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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-520-9
Andrea Hoffmann warf einen prüfenden Blick zur Uhr. Noch genau vierzehn Stunden bis zur Jahreswende! Sie seufzte und wandte sich einer Kundin zu, die gerade mit sichtbarer Hektik die elegante Boutique betreten hatte.
Mit freundlichem Lächeln wandte sich Andrea an die Kundin.
»Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Indem Sie mir ein Kleid zeigen, das hundertprozentig paßt – und mir hundertprozentig gefällt.« Die Kundin, eine etwas vollschlanke Dame von knapp Sechzig, ließ sich in einen der kleinen roten Samtsessel sinken und stellte Handtasche und zwei kleinere Pakete neben sich ab. »Ich bin schon seit zwei Stunden unterwegs. Das ist der reinste Mord an einem Tag wie diesem.«
Andrea nickte. Sie selbst mochte diese Hektik, die regelmäßig zu Silvester ausbrach, auch nicht. Doch regelmäßig wurde sie mit in diesen Sog gezogen.
In den Friseursalons herrschte bis zur letzten Sekunde Hochbetrieb, die Feinkost-Läden waren überfüllt, und in ihrer, der Modebranche, wurde es auch von Jahr zu Jahr schlimmer. Nervöse Kundinnen, die noch im letzten Moment eine neue Festtags-Robe erstehen wollten, waren alles andere als leicht zu bedienen.
Doch Andrea war Geschäftsfrau und versiert genug, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Jedenfalls hatte auch die Kundin, die jetzt noch gekommen war, das Gefühl, daß sich die schöne dunkelhaarige Boutique-Besitzerin ausschließlich ihr widmete und nur darauf gewartet hatte, sie mit herausragend exklusiven Modellen zu verwöhnen.
Ein schmal geschnittenes schwarzes Seidenkleid, zu dem ein Paillettenjäckchen gehörte, fand bald Anklang bei der Kundin, und ohne Zögern zahlte sie den nicht eben geringen Preis.
»Ich bin sicher, daß Sie an diesem Modell noch sehr viel Freude haben werden«, sagte Andrea, während sie den Kassenbon fertig machte.
»Sie haben mich ganz hervorragend beraten. Ich werde mit Sicherheit wiederkommen«, entgegnete die Kundin.
»Das freut mich. Ich darf Ihnen dann noch einen wunderschönen Silvestertag und ein gutes Neues Jahr wünschen.«
»Danke, Ihnen auch.« Die Kundin verließ hochzufrieden den Salon. Kaum war sie fort, mußte Andrea nach hinten zu den Waschräumen laufen, um sich zu übergeben.
Sie fühlte sich elend, schon seit Tagen, und es war ihr nur mit Mühe und aller Willensanstrengung gelungen, bei der Kundin Haltung zu bewahren.
In diesem Augenblick bereute es Andrea, daß sie ihrer Mitarbeiterin, Katrin Kurschildgen, schon am frühen Mittag freigegeben hatte. Jetzt war sie ganz allein und ohne Hilfe. Es ging einfach nicht, daß sie sich länger eine Schwäche gönnte.
Sie kühlte sich das Gesicht und schaffte es mit letzter Willensanstrengung, die nächste Stunde durchzustehen. Doch kaum war die definitiv letzte Kundin des Tages – und des alten Jahres gegangen, knickten Andrea die Knie weg und sie sank auf das alte Sofa hinten im kleinen Aufenthaltsraum. So fand sie Stefan Jonas, der sie abholen wollte.
»Um Himmels willen, Andrea… was machst du denn für Sachen?« Der große blonde Mann mit der etwas zu langen Künstlermähne ließ sich neben ihr nieder und sah sie besorgt an. »Bist du krank?«
Sie wollte schon den Kopf schütteln, aber das ging einfach nicht. Sie fühlte sich jetzt sogar zu dieser kleinen Geste zu schlapp.
Stefan legte die Hand auf ihre Stirn. »Du hast ja Fieber!« Er erhob sich und griff zum Telefon. »Ich versuche meinen Hausarzt anzurufen«, meinte er.
Doch das war, wie sich rasch herausstellte, ein sinnloses Unterfangen. Dr. Burgstett hatte auf dem Anrufbeantworter die Nummern des Notarztes und einer Unfallklinik hinterlassen.
»Mist!« Stefan legte den Hörer wieder zurück. »Wenn man ihn schon mal braucht…« Er warf Andrea einen kurzen prüfenden Blick zu. Sie lag ganz apathisch da. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, sie hielt die Augen geschlossen.
Dem Mann schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Er mußte gleich in die Oper, denn Enrico Bastini, der italienische Startenor, würde an diesem Abend singen, und da durfte Stefan, als sein deutscher Konzertmanager, einfach nicht fehlen.
»Andrea… Liebes… was soll ich nur tun?«
»Bring mich nach Hause«, bat sie leise. »Und dann laß mich ruhig allein. Ich komme zurecht. Du mußt doch ins Theater.«
Daran konnte sie also denken! Stefan beschloß still für sich, daß es seiner Freundin doch nicht allzu schlecht gehen konnte, wenn sie sogar noch an private Termine zu denken vermochte.
»Wir wollten doch zusammen die Fledermaus-Aufführung sehen«, wandte er ein.
Andrea schlug mühsam die Augen auf. »Du siehst doch selbst, was mit mir los ist. Ich bin krank.«
Still für sich hoffte sie, daß Stefan jetzt bei ihr bleiben und auf den Abend in der Staatsoper verzichten würde, doch er holte ihren warmen Kaschmirmantel, hüllte sie darin ein und führte sie zu seinem Wagen, den er im Hinterhof geparkt hatte.
Eine halbe Stunde später lag Andrea in ihrem Bett – viel zu erschöpft, um sich noch mit Stefan unterhalten zu können. Sie trank dankbar etwas von dem Tee, den er ihr gemacht hatte, dann schloß sie die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Noch ein paar Minuten zögerte Stefan Jonas, dann verließ er die kleine Wohnung und machte sich auf den Heimweg, um sich für den Silvesterabend vorzubereiten.
Andrea war allein. Allein mit einer Krankheit, von deren Schwere sie noch gar keine Ahnung hatte…
*
»Das geht ja zu wie im Taubenschlag«, meinte Schwester Walli und sah hinunter zum Parkplatz, wo ausgesprochen reger Betrieb herrschte.
»Warte noch eine Stunde, dann wird es stiller«, meinte Dr. Adrian Winter. »Die Leute, die jetzt noch schnell einen kranken Verwandten oder Freund besuchen, machen sich gleich für den Silvesterabend fertig. Dann sind wir hier fast vergessen.«
»Schön wär’s«, meinte Walli. »Aber gegen Mitternacht bekommen wir dann wieder Hochbetrieb, wetten?«
Dr. Winter, der Chef der Unfall-Station der Kurfürsten-Klinik in Berlin, nickte. »Wenn ich da an letztes Jahr denke… wir waren bis zum Morgengrauen im Einsatz.«
»Und dieses Mal werden wir es wieder sein, wetten?« Walli zuckte mit den Schultern. »Na ja, wir haben ja nichts zu versäumen, ungebunden, wie wir sind!«
»Du sollst nicht von mir auf dich schließen«, meinte Adrian. »Ich bin ungebunden, du aber hast deinen lieben Musikus…«
»… der mal wieder mit seiner Band auf Reisen ist. Diesmal auf der Deutschland. Luxuriös geht die Welt zugrunde«, spöttelte sie, aber Adrian, der sie genau kannte, hörte doch heraus, daß es Walli gar nicht gefiel, daß ihr Lebensgefährte sie schon wieder wegen des Berufes allein lassen mußte. Und jetzt, zum Jahreswechsel, war es bestimmt nicht schön.
Dr. Winter, ein sympathischer Mann mit dunkelblondem Haar und braunen Augen, dachte wieder einmal an Stefanie Wagner, diese wunderschöne junge Frau, in die er sich schon beim ersten Sehen verliebt hatte, zu der er aber immer noch keine dauerhafte Beziehung hatte aufbauen können.
Stefanie arbeitete in einem renommierten Berliner Hotel, und Dr. Winter konnte sicher sein, daß auch sie heute keine freie Minute hatte. Als Assistentin des Hoteldirektors war sie bestimmt schon seit Stunden im Einsatz. Viele Gäste würden unbeschwert ins Neue Jahre hineinfeiern – und sich keine Gedanken darüber machen, daß es viele Menschen gab, die schwer arbeiten mußten, um ihnen diese unbeschwerten Stunden verschaffen zu können.
Stefanie… ob es ihm im neuen Jahr wohl gelingen würde, ihr näher zu kommen? Sie hatte wundervolles, langes blondes Haar und große veilchenfarbene Augen. Augen, in denen Adrian Winter hätte versinken können…
»Dr. Winter, in die Ambulanz! Dr. Winter bitte…«
Ein Notruf unterbrach seine Liebesträumereien. Adrian Winter zuckte zusammen und eilte, gemeinsam mit Oberschwester Walli, hinüber zur Unfall-Ambulanz, wo gerade ein junger Mann eingeliefert worden war, der mit seinem Sportwagen einen schweren Unfall verursacht hatte.
»Er hat Glück im Unglück gehabt«, sagte der Notarzt, »nur ein paar Knochenbrüche und ein Schleudertrauma, soweit ich das beurteilen kann. Auch die beiden Frauen, denen er in den Kleinwagen gefahren ist, sind nicht schwer verletzt. Sie sind in die Charité gebracht worden, weil beide dort in der Nähe wohnen.«
Während der knappen Unterhaltung war der Verletzte auf einen Untersuchungstisch gelegt worden. Schwester Walli und Schwester Norma, eine neue Mitarbeiterin von 23 Jahren, zogen den Patienten aus und bereiteten ihn für eine eingehende Untersuchung vor.
Adrian Winter sprach noch ein paar Worte mit seinem Kollegen, dann ging der Notarzt mit kurzem Gruß davon. »Ein schönes Neues Jahr wünsche ich euch noch nicht«, meinte er mit einem kleinen Grinsen, »wir sehen uns bestimmt noch mal an diesem Abend.«
Adrian winkte nur, dann konzentrierte er sich ganz auf den jungen Mann, der vor Schmerzen leicht stöhnte und dessen linkes Bein mindestens zweimal gebrochen war. Auch das Schultergelenk schien nicht in Ordnung zu sein, ebenso der rechte Arm.
»Das sieht aber nach einer bösen Splitterfraktur aus«, meinte Adrian. »Walli, mach ihn fürs Röntgen fertig«, bat er. Und an den Patienten gewandt: »Der Notarzt hat Ihnen ja schon eine schmerzstillende Spritze gegeben. Ich möchte jetzt nichts anderes tun, als Sie röntgen lassen. Dann sehen wir weiter.«
»Meine Braut… sie wird auf mich warten«, stieß der Mann gepreßt hervor. »Bitte, Doktor, lassen Sie sie benachrichtigen.«
»Gern.« Adrian hatte Mitleid mit dem Mann. »Haben Sie Telefonnummer oder Adresse im Kopf?«
Der Patient nickte und nannte eine Nummer, die Schwester Norma unaufgefordert notierte. »Ich übernehme das schon«, sagte sie.
»Danke…« Der Patient schloß die Augen und versuchte, sich so gut als möglich zu entspannen, denn er ahnte, daß die Röntgenuntersuchungen nicht ohne Schmerzen vonstatten gehen würden.
Eine halbe Stunde später stand fest, daß der Mann trotz allem noch sehr viel Glück gehabt hatte, denn es waren alles Brüche, die sich leicht richten ließen und die, aller Voraussicht nach, ohne Schwierigkeiten heilen würden.
Es war jedoch nicht der Chef der Unfall-Ambulanz, der diese Brüche versorgte. Adrian hatte inzwischen schon ein paar neue Patienten und mußte den jungen Mann den Kollegen von der Chirurgie überlassen.
Er selbst kümmerte sich, zusammen mit Schwester Walli, Schwester Norma und dem jungen Dr. Volker Kaufmann um die anderen Kranken, die an diesem Abend in die Kurfüsten-Klinik eingeliefert wurden. Dabei konnte er wieder einmal feststellen, daß der junge Kollege Kaufmann ein ganz hervorragender Diagnostiker war.
Dr. Volker Kaufmann hatte das Studium beendet, sein praktisches Jahr in einer Klinik in Köln abgeleistet und machte jetzt seine Assistentenzeit an der Kurfürsten-Klinik. Er wollte einmal Herzchirurg werden, doch bis er dieses Ziel erreicht haben würde, war noch ein langer Weg.