Mami – 1884 – Diese Mami oder keine

Mami
– 1884–

Diese Mami oder keine

Ricarda und Daniel lassen nicht locker

Silva Werneburg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-044-9

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Mit einem gequälten Augenaufschlag blickte Martin Adler seufzend zur Decke. Seine Kinder, die achtjährigen Zwillinge Daniel und Ricarda, machten ihm das Leben manchmal nicht leicht, und heute zeigten sie sich besonders uneinsichtig.

»Es ist doch nur für zwei Tage«, redete der Vater seinen Kindern gut zu. »Donnerstag fliege ich nach Berlin, und am Samstag bin ich schon wieder hier. Wenn die geschäftliche Besprechung nicht so ungeheuer wichtig wäre, würde ich euch bestimmt nicht verlassen. Aber es muß sein, und ich bin froh, daß Ariane bereit ist, auf euch aufzupassen, während ich fort bin. Ihr werdet euch schon mit ihr vertragen.«

»Werden wir nicht«, erwiderte Ricarda zornig. »Ariane ist eine blöde Ziege.«

Martin Adler schmunzelte belustigt. »Sag mal, wie redest du denn von der Frau, die wahrscheinlich eure neue Mutti wird, Rieke?«

Ricarda, die von allen nur Rieke gerufen wurde, schob schmollend die Unterlippe vor. »So eine Mutti brauchen wir nicht. Ich kann sie nicht leiden und Daniel auch nicht.«

»Das stimmt«, bestätigte der Junge. »Warum sollten wir sie auch mögen? Sie kann uns ja auch nicht ausstehen. Wieso kann Käthe nicht auf uns aufpassen? Sie ist wenigstens lieb zu uns und meckert nicht dauernd, wenn Ilka einmal ein paar Haare verliert oder mit schmutzigen Pfoten ins Haus kommt.«

»Käthe ist am Freitag bei ihrem ältesten Bruder eingeladen. Er feiert seine goldene Hochzeit. Sie freut sich schon lange auf dieses Fest. Ich kann nicht von ihr verlangen, daß sie euretwegen darauf verzichtet. Ob es euch gefällt oder nicht, ihr werdet mit Ariane vorliebnehmen müssen. Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn ihr drei einmal für ein paar Tage allein hier im Haus seid. Dann lernt ihr euch besser kennen und gewöhnt euch aneinander. Möglicherweise stellt ihr in dieser Zeit sogar fest, daß Ariane gar nicht so ist, wie ihr denkt. Ich bin sicher, daß sie euch mag. Sie hat eben nur noch keine Erfahrung mit Kindern und muß lernen, richtig mit ihnen umzugehen. Wenn ich am Samstag zurück bin, könnt ihr mir erzählen, wie die beiden Tage mit Ariane waren. Falls ihr dann noch immer der Meinung seid, daß ihr nicht mit ihr auskommen könnt, werde ich überlegen, was zu tun ist.«

»Heißt das, daß du sie dann nicht heiraten wirst?« fragte Daniel hoffnungsvoll.

»Nein, das heißt es nicht unbedingt. Aber ich werde in diesem Fall sicher ein ernstes Wort mit Ariane reden und sie fragen woran es liegt, daß sie mit euch nicht zurechtkommt. Vielleicht liegt es ja tatsächlich an ihr.«

»An uns liegt es bestimmt nicht«, ereiferte Rieke sich. »Wir kommen mit allen Leuten zurecht, mit Käthe, dem Gärtner und der Putzfrau. Nur Ariane mögen wir nicht, weil sie uns nicht leiden kann. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn sie zwei Tage lang mit uns allein hier ist. Das wirst du schon sehen, wenn du wieder zu Hause bist.«

»Gut, warten wir es ab«, entschied Martin. »Ariane bleibt die beiden Tage bei euch, und am Samstag sprechen wir wieder miteinander über dieses Thema. Jetzt lauft zu Ilka. Sie wartet schon auf euch.«

Draußen vor der breiten verglasten Terrassentür stand die Bobtailhündin Ilka mit einem bunten Ball zwischen den Zähnen und mit sehnsuchtsvollem Ausdruck in ihrem Blick. Sie war daran gewöhnt, daß die Kinder um diese Zeit mit ihr im Garten spielten. Daniel und Rieke wollten ihre vierbeinige Freundin nicht länger warten lassen und liefen hinaus. Martin zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um einige wichtige Unterlagen zu sortieren, die er für seine Reise nach Berlin benötigte. Doch es fiel ihm schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Sein Blick fiel auf das Foto, das in einem feinen Silberrahmen auf seinem Schreibtisch stand. Seine Frau Ruth, die vor vier Jahren bei einem Absturz ihres Segelflugzeuges ums Leben gekommen war, lächelte ihn an. Martin stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in seine Hände und betrachtete das Bild, während seine Gedanken in die Vergangenheit zurückwanderten. Wie sehr hatte er Ruth geliebt, wie glücklich war er gewesen, als sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte, und wie schön war das Leben für sie beide gewesen. Nie hatte es Unstimmigkeiten gegeben, und als dann schließlich die Zwillinge das Licht der Welt erblickten, war ihr gemeinsames Glück vollkommen gewesen. Nie hatte Martin auch nur einen Gedanken daran verschwendet, daß seine Frau irgendwann einmal bei ihrem Lieblingssport, dem Segelfliegen, ihr Leben einbüßen könnte. Trotzdem war genau das passiert.

Nach Ruths Tod hatte Martin sich in seine Arbeit vergraben und war nicht einmal fähig gewesen, seinen Kindern Trost zu spenden. Käthe Schimke, die seit fast dreißig Jahren als Haushälterin im Hause Adler tätig war und ihn schon durch seine eigene Kindheit begleitet hatte, war für die Zwillinge da gewesen, hatte sie unter ihre Fittiche genommen und ihnen den Verlust der Mutter so leicht wie möglich gemacht. Erst etwa ein Jahr nach dem schrecklichen Unfall war Martin wieder zur Besinnung gekommen und hatte erkannt, daß die Kinder ein Vermächtnis seiner geliebten Frau waren und ihn brauchten. Er hatte eingesehen, daß es noch wichtigere Dinge auf dieser Welt gab als seine Arbeit. Zugegeben, die Adlerwerke, in denen Bauelemente hergestellt wurden, waren weit über die Grenzen des Landes bekannt. Seit die Eltern ihm den Betrieb übergeben und sich auf ihren Seniorensitz nach Malta zurückgezogen hatten, wurde Martins Einsatz gefordert. Er durfte sich nicht blind auf seine leitenden Angestellten verlassen und ihnen alles allein in die Hände legen. Doch seine Kinder, das hatte er erkannt, waren weitaus wichtiger als alles andere. Nun versuchte er, ihnen nicht nur ein guter und liebevoller Vater zu sein, sondern ihnen auch die Mutter zu ersetzen. Letzteres hatte sich als äußerst schwierig erwiesen. Deshalb war er froh gewesen, als er vor wenigen Monaten auf einer gesellschaftlichen Veranstaltung die Fabrikantentochter Ariane von Eichheim kennenlernte. Mit ihren erst fünfundzwangzig Jahren war Ariane fast zehn Jahre jünger als Martin. Doch vermutlich war es gerade das gewesen, was ihn besonders gereizt hatte. Trotz ihres noch jugendlichen Alters hatte Ariane ihn vom ersten Moment an spüren lassen, daß er ihr nicht gleichgültig war. Ihre übermütige Art, ihr Temperament und ihre Sorglosigkeit hatten Martin gefallen. Irgendwann war ihm der Gedanke gekommen, daß eine so jugendliche Frau die richtige Mutter für seine Kinder sein könnte. Zum Glück war er in der Lage, der verwöhnten Fabrikantentochter alles bieten zu können, was deren Herz begehrte. Manchmal hatte Martin sich gefragt, ob er Ariane liebte und sein Leben mit ihr teilen wollte, oder ob er in ihr nur einen Mutterersatz für seine Kinder suchte. Eine eindeutige Antwort hatte er nie gefunden. Ariane war ihm durchaus sympathisch, und so wie Ruth würde er wohl nie wieder eine Frau lieben können. Er mußte sich damit begnügen, eine Partnerin zu finden, die er gut leiden mochte. Mehr durfte er nicht erwarten. Allerdings, das war Martin inzwischen klar geworden, hatte er seine Rechnung ohne die Kinder gemacht. Die lehnten Ariane nämlich ab. Sie wollten sich nicht damit abfinden, eine fremde Frau als Mutter anzuerkennen. Vermutlich waren sie zu lange Zeit allein mit ihrem Vater gewesen und hatten nun Angst, ihn mit einem anderen Menschen teilen zu müssen. Andererseits machte es Ariane den Zwillingen auch nicht gerade leicht. Als verwöhntes Einzelkind aus reichem Haus hatte sie nie Beziehungen zu Kindern gehabt und tat sich schwer, den richtigen Umgangston zu finden. Manchmal hatte Martin sogar den Eindruck gehabt, daß Ariane Daniel und Rieke als Belastung empfand. Natürlich konnte man diesen Umstand auch ihrer Unerfahrenheit zuschreiben. Daß sie bereit war, sich mit den Zwillingen anzufreunden, hatte sie erst vor ein paar Tagen bewiesen. Nachdem Martin sie gebeten hatte, sich während seiner Abwesenheit um Daniel und Rieke zu kümmern, war sie sofort einverstanden gewesen. Mit etwas Glück würden sich Ariane und die Kinder in diesen beiden Tagen näherkommen und sich gegenseitig akzeptieren. Darauf setzte Martin seine ganze Hoffnung.

»So wie früher wird es nie mehr sein können«, meinte er seufzend, während er das Bild seiner verstorbenen Frau betrachtete. »Wir beide sind eben das ideale Paar und die besten Eltern gewesen. Aber ich werde versuchen, unseren Kindern das Leben so schön wie möglich zu gestalten, und dazu gehört nun einmal eine Mutter, auch wenn es nur eine Stiefmutter ist. Ariane ist kein schlechter Mensch. Wenn ich sie auch nie so lieben werde wie ich dich geliebt habe, kann ich mir ein Leben mit ihr vorstellen, und mit unseren beiden Kindern wird sie sich schon anfreunden. Es braucht eben alles seine Zeit. Auch Daniel und Rieke werden Zeit benötigen, um sich an ihre Stiefmutter zu gewöhnen.«

Es fiel Martin schwer, sich von dem Bild zu lösen. Doch auf ihn wartete Arbeit, die keinen Aufschub duldete. Er riß sich von seinen Gedanken los und widmete sich den Unterlagen.

*

Käthe Schimke, die fünfundfünfzig Jahre alte Haushälterin, war in der Küche beschäftigt, als Daniel und Rieke mit Ilka hereinkamen. Alle drei hatten ausgelassen im Garten gespielt und waren nun entsprechend hungrig. Die Kinder hatten sich vor dem Betreten des Hauses sorgfältig die Schuhe abgewischt. Ilkas Pfoten hingegen waren noch feucht und nicht ganz sauber. Darüber sah Käthe Schimke großzügig hinweg.

»Na, ihr habt wohl alle Lust auf einen kleinen Imbiß«, meinte sie. »Rote Grütze hätte ich anzubieten, und für Ilka habe ich getrocknete Pansenstreifen besorgt. Wie wär es damit?«

Die Zwillinge stimmten begeistert zu, und die Hündin nahm dankbar den Pansen entgegen. Daniel ließ die Vanillesauce auf die Grütze fließen. Ein Teil davon ergoß sich auf dem Küchentisch. Doch solche kleinen Mißgeschicke erschreckten Käthe Schimke nicht. Mit Hilfe eines feuchten Tuches war der Schaden rasch behoben.

»Du bist viel netter als Ariane«, stellte Rieke fest. »Die hätte jetzt wieder fürchterlich mit uns geschimpft. Es wäre viel schöner, wenn sie auf eine Hochzeitsfeier müßte und du bei uns bleiben könntest.«

»Ich würde gerne auf euch aufpassen«, erwiderte die Haushälterin. »Aber mein großer Bruder wäre schrecklich enttäuscht, wenn ich nicht zu seinem Fest käme. Ich weiß, daß ihr Ariane von Eichheim nicht mögt. Aber die zwei Tage mit ihr werden schnell vergehen. Wenn ihr euch bemüht, lieb zu ihr zu sein und keine Dummheiten anzustellen, wird es schon gehen.«

Daniel schüttelte den Kopf. »Glaub’ ich nicht. Wir können so lieb sein, wie wir wollen. Sie wird trotzdem dauernd etwas zu meckern haben. Sei ehrlich, Käthe, du kannst diese blöde Ziege auch nicht leiden.«

»Also, eine Ziege ist sie nicht. So bezeichnet man keinen Menschen. Ob ich sie mag oder nicht, ist unwichtig. Es steht mir auch nicht zu, über Leute zu urteilen, die hier im Haus sind, weil euer Vater mit ihnen befreundet ist.«

»Noch ist Ariane zum Glück nicht immer hier bei uns«, erwiderte Daniel. »Sie wohnt noch bei ihrem Vater in der Villa und kommt nur hin und wieder vorbei. Von mir aus könnte das so bleiben. Ich will nicht, daß sie hier einzieht. Glaubst du, daß Vati sie tatsächlich heiraten wird?«

Käthe setzte sich zu den Kinder an den Tisch. »Naja, ich denke, daß er das tun wird. Neulich habe ich zufällig gehört, wie sich euer Vater mit Ariane von Eichheim unterhalten hat. Die beiden haben von Heirat gesprochen. Euer Vater hat aber gesagt, daß er erst heiraten möchte, wenn ihr euch an eure neue Stiefmutter gewöhnt habt und gut mit ihr auskommt.«

»Dann heiratet er sie nicht«, stellte Rieke fest. »Wir werden uns nämlich nie mit Ariane vertragen. Selbst wenn sie sich auf den Kopf stellt, werden wir sie nicht mögen. Vielleicht ist sie wirklich keine Ziege, aber blöd ist sie auf jeden Fall.«