahren ausgestanden – ihresgleichen hat noch kein Auge geschaut, kann keine menschliche Zunge aussprechen!«
»Die Zeit ist rauh mit Euch umgegangen, Freund,« unterbrach ihn sanft die Frau, »hier habt Ihr Gold; vielleicht trägt es dazu bei, Euch die übrigen Lebenstage zu versüßen.«
Der Krüppel, denn der Wegführer war nicht nur alt, sondern auch lahm, empfing das Geschenk mit großer Dankbarkeit und war von nun an zu sehr beschäftigt, den Betrag bei sich zu überschlagen, um in seiner Redseligkeit fortzufahren.
Das kurze Dämmerlicht war verschwunden, während die Träger noch im Hinansteigen des Abhangs begriffen waren, und es war Nacht, als die Gruppe in tiefem Schweigen an der Haustür der Villa anlangte. Nachdem der Alte die Klingel stark angezogen hatte, wurde ihm bedeutet, daß seine Dienste nun nicht weiter vonnöten seien.
»Viele und schwere Fährlichkeiten hab' ich mitgemacht,« wendete er ein, »und gar wohl weiß ich, daß ein kluger Seefahrer den Lotsen nicht eher entläßt, als bis das Schiff sicher vor Anker liegt. Vielleicht ist die alte Madame de Lacey ausgegangen, oder der Kapitän mag vielleicht nicht ...«
»Genug, Freund, hier ist schon jemand, der uns Auskunft geben wird.«
Die kleine Tür wurde jetzt geöffnet, und ein Mann mit einem Licht in der Hand erschien auf der Schwelle. Die Erscheinung des Türstehers war gerade nicht von der aufmunterndsten Art. – Ein gewisses Aussehen, das keiner der es nicht hat, zum Schein anzunehmen, keiner, der es hat, von sich abzulegen vermag, ließ sogleich den Sohn des Ozeans erkennen, und ein hölzerner Fuß, der seinen noch immer vierschrötigen, athletischen Körper stützen half, bewiesen hinlänglich, daß die Erfahrungen, die er in seinem verwegenen Berufe gemacht haben mochte, nicht ohne einige persönliche Gefahr erkauft waren. Seine Züge, beschienen von dem Lichte, das er hoch über dem Kopf hielt, um die verschiedenen Personen genauer zu untersuchen, die eine Gruppe vor der Tür bildeten, hatten etwas Absprechendes, Düsteres, ja Wildes. Doch unterschied er gar bald den Krüppel, den er ziemlich barsch fragte, was »eine solche Bö zur Nacht« bedeuten solle.
»Hier ist ein verwundeter Seemann,« erwiderte die Frau mit so bebendem Ton, daß das Herz des nautischen Zerberus auf der Stelle dadurch erweicht wurde: »er kommt, um das Recht der Gastfreundschaft von einem Kriegsgenossen anzusprechen, und um eine Herberge für die Nacht zu bitten. Wir wünschten, den Kapitän Heinrich de Lacey zu sprechen.«
»Dann haben Sie an der rechten Küste Anker geworfen, Madame,« erwiderte der Teer, »wie Ihnen der junge Herr, der Paul hier, in seines Vaters Namen, nicht minder versichern wird als in dem der gnädigen Frau, seiner Mutter; und auch, nicht zu vergessen, im Namen der alten gnädigen Frau, seiner Großmama, die, was das anbelangen tut, selber kein Neuling oder Süßwasserfisch ist; ja, das wird Master Paul da Ihnen versichern.«
»Herzlich gern«, sagte ein männlich schöner Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren, der die Uniform eines Seekadetten trug und von hinten dem alten Seemann neugierig über die Schultern gesehen hatte. »Ich will meinem Vater den Besuch melden, und du Richard, du suchst ohne Verzug einen schicklichen Raum für unsere Gäste.«
Die Weise, wie dieser Befehl gegeben wurde, verriet, daß Selbsthandeln und Gebieten dem Jüngling schon nichts Ungewohntes waren. Richard gehorchte auf der Stelle. Das Gemach, das er wählte, war das gewöhnliche Wohnzimmer im Hause, wo die Träger die Bahre nach wenigen Augenblicken niederstellten und darauf entlassen wurden, so daß die Frau allein blieb mit dem in der Bahre Befindlichen und dem barschen Diener, der sie mit so vieler Derbheit empfangen hatte. Der letztere befleißigte sich, die kurze Zwischenzeit bis zur Erscheinung seiner Herrschaft durch Sprechen so wenig langweilig als möglich zu machen, dabei hatte er allerhand zu schaffen, putzte die Lichter, legte frisches Holz auf das hellflackernde Feuer, ohne deswegen die geringste Pause eintreten zu lassen. – Jetzt öffnete sich eine innere Tür, und der Jüngling führte die drei Bewohner des Hauses ins Zimmer.
Zuerst kam ein Mann von mittleren Jahren, in der Negligéeuniform eines Schiffskapitäns der neuen Staaten, eine Heldengestalt. Ruhig war sein Blick und noch immer fest sein Schritt, wenn auch die Zeit und Strapazen seinem Haupthaar schon die Mischung von Grau gaben. Den einen Arm trug er in einer Binde, ein Beweis, daß er erst vor kurzem in Aktion gewesen sein mußte; am andern schmiegte sich eine Matrone, deren noch immer blühende Wangen und glänzendes Auge die Spuren gereifter hoher Schönheit trugen. Diesen beiden folgte eine Dame, mit zwar weniger elastischem Schritte, deren ganze Person aber von dem friedlichen Abend eines stürmischen Lebenstages zeugte. Die drei grüßten höflich die Fremde, ohne ihr Zartgefühl durch irgendeine vorschnelle Frage nach der Ursache ihres Besuches zu verletzen. Auch war diese Rücksicht nichts weniger als überflüssig; denn der ganze Körper der unbekannten Dame, der ohnedies von Schmerz und Schwäche erschöpft schien, fing an zu zittern und zeigte nur zu deutlich, daß ihr eine Pause not tat, um ihre Kraft zu sammeln und ihre Gedanken zu ordnen.
Sie weinte lange und schmerzlich, ganz als wäre sie einsam; erst als längeres Schweigen Verdacht erregt haben würde, versuchte sie zu sprechen. Sie trocknete die Tränen von einer Wange, auf der eine hektische Röte glänzte, und dann vernahmen ihre erstaunten Wirte zum erstenmal den Ton ihrer Stimme:
»Sie sehen diesen Besuch vielleicht als eine Zudringlichkeit an; doch der, dessen Wille mir Gesetz ist, wollte hierher gebracht sein.«
»Mit welchem Wunsche?« fragte der Offizier sanft, als er bemerkte, daß ihr schon die Rede versagte.
»Zu sterben!« flüsterte sie mir erstickter, schluchzender Stimme.
Bei diesen Worten fuhr ein jeder ihrer Zuhörer erschreckt zusammen; hierauf trat der ältere Herr an die Bahre, zog sanft den Vorhang beiseite und enthüllte den bis jetzt unsichtbaren Bewohner den forschenden Augen aller Anwesenden. Helles Bewußtsein lag in dem Blick, der dem seinigen begegnete, obgleich die blassen Züge des Verwundeten nur zu unverkennbar das Gepräge des Todes trugen. Nur sein Auge schien noch der Erde anzugehören; das ganze Antlitz hatte bereits das Starre der letzten Stufe menschlicher Schwäche angenommen, sein Auge allein blieb glänzend, voller Bewußtsein, glühend – fast möchte man sagen strahlend.
Nach einer langen, feierlichen Pause, während der alle Umherstehenden trauernd in dem tragischen Anblick schwindender Sterblichkeit befangen waren, fragte Kapitän de Lacey: »Können wir durch irgend etwas zu Ihrem Troste beitragen, Ihren Wünschen entgegenkommen?«
Das Lächeln des Sterbenden hatte etwas Gespenstiges, und doch war in seinem Ausdruck, ebenso seltsam als schrecklich, Zärtlichkeit mit Schmerz vermischt. Er antwortete nicht, allein sein Auge schweifte von einem Gesicht zum andern, bis es, wie durch eine Art von Zauber, auf dem der ältesten Dame haften blieb. Seinen stieren Augen erwiderte ein nicht minder angestrengter Blick; ja, so sehr trat nach und nach das mächtige gegenseitige Gefühl der beiden hervor, daß es der Bemerkung der übrigen Zuschauer nicht entgehen konnte.
»Mutter!« sagte der Offizier mit liebevoller Besorgtheit; »meine Mutter! Was fehlt Ihnen?«
»Heinrich ... Gertraud,« antwortete die Ehrwürdige und breitete, dem Hinsinken nahe, die Arme nach ihren Kindern aus; »ihr habt, meine Teuern, euer Haus einem geöffnet, der ein heiliges Recht hat es zu betreten. O, es ist in diesem Augenblicke, wo die Leidenschaften schweigen und sich unsere Hinfälligkeit offenbart, in diesem Augenblicke der Schwäche und der Krankheit ist's, wo die Natur ihr ursprüngliches Gepräge wiedererkennt! Ganz sehe ich es in diesem bleichen Antlitz, in diesen eingesunkenen Zügen, wo alles verschwunden ist, nur nicht der letzte dauernde Ausdruck der Familie, der Verwandtschaft!«
»Verwandtschaft!« rief Kapitän de Lacey; »unser Gast mit uns verwandt!«
»Ein Bruder,« antwortete die Dame, indem sie das Haupt auf die Brust sinken ließ, als ob sie einen Grad der Verwandtschaft ausgesprochen habe, der sie nicht minder schmerze als erfreue.
Der Fremde, zu sehr ergriffen, um sprechen zu können, gab seine Bestätigung durch eine freudige Gebärde zu erkennen, ohne den Blick von ihr abzuwenden, der seine Richtung behalten zu wollen schien, so lange als ihm das Leben Bewußtsein verlieh.
»Ein Bruder!« wiederholte ihr Sohn mit innigem Erstaunen. »Wohl wußte ich, daß Sie einen Bruder besaßen; doch glaubte ich, er sei schon im Knabenalter gestorben.«
»Ich selbst glaubte es lange, obgleich mir eine bange Ahnung vom Gegenteil die Seele oft mit Wehmut erfüllte; die Wahrheit steht aber zu klar auf diesem hingewelkten Antlitz, in diesen eingefallenen Zügen geschrieben, als daß sie noch verkannt werden könnte. Armut und Unglück trennten uns. Ich glaube, wir wähnten uns gegenseitig tot.«
Eine zweite schwache Bewegung verkündete die Beistimmung des Verwundeten.
»Es ist kein Grund zur Verheimlichung mehr vorhanden. Heinrich, der Fremde ist dein Oheim ... mein Bruder ... einst mein Pflegling.«
»Ich wünschte, ihn in glücklicheren Umständen zu treffen,« erwiderte der Offizier mit seemännischer Offenherzigkeit; »doch als ein Verwandter ist er von Herzen willkommen. Die Armut wenigstens soll Sie beide nicht wieder voneinander trennen.«
»Sehet doch, Heinrich – Gertraud!« fuhr die Mutter fort, sich die Augen beim Sprechen bedeckend, »dies Antlitz ist euch ja nicht fremd. Seht ihr denn nicht die traurigen Trümmer von einem, den ihr zugleich geliebt und gefürchtet habt?«
Erstaunt verstummten ihre Kinder und schauten, bis sich ihr Auge umdämmerte; solange, so angestrengt war ihr forschender Blick. Ein hohles Stöhnen aus der Brust des Fremden steigerte ihre Aufmerksamkeit bis zum höchsten Grade, und als seine leise, aber deutliche Sprache ihrem Ohre erklang, da schwand aller Zweifel, alle Verwirrung.
»Wilder,« sagte er, seine letzten Kräfte aufbietend, »ich bin gekommen, mir den letzten Dienst von Ihnen zu erbitten.«
»Kapitän Heidegger!« schrie der Offizier.
» Der rote Freibeuter!« sprach zitternd und erschreckt die jüngere Frau de Lacey und trat unwillkürlich einen Schritt rückwärts.
»Der Red Rover!« wiederholte ihr Sohn und drang mit unbezähmbarer Neugier einen Schritt vorwärts.
»Endlich abgetakelt!« war Fids barsche Bemerkung, als er mit seinem hölzernen Fuß näher zur Gruppe heranhinkte, die Feuerzange in der Hand, die er bisher in einem fort gehandhabt hatte, um einen Vorwand dafür zu haben, daß er im Zimmer blieb.
Als sich die augenblickliche Überraschung einigermaßen gelegt hatte, fuhr der Sterbende fort: »Lange hatte ich meine Reue wie meine Schande dem Blicke der Welt entzogen; aber dieser Krieg rief mich aus meiner Verborgenheit hervor. Unser Vaterland brauchte uns beide, und beide hat es gehabt! Sie haben gedient, wie einer dienen durfte, der sich nie ein Vergehen zuschulden kommen ließ; allein eine so heilige Sache mußte ein Name wie meiner nicht beflecken. Wenn die Welt einst von meinen schlechten Taten spricht, möge auch des wenigen Guten gedacht werden, das ich getan habe! Meine Schwester, meine ... Mutter – verzeih' mir!«
»Der da seine Geschöpfe mit einer so furchtbaren Verschiedenheit der Gemüter bildet, Gott, blicke gnädig auf unsere Schwachheit hernieder!« betete Madame de Lacey kniend, mit himmelwärts gehobenen Augen und Händen. »O, Bruder, Bruder! Dir ward in deiner Kindheit von dem heiligen Geheimnis unserer Erlösung viel gesagt, du darfst nicht erst unterrichtet werden, auf welchen Fels sich deine Hoffnung auf Vergebung gründen muß!«
»Hätte ich nie jene Vorschrift vergessen, mein Name dürfte auch fortan mit Ehren erwähnt werden. Doch, Wilder!« fügte er abspringend und kräftig hinzu, »Wilder! ...«
Aller Augen waren auf den Sprechenden geheftet. Er hielt eine Rolle, auf der er bis jetzt wie auf einem Kissen geruht hatte, in der Hand. Übernatürliche Kraft schien ihn zu durchströmen, als er sich mit halbem Körper in der Bahre erhob; und beide Hände hoch über sein Haupt emporhebend, ließ er jene glanzreiche, buntgestreifte Flagge mit ihrem blauen Feld ausgehender Sterne48 vor ihnen herniederrollen, und wie in seinen stolzesten Tagen leuchtete noch einmal die Glut hohen Triumphes aus allen seinen Zügen.
»Wilder!« schrie er und gewann dem Tode noch ein krampfhaftes Lachen ab. » Wir haben gesiegt!« – Dann fiel er erstarrt zurück, und die triumphierende Miene umschattete der Tod, wie schwarze Wolken das Lächeln der glänzenden Sonne.
Fußnoten
47 Den Seetruppen der Vereinigten Staaten Nordamerikas.
48 Flagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Seit die vorliegende Erzählung zum ersten Male erschienen ist, wurde sie von dem Verfasser nicht wieder gelesen, und jetzt erst hat er sich entschlossen, sie behufs des Wiederabdrucks in einer größeren Sammlung einer nochmaligen Durchsicht zu unterwerfen. Diese Arbeit hat ihn eine gute Anzahl von Verstößen darin entdecken lassen: sowohl in Beziehung auf Stil und Korrektheit, als hauptsächlich auf Geschmack. Sie nach Möglichkeit zu vermindern, war der Verfasser eifrig bemüht, und das Buch möchte jetzt der Gunst, die ihm zuteil geworden ist, weit eher wert sein als zuvor.
Was den Gegenstand der Erzählung betrifft, so hat der Verfasser wenig zu erinnern. Amerika ist ein Land beinahe ohne Überlieferungen: die wenigen, die es aufzuweisen hat, sind größtenteils zu bekannt, um der Dichtkunst anheimfallen zu können. Der Zweck unseres Buches ist, Schilderungen des Meeres zu geben, Seemannsgebräuche und Charaktere zu zeichnen, ohne irgend Begebnisse der Wirklichkeit einschließen zu wollen. Nie gab es einen Freibeuter wie den Helden dieser Geschichte; sogar die ihm geliehene Benennung hat der Autor nirgend je gehört, und der Name Red-Rover ist so gut seine Erfindung als alles übrige. Die einzige dem Verfasser vorschwebende sittliche Tendenz war, darzutun, wie Menschen von der edelsten Anlage durch arge Leidenschaften irregeführt werden können: zu erweisen, wie nahe Laster und Tugend aneinander grenzen, wenn Erziehung oder Mißgunst der Verhältnisse edleren Geistern eine verkehrte Richtung geben. Auch sollte gezeigt werden, und, wie wir hoffen, nicht ohne Nutzen, daß sogar das Verbrechen eine glänzende Außenseite haben kann, und daß der Mangel irgendeiner wichtigen sittlichen Eigenschaft, der einem Manne gerechterweise die Achtung anderer entzogen hat, ihn darum noch nicht zum Ungeheuer stempelt; denn wahrlich die schonungslosen Anklagen solcher, die, vom Geschicke begünstigt, vor den Gefahren der Versuchung selbst geschützt bleiben, sind so verwerflich, als das böse Beispiel eines Übeltäters.
Wer nur einigermaßen mit dem Gewühl und dem Leben einer Handelsstadt bekannt ist, wurde in dem stillen, geschäftslosen Newport den Platz nicht wiedererkennen, der in früheren Zeiten für einen der wichtigsten und besuchtesten Häfen an der ausgedehnten Küstenstrecke von Nordamerika galt. Newport auf Rhode-Island scheint beim ersten Blick der von der Natur begünstigte Ort, der alles in sich vereinigt, was den Bedürfnissen des Seemanns entgegenkommen und seine Wünsche verwirklichen kann. Ein bequemer Hafen, ein ruhiges Becken, ein sicherer Ankerplatz, eine gute Reede mit einer klaren Abfahrt in die offene See. Im Besitz dieser Vorzüge war in den Augen unserer europäischen Vorfahren Newport der Platz, den sie zur Aufnahme großer Flotten und zur Bildung eines Stammes kühner und geschickter Matrosen bestimmt hatten. Dies Bestreben ist nicht ganz ohne Erfolg geblieben; aber wie wenig ist die erste Erwartung in Erfüllung gegangen! In der Nähe des von der Natur anscheinend zu ihrem Liebling auserkorenen Ortes hat sich ein glücklicherer Rival eingefunden, der alle Berechnungen kaufmännischen Scharfsinns zuschanden gemacht und zu den neunhundertundneunundneunzig Beweisen, daß des Menschen Weisheit eitel Torheit sei, den tausendsten geliefert hat.
Es gibt nur wenig Städte von einigem Belang in unserem fast grenzenlosen Gebiet, in dem sich, seit einem halben Jahrhundert, alles so unverändert erhalten hätte, als in Newport. Bis zum Zeitpunkt, wo sich die ungeheuern Hilfsquellen des inneren Landes zu entwickeln anfingen, war die Provinz Rhode-Island der Sammel- und Ruheplatz, dem die südlichen Pflanzer zuströmten, um sich vor der Hitze und den übrigen Ungemächlichkeiten ihres brennenden Landstrichs zu bergen. Sie zogen scharenweise dahin, die stärkenden Hauche der Seeluft einzuatmen. Damals noch derselben Regierung Untertan, ließen sich die Einwohner beider Karolinas und Jamaikas freundschaftlich in Newport nieder, teilten sich gegenseitig Gewohnheiten und Verfassungen mit und überließen sich der süßen Täuschung, die ihre Nachkommen vom dritten Geschlecht sich zurückzuwünschen anfangen.
Die einfachen, unerfahrenen Kinder der Puritaner nahmen aus dieser Verbindung Gutes und Böses an. Während sie der Umgang mit den feineren und vornehmeren Bewohnern der südlichen Kolonien abgeschliffener machte, weckte er in ihnen neue Begriffe von dem Unterschiede der Stände, wovon sie vorher wenig oder nichts ahnten, und die ihnen jetzt von den Ankömmlingen eingeimpft wurden. So ward unter allen Provinzen Neu-Englands Rhode-Island die erste, die sich von den Sitten und Meinungen ihrer schlichten Altvordern entfernte. Dadurch wurde dem strengen, rauhen und unfreundlichen Benehmen der erste Stoß versetzt, das man früherhin als ein notwendiges Bindungsmittel der wahren Religion, als eine äußere Bürgschaft für die Gesundheit des innern Menschen ansah; dadurch wurde der erste merkbare Schritt veranlaßt, der von den puritanischen Grundsätzen abführte, die der abstoßenden Außenseite das Wort redeten. Ein seltsames Zusammentreffen und Gemisch von Umständen und Eigenschaften machte die Kaufleute von Newport zugleich zu Sklavenhändlern und zu Gentlemen.
Wie aber auch der moralische Zustand der Einwohner im Jahre 1759 beschaffen sein mochte, so war doch Rhode-Island nie reizender und verlockender als damals. Die schwellender Hügelrücken der Insel waren mit hundertjährigen Wäldern bekränzt, die kleinen Täler mit dem frischen, lebendigen Grün des Nordens überzogen, die anspruchslosen, dabei reinlichen und bequemen Landhäuser lagen von schattigen Gebüschen und bunten Blumenbeeten umgürtet. Die Schönheit und Fruchtbarkeit der Gegend hatte dem Eiland einen Namen erworben, der mehr ausdrückte, als man in früheren Zeiten darunter verstand. Die Einwohner nannten nämlich ihre Besitzungen den » Garten von Amerika«, und ihre Gäste, die Ankömmlinge aus den brennenden Ebenen des Südens, fanden sich nicht berufen, diese Benennung streitig zu machen. Der Name hat sich zum Teil fast bis auf unsere Zeiten erhalten und ist nicht eher verschwunden, bis der Reisende in den Stand gesetzt worden, die Tausende von weiten und lachenden Tälern zu durchwandeln, die vor fünfzig Jahren noch in dem undurchdringlichen Schatten der Wälder begraben lagen.1
Das soeben von uns angeführte Datum bezeichnet eine Periode, die für die britischen Besitzungen in unserem Festlande vom höchsten Interesse war. Ein blutiger Rachekrieg, dessen Anfang Unglück und Niederlage gebracht hatte, war im Begriffe, glorreich zu enden. Frankreich hatte sein letztes Besitztum am Weltmeere eingebüßt, während die unermeßliche Länderstrecke zwischen der Hudsonsbai und den spanischen Provinzen der englischen Macht unterworfen war. Die Kolonien hatten einen großen Anteil an den Erfolgen des Mutterlandes gehabt. Stolz und Freude über den glücklichen Ausgang ließen vergessen, was die törichten Vorurteile europäischer Anführer für Fehler begangen, für Verluste und Schande herbeigeführt hatten. Braddocks grobe Verstöße gegen die Kriegskunst, Laudons Gleichgültigkeit, Abercrombies Schwäche waren durch die Kraft Amhersts und Wolfes Genie ersetzt worden. In allen vier Weltteilen siegten die Waffen der Briten. Die loyalen Bewohner der Provinzen stimmten am lautesten in die Triumphe des Mutterlandes ein, überließen sich der reinsten Freude und schlossen gutwillig die Augen bei den kargen Beifallsbrocken, die ihnen zugeworfen wurden – denn auch hier zeigte sich das gewöhnliche Verfahren großer Völker, die nur mit Widerstreben einen kleinen Teil ihres Ruhmes an die gelangen lassen, die sie als Abhängige ansehen; dem Geizigen gleich, der gern alles für sich allein behielte, und desto habsüchtiger wird, je mehr ihm die Nachsicht einräumt.
Das System von Unterdrückung und Regellosigkeit, das eine Losreißung zur Folge hatte, die früher oder später erfolgen mußte, hatte noch nicht angefangen. War das Mutterland auch nicht gerecht, so zeigte es sich doch gefällig. Gleich allen alten und großen Nationen, überließ es sich dem angenehmen, aber gefährlichen Genuß der Selbstbeschauung. Die Dienste und Verdienste eines Volksteils, der von ihm unterschätzt wurde, hatten das Schicksal, bald vergessen zu werden; oder wenn man sich ihrer hier und da erinnerte, so war es, sie zu mißdeuten, zu tadeln, zu schmähen. Die Herabsetzung nahm in dem Maße zu, als die Übereinstimmung der Gemüter abnahm; das Unrecht wurde immer fühlbarer, die eitle Torheit griff immer weiter um sich. Männer, deren Beobachtungsgeist sich hätte besser unterrichten können und sollen, waren die ersten, die, selbst in dem höchsten Rate der Nation, schamlos erklärten, ihnen sei der Charakter eines Volks unbekannt, das ihnen doch blutbefreundet war. Selbstschätzung gab der Meinung der Toren Gewicht. Von einschläferndem Dünkel eingenommen, machten graue Krieger ihrem edeln Handwerk Schande, Prahlereien sich erlaubend, die man einem Stutzer, der kein Pulver gerochen, nicht unbestraft hätte hingehen lassen. So gab z. B. ein Burgoyne in hochtrabendem Tone dem Unterhause das sinnlose Versprechen, mit einer Macht, die er zu bestimmen sich nicht scheute, von Quebeck nach Boston vorzudringen; ein Versprechen, das er in der Folge hielt, indem er mit einer doppelt so starken Macht, kriegsgefangen2 von Boston nach Quebeck zurückging. So hat England, vom Torheitsschwindel ergriffen, in der Folge seine hunderttausend Leben und seine hundert Millionen Pfund verschwendet.
Die Geschichte dieses denkwürdigen Kampfes ist jedem Amerikaner bis auf die kleinsten Umstände bekannt. Damit zufrieden, daß sein Land gesiegt, überläßt er es gern den Annalen der Welt, den ruhmvollen Ausgang in ihren Blättern aufzubewahren. Ihm genügt es, daß sein Land auf einer breiten, natürlichen Grundfeste ruht und nicht des Lobpreisens feiler Federn bedarf; für seinen innern Frieden, sowie für seinen Charakter ist es hinreichend, zu fühlen, daß der Wohlstand der Republik nicht in der Herabwürdigung angrenzender Nationen gesucht werden darf.
Der Faden unserer Geschichte führt uns in jene ruhige Periode zurück, die den Stürmen der Revolution vorausging. In den ersten Tagen des Oktobermonats 1759 war Newport, wie jede andere Stadt von Amerika, mit dem doppelten Gefühle der Freude und des Schmerzes erfüllt. Mitten unter den Triumphen über seinen Sieg beweinten die Einwohner Wolfes Tod. Quebeck, das Bollwerk von Kanada, der letzte feste Platz, den ein Volk noch inne hatte, das man seit der Kindheit gewohnt war, für den natürlichen Feind Englands anzusehen, war gefallen und hatte den Herrn gewechselt. Die loyale Anhänglichkeit an die Krone von England, die so lange an- und aushielt, bis das seltsame Prinzip, das ihr zum Grunde diente, nachgab und einstürzte, hatte den höchsten Punkt erreicht. Es gab in den Kolonien vielleicht nicht einen einzigen, der nicht seine eigene Ehre mit dem eingebildeten Ruhme des Oberhauptes aus dem Hause Braunschweig gewissermaßen verflochten und vereint hätte.
Der Tag, an dem die Handlung unserer Geschichte beginnt, war feierlich dazu angesetzt worden, die Gefühle der guten Stadtbewohner sowohl, als des umliegenden Landvolks, über den Sieg laut und lebendig werden zu lassen, den die königlichen Waffen erfochten hatten. Beim Anbruch dieses, wie in der Folge beim Anbruch vieler tausend ähnlicher Tage, wurde mit allen Glocken geläutet; der Kanonendonner rollte, die Volksmenge ergoß sich vom frühesten Morgen an durch die Straßen und legte in ihre Bewegungen den Eifer, der gewöhnlich die Freude begleitet, wenn sie zum allgemeinen Volksfeste wird. Der zur Feier des Tages bestellte Redner hatte in einer Art prosaischen Trauergedichts zum Preise des verblichenen Helden seine ganze Beredsamkeit aufgeboten und eine Probe grenzenloser Loyalität dadurch abgelegt, daß er den Ruhm, den das Todesopfer des Generals Wolfe und vieler Tausende seiner Mitstreiter so teuer erkauft hatte, auf das alleruntertänigste dem Throne zu Füßen legte.
Zufrieden mit diesen Äußerungen ihrer Treupflicht, fingen die Einwohner an, sich allmählich wieder nach Hause zu begeben, als die Sonne sich den unermeßlichen Gegenden zuneigte, die sich damals wie endlose, unbetretene Wildnisse im Westen erstreckten, jetzt aber mit den Erzeugnissen und dem Segen des Kunstfleißes üppig übersäet sind. Die Landleute der Umgegend und jenseits der Meerenge waren auf ihren zum Teil weiten Rückweg bedacht, und zwar aus jenen klugen Gründen der Sparsamkeit, die diese Klasse arbeitender Menschen mitten in ihren Vergnügungen nie verläßt. Sie eilten nach Haus, aus Furcht, daß sie der herannahende Abend zu Kosten verleiten möchte, die mit dem eigentlichen Zweck ihres Ausflugs in die Stadt nichts gemein hatten. Die Zeit, die sie auf das Fest verwendet, war abgelaufen; der Hausvater machte sich auf, mit den Seinen in die ruhig fließenden Kanäle der gewöhnlichen Geschäfte wieder einzutreten, damit die auf das außerordentliche Schauspiel verwandte Zeit eingeholt würde, die er sich schon halb und halb als verloren vorwarf.
Auch in der Stadt wurden Hammer, Axt und Säge schon wieder gehört und die Läden von mehr als einer Werkstatt halbgeöffnet, als wolle der Eigentümer zwischen seinem Gewissen und seinem Geschäft ein Abfinden treffen. Die Inhaber der drei, damals in ganz Newport befindlichen Wirtshäuser standen vor ihren Türen und sahen auf die abgehenden Landleute mit Augen hin, die deutlich zu erkennen gaben, daß sie unter dem Landvölkchen, das mehr vom Einnehmen als vom Ausgeben hält, doch auf Gäste lauerten. Eine gar kleine Anzahl lärmender, gedankenloser Seeleute, die zu den Schiffen im Hafen gehörten, zusamt einem halben Dutzend bekannter Zechkunden, war alles, was die Wirte mit ihren Winken erobern konnten, ihrem Anrufen und Anreden, ihren Erkundigungen nach dem Wohlsein der lieben Frauen und Kinder, und bei einigen geradezu mit ihren Einladungen, einzutreten und sich zu erfrischen.
Weltliche Sorge und ein steter, nur zuweilen schiefer Blick auf die Zukunft, bildete den Hauptcharakterzug des ganzen Volks, das damals auf dem Boden zerstreut lebte, der unter dem Namen von Neu-England bekannt war. Das große Ereignis des Tages blieb unvergessen, obschon man es für unnötig hielt, sich in der Wirtsstube bei der Flasche darüber zu besprechen und die edle Zeit im Müßiggange zu vergeuden. Die Abgehenden, die in verschiedenen Richtungen den Weg ins Innere einschlugen, schlossen sich in kleine Gruppen. Unter sich in freimütigen Gesprächen die Gegenstände der Tagespolitik abhandelnd, berührten sie die großen Staatsereignisse und die Art und Weise, wie sie von den Männern vorgetragen wurden, denen der Auftrag zugefallen war, sie zu entwickeln; doch setzten sie keineswegs dabei die Achtung aus den Augen, die sie dem Rufe der Hauptpersonen schuldig waren. Es wurde im Gegenteil allgemein zugegeben, daß die gehaltenen Gebete (zwar etwas im Konversationstone und historisch vorgetragen), durchaus fehlerfrei und eindringend gewesen waren. Es hatten wohl einige Lust, als Dissenters aufzutreten, unter andern die Klienten eines Advokaten, der einem der Redner entgegen war; allein das Resultat blieb, daß aus keines Mannes Munde eine so vortreffliche, kunstvolle Rede geflossen sei, als die heutige. In demselben Sinn und Geist fiel das Urteil der Zimmerleute aus, die an einem Schiffe arbeiteten, das im Hafen erbaut wurde und der Gegenstand der allgemeinen Bewunderung der Provinz war; ja, von dem mit voller Überzeugung behauptet wurde, daß es das seltenste Muster eines in allen Teilen und Verhältnissen durchaus vollkommenen Meisterwerks der Schiffsbaukunst sei.
Der Redner, von dem ich hier spreche, war das gewöhnliche Orakel der Nachbarschaft, so oft ihn irgendein großes Ereignis, wie z. B. das heutige, antrieb, sich zusammenzunehmen. Er galt im Vergleich mit anderen für den allertiefsten, kenntnisreichsten Geist: so daß sogar von ihm behauptet wurde, er habe mehr als einen europäischen Gelehrten in Erstaunen gesetzt, der es gewagt hätte, sich mit ihm im Felde der alten Literatur zu messen. Sein Ruf gewann gleich der Hitze an Intensität, je enger die Grenzen waren, die ihn umschlossen. Dabei verstand sich niemand besser als er darauf, seine hohen Gaben ausschließlich zu seinem Vorteil anzuwenden. Nur ein einziges Mal verließ ihn die Klugheit. Der Himmel weiß, wie es kam, genug, er war nicht auf seiner Hut und tat einen Schritt, der ihm einen Teil des erworbenen Rufes raubte; er ließ es nämlich zu, daß einer seiner beredsamen Aufflüge in Druck gegeben wurde, oder, wie sich sein witziger, aber nicht so hochstehender Nebenmann, der zweite Rechtsgelehrte des Orts, ausdrückte: er gab es zu, daß die Presse einen seiner flüchtigen Versuche festhielt. So wenig man aber weiß, welchen Eindruck die Schrift im Auslande gemacht hat, so sehr trug sie dazu bei, seinen Ruf in der Umgegend zu vergrößern. Von nun an stand er vor seinen Bewunderern in aller Pracht und Würde der »gegossenen Lettern«, und machte es der erbärmlichen Brut
Die Tierchen, die durch hungriges Benagen
Der körperlichen Teile des Genies
Ihr Leben fristen
unmöglich, einen Ruf zu untergraben, der in dem Glauben so manchen Sprengels so tief eingewurzelt war. Die kleine Schrift wurde fleißig in die benachbarten Provinzen verteilt, in Teegesellschaften gepriesen, in öffentlichen Blättern von einem geistverwandten Freunde hoch erhoben – die gleiche Schreibart verriet den Lobredner – und von einem frommen Gläubigen, vielleicht aus reinem Eifer, vielleicht aus näherer Teilnahme, dem nächsten Schiffe an Bord mitgegeben, das nach Hause segelte (denn so nannte man damals England). Sie lag in einem Umschlage, der keine schlechtere Überschrift führte, als: »An Se. Königliche Majestät von England«. Es ist nie bekannt worden, was sie auf den geraden Sinn des dogmatischen Deutschen, der damals den Thron des Konquestors einnahm, für eine Wirkung gemacht hat, obschon die in das Geheimnis der Übersendung Eingeweihten lange vergebens auf die ausgezeichnete Belohnung warteten, deren sich ein so seltenes Erzeugnis des menschlichen Verstandes gewärtigen konnte.
Dieser hohen, wohltätigen Geistesgaben ungeachtet, beschränkte sich der Mann nun wieder, als sei er seiner Talente unbewußt, auf die Arbeiten seines gewöhnlichen Berufs, die mit der Beschäftigung eines – Schreibers die schlagendste Ähnlichkeit hatten; so sehr war ihm von der Natur, die ihn so trefflich ausstattete, die Eigenschaft der Selbstschätzung versagt worden, was um so mehr wundernehmen mußte, da ihn außer diesen Kraftäußerungen seines Geistes, der Fleiß und die Pünktlichkeit, womit er seiner kostbaren und unwiederbringlichen Augenblicke wahrnahm, zu weit höheren Ansprüchen zu berechtigen schien. Nur ein kritischer Beobachter könnte vielleicht in der erzwungenen Demut seines Äußern Spuren seines Triumphs über Quebecks Fall gefunden haben.
Wir überlassen diesen Günstling der Natur, dieses Schoßkind des Glücks sich selbst und wenden uns von ihm zu einem ganz andern Individuum in einem sehr verschiedenen Stadtviertel. Der Schauplatz ist nichts mehr und nichts weniger, als eine Schneiderwerkstätte. Hier sehen wir den Mann, der nicht verschmäht, sich in höchsteigener geschäftiger Person den geringsten Forderungen seines Berufs zu unterziehen. Die demütige Hütte, die er seine Wohnung nannte, lag unweit des Wassers, ganz am Ende der Stadt, und setzte ihn in den Stand, das heitere innere Becken nicht nur zu überschauen, sondern durch eine Wasseröffnung zwischen zwei Inseln den Anblick des äußern Hafens zu genießen, der sich hier wie ein Landsee ausdehnte. Eine schmale, unbesuchte Kaje erstreckte sich vor dem Hause und bewies durch ihren Verfall sowohl, als durch den wenigen Verkehr, daß dieser Teil des Hafens nicht zu den lebhaftesten und betriebsamsten gehörte.
Der Nachmittag glich einem Frühlingsmorgen. Der Kühlwind riffelte leicht das Becken. Sein Gesäusel und seine Kühle machen bekanntlich den amerikanischen Herbst so angenehm. Der fleißige Nadelheld genoß den schönen Abend in seiner ganzen Fülle. Er saß auf seinem Werktisch am offenen Fenster, besser mit sich zufrieden, als mancher, der sein Glück darin sucht, im höchsten Staate unter einem Baldachin von Sammet und Gold zu sitzen. Draußen vor dem kleinen Hause stand in der Stellung eines Lungerers ein langer, tölpischer, dabei starker, wohlgewachsener Landmann; mit der Schulter lehnte er sich an die Wand, als wäre es für seine Beine eine zu schwere Last, allein die ganze Masse ohne fremde Hilfe zu tragen. Er wartete darauf, daß ein Kleidungsstück fertig würde, woran der Meister emsig nähte, und womit er am nächsten Sonntag in seinem Dorfe Staat machen wollte.
Um die Zeit zu verkürzen, und wohl auch zum Teil, weil der Mann mit der Nadel von Natur gern sprach, vergingen wenige Minuten, ohne daß ihm oder dem andern nicht ein Wort entfallen wäre. Der Schneider befand sich schon in den abnehmenden Lebensjahren, und seine Außenseite ließ erkennen, daß ihn Mangel an Geschick oder an Glück in die Notwendigkeit versetzt habe, sich kümmerlich durch die Welt zu winden, und daß er nur durch äußersten Fleiß und die strengsten Entbehrungen der bittern Armut entgangen sei. Sein müßiger Zuschauer hingegen war ein junger Mann und gehörte zu einer Klasse, bei der ein neuer Rock und ein Paar neue Beinkleider Epoche im Leben machen.
»Ja,« rief der unermüdete Kleidermacher aus, und begleitete dieses Ja mit einem Seufzer, der ebensogut für die Bestätigung seines innern Wohlgefühls, als für einen Beweis seines körperlichen Mißbehagens gelten konnte: »Ja, gewiß und wahrhaftig, Pardon, stärkere Worte sind selten einem Manne von den Lippen geflossen, als es die waren, die der Squire am heutigen Tage hören ließ. Als er von den Ebenen Vater Abrahams3