Es durfte unmöglich so weitergehen. Alles andere, alles, nur nicht das. So tief gesunken war ich und so schwach. Der Tod wäre besser. Ich sehnte mich nach ihm. Von jedem Tag und von jeder Stunde erwartete ich Erlösung, doch sie kam nicht. Ich erwartete irgendeine Nachricht, irgendeinen Besuch. Ich dachte, gleich geht die Tür auf und meine Qual hat eine Ende. Nichts, niemand, nichts.

Woher sollte auch die Erlösung kommen, da doch der ganze Schmerz und der ganze Schrecken aus meinem Innersten kamen?

Melitta sagte:

»Hast du wieder Kopfweh?«

»Ja, wieder.«

»Was sollen wir denn machen? Es nimmt ja kein Ende.«

Sie sprach dies mit Schmerz, denn ich tat ihr leid. Ich übersetzte aber die Worte vor mich hin: wenn es keine Ende nimmt, so muß man eben ein Ende machen.

Gewiß. Das Leben drängte mich zur Entscheidung. Jeder Mensch, der über den Korridor unseres Hotels ging, jeder Mensch auf der Straße wußte doch, wohin und wozu er geht. Jeder tat seine Arbeit, ich konnte aber nichts tun. Seit vielen Monaten konnte ich nicht mehr arbeiten. Was sollte ich denn auch arbeiten? Ist das Bücherlesen eine Arbeit? Und wenn ich lesen könnte! Nach zwei Seiten, oft nach wenigen Zeilen bekam ich Kopfweh, ein Spinngewebe legte sich um mein Gehirn, ich las zum fünftenmal den gleichen langen Satz, erschrak in seiner Mitte, klammerte mich krampfhaft an irgendein Wort, las den Satz wieder von neuem und konnte ihn nie zu Ende lesen. Der Schmerz in der linken Schläfe wurde immer unerträglicher, und alle Gegenstände, die auf meinem Tisch waren, führten einen geheimen Krieg gegen mich. Ich konnte unmöglich das Tintenfaß ansehen, ohne dabei zu denken, daß es nachgefüllt werden müsse und ganz verstaubt sei. Es war mir aber unmöglich, die wenigen Schritte zu machen, um vom Fensterbrett das Fläschchen mit frischer Tinte zu holen. Der Bleistift war an einem Ende stumpf, am anderen – abgenagt. Warum ist er abgenagt? Und wer hat wieder alle Bücher verkehrt hingelegt? Ich kann weder lesen noch schreiben, wenn die Bücher so unordentlich herumliegen. Und dann sind wir auch so spät aufgestanden. In eineinhalb Stunden sollen wir zu Mittag essen. Was soll ich nun in diesen eineinhalb Stunden anfangen, wenn es mir so qualvoll ist, auch nur eine Seite zu lesen? Diese ewigen Tonleitern nebenan, und auch der Geiger will gar nicht aufhören! Der Arzt sagte mir: »Neurasthenie, mein Bester, nichts als Neurasthenie«, und darum sollte ich täglich in seine Wasserheilanstalt kommen. Ich ging auch zwei Monate lang täglich hin; doch es half mir nicht. Im Gegenteil: ich fühlte mich noch elender. Ich gab darum die Kur auf. Auch hatte ich kein Geld. Und ich war bereits davon überzeugt, daß mir nichts mehr helfen könne. Ich hatte das dunkle und doch eindringliche Gefühl eines von Jägern umzingelten Wildes. Die Jäger sind zwar noch weit, das Tier weiß aber, daß der Ring immer enger wird. Ich hatte bereits aufgehört, nach Ausdrücken für meine Empfindungen zu suchen. Jedes Ding sprach zu mir ohne Worte, und auch ich sprach so zu jedem Ding. Meine Seele unterhielt sich mit allen Dingen durch geheime Zeichen, doch alle Zeichen bedeuteten den Tod.

»Gehen wir also essen«, sagte Melitta.

Wir waren auf der Straße. – In jenem Jahr kam der Frühling zeitiger als sonst. Die Winterstürme hatten noch im Februar ihre Tränen restlos ausgeweint, und jetzt – es war Anfang März – war aller Schnee fort. Ein sonniger Tag.

Wir gingen Seite an Seite, und jeder gußeiserne Pfosten am Rande des Trottoirs zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich dachte: wenn ich Anlauf nehme und ihn anrenne, so zertrümmere ich mir den Brustkasten, und der Tod tritt augenblicklich ein. Der Verstand sträubte sich gegen solche Gedanken, da kam aber schon der nächste Pfosten, und mit ihm spürte ich wieder das unaufhaltsame Verlangen, ihn anzurennen und mir den Brustkasten zu zerschellen.