image

image

MIRYAM MUHM

DIE
BLUT
WERT
LÜGE

GESUNDHEITSRISIKO
NORMWERTE – DIE WAHRHEIT
ÜBER BLUTBEFUNDE

image

Wichtiger Hinweis

Es ist nicht Absicht der Verfasserin, Diagnosen zu stellen oder Verordnungen zu erteilen. Die Zielsetzung ist, hilfreiche Informationen aus dem Gesundheitsbereich anzubieten, um die Zusammenarbeit mit dem Arzt Ihres Vertrauens zu unterstützen. Bei Selbstbehandlungsversuchen übernehmen Verfasserin und Verlag keine Haftung. Bitte lassen Sie im Zweifelsfall die Einnahme von Nahrungsmittelergänzungen jeglicher Art durch einen Arzt Ihres Vertrauens bestätigen.

Hervorhebungen in Zitaten stammen von der Autorin, sofern nicht anders vermerkt.

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

1. eBook-Ausgabe 2020

Überarbeitete und erweiterte Neuauflage 2020

© der überarbeiteten Neuaflage 2020 Europa Verlag in

Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Redaktion: Franz Leipold

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-321-0

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

INHALT

Vorwort

Vorwort zur Neuauflage

Einleitung

Kapitel1:Neues zu B12, TSH/Schilddrüse, Vitamin D, Ferritin + Eisen, Glukose, Parathormon (PTH), Magnesium, Kalium, ALT (Leber)

Kapitel2:Cholesterin – kriminelle Machenschaften

Kapitel3:Eisen, Burn-out & Co.

Kapitel4:Geophagie – Appetit auf Erde

Kapitel5:TSH – nicht erfasste Schilddrüsenkranke

Kapitel6:Jod – zurück zum Beginn der Evolution

Kapitel7:Vitamin B12 – Depression, Demenz und falsche Normbereiche

Kapitel8:Vitamin B1 als Waffe gegen Parkinson?

Kapitel9:Kalzium, Osteoporose …

Kapitel 10:Vitamin D – »D«ilemma Sonnenschutz

Kapitel 11:Glukose – der honigsüße Diabetes

Kapitel 12:Wie sicher sind Laborbefunde?

Einige Begriffserläuterungen zur Labormedizin

Anmerkungen

VORWORT

Die Idee zu diesem Buch verdanke ich dem amerikanischen Arzt und Forscher John D. Doux. Vor zehn Jahren veröffentlichte er eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit meiner langjährigen Erfahrung als Medizinstudentin und Patientin deckte. Der Titel dieser Studie lautete »When normal is not …«. Übersetzt heißt das so viel wie: »Wenn normale Blutbefunde nicht bedeuten, dass man gesund ist.«1

Seine mit wissenschaftlichen Beweisen untermauerte These war für mich die Antwort auf viele Fragen, die sich unwillkürlich stellen, wenn man sieht, wie viele Menschen trotz »normaler« Blutbefunde monate- oder jahrelang an Erkrankungen leiden, ohne eine Diagnose, geschweige denn eine Therapie zu bekommen – und womöglich werden sie auch noch als »stressbelastete Psychosomatiker« abgestempelt.

Dr. Doux’ Studie und auch die Auffassungen einiger Ärzte, dass das blinde Vertrauen auf die Blut(serum)befunde die Medizin in vielen Fällen auf den Holzweg2 führen kann, haben mich immer wieder dazu motiviert, wissenschaftliches Material zu sammeln, um eines der gravierendsten Probleme der modernen Medizin aufzuzeigen: den Umgang mit Blutbefunden.

Gravierend deshalb, weil bis zu 70 % der ärztlichen Diagnosen anhand der gedruckten Laborbefunde erstellt werden. In den meisten Fällen kann unser Blut aber nur aufzeigen, was sich gerade im Blut befindet – nicht aber, was in den Geweben im Körper passiert. Mit anderen Worten: Liegt ein untersuchter Stoff innerhalb des Referenzbereichs, kann in den Geweben und Organen (Niere, Leber, Pankreas, Gehirn, Knochen …) trotzdem ein Mangel oder ein Überschuss dieses Stoffes vorhanden sein – und wir können deswegen krank sein. Dies ist durch eine hohe Zahl von medizinischen Studien belegt.

Liegt ein untersuchter Blutwert außerhalb des Referenzbereichs, kann man – akute Fälle ausgenommen – zumeist davon ausgehen, dass sich diese Auffälligkeit erst dann zeigt, wenn ein Organ oder Gewebe schon jahrelang erkrankt ist. Taucht zum Beispiel in einem Blutbefund ein erhöhter Kreatininwert auf, sind bereits bis zu 50 % der Nierenfunktion verloren gegangen. Das bedeutet, die Niere hatte schon jahrelang mit stark verminderter Leistung gearbeitet, was aber aus dem Kreatininwert in den Blutbefunden nicht ersichtlich war.3

Die wissenschaftliche Pionierarbeit von John D. Doux zeigt die Achillesferse der Schulmedizin. Nach seiner Auffassung – und er steht damit nicht alleine – ist die Annahme, Blutwerte innerhalb des Normbereichs würden die normale Funktion der Organe und der Gewebe darstellen, »ein grundlegender Fehler«4 der modernen Medizin, weil auf diese Weise eine große Anzahl an tatsächlich kranken Patienten nicht erfasst wird.

Das Problem erweitert sich noch dadurch, dass die Blutbefunde selbst aus vielerlei Gründen falsch sein können. Das beginnt mit fehlerhaften Blutentnahmen und reicht bis hin zu Verfälschungen infolge von Labormängeln oder eingenommenen Medikamenten.

Der wunde Punkt der Medizin aber sind die aktuell festgesetzten Referenzbereiche. Sie sind manchmal »groß wie Scheunentore«, wie eine Patientin sie richtigerweise beschrieb, oder manchmal auch eng wie ein Nadelöhr – anschauliche Metaphern, die die Problematik in ihrem Kern treffen. Diese Problematik wird von Fachärzten und selbst in einigen Leitlinien mehr oder weniger deutlich angesprochen. Allerdings kommt es in vielen Fällen nicht zu einer durchgreifenden und notwendigen Änderung falsch gesetzter Referenzbereiche der für uns doch so wichtigen Blutwerte.

Auf diese Weise aber fallen nach wie vor viele Erkrankte aus dem Raster dieses Medizinsystems, da sich die Mehrzahl der Ärzte zur Diagnosestellung eben eher auf Blutbefunde als auf vorhandene Symptome verlässt.

Die kleinen Zahlenwerte auf den Blutbefunden, mit denen wir heute »krank/therapiebedürftig« von »gesund/nach Hause schicken« unterscheiden, können über das Schicksal von Millionen entscheiden. Allzu oft werden allein aufgrund dieser Zahlenwerte kranke Menschen ohne Diagnose und Therapie in die Verzweiflung getrieben.

Falsch gesetzte Referenzbereiche können aber auch dazu führen, dass mangels Frühdiagnostik Erkrankungen erst entstehen oder sich verschlimmern – Krankheiten, die man mit einer anderen medizinischen Vorgehensweise (sorgfältige Symptomanalyse und bessere Referenzbereiche) rechtzeitig hätte behandeln oder sogar noch heilen können. Hierbei geht es nicht nur um die Patienten, sondern auch um die gesellschaftlichen Folgekosten.

Menschen, die sich um ihre eigene Gesundheit und um die ihrer Lieben sorgen und selbst etwas dafür tun wollen, liefert dieses Buch fundierte medizinische Informationen; gleichzeitig will es Wegweiser und Ratgeber sein, um sich in unserem leistungsstarken, aber eben auch fehlerbehafteten Medizinsystem ein Stück besser zurechtzufinden.

München, im Sommer 2016

Miryam Muhm

Danksagung

Ich bedanke mich bei all den Ärzten und Professoren, die mir gegenüber offen über die eine oder andere Problematik im medizinischen Alltag gesprochen und mir hilfreiche Informationen geliefert haben. Mein besonderer Dank geht an Suzanne Bürger für ihre sprachlich wertvolle Unterstützung und ihre redaktionelle Mitarbeit.

Mein Dank gilt außerdem all den Wissenschaftlern sowie Fach- und Allgemeinärzten, die den Mut haben, medizinische Unzulänglichkeiten öffentlich zu thematisieren und für Verbesserungen zu kämpfen.

VORWORT ZUR NEUAUFLAGE

Les idées provocatrices sont légitimes.

Au moins pour s’assurer que ce n’est pas par habitude mentale que l’on exclut certaines possibilités.

Provokative Gedanken sind legitim.

Und sei es nur, um sicherzugehen, dass man gewisse Möglichkeiten nicht nur aus geistiger Gewohnheit ausschließt.

Thibault Damour

(Institut des Hautes Etudes Scientifiques)

Hat sich in diesen letzten drei Jahren seit Erscheinen der ersten Auflage des Buches »Die Blutwertlüge« etwas geändert in Bezug auf die Grenzwerte und Referenzbereiche unserer Blutbefunde? Eigentlich kaum. Trotzdem besteht Hoffnung, denn dass die Referenzbereiche bei Blutwerten in der modernen Medizin ein Problem darstellen, ist nun selbst einigen eher konservativen medizinischen Institutionen klar geworden. Vor einem Jahr richteten führende Labormediziner der AACC (American Association for Clinical Chemistry) und der CDC (Center for Disease Control) – zwei hoch angesehene medizinische Institutionen – einen öffentlichen Appell an den US-Kongress mit der Bitte um Finanzierung von Studien zur Festlegung besserer Blutreferenzbereiche für Kinder, da diese Bereichsangaben »fehlerhaft sind und große Informationsdefizite aufweisen«.5

Es hatte sich also eindeutig herausgestellt, dass die Blutreferenzbereiche für Kinder falsch festgelegt worden waren. Wie aber steht es mit den Referenzbereichen für Erwachsene?

Die von den ärztlichen Gremien für unsere Blutbefunde aufgestellten Grenzwerte wurden und werden aufgrund von wissenschaftlichen Studien festgelegt. Aber wurden diese Studien korrekt durchgeführt? Als ich die Kapitel für die erste Auflage dieses Buches schrieb, kam mir immer wieder die mutige Abhandlung »When normal is not« von Dr. med. John D. Doux in den Sinn (frei übersetzt: »Wenn normale Blutbefunde nicht bedeuten, dass man gesund ist«), und ich fragte mich mehr als einmal, warum bestimmte Grenzwerte nicht angepasst werden: Immerhin gab und gibt es inzwischen eine Vielzahl von Studien, die für etliche Substanzen in unserem Blut aus validen Gründen andere Grenzwerte nahelegen. Oder wenn sie tatsächlich angepasst wurden, dann meist nur sehr zögerlich. Dagegen wurde ausgerechnet der Grenzwert für LDL-Cholesterin ohne viel Federlesen geändert – trotz massiver Kritik.

Es flackerte bei mir immer wieder der Verdacht auf, dass in der Medizin irgendetwas ganz gewaltig schiefläuft – aber ich wollte weder auf die Korruption in dieser Branche eingehen noch mich mit den Praktiken der Pharmaindustrie auseinandersetzen, weil dies mein großes Vertrauen in die von ethischen Grundsätzen getragene medizinische Heilkunst völlig erschüttert hätte. Als ich mich jedoch für die Neuauflage dieses Buches vertieft mit der Frage beschäftigte, inwieweit Cholesterin als Verursacher von Herz-Kreislauf-Erkrankungen infrage kommt, öffnete sich eine Art Pandora-Büchse, die sich einfach nicht mehr schließen ließ: Es zeigte sich ein weitverbreiteter moralischer Zerfall in der Medizin und der damit an uns Patienten und an unserer Gesundheit verübte Verrat. Wieder einmal geht es dabei um viel Geld, dessen Allmacht selbst diese von (zumindest theoretisch) höchsten ethischen Grundsätzen getragene Disziplin offenbar korrumpiert hat.

Das einzig Tröstliche: Es sind Ärzte, die die entsetzlichen Missstände aufzeigen – also Mediziner, die unter der weitverbreiteten Käuflichkeit ihrer Kollegen in Verbindung mit der Pharmabranche leiden, aber den Mut haben, entsprechende Abhandlungen zu publizieren.

Medizin ist die Disziplin, die sich um das Wohl der Patienten kümmern sollte. Wenn jedoch mit dem Wissen der Autoren klinische Studien gefälscht werden6 und diese anschließend die Grundlage für die offiziellen medizinischen Leitlinien liefern – was wird dann aus uns Patienten?

Ganz einfach: Häufig werden aufgrund gefälschter Ergebnisse Diagnosen gestellt und Therapien eingeleitet, und zwar von Hausbzw. Fachärzten, die (wahrscheinlich gutgläubig) ihr Vertrauen in dieses »evidenzbasierte Medizinsystem« setzen. Die allergrößte Mehrheit dieser Ärzte folgt den Leitlinien und verschreibt z. B. bei erhöhtem LDL-Cholesterin routinemäßig Statine bzw. legt ihren Diagnosen die von den Gremien festgelegten oberen und unteren Blutgrenzwerte zugrunde.

In dieser Neuauflage muss ich daher zumindest ansatzweise auf das Problem der Korruption in der medizinischen Wissenschaft eingehen, da diese uns alle betreffende Problematik von Medizinern 2017 in einem Manifest zur evidenzbasierten Medizin endlich öffentlich gemacht wurde. Ein Manifest, das als »Antwort auf die systematischen Verzerrungen, Verschwendungen, Fehler und Betrügereien in der Forschung, die die Grundlage der Patientenversorgung sind« gedacht ist.7

Das vorliegende Buch basiert auf wissenschaftlichen Studien; allerdings war die entsprechende Auswahl angesichts der oben angeführten Problematik nicht einfach. Ich stellte mir allerdings einige Fragen – z. B. bestanden bei der Studie Interessenkonflikte und wem nutzt sie in erster Linie, der Pharmabranche oder dem Patienten? Dies sind einige der Kriterien, die zur Auswahl von über 500 Studien und Abhandlungen (siehe Anmerkungen) führten.

Es ist an der Zeit, diese wissenschaftlichen Fakten, das heißt die Käuflichkeit von klinischen Studien, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – denn die Konsequenz davon sind unzulängliche Diagnosen (aufgrund der offiziellen Blut-Grenzwerte) und Behandlungen mit Medikamenten, die überteuert und wenig effizient sind sowie gravierende gesundheitsschädliche Nebenwirkungen haben können (wie z. B. im Fall der Statine oder der Magensäurehemmer). Nur wenn wir darüber informiert sind, können wir bessere Entscheidungen in Bezug auf unsere Gesundheit treffen.

Als Autorin bin ich den vielen Lesern der ersten Auflage zutiefst dankbar und verbunden, denn sie geben in ihren zahlreichen Kommentaren häufig das wieder, was mein Ziel war und ist: durch Darlegung von Wissen, Fakten und Wahrheiten den Mitmenschen eine gewissen Sicherheit vermitteln.

München, im Frühjahr 2020

Miryam Muhm

Mein Dank geht erneut an Suzanne Bürger für ihre wertvolle sprachliche Unterstützung.

EINLEITUNG

Zum besseren Verständnis der in diesem Buch dargelegten Problematik möchte ich Ihnen zuerst einige Erläuterungen geben.

Den in den Blutbefunden angegebenen Laborwerten werden oft die jeweiligen Referenzbereiche hinzugefügt. Diese Zahlen (Grenzwerte) sind mit Maßeinheiten versehen und wurden von Fachärzten und Experten festgesetzt. Fast 70 % aller ärztlichen Diagnosen werden anhand dieser Werte erstellt.

Die Laborwerte beziehen sich auf Stoffe (Analyten oder Parameter), die im Blut gemessen werden, und zwar hauptsächlich im Serum und im Plasma. In den Kapiteln wird diese Unterscheidung unterlassen, um den Lesefluss zu erleichtern. Es wird also nur von »Blutuntersuchungen« gesprochen, ohne jedes Mal zu spezifizieren, ob es sich dabei um eine Plasma-, Serum- oder Vollblutuntersuchung handelt.

Die Grenzwerte, die gesunde von kranken Menschen trennen, werden anhand bestimmter Kriterien festgesetzt, die in der Fachwelt häufig für Kontroversen sorgen und die medizinischen Gesellschaften dazu bewegen, diese Werte mal nach oben, mal nach unten »anzupassen«. So entsteht zuweilen eine Art Achterbahn, auf der Millionen von Menschen das eine Mal als krank und das andere Mal als gesund eingestuft werden. Dies betrifft vor allem die Werte von Thyreotropin (TSH), Cholesterin, Glukose etc.

Das große Vertrauen in die Blutbefunde fußt auf der Annahme, dass die Blutwerte bestimmter Stoffe – ob innerhalb oder außerhalb des geltenden Normbereichs – mit dem Zustand dieser Stoffe im Körper korrelieren, das heißt mit dem Zustand in den Organen und Geweben. Diese Annahme trifft aber nicht immer zu! Das liegt unter anderem an einer wichtigen Prämisse, die aber oftmals falsch verstanden wird: die Homöostase. Falsch verstanden aufgrund der Macht des Faktischen, wie wir später sehen werden.

Vereinfacht ausgedrückt ist die Blut-Homöostase das Bestreben des Körpers, von bestimmten Stoffen im Blut stets eine bestimmte Konzentration aufrechtzuerhalten und Entgleisungen (Veränderungen) mittels Rückkopplungsmechanismen auszugleichen.

Ein Beispiel: Wenn wir zu viel Zucker verzehren, steigt der Blutzucker (die Menge an Glukose im Blut), und es wird vermehrt Insulin ins Blut ausgeschüttet – ein Hormon, das die Synthese von Glukose zu Glykogen steuert und damit den Blutzucker wieder auf das Normalmaß senkt. Haben wir dagegen zu wenig Zucker im Blut (z. B. während des Fastens), tritt das Glukagon auf den Plan (ebenfalls ein Hormon) und beginnt, Glykogen abzubauen, damit der Zucker im Blut wieder ansteigt. Auf diese Weise wird vom Organismus sichergestellt, dass das Gehirn stets ausreichend mit diesem wichtigen Energielieferanten versorgt ist.

Es ist ein wenig so wie beim Autofahren: Um Richtungsänderungen des Autos (aufgrund von Unebenheiten, Neigungen oder Schlaglöchern in der Fahrbahn ) zu kompensieren und das Auto auf der vorgezeichneten Fahrbahn zu halten, bewegt der Fahrer das Lenkrad fast automatisch und unbewusst mal mehr nach links, mal mehr nach rechts. Ähnlich funktioniert die Blut-Homöostase – die Selbstregulation des Blutes, die jeder Medizinstudent kennen muss.

Sagt das Verbleiben Ihres Fahrzeugs innerhalb der Fahrbahn etwas über seinen Zustand aus? Nein, denn Sie bleiben ja weiterhin auf der vorgezeichneten Fahrbahn, trotz schleichender Verschleißerscheinungen oder tropfenweisem Ölverlust. Nur in ganz extremen Fällen würde das Fahrzeug gewissermaßen aus der Bahn geworfen (z. B. wenn ein Reifen platzt).

Bleiben wir bei diesem Bild, um das Ganze zu verdeutlichen: Das Gehirn (»der Fahrer«) ist bemüht, die Konzentration der Stoffe im Blut stets innerhalb bestimmter Parameter (»auf der vorgezeichneten Fahrbahn«) zu halten, aber das sagt sehr wenig aus über den Zustand Ihrer Organe und Gewebe (»den tatsächlichen Zustand Ihres Fahrzeugs«). Nur ein akuter Fall oder eine schon voll ausgeprägte Krankheit, z. B. eine plötzlich eintretende Blutung (»ein geplatzter Reifen«), wird bestimmte Stoffe aus ihrer homöostatischen Bahn werfen.

In der praktischen medizinischen Alltagsrealität geht die überwiegende Mehrheit der Ärzte seit Jahrzehnten davon aus, dass der Zustand des Blutes in den meisten Fällen den Zustand des Körpers widerspiegelt. Dies ist aber ein Trugschluss – mit gravierenden Folgen für die Patienten.

Eine ganze Reihe von Studien bestätigt, dass im Körper ein fokaler (nur auf bestimmte Gewebe und Organe begrenzter) Mangel oder Überschuss an Stoffen vorhanden sein kann, obwohl im Blut alles »in Ordnung« ist. Dieses auf ein Organ begrenzte Stoffungleichgewicht aber kann Krankheiten verursachen – zuweilen sogar recht gravierende.

Ebenso können fokale Störungen biochemischer Prozesse in Bezug auf ein bestimmtes Molekül Erkrankungen hervorrufen, die aus dem Laborbefund nicht ersichtlich sind.8 Und trotz erhöhter Werte eines bestimmten Stoffes im Blut kann in einem Organ eine Mangelerscheinung dieses Stoffes vorliegen (siehe Kapitel »Eisen, Burn-out & Co.«).

Menglin Li von der Chinesischen Akademie der Medizinischen Wissenschaft und des Nationalen Laboratoriums für medizinische Molekularbiologie in Peking bringt das Ganze auf den Punkt: »Das Blut unterliegt einer strikten homöostatischen Kontrolle, das heißt der Körper hat die Tendenz, Veränderungen [von Stoffkonzentrationen] im Blut zu beseitigen … Auch wenn das [Blut-]Plasma alle Gewebe des Körpers durchströmt und somit theoretisch alle Informationen über Erkrankungs-Biomarker [Stoffe] aufsammeln kann, sollte die Rolle der homöostatischen Mechanismen bei der Beseitigung von Veränderungen [in der Konzentration] dieser Stoffe nicht ignoriert werden.«9

Das Mengenelement (Gegensatz: Spurenelement) Magnesium gilt seit Jahren als klassisches Beispiel für die geringe Aussagekraft der Blutwerte vieler Stoffe – was Medizinern eigentlich geläufig sein sollte.

Dieser Mineralstoff ist an über 300 enzymatischen Vorgängen im Körper beteiligt und somit entscheidend für die gesunde Funktion u. a. des Nervensystems, der Muskeln, des Herzens, der Gefäße und auch der Knochen. Wir wissen, dass 99 % des Magnesiums in den Zellen des Körpers und nur 1 % im Blut vorhanden sind. Aus einer Vielzahl von Studien weiß man, dass Magnesium-Blutwerte die tatsächliche Konzentration dieses Mineralstoffs im Körper sehr wahrscheinlich nicht widerspiegeln – insbesondere, wenn die Werte in der Norm liegen.10 All dies ist schon seit 1990 bekannt11 und wurde auch in Deutschland 1995 von Prof. Dr. H. J. Holtmeier auf den Punkt gebracht (wie von Dr. Bayer zitiert): »Magnesiummangel ist weit verbreitet, aber schwierig nachweisbar. In ca. 50 % der Fälle besteht ein zellulärer Mangel, der im Blutserum nicht nachzuweisen ist.«12

Nur – seit 1990, also seit über einem Vierteljahrhundert, hat sich auf diesem Gebiet kaum etwas geändert, wie 2011 in einer US-amerikanischen Studie dargelegt wurde: »Leider spiegeln Magnesiumkonzentrationen im Serum die Gesamtmenge an Magnesium im Körper nicht wider; bessere Messmöglichkeiten der Magnesium- Gesamtbilanz sind weder leicht zugänglich, noch sind diese standardisiert worden.«13

In diesem Buch geht es aber nicht nur um die Unzulänglichkeit der Tests, sondern hauptsächlich um die falsch gesetzten Referenzbereiche. So wird in einem wissenschaftlichen Artikel betont: »Die traditionelle Methode, die Referenzbereiche für die Magnesiumkonzentration im Serum festzusetzen, ist falsch angesichts der großen Zahl von ›normalen‹ Menschen, die eine chronische unterschwellige negative Magnesiumbilanz haben … Die verringerte Aufnahme von Magnesium durch unsere Nahrung hat bei einer großen Zahl von Menschen zu einem chronischen latenten Magnesiummangel geführt, denn die Magnesiumkonzentration in ihrem Serum liegt zwar immer noch innerhalb des Referenzbereichs, dies aber hauptsächlich aufgrund einer Magnesiumresorption aus den Knochen. Um einen normalen Magnesiumspiegel zu erreichen, sollten diese Menschen für ihre Gesundheit ihre Ernährung entsprechend anpassen oder eine Magnesiumergänzung erhalten.«14

Die Problematik um den Mineralstoff Magnesium ist eines der vielen Beispiele, die uns aufzeigen, wie krank wir trotz normaler Blutbefunde sein können. Wird ein Mangel an diesem Stoff, der immerhin eine entscheidende Rolle in unserem Körper spielt, durch eine Blutuntersuchung nicht entdeckt, liegt es eigentlich auf der Hand, dass wir allein schon deswegen krank sein könnten – und nicht, weil wir »gestresst« oder »psychologisch angeschlagen« sind.

Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Stoffe, die aber hier keine Erwähnung finden, weil es den Rahmen dieses Buches sprengen würde. So ließen sich beispielsweise auch für Kalium und Kreatinin15 wissenschaftliche Beweise aufführen, die in die gleiche Richtung gehen wie beim Magnesium. Selbst normale Leberwerte in einem Blutbefund besagen nicht unbedingt, dass die Leber in Ordnung ist.16 Man kann sogar an einer akuten Bauchspeicheldrüsenentzündung erkrankt sein, obwohl die bauchspeicheldrüsenspezifischen Blutparameter – z. B. die Enzyme Lipase und Amylase, die in einem solchen Fall eigentlich erhöht sein müssten – völlig in der Norm liegen.17 (Deshalb plädieren amerikanische Ärzte schon seit Jahren dafür, bei einer solch akuten Erkrankung das Augenmerk eher auf einen Entzündungsmarker wie CRP zu legen, um diese allzu oft auch tödlich endende Krankheit möglichst frühzeitig behandeln zu können.18)

Nach alledem – warum werden fast 70% der Diagnosen hauptsächlich anhand der Blutbefunde erstellt?19

Nun, vermutlich weil dies Teil der »defensiven Medizin«20 geworden ist. Warum sollte ein Arzt Symptome behandeln, wenn auf den Blutbefunden schwarz auf weiß steht, dass der Patient anhand der von Fachärzten ausgewählten Referenzbereiche gesund ist? Die Angst vor möglichen juristischen Konsequenzen verleitet Ärzte sogar dazu, Blutuntersuchungen anzuordnen, obwohl sie diese als unzuverlässig erachten – oder Therapien einzuleiten, von denen sie selbst nicht überzeugt sind.21

Ein Arzt, der Patienten mit eindeutigen Symptomen – z. B. solchen, die man einer Schilddrüsenunterfunktion zuordnen könnte – trotz normaler Blutbefunde entsprechend behandelt, könnte viel dabei riskieren. Einige haben deswegen sogar ihre Approbation verloren oder mussten sich vor Gericht verantworten, obwohl es geltende Regel ist, dass Leitlinien nicht rechtlich verbindlich sind.22

Das Beharren auf dem Primat der Blutbefunde, um eine Diagnose zu erstellen, hat aber vermutlich auch damit zu tun, dass die Funktionsweise der Homöostase nicht verstanden wurde, oder mit anderen Worten: Es findet dabei zwar schon eine Aufrechterhaltung der lebensnotwendigen Stoffkonzentrationen im Blut statt – was aber unbemerkt sehr zulasten der Organe und Gewebe gehen kann. Angesichts der Flut an Beweisen, dass »normale« Blutwerte nicht unbedingt mit dem Körperzustand korrelieren, wäre es doch eigentlich an der Zeit, gewisse Dogmen aus der Welt zu schaffen. Das heißt, würde man den Körper und damit auch die Homöostase vom evolutionären Standpunkt aus begreifen, könnte man veraltete Konzepte, mit denen Erkrankungen nur spät und oft nicht richtig erfasst werden, über Bord werfen.

Das Blut ist lebensnotwendig, ebenso wie alle Stoffe, die es in sich trägt und transportiert. Entgleisen die Stoffkonzentrationen, tut der Körper alles, um diese Veränderungen im Blut, so gut es geht, zu beheben, denn es gilt, die wichtigsten Organe und Gewebe zu versorgen, darunter auch die Kommandozentrale des Körpers: das Gehirn.

Aber selbst dies ist nicht so wichtig wie die Sicherung des puren Überlebens. Betrachten wir z. B. das Vitamin B12. Eine Unterversorgung macht sich zunächst im Nervensystem bemerkbar (Taubheitsgefühle) und danach im Gehirn (Depression, Verwirrtheit, Demenz). Erst zuletzt wird ein Vitamin-B12-Mangel auch im Blut erkennbar und verursacht dort eine perniziöse Anämie (Blutarmut), die unbehandelt zum Tod führt.

Im Laufe der Evolution hat die Natur eine Art Hierarchie aufgebaut, der vermutlich auch die Konzentration der Moleküle im Körper gehorcht. Nach dieser »Überlebenshierarchie« hat der schiere Erhalt der Lebensfunktionen Vorrang vor unserem »Gesundheitszustand« oder unserem Wohlbefinden. Selbst mit einer Osteoporose und sogar mit einer Demenz können wir noch lange weiterleben – trotz einer gewissen Unterversorgung an Kalzium oder Vitamin B12. Sobald jedoch ein wirklich gravierender Mangel an diesen Substanzen herrscht, kann es für uns lebensbedrohlich werden. Gerade das für die ärztliche Diagnose doch so wichtige Blut (Plasma etc.) könnte somit ausgerechnet die letzte Station sein, an der sich körperliche Ausfallerscheinungen und gesundheitliche Probleme zeigen (ausgenommen akute Fälle).

Aufgrund ebendieser homöostatischen Kontrolle über das Blut vertritt z. B. Prof. Youhe Gao die Ansicht, dass andere Körperflüssigkeiten (Urin und Schweiß) eine Störung eher aufzeigen als das Blut.

Er begründet seine einleuchtende und wissenschaftlich untermauerte These damit, dass Urin und Schweiß Exkretionsstoffe sind, also etwas, das der Körper ausscheidet und, im Gegensatz zum Blut, nicht mehr benötigt. Der Gedanke dahinter ist, dass der Körper aufgrund der Blut-Homöostase versucht, sich lästiger Stoffe (z. B. Proteine, die durch Einnahme eines Medikaments verändert wurden) über Urin oder Schweiß zu entledigen, bevor sie das Blut belasten. Demzufolge könnte man auch unsere ausgeatmete Luft als Ausscheidung des Körpers ansehen.23

All diese Thesen zeigen auf, dass in der wissenschaftlichen Fachwelt einiges in Bewegung ist, was die Unzulänglichkeit von Blutbefunden betrifft. Dr. John D. Doux hatte schon vor Jahren postuliert, dass man eigentlich andere Methoden finden müsste, um funktionelle Störungen im Sinne von Mangel oder Überschuss an bestimmten Stoffen frühzeitig festzustellen.24

Tröstlich zu wissen ist, dass die Forschung sich nicht nur damit begnügt, Thesen aufzustellen, sondern auch konkret nach neuen Wegen sucht, um Krankheiten besser und früher erkennen zu können. So wird seit Jahren daran gearbeitet, für die sogenannten elektronischen Nasen immer raffiniertere Sensoren zu entwickeln, um in der Atemluft sogenannte flüchtige organische Verbindungen (VOCs = volatile organic compounds) aufzuspüren, aus denen sich Rückschlüsse auf Krankheitszustände ziehen lassen.

In Europa und auch in den USA wird in diese neuen Forschungsvorhaben viel Geld investiert, und bereits jetzt sind Krankheitsdiagnosen anhand der Atemluft möglich. 2014 konnten Wissenschaftler des Medizinischen Zentrums der Universität Maastricht mittels einer solchen elektronischen Nase Brustkrebs fast genauso sicher diagnostizieren wie mithilfe der üblicherweise angewandten Verfahren.25

Vor Kurzem (Februar 2016) wurde an der ETH Zürich mit einer verbesserten Analysemethode und einem dementsprechenden Gerät eine sehr präzise Messung von Atemluft-Molekülen erreicht.26 Dr. Pablo Sinues, Privatdozent und Wissenschaftler am Labor für Organische Chemie dieser technischen Universität, konnte mit seinem hochsensiblen Apparat eine Reihe von Medikamenten-Stoffwechselprodukten nachweisen. Der nächste Schritt wird wahrscheinlich darin bestehen, Diabetes und weitere Erkrankungen anhand der Atemluft zu diagnostizieren.27

Einen Monat nach obiger Publikation haben Forscher an der Universität Amsterdam eine weitere Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Anhand der in der Atemluft gemessenen Moleküle konnten sie gesunde Patienten eindeutig von solchen unterscheiden, die beispielsweise an rheumatoider Arthritis litten. Aber nicht nur das – dank der volatilen »Fingerabdrücke« war sogar der Schweregrad der Erkrankung gut erkennbar.28

Auf diesem Gebiet tut sich demnach einiges, denn in der Fachwelt ist offenbar durchaus ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass es besserer diagnostischer Verfahren bedarf, um Krankheiten früher zu erkennen, als es das Blut erlaubt.

Allerdings haben wir es hier immer noch mit Forschungen zu tun. Der Weg bis zum alltäglichen Einsatz dieser neuer Entwicklungen ist lang – und bis dahin müssen wir Patienten uns mit der Tatsache begnügen, dass Diagnosen hauptsächlich anhand der Blutbefunde erstellt werden – und dies, obwohl eine gesetzliche Krankenkasse wie die AOK auf ihrer Webseite schreibt: »Grundsätzlich gilt für alle Blutuntersuchungen, dass sie nur eine begrenzte Genauigkeit haben und keine eindeutigen Ergebnisse liefern. Neben richtig-positiven Ergebnissen produziert jeder Test falsch-positive Ergebnisse29

Es lohnt sich deshalb, mehr über Blutwerte und ihre Aussagekraft zu erfahren – insbesondere im Hinblick auf die Stoffe, die in diesem Buch behandelt werden: TSH, Jod, Kalzium/PTH, Eisen, Ferritin, Vitamin B12, Vitamin B1

KAPITEL 1

NEUES ZU B12, TSH/SCHILDDRÜSE, VITAMIN D, FERRITIN + EISEN, GLUKOSE, PARATHORMON (PTH), MAGNESIUM, KALIUM, ALT (LEBER)

Obwohl sich in den letzten drei Jahren in Bezug auf die Blut-Referenzbereiche kaum etwas geändert hat, besteht trotzdem Hoffnung, denn es ist nun selbst einigen eher konservativen medizinischen Institutionen klar geworden, dass diese in der modernen Medizin ein Problem darstellen.

Im Februar 2019 richteten führende Labormediziner der AACC (American Association for Clinical Chemistry) und der CDC (Center for Disease Control) – zwei hoch angesehene medizinische Institutionen – einen öffentlichen Appell an den US-Kongress, Studien zu finanzieren, um bessere Blut-Referenzbereiche für Kinder festzulegen, da diese Bereichsangaben »fehlerhaft sind und große Informationsdefizite aufweisen«.30

Wie aber steht es mit den Referenzbereichen für Erwachsene? Bei vielen Parametern wird weiterhin an gewissen Normalbereichen bzw. Grenzwerten festgehalten, obwohl ihre Zuverlässigkeit bis dato wissenschaftlich angezweifelt wird. So erschienen beispielsweise die ersten Studien über die Unzulänglichkeiten der Blutanalyse (Serum) bei Magnesium bereits 1989.31 Trotz weiterer wissenschaftlicher Bestätigungen sowie Kritiken und Sorgen in Bezug auf diesen Parameter hat sich in den letzten 30 Jahren kaum etwas getan!32 Schon 1985 hatten Wissenschaftler der Johns Hopkins Medical Institutions eine neue Messmethode für Magnesium gefunden, deren Werte mit dem tatsächlich im Gewebe vorhandenen Magnesium korrelierten.33 Aus irgendeinem Grund konnte sich diese genauere Messmethode jedoch nicht durchsetzen, und es ist bis heute alles beim Alten geblieben.

NEUES ZU B12

Wie sehr diese sture konservative Haltung zum Schaden der Patienten gereicht, zeigt eine Geschichte, die im Spiegel veröffentlicht wurde. Sie gehört gelesen, belegt sie doch auf erstaunliche Art, was ein gravierender B12-Mangel verursachen kann:

»Die Demenz kommt langsam. Erst bemerken die Verwandten der 56-jährigen Frau aus Kap Verde, einem Inselstaat vor der Nordwestküste Afrikas, nur leichte Veränderungen in ihrem Verhalten. Doch irgendwann räumt sie nicht mehr auf, kocht nicht mehr und spricht mit Menschen, die gar nicht da sind. Als sie eines Tages nackt und orientierungslos durch die Nachbarschaft irrt, entscheidet ihre Schwester, sie zu sich nach Portugal zu holen.

Nur wenige Monate später wird die Frau plötzlich bewusstlos und bekommt epileptische Anfälle; ihre Schwester bringt sie in die Notaufnahme eines Krankenhauses. Bei der Ankunft ist die Frau wieder wach, die Ärzte entdecken keine neurologischen Auffälligkeiten. Ein Blutbild bleibt ohne Ergebnis, auch ein CT des Gehirns zeigt keine Anomalien. Seit den ersten Beschwerden sind mittlerweile fünf Jahre vergangen.

Die Mediziner verschreiben der inzwischen 61-Jährigen ein Mittel gegen Krampfanfälle und schicken sie für weitere Tests zu einem niedergelassenen Neurologen. Dort zeigt ein EEG, dass das Gehirn der Frau verlangsamt arbeitet. Müdigkeit kann diesen Zustand für kurze Zeit hervorrufen. Zu den langfristigen Ursachen der Symptome zählen Alterungsprozesse oder – wie im Fall der Frau – eine Demenz. Hinweise auf eine Epilepsie liefern die Hirnströme nicht. Trotzdem erleidet die Frau einen weiteren Krampfanfall. Nimmt sie die verschriebenen Medikamente? Als ihre Familie die Einnahme der Mittel kontrolliert, verschwinden die Anfälle. Die Halluzinationen aber bleiben. Die Frau erzählt ihrer Schwester, dass sie mit den Geistern verstorbener Verwandter kommuniziere und die Personen klar vor sich sähe. Die Geister rieten ihr davon ab, ihre Medikamente zu nehmen.

Im weiteren Verlauf der Krankheit entwickelt die 61-Jährige Verfolgungswahn und weitere Wahnvorstellungen. Sie hat Angst, dass ihre Familie sie vergiften will, verweigert gemeinsame Mahlzeiten. Gleichzeitig ist sie zunehmend auf die Hilfe ihrer Verwandten angewiesen. Die Frau kann das Haus nicht mehr allein verlassen, da sie nicht mehr zurückfinden würde. Die Familie sucht psychiatrische Hilfe, wie Ärzte um Bruno Silva von der Nova Medical School in Lissabon im Fachmagazin BMJ Case Reports berichten.

Da die Patientin kein Portugiesisch spricht, sind die Mediziner auf die Übersetzungshilfe der Verwandten angewiesen. Die 61-Jährige weiß weder, wo sie ist, noch, wie spät es ist. Sie spricht undeutlich, selbst ihre Schwester kann manche Aussagen nicht verstehen. Aus ihrem Verhalten lässt sich ablesen, dass sie Dinge sieht und hört, die nichts mit der Realität zu tun haben.

Die Mediziner diagnostizieren eine fortschreitende Demenz, verbunden mit einer entweder daraus resultierenden oder unabhängig auftretenden Epilepsie. Auch die Wahnvorstellungen können unabhängig von Demenz und Epilepsie oder als Folge der beiden Krankheiten aufgetreten sein.

Erst als sie das Blut der Frau erneut ins Labor schicken, stoßen die Mediziner auf eine mögliche Erklärung für die Beschwerden. Dem Körper der Frau mangelt es an Vitamin B12. Hochgerechnet auf einen Liter schwimmen in ihrem Blut weniger als 117 pmol des Stoffes – ab einem Wert von 150 pmol liegt ein Mangel vor.

Andere Erklärungen für eine gut behandelbare Demenz, etwa Infektionskrankheiten, hormonelle Beschwerden oder einen weiteren Vitaminmangel, können die Mediziner ausschließen. […]

Der Frau mangelt es wahrscheinlich schon seit Jahren an Vitamin B12. Die Nerven benötigen den Stoff, um Signale weiterzuleiten. Fehlt er, kann es neben Verwirrtheit, Gedächtnisproblemen oder Psychosen auch zu Lähmungen kommen. […]

Die Beschwerden verschwinden erst, als die Mediziner zusätzlich die Ergebnisse der Blutuntersuchungen kennen und der Patientin Vitamin B12 verabreichen.

Die 61-Jährige verwandelt sich zurück in den Menschen, den ihre Verwandten aus der Zeit vor der Erkrankung kannten. Sie kocht, hilft im Haushalt, geht einkaufen, kann sich orientieren und argumentiert schlüssig.«34

Trotzdem kehrten die Beschwerden nach einer gewissen Zeit zurück weil, so vermuten die Ärzte, die richtige Diagnose viel zu spät, d.h. fünf Jahre nach dem ersten Auftreten der Symptome, gestellt wurde und der B12-Mangel bereits neuronale Schäden verursacht hatte. Die Patientin bekommt weiterhin B12-Spritzen sowie Neuroleptika und ist wohlauf.

Der portugiesische Arzt, der den Bericht als Case Report im BMJ (vormals British Medical Journal) publizieren ließ, betont, dass es zu dieser verspäteten Diagnose trotz früher Einschaltung mehrerer Ärzte kam. Ein fein formuliertes J’accuse an die Kollegen, die diese Frau behandelt haben.35

Dies zeigt anschaulich, wie wichtig neue Grenzwerte für B12 sind, denn wären diese Werte anhand der neurologischen und nicht der perniziösen Anämie festgelegt worden, würden solche Fälle gar nicht erst passieren: Durch eine einfache Blutentnahme könnte man sofort erkennen, dass der Grund für die »Gehirnentgleisung« womöglich ein B12-Mangel ist. Dies wäre natürlich nur dann gegeben, wenn Ärzte schon beim leisesten Verdacht auf eine neurologische Störung sofort B12 (oder besser Holotranscobalamin oder Methylmalonsäure) kontrollieren lassen würden (siehe Kapitel »Vitamin B12 – Depression, Demenz und falsche Normbereiche«).

Wie unnütz die ganze moderne Apparate-Medizin in solch eigentlich simplen Fällen ist, lässt sich vielen ähnlichen in der Wissenschaftsliteratur beschriebenen Patientengeschichten entnehmen. Subtile neuronale Schäden sind leider nun einmal im CT oder im MRT nicht erkennbar – trotzdem werden diese Geräte immer sofort eingesetzt. Und trotzdem hat es in dem obigen Fall über fünf Jahre gebraucht, um zu einer richtigen Diagnose zu gelangen. Eine Diagnose, auf die man sehr viel früher hätte kommen können – würden Ärzte sich wieder an die Basiselemente der Physiologie erinnern, nicht nur die Apparate-Medizin im Kopf haben und nicht davon ausgehen, dass jeder von uns durch seine Ernährung heutzutage genügend Vitamine im Körper hat. Eine fatale Vorstellung!

Auch im nächsten Fall geht es um neurologische Erkrankungen aufgrund von B12-Mangel. Ein 50-jähriger Anwalt, begeisterter Tennisspieler, ist plötzlich kraftlos, und sein Gedächtnis lässt nach. Im Krankenhaus werden außer den neurologischen Ausfallerscheinungen noch Muskelschwund, Herzmuskelvergrößerung und eine moderate Gelbsucht festgestellt. Da der gute Mann sich hauptsächlich vegan ernährt, wird B12 gemessen und sofort die Diagnose erstellt: akuter B12-Mangel. Die sofortige Therapie mit B12 reicht aus, um eine ganze Reihe von Symptomen innerhalb kürzester Zeit verschwinden zu lassen.36

Diese Fälle sowie die neuesten Studien bestätigen, was in diesem Buch ausführlich erörtert wird: Um auf der sicheren Seite zu sein, sollte der untere Grenzwert des Referenzbereichs für B12 unbedingt und schleunigst auf mindestens 400 pg/ml (von Labors oft auch als »400 ng/l« angegeben) angehoben werden.

Nach einer chinesischen Untersuchung (2018) ist der untere Grenzwert des Referenzbereichs für B12 nicht wie bei uns bei ca. 200 pg/ml anzusiedeln, sondern mindestens bei 350 pg/ml – insbesondere, wenn man die gravierenden neurologischen Krankheitsbilder erfassen möchte, wie sie aufgrund eines B12-Mangels bei älteren Menschen entstehen.37

Die gleiche Auffassung vertrat ein Jahr zuvor ein Team der Tel Aviv University nach der Feststellung, dass bei älteren Menschen der kognitive Verfall eben dann beginnt, wenn 350 pg/ml von B12 unterschritten wird.37A

Wir sprechen hier aber von einer unteren Mindestgrenze, bei der sich bereits neurologische Ausfallerscheinungen zeigen. Um auf der sicheren Seite zu bleiben, müsste jedoch der untere Grenzwert zwischen 450 pg/ml und 550 pg/ml liegen – wie im Kapitel über B12 anhand von Studien dargelegt.

An dieser Stelle sollte man eine Lanze brechen für die chinesische Art, mit westlicher Medizin umzugehen: Chinesische Wissenschaftler achten in vielen ihrer Studien (und zwar nicht nur B12 betreffend) auf eine konkrete Absicherung der Grenzwerte. Um zu einer wirklich eindeutigen Diagnose zu gelangen, legen sie den Ärzten nahe, ihre Patienten nicht nur auf die Blutwerte, sondern zusätzlich auf ein weiteres spezifisches Symptom zu untersuchen. Bei einem Verdacht auf einen B12-Mangel wäre somit ein Wert unter 350 pg/ml im Serum zwar schon aussagekräftig, aber ein chinesischer Arzt wird sich zusätzlich z. B. die Zunge des Patienten anschauen (wie übrigens vor Jahrzehnten auch in der westlichen Medizin noch üblich) und darauf achten, ob diese gerötet und glatt ist. Damit ist die Diagnose »Vitamin-B12-Mangel« bei den Chinesen einmal mehr gesichert.

Dies zeigt uns auch, dass man im asiatischen Raum der Aussagekraft von Blutbefunden nicht so hundertprozentig vertraut, wie dies in unserer alltäglichen Praxis der Fall ist.

Die westliche Vorgehensweise, nämlich im Hinblick auf eine Diagnose hauptsächlich auf die Blutergebnisse zu schauen (aus Zeitmangel oder auch aus juristischen Gründen – Stichwort: defensive Medizin) wird bereits seit Längerem von einigen Medizinern unseres Systems bedauert bzw. scharf kritisiert, wie im Folgenden weiter dargelegt.

NEUES ZU TSH/SCHILDDRÜSE UND HERZ-KREISLAUF-ERKRANKUNGEN

Britische und deutsche Wissenschaftler (u.a. von der Ruhr-Universität Bochum) haben 2019 erneut darauf verwiesen, dass bei Schilddrüsenerkrankungen der Laborwert TSH, wie von den Leitlinien und Protokollen propagiert und den Ärzten nahegebracht, nicht der nützlichste Marker ist, um eine Diagnose zu stellen. Sie betonen couragiert: »Es scheint, dass wir derzeit einen folgenreichen historischen Wandel in der Behandlung von Schilddrüsenerkrankungen erleben, die von einem blinden Vertrauen auf den einzigen Laborparameter TSH getrieben wird. Es sollte überprüft werden, ob der Fokus weiterhin auf der Biochemie liegen soll anstatt auf der Linderung der Patientensymptome. Eine gemeinsame Erwägung verbunden mit einem persönlicher angelegten Konzept ist erforderlich, um auf den jüngsten Anstieg von Patientenbeschwerden einzugehen.«38

Davor hatten die gleichen Wissenschaftler schon Folgendes dargelegt:

»Zusammenfassend betrachtet kann das von der Hypophyse ausgeschüttete TSH nicht einfach als ein sensibler Spiegel der Schilddrüsenfunktion interpretiert werden, da die negative TSH-fT4-Korre- lation durch die üblichen Bedingungen oft gestört ist und sogar eine Umkehrung erfahren kann. Die wechselseitigen Wirkungen zwischen TSH und den Schilddrüsenhormonen und die ineinandergreifenden Elemente des Steuerungssystems sind individuell, dynamisch und anpassungsfähig. Dies verlangt einen Paradigmenwechsel, was die diagnostische Nutzung von TSH betrifft.«39

Kurz gesagt bedeutet dies alles nur eins: TSH ist als Blutparameter nicht besonders gut geeignet, um Schilddrüsenerkrankungen festzustellen. Trotzdem wurde bei den meisten von uns TSH zumindest schon einmal getestet, denn ungeachtet der Zweifel an seiner hundertprozentigen Validität ist dieses Hormon doch ein für unsere Gesundheit wichtiger Marker.

Das größte Problem aber bleibt der obere Grenzwert (momentan bei 4,00 mIU/L oder höher). Angesichts des hohen Prozentsatzes an subklinischen Schilddrüsenerkrankungen unter der sogenannten gesunden Bevölkerung, deren Blutwerte im Normalbereich liegen, haben italienische Wissenschaftler der Universität Palermo und des Zentrums für Klinische Chemie in Novara erneut auf die Schwierigkeit der Festlegung von »Normalwerten« für TSH hingewiesen. Was sie damit sagen wollen: Man geht davon aus, dass der obere TSH-Grenzwert anhand schilddrüsengesunder Menschen festgelegt wurde. In Wirklichkeit waren unter diesen Untersuchten aber wahrscheinlich auch Schilddrüsenkranke – die man aber als solche nicht erkennt, weil ihre Blutbefunde unauffällig sind.40

Dass auch Studien in Deutschland (2017) einen ganz anderen oberen TSH-Grenzwert als den offiziellen nahelegen, wird im Buch dargelegt. Diese Studien wurden erneut bestätigt:41

Der obere Grenzwert von TSH in Deutschland sollte zwischen 2,12 und 3,6 mIU/L liegen, am besten bei 3 oder 2,5 mIU/L – dem Wert, den unsere Mediziner bei gesunden jungen Frauen anpeilen, die ihren Kinderwunsch erfüllen wollen (siehe Kapitel »TSH – nicht erfasste Schilddrüsenkranke«).

Nun könnte man einwenden – wie das selbst viele Ärzte momentan tun –, dass solche Anpassungen der Grenzwerte quasi über Nacht mehr Menschen zu Kranken stempeln würden. Nach der Cholesterin-Lüge sind Bedenken mehr als verständlich (siehe Kapitel »Cholesterin – kriminelle Machenschaften«). Allerdings trifft dies hier nur scheinbar zu, und es kann nicht oft genug wiederholt werden: De facto würden gerade bei den Schilddrüsenproblemen wahrscheinlich mehr Menschen frühzeitiger behandelt werden, wodurch sich gravierendere Folgeerkrankungen wie z.B. Diabetes Typ 2, erhöhte Blutfette, Herz-Kreislauf-Probleme und ggf. auch Depressionen hinauszögern oder ganz vermeiden ließen (und zwar nicht nur medikamentös, sondern durch einfache Gabe von Selen und Myo-Inositol – siehe unten).

Bekanntermaßen besteht ein Zusammenhang zwischen TSH im oberen Normalbereich und Erkrankungen wie etwa Diabetes Typ 242, erhöhten Blutfetten43, hohem Blutdruck, metabolischem Syndrom und erhöhter Gerinnungsneigung.44

Offiziell besteht eine subklinische Unterfunktion der Schilddrüse, wenn der TSH-Wert über 4 mIU/L und fT4 im Normalbereich liegt. Die frühzeitige Behandlung einer latenten Unterfunktion der Schilddrüse bei einem veränderten oberen Grenzwert könnte vielen von uns die Entstehung eines Diabetes Typ 2 oder einer Herz-Kreislauf-Erkrankung ersparen.

Welche Konsequenzen hätte dies für die Pharmaindustrie? Nun, es würden wohl weniger Statine (die berühmt-berüchtigten blutfettsenkenden Medikamente) sowie weniger Arzneimittel gegen hohen Blutdruck etc. verkauft, was zu finanziellen Einbußen der Pharmariesen führen könnte. Und wer wollte dieser global agierenden Branche und ihren Aktionären Schaden zufügen …

Zum besseren Verständnis sei hier nochmals kurz auf Folgendes eingegangen: Das Hormon TSH, das die Schilddrüse zur Hormonproduktion anregt, steigt umso mehr, je mehr die von dieser Drüse produzierten Hormone T4 und T3 absinken. Umgekehrt gilt: Der TSH-Wert sinkt umso mehr, je mehr die Hormonproduktion der Schilddrüse steigt. Es besteht also eine inverse Korrelation, auch »negatives Feedback« genannt.

Laut Studien haben Patienten, bei denen das Schilddrüsenhormon fT4 hoch, aber noch im Normalbereich liegt und deren TSH sich im unteren Normalbereich befindet, üblicherweise niedrigere Triglycerid- und LDL-Cholesterin-Werte. Zudem wurde festgestellt, dass bei diesen Menschen ein erheblich geringeres Risiko besteht, an Diabetes Typ 2 zu erkranken als bei Menschen, deren Schilddrüsenhormone sich im unteren Normalbereich bewegen.45 (Was nur logisch ist, denn je mehr Schilddrüsenhormone im Körper kreisen, desto stärker wird der Stoffwechsel angekurbelt und desto mehr Zucker und Fette werden verbrannt). Höchstwahrscheinlich bräuchten wir überhaupt keine Statine oder Medikamente gegen Diabetes Typ 2, wenn nur die Schilddrüsenfunktion aufgrund neuer Referenzbereiche richtig geregelt und unterstützt würde!

Mehrere Studien, darunter auch eine der Erasmus Universität in Rotterdam, bestätigen, dass Menschen mit einer subklinischen Schilddrüsenunterfunktion einem erheblich höheren Risiko unterliegen. an Diabetes Typ 2 zu erkranken.46

Angesichts dieser wissenschaftlichen Fakten läge es eigentlich auf der Hand, den Zuckerabbau im Körper mittels Schilddrüsenhormonen zu verbessern. Bislang wurde dies lediglich bei Tieren versucht; hier sind die Resultate vielversprechend.47