Das Gras strömte Sonnenduft aus. Fliegen summten. Die Sonne glitzerte auf dem Fluß und erhitzte die Schieferplatten. Mutter Simon war in die Stube zurückgekommen und schlief sachte ein.
Glockengeläut weckte sie auf; man kam aus der Vesper. Felicitas hatte geringeres Fieber. Sie dachte an die Prozession und sah sie vor sich, als sei sie mit im Zuge.
Alle Schulkinder, die Sänger und die Feuerwehrleute gingen auf dem Bürgersteig. In der Mitte der Straße aber schritten zunächst: der Schweizer mit seiner Hellebarde, der Küster mit einem großen Kreuz, der Lehrer, der die Knaben zu überwachen hatte, die Nonne, die sich um ihre kleinen Mädchen sorgte; drei der kleinsten waren als Engel aufgeputzt und streuten Rosenblätter. Der Diakon gebot mit ausgestreckten Armen der Musik, leiser zu spielen, und zwei Knaben mit Weihrauchfässern wendeten sich bei jedem Schritte dem Allerheiligsten zu, das der Herr Pfarrer in seinem schönen Meßgewand in den Händen trug, während vier Kirchenvorsteher den Himmel aus feuerrotem Sammet über ihm hielten. Ein Strom von Menschen drängte nach, zwischen den weißen Tüchern, womit die Mauern der Häuser behängt waren, und so kam man am Fuße des Hügels an.
Kalter Schweiß perlte auf Felicitas’ Schläfen. Mutter Simon trocknete sie mit einem Leinentuch ab, wobei sie sich sagte, daß sie einmal dasselbe werde durchmachen müssen.
Das Gemurmel der Menge wurde lauter einen Augenblick war es sehr stark; dann verhallte es.
Eine Gewehrsalve erschütterte die Scheiben. Das waren die Postkutscher, die die Monstranz grüßten. Felicitas rollte die Augen und sagte so leise wie sie nur konnte:
»Steht er gut?«
Sie war in Sorge um den Papagei.
Ihr Todeskampf begann. Ein Röcheln, das immer schneller ward, hob ihr die Seiten. Schaumblasen traten aus ihren Mundwinkeln hervor, und ihr ganzer Leib zitterte.
Alsbald unterschied man das Dröhnen der Posaunen, die hellen Stimmen der Kinder, die tiefen der Männer. In bestimmten Zwischenräumen war alles still, und das Geräusch der Tritte auf den Blumen, die sie dämpften, klang wie das Getrappel einer Herde im Gras.
Die Geistlichkeit trat in den Hof. Die alte Simon kletterte auf einen Stuhl, um das. runde Guckloch zu erreichen und überblickte so die Station.
Grüne Girlanden hingen über den mit einer Maschinenspitze geschmückten Altar. In der Mitte stand ein kleiner Rahmen, der Reliquien enthielt, an den Ecken zwei Orangenbäume und längshin silberne Leuchter und Porzellanvasen mit hohen Sträußen von Sonnenblumen, Lilien, Pfingstrosen, Fingerhut und Hortensiadolden. Dieser Berg von leuchtenden Farben fiel vom ersten Absatz bis zum Teppich schräg ab und setzte sich auf dem Pflaster fort. Und allerlei seltsame Dinge zogen die Blicke auf sich. Eine vergoldete Zuckerdose war mit Veilchen umkränzt; Ohrgehänge aus Alençon-Kuarz glänzten auf Moos; zwei chinesische Schirme zeigten ihre Landschaften. Lulu war unter Rosen versteckt und ließ nur seine blaue Stirn sehen, die wie ein Stück Lapislazuli schimmerte.
Der Kirchenvorsteher, die Sänger, die Kinder nahmen an den drei Seiten des Hofes Aufstellung. Der Priester schritt langsam die Stufen empor und stellte seine große strahlende Goldsonne auf die Spitzendecke. Alles kniete nieder. Tiefste Stille trat ein. Und die Weihrauchfässer klirrten im vollen Schwunge leise an ihren Ketten.
Blauer Rauch ringelte sich in Felicitas’ Kammer. Sie weitete die Nasenflügel und sog ihn in verzückter Wollust ein. Dann schloß sie die Lider. Ihre Lippen lächelten. Ihre Herzschläge wurden mit jedem Male langsamer, weicher, leiser, wie ein verrinnender Quell, wie verklingendes Echo; und als sie ihren letzten Atemzug tat, wähnte sie im eröffneten Himmel sich zu Häupten einen riesigen Papagei schweben zu sehen.
Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgerinnen von Pont -l’Évêque Frau Aubain um ihre Magd Felicitas. Für hundert Franken im Jahre versah sie Küche und Haus, nähte, wusch, plättete, verstand ein Pferd zu schirren, Geflügel zu mästen, zu buttern – allezeit ihrer Herrin treu, die nichts weniger war als eine angenehme Person.
Frau Aubain hatte einen hübschen Jungen ohne Vermögen geheiratet, der ihr bei seinem Tode, zu Beginn des Jahres 1809, zwei ganz kleine Kinder sowie eine Menge Schulden hinterließ. Da verkaufte sie ihre Liegenschaften bis auf die Meierhöfe Toucques und Geffosses, die ihr, wenn es hoch kam, fünftausend Franken Pachtzins eintrugen, und zog aus ihrem Haus in Saint-Melaine in ein weniger kostspieliges, das ihren Vorfahren gehört hatte und hinter der Markthalle stand.
Dieses Haus, ein mit Schiefer verkleidetes Gebäude, stand zwischen einem Durchgang und einer zum Fluß führenden schmalen Gasse. Der Boden drinnen hatte eine andere Höhe als der draußen, so daß man stolperte. Ein enger Flur trennte die Küche von der »Großen Stube«, in der Frau Aubain den ganzen Tag in einem Großvaterstuhle am Fenster zu sitzen pflegte. An der weißgestrichenen Wandtäfelung standen nebeneinander acht Mahagonistühle. Auf einem alten Klavier, über dem ein Wetterglas hing, türmte sich eine Pyramide von Kästen und Schachteln. Zwei bestickte Lehnsessel spreizten sich links und rechts vom Rokokokamin aus gelbem Marmor. Die Standuhr mitten darauf stellte einen Vestatempel vor, und das ganze Zimmer roch ein wenig nach Moder, denn die Diele war tiefer als der Garten.
Im ersten Stock lag zunächst das Zimmer der »gnädigen Frau«, ein sehr großer Raum mit blasser Blumentapete und dem Bilde des »gnädigen Herrn« als Dandy. Von da ging es in ein kleineres Zimmer, wo man zwei Kinderbettstellen ohne Matratzen sah. Dahinter kam die »Gute Stube«, die immer verschlossen blieb und reich an Möbeln mit Leinwandüberzügen war. Sodann führte ein Gang zu einem Studierzimmer. Drinnen stand ein breiter Schreibtisch aus schwarzem Holz und darum ein dreiteiliges Gestell mit Büchern und Schriften in den Fächern. Die Rückwände der beiden Flügel verschwanden unter Federzeichnungen, Gouache-Landschaften und Stichen von Audran, Überbleibseln besserer Zeiten und längst entschwundenen Prunks. Im zweiten Stock lag die Kammer von Felicitas, belichtet von einem Dachfensterchen mit Ausblick über die Wiesen.
Felicitas stand bei Tagesgrauen auf, um die Messe nicht zu versäumen, und arbeitete ohne Unterlaß bis zum Abend. War das Mahl zu Ende, das Geschirr wieder in Ordnung und die Haustür gut verschlossen, dann überdeckte sie noch die glimmenden Kohlen mit Asche und nickte, den Rosenkranz in den Händen, am Herd ein. Beim Einkaufen konnte niemand hartnäckiger feilschen. In Punkto Sauberkeit brachten ihre blitzblanken Pfannen alle anderen Mägde zur Verzweiflung. Sparsam, wie sie war, aß sie langsam und tippte mit dem Finger vom Tische die Krumen ihres Brotes auf, eines eigens für sie gebackenen zwölf Pfund schweren Brotes, das drei Wochen vorhielt.
Zu jeglicher Jahreszeit trug sie ein buntes Kattuntuch, das hinten mit einer Nadel zusammengesteckt war, eine Haube auf dem Haar, graue Strümpfe, einen roten Unterrock und über ihrer Jacke eine Latzschürze, wie die Krankenschwestern.