Sturmgeworden (Burning Magic 3)

 

Mela Nagel


Sturmgeworden

(Burning Magic 3)

Roman

Digitale Originalausgabe



 

Impressum


Ein Imprint der Arena Verlag GmbH, Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Digitale Originalausgabe
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2020

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Covergestaltung: Arena Verlag GmbH 2020, unter Verwendung von Fotos von © stock.adobe.com, Dublin: Andrey Popov, Athipat, vladmark, Giuliano Del Moretto
Alle Rechte vorbehalten
E-Book Herstellung: Arena Verlag 2020

E-Book Auslieferung: readbox publishing, Dortmund

ISBN: 978-3-401-84066-6


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Kapitel 1

 

Freiheit an der langen Leine

 

Robin starrte zu den griechischen Säulen am oberen Ende der steilen Marmortreppe zum Mansion House hinauf. Die riesigen Weihnachtsbäume dort oben wirkten verboten fehl am Platz.

Wie ich.

Inmitten der City of London stand das Mansion House, ein tempelartiger Bau, von dem aus der Bürgermeister London regierte. Ringsum die hohen Häuser der Finanzwelt, in denen kaum Lichter brannten. Auf dem leeren Platz davor parkten nur die Wagen von Q. In Robin tobte eine Mischung aus Wut und Enttäuschung, die mit jedem Atemzug in eine andere Richtung schlug. Vor noch einer halben Stunde war alles perfekt gewesen. Doch dann war sie auf den verfickten Boden der Tatsachen geknallt: Sie war anders und würde es ihr Leben lang bleiben. Eine Magiegeborene, die einzige ihrer Art. Während die Magier von Q, wie Phil oder Mayhem, ihre Magie von den Nachtvollen erhalten hatten, so war sie mit Magie in ihren Adern zur Welt gekommen.

Der Freak unter den Freaks. So anders, dass Phil mit ihr nichts zu tun haben wollte.

Du wirst ihn nie wieder küssen.

Dieser Gedanke wand sich so heiß zwischen Magen und Herz, als wäre er ein Feuer. Dabei reichte Robin das Feuer, das sie immer mit sich trug: ihre Magie. Ihr Blick wanderte automatisch zu Phil, der als Letzter aus dem Van sprang, der sie zusammen mit Mayhem, Kerra und Slado zum Mansion House gebracht hatte. Für den schrecklichen Teil einer Sekunde, in dem sich Robins Innerstes noch mehr verknotete, als es eigentlich möglich sein sollte, trafen sich ihre Blicke. Doch Phil sah sofort weg und schlug den Weg zu B ein, der Chefin von Q, die eben aus einem anderen Wagen stieg.

Nie wieder wird er dich so ansehen, als wärst du ein ganz normales Mädchen. Schlagartig drängten sich wieder die Tränen in ihre Augen, die sie schon die ganze Fahrt über immer wieder hinuntergeschluckt hatte. Lange würde das nicht mehr funktionieren. Alles was Robin wollte, war, sich in einer Ecke zusammenzurollen und zu weinen und sich den Schmerz aus der Seele zu brüllen.

Doch stattdessen stehe ich inmitten von London. Mit einer Horde Magier, die Angst vor mir hat.

Robin konnte es ihnen nicht verübeln: Sie war so explosiv wie mehrere Tonnen TNT. Solange sie nicht lernte ihre Quelle zu schließen, war sie an Q gebunden. Ein Pulverfass, das bei einer Explosion die magische und nicht-magische Welt Londons auslöschen würde. Als einziger Schlüssel zum Entschärfen blieb Phil, egal was Robin davon hielt. Wieso musste ausgerechnet er derjenige sein, der ihre Quelle schließen konnte? Und warum hatte sie es zugelassen, sich in ihn zu verlieben?

»Kommst du?«, fragte Mayhem über ihre Schulter hinweg und riss Robin aus ihren Gedanken. Mayhem. Das wohl exotischste Gewächs bei Q. Robin war sich immer noch nicht ganz sicher, ob Mayhem einen an der Klatsche hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie Robin mit ihren magischen Feuerbällen durch eine Bibliothek gejagt. Trotzdem mochte Robin sie, denn Mayhem war eine der wenigen, die sie normal behandelten.

Doch Robins Füße bewegten sich nicht. Sie brauchte eine Auszeit. Jetzt! »Seit wann muss ich die Drecksarbeit für die Nachtvollen erledigen? Das ist euer Ding, mich geht das nichts an.« Sie sah sich um. »Warum ist keiner von ihnen hier?«

»Weil wir uns um die Dinge kümmern, die praktische Magie erfordern. Die Nachtvollen sind Wesen aus purer Magie, die können alles Mögliche, aber sie können keine Kampfmagie wirken. Deshalb gibt es uns. Wir kümmern uns ums Grobe. Also beweg deinen Arsch«, entgegnete Mayhem. »Da drinnen hat Thomas Magie gewirkt, die Nachtvollen haben es gespürt. Rumtrödeln ist jetzt uncool.«

Ja, Mayhem war definitiv eine Frau fürs Grobe. Robin hatte das nur zu gut am eigenen Leib erfahren. Und ja, sie verstand, warum sie es eilig hatten. Thomas‹ Lebenszeichen war das erste seit Wochen. Von den anderen drei vermissten Magiern fehlte jede Spur. Doch Q sollte sich darum kümmern. »Wir bedeutet ihr, nicht ich.«

Mayhem zögerte. »Was ist denn los? Komm schon.«

»Ich muss frische Luft schnappen. Ich fühle mich nicht so gut.« Das war nicht mal gelogen. Sie konnte nicht mit ihnen nach drinnen gehen. Robin war der Enge des Wagens und somit Phils Nähe endlich entkommen, sie wollte nicht mit ihm dort hoch und dabeistehen wenn sie nach Thomas suchten. Sie wollte von Q, der Magie und den Nachtvollen nichts mehr wissen. Vorbei war der Traum, dass Robin irgendwann irgendwo dazugehören könnte. »Ich bleibe hier.«

»Aber es ist scheißkalt.« Mayhem warf Phil einen schnellen Blick zu. Sofort setzte er sich in Bewegung und kam zu ihnen herüber.

Nein, bitte nicht! Robins Blick fixierte die Schrift auf den Vans. Conrad Smith Catering las sie auf der Seite eines Vans und verzog das Gesicht, weil ihr diese Aufschrift nur allzu bekannt vorkam. In genau so einem Van war sie zu Q gekommen. Als Phil und die anderen sie noch verdächtigt hatten, etwas mit den verschwundenen Magiern zu tun zu haben. Aber: Fehlanzeige. Umsonst waren sie ihr wochenlang hinterhergejagt. Thomas‹ Lebenszeichen heute Nacht war die erste heiße Spur seitdem Robin als Verdächtige ausgeschieden war.

»Du frierst dir doch die Hacken ab«, beharrte Mayhem.

»Mir egal.« Ja, es war bitterkalt, aber Robin liebte die Kälte. Nur dieses Mal brauchte sie sie nicht, um Ordnung in ihren Gedanken zu schaffen, nein, sie breitete sich in Robins Herz aus und schrie dabei: DU HAST DICH IN PHIL GEIRRT!

Robin zwang sich Phil, der vor ihr stehengeblieben war, nicht zu beachten. »Ich verspreche, nicht aufzufallen.« Von den wenigen Passanten, die vorbeikamen, sah kein einziger ein zweites Mal zu ihnen. Keinen interessierten die Wagen oder die vielen Menschen, die die Stufen zum Eingang hochgingen und an den Ecken des Gebäudes platziert waren. Dass hier eine komplette Riege des magischen Londons herumspazierte, hätte sicher niemand erraten.

Kerra hatte die Nachricht von Thomas‹ Auftauchen mitten in Robins Streit mit Phil gebracht. Den Streit nach dem Kuss. Den Küssen. Robins Herz zog sich zusammen, bei dem Gedanken an Phils Lippen auf ihren. Schnell verdrängte sie den Gedanken. Das oder sie würde ausrasten. Wieder, wie auch schon so oft auf der Fahrt hierher, baute sich dieser verräterische Druck in ihrer Brust auf. Nur ein kleiner Schubs und sie würde in sich zusammenfallen, wie eine Hüpfburg, die man mit einer Ladung Schrot durchsiebte. Es war nur eine Frage der Zeit. Robin musste runterkommen, aber wie, wenn der Grund für ihr Gefühlschaos kaum einen Meter von ihr entfernt stand und sie mit diesem abschätzigen Blick musterte? Sie wollte ihn anschreien, dass er sie doch nicht wie eine Aussätzige behandeln konnte! Er musste einfach noch einmal nachdenken! Es kann doch nicht sein, dass er mich nicht nochmal küssen will! Ich kann an nichts anderes denken!

Aber seine Miene war kalt und hart. So kalt, dass Robin erschauderte. Wie hatte sie sich nur derart in ihm irren können? Auf der anderen Seite hatte sie nicht sonderlich viel Erfahrung mit zwischenmenschlichen Dingen. Freunde hatte sie noch nie gehabt, dafür hatten ihre Eltern gesorgt. Immer hatte sich Robin von ihren Mitschülern fernhalten müssen. Wegen ihrer Magie, die jederzeit Ärger hätte machen können. Die ständige Angst aufzufallen trieb Robin in die Einsamkeit. Es gab nur Rachida, die sie nach ihrer Flucht nach London kennengelernt hatte. Wie gerne würde sie jetzt mit ihr reden! Doch die war außer Reichweite, auf Exkursion, irgendwo im nordenglischen Nirgendwo, ohne Handyempfang! Schön für Rachida, und dank Q war sie in Sicherheit, aber … Fickt! Euch! Doch! Alle!

»Alles okay?«, fragte Phil, seine Stimme so teilnahmslos wie eine Flasche Mineralwasser, aus dem die Kohlensäure raus war.

Er würdigt mich kaum eines Blickes und fragt jetzt allen Ernstes, ob alles okay ist?! »Ich bleibe hier«, wiederholte Robin und sah Phil genauso so kalt an.

»Denk nicht mal im Traum dran.«

Mayhems Augenbrauen wanderten so weit nach oben, dass Robin befürchtete ihr porzellanartiges Gesicht würde jeden Moment zerspringen. »Wow, wo kommt denn die Stimmung her?«

»Falscher Zeitpunkt, Mayhem, falscher Zeitpunkt«, warnte Phil sie.

»Ach ja?« Jetzt verbot er also auch Mayhem das Wort. »Du scheinst die falschen Zeitpunkte ja nur so anzuziehen.«

»Sorry?«, fragte Mayhem verblüfft. »Mayhem an Phil und Robin: Thomas rennt hier irgendwo rum, einer unserer vermissten Magier, die wir seit Monaten suchen!«

Phil nickte Robin zu. »Du hast Mayhem gehört, also beweg dich!«

»Nein, danke«, antwortete Robin. »Ich brauche eine Pause.«

»Pause?«, fragte Mayhem. »Von was?«

»Von Phil! Okay?«, entwich es Robin. Ich ertrage es nicht mehr, in seiner Nähe zu sein, und mich so von ihm ansehen zu lassen!

»Verdammt, Robin, was soll das?«, fragte Phil. »Wir haben keine Zeit für das hier!«

Robin holte tief Luft. »Du bist ein solches Arschloch! Für dich ist alles gesagt, oder? Für mich aber nicht!«

Phil lachte bitter auf. »Das Thema hat hier nichts zu suchen!«

So ein gefühlkalter Idiot! »Wo denn dann? Es ist schon sehr einfach, zu sagen, das hat hier nichts zu suchen.«

Mayhem hob beschwichtigend die Hände. »Jetzt mal ganz ruhig, ihr zwei. Was ist denn los mit euch? So wie ihr euch angiftet, könnte man fast meinen, ihr habt gerade eure nicht-existente Beziehung beendet.« Sie grinste über ihren Witz und sah von Phil zu Robin. Während Phils Gesicht erstarrte, konnte Robin nicht anders, als Mayhems Blick auszuweichen.

»Nein …« Mayhems Augen weiteten sich und jetzt musterte sie die beiden ausgiebig. »Wie lange geht das schon?«

»Es geht gar nichts«, schnitt Phil ihr das Wort ab.

Robin schaffte es nicht, ihr Schnauben zu unterdrücken. Sie wollte zwar ihr Liebesleben nicht vor Mayhem ausbreiten, aber wenn sie den Mund nicht aufmachte, würde sie explodieren. »Ja, weil der Herr das so beschlossen hat.«

»Oh«, Mayhems Blick schoss zu Phil, »verstehe.«

Verstehe? Robin starrte Mayhem an. Was gab es da zu verstehen? Er hatte Robin fast um den Verstand geküsst und dann wie ein löchriges Paar Socken in den Müll geworfen. Wenn sie noch länger darüber nachdachte, konnte sie sogar noch seine Lippen auf ihrem Hals spüren, verdammt! Robin rieb sich über die Stelle. Wenn sie das nur vergessen könnte! »Wie schön, dass ihr euch einig seid«, blaffte sie Phil und Mayhem an. »Informiert mich das nächste Mal vorher, damit ich auch Bescheid weiß. Aber wartet …« Sie nickte Phil zu. Seine Augen waren so dunkel, dass sie sich darin fast verlieren könnte. Fast. »Es gibt ja kein nächstes Mal. Weil ich illuminiere!«

»Jetzt komm mal runter, Robin, du illuminierst nicht«, sagte Mayhem so sanft, dass Robin erstaunt die Augenbrauen hob.

»Phil ist da aber anderer Meinung.« Dass ihre Stimme sich so brüchig anhörte, gefiel ihr gar nicht. Nicht vor ihm, nicht vor dem Kerl, der ihr Herz in einen Haufen Asche verwandelt hatte. Sie räusperte sich. »War das nicht der Grund, warum du -«

»Hier ist nicht der richtige Ort«, warf Phil ein. Er klang so kontrolliert wie immer, das Arschgesicht.

»Ausnahmsweise gebe ich ihm Recht«, Mayhems Hand legte sich auf Robins Arm. »Wir haben zu tun. So unterhaltsam euer Streit auch ist, er muss warten.«

»Warten?«, fragte Robin und endlich klang sie so kalt wie sie sein sollte: elsa-eisköniginstrahlen-kalt. »Das hat sich erledigt.«

Ein Muskel in Phils Gesicht zuckte, aber sein Blick lag weiterhin genauso distanziert auf ihr wie vorher. Gut so. So konnte sie ihn nämlich nicht ausstehen. Sie hätten nie von diesem Wir-mögen-uns-nicht-Ding abweichen sollen.

»Wunderbar«, raunte er.

Robins Herz war doch nicht ganz zu Asche geworden, denn es zog sich schmerzhaft zusammen. Geradeso schaffte sie es, sich nicht zu krümmen. Wieso schnitten Phils einfache Worte so tief? Und wieso war immer noch etwas von ihrem Herzen übrig, das sich nochmal zerteilen ließ? Als wäre ihr Herz eine Zwiebel, deren Schichten jede einzeln zerbrechen mussten, bevor es sich ganz auflöste. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals, der sie hinderte, etwas zu sagen.

Phil fuhr sich durch die Haare, drehte sich um und ließ sie stehen.

»Shit«, murmelte Mayhem. Nichts von der durchgeknallten Mayhem war übrig. Kein Grinsen. Kein Sarkasmus. Kein Ich-röste-dich-nur-zu-gerne-mit-einem-Feuerball. Sie sah Phil nach, dann wandte sie sich Robin zu. »Das klingt wirklich beschissen, ehrlich.« Noch immer konnte Robin nicht antworten. Tat sie es, würde sie weinen und auf gar keinen Fall wollte sie das!

»Ich …« Mayhem zögerte. »Es gibt jetzt leider wichtigere Dinge. Bleib hier. Ruf an, wenn du Probleme mit deiner Quelle bekommst.« Dann ließ auch sie Robin stehen und lief Phil hinterher. Sie holte ihn ein und hielt ihn am Jackenärmel fest, sagte etwas, das Robin nicht verstand. Phil blieb stehen, wischte ihre Hand beiseite und antwortete. Mayhem zuckte zurück. Dann ließ Phil auch sie stehen und ging auf das Mansion House zu.

Robin starrte ihm nach. Soll er doch hingehen wo der Pfeffer wächst! Plötzlich wandte er sich noch einmal zu ihr um und ihre Blicke trafen sich. Robins Herz hüpfte hektisch und sie drehte sich schnell weg von ihm. Das Feuer zog heiß seine Runden in ihrem Bauch. Robin wollte nicht, dass Phil ihre Quelle schließen musste. Sie wollte nicht, dass er sie berührte! Doch das Feuer brannte – je mehr sie sich aufregte desto stärker. Es war nur eine Frage der Zeit bis Phil ihr wieder helfen musste.

Robin lehnte sich an den geparkten Van, schloss die Augen und rauschte in ihre Quelle. Jedes Mal war sie wieder überrascht, wenn sie in Quellen-Lemington neben ihrer Bank am Ufer des Flusses stand, in dessen Mitte ihre Quelle lag. Es sah haargenau so aus wie im echten Lemington, in dem sie aufgewachsen war. Wie immer, wenn sie Quellen-Lemington betrat, beruhigten sich ihre Gefühle und Gedanken. Auch jetzt. Aus dem Spalt inmitten des dunklen Flusses, der rotglühend und halb geschlossen vor ihr lag, drang Magie in ihren Körper. Dünne, feuerfarbene, kaum wahrnehmbare Nebelschwaden hingen dort in der Luft. Robin rief sie, so gut es ging, in die Quelle zurück. Wenn ich das Feuer nicht benutze, dauert es noch eine ganze Weile bis das Arschloch eingreifen muss.

Jemand rempelte Robin an und sie kehrte zurück in die Realität vor das Mansion House. Sie blickte direkt in das erschrockene Gesicht eines fremden Q-Magiers. Er stammelte eine Entschuldigung, bevor er das Weite suchte. Die meisten bei Q ergriffen die Flucht, sobald Robin in ihre Nähe kam. Jeder wusste wer sie war, und noch wichtiger, was sie war: Eine tickende Bombe, die alles und jeden auslöschen konnte. Sicher war es allein der Dunkelheit auf dem Parkplatz zuzuschreiben, dass der Magier sie erst nicht erkannt hatte. Robin zog die Kapuze ihres Mantels über ihren Kopf. Sie wollte nicht noch mehr dumme Blicke kassieren.

Sie sah zum Eingang des Mansion House. Keine Spur mehr von Phil und Mayhem. Erleichtert atmete Robin auf und beobachtete einen Magier, wie er einen Koffer aus einem der Vans holte und ebenfalls die Treppen hocheilte. Es sah aus wie die typischen Koffer der Spurensicherung in einem Krimi. Ob Q ganz konventionell an so eine Situation heranging? Robin schüttelte den Kopf. Es war egal. Sie wollte sich nicht dafür interessieren. Was immer die anderen da drin machten, es würde eine ganze Weile dauern.

Gut. Sie brauchte Ruhe und eine Ecke, in der sie niemand finden konnte. Dort würde sie keiner beobachten, wenn die Tränen kamen. Dort könnte sie für einen Augenblick durchatmen.

Sie setzte sich in Bewegung. Ihr Körper fühlte sich so fremd an, als gehorchte er gegen seinen Willen. Robin blickte über ihre Schulter, aber niemand beachtete sie. Ungesehen tauchte sie zwischen den Vans hindurch, und hinein in die nächtlichen Schatten Londons.

Kapitel 2

 

Von vorne …

 

Nur zehn Minuten hatte Robin gebraucht, um auf den breiten Uferstreifen der Themse direkt neben der Southwark Bridge zu gelangen. Der Druck auf ihrer Brust verringerte sich augenblicklich, als sie auf das dunkle, schmale Band des Flusses hinausblickte. Die Lichter der Brücke und der Weihnachtsdekorationen am anderen Flussufer tanzten auf den Wellen, während die Themse schnell in Richtung Meer dahinschoss – die Ebbe verstärkte die ohnehin starke Strömung des Flusses noch. Robin sog die Luft in ihre Lungen: Eine Mischung aus Algen, Brackwasser und Stadt.

Das riecht wie …

Überrascht blinzelte sie und eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus. Nicht wegen der Kälte, die in ihre Glieder kroch, sondern weil das alles fast genauso roch wie ihr Scent, der Duft, den ihre Magie ausmachte. Die Essenz von London, so hatte Phil ihn beschrieben. Phil. Er will dich nicht. Weil du bist, wie du bist. Eine … nein, die Magiegeborene.

Wie sollte sie ihm je wieder ins Gesicht sehen, ohne ihm die Augen auszukratzen? Sie konnte doch nichts dafür, dass sie war wie sie war. Sie ging ein paar Schritte bis zur Ufermauer, an die die Themse bei Flut klatschte. Kies und Sand knirschten unter ihren Schuhen. Alles fühlte sich so falsch an, so irreal. Als bewegte sie sich in einem Traum. Sie lehnte sich gegen die Betonwand.

Das ist kein Traum. Auch wenn du es dir wünscht.

Eine Weile lauschte Robin einfach nur dem Gurgeln des Wassers, das aus einem mannhohen Abflussrohr rechts von ihr sprudelte. Über den schmalen Uferstreifen bahnte es sich seinen Weg in die Themse. Wahrscheinlich war das einer der vielen unterirdischen Flüsse Londons, die früher an der Oberfläche geflossen waren, bis die Stadt sie unter die Erde verbannt hatte. Rachida hatte ihr fasziniert davon erzählt. Ob der magische Fluss auch irgendwo in die Themse sprudelte? Ob er auch so dunkel aussah, oder die Farben der Magie trug? Konnte man in ihm ertrinken? Rachida wüsste es sicher. Wieso dazu ins Wasser gehen, wenn ich gerade schon dabei bin?

Während Rachida bei Q ein zuhause gefunden hatte, war Robin dort fehl am Platz. Das hier war die einzige Freiheit, die ihr geblieben war. An einer Zehn-Minuten-Entfernungsleine, immer an Phil gekettet. Sofort schossen ihre Gedanken zu dem Augenblick, als Phil sie auf sein Bett gedrückt hatte. Sie dachte daran, wie sich seine Lippen auf ihrer Haut angefühlt hatten, sein Gewicht auf ihr. Sie wollte das sofort wieder fühlen und gleichzeitig wollte sie nie wieder daran denken und die Erinnerung, die ihren ganzen Körper zum Kribbeln brachte, auslöschen. Warum gab es im Leben nur keine Entfernen-Taste?

Die Tränen kamen von ganz allein. Das erste Mal, seitdem sie aus Phils Zimmer gestürmt war, kämpfte Robin nicht dagegen an. Heiß flossen sie über ihre Wangen und traten ein Chaos los, das sich sowohl in Robins Herzen als auch in ihrem Verstand breitmachte. Ihr ganzes Leben tanzte in Bildern herum und verband sich zu einem einzigen Strudel aus Gefühlen, der sie unablässig nach unten zog. Für Bruchteile wirbelte er sie wieder nach oben, nur um sie noch tiefer und mit mehr Umdrehungen in die luftleere Tiefe zu ziehen. Jedes Fleckchen in ihrem Kopf, in ihrem Körper, in ihrem Herzen brannte. Die Magie wand sich dazwischen, als freute sie sich darüber. Als warte sie nur auf diese Gelegenheit, Robin zu zeigen, wie schwach sie doch war.

Robin vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Sich in Luft auflösen, das wollte sie, jetzt und für immer!

Das Schlimmste war, dass sie Phil vertraut hatte. Er war in ihrem Leben platziert worden, wie eine Nanny. Weil nur er ihr beibringen konnte, wie sie ihre Quelle schloss. Magie strömte aus dem magischen Fluss in sie hinein, wie die Themse auf ewig ins Meer fließen würde. Schaffte sie es nicht, das Schleusentor - ihre Quelle - zu schließen, war es das. Für sie selbst, für all die ahnungslosen Menschen in London, für die Nachtvollen und für alle Magier, die mit der Magie Londons verbunden waren. Als Massenmörderin würde sie in die Geschichte eingehen. Wenn noch jemand übrig bleibt, um die Geschichte zu erzählen …

Es war ein Fehler gewesen, sich in Phil zu verlieben. Es machte alles nur komplizierter. Nie hätte sie ihn so nah an sich heranlassen dürfen! Aber sie mochte ihn. Sehr. So sehr, dass sie die Regel ihres Lebens über Bord geworfen hatte: vertraue niemandem. Sie würde sich die Worte ihrer Mutter auf die Finger tätowieren lassen, damit sie sie nie wieder vergaß! Ein Schluchzen drang aus ihrem Mund. Sie packte einen der vielen Kieselsteine und schleuderte ihn hinaus aufs Wasser. »Verdammte Scheiße! Du beschissener Idiot!« Ob sie sich oder Phil meinte, wusste sie nicht. Im Grunde war es egal, sie stand allein und würde es bleiben.

Die letzte Zeit mit ihm und mit Slado, Mayhem und Kerra bei Q kam ihr wie eine Fata Morgana vor, wie die Reflektion der Lichter Londons auf dem Wasser: Irgendwie waren sie da, aber eigentlich waren sie nur eine dreckige Illusion. Vertraute man ihr, fiel man in die Tiefen, wurde mitgerissen und ertrank. Einen sicheren Ort gibt es für mich nicht.

Durch Phil hatte sie das erste Mal in ihrem Leben verstanden, was es bedeutete, sich sicher zu fühlen. Er kannte ihre schlimmsten Geheimnisse, und trotzdem hatte er sie nicht von sich gewiesen. Im Gegenteil! Doch er konnte nicht vergessen, wer sie war. Dass sie anders als alle anderen war. Dass sie eine Bedrohung war. Wie sollte sie das ändern? Gar nicht! Es lag nicht in ihrer Hand! Sie könnte sich die Haare grün färben, aber sie konnte nicht ändern, dass sie ein Freak war, eine Magiegeborene. Die einzige ihrer Art … Allein. Für immer.

Als legte sich ein festes Band um ihre Brust und zog sich zusammen, entwich Robin wieder ein Schluchzen. Sie schlug die Hand auf den Mund, weil das nächste sofort folgte. Kraftlos rutschte sie an der Mauer entlang auf den feuchten Kiesboden. Sie zerbrach, ja, so musste es sein. Sie zerbrach und all das Aufgestaute in ihr sprudelte hervor, als wäre sie eine kaputte Wasserleitung unter Hochdruck.

Erst als das Schluchzen nachließ und ihr Atem sich von ruckartigen Schnappern endlich wieder in langsame Züge verwandelte, ließ Robin ihren Hinterkopf gegen die Ufermauer sinken und blickte auf den Fluss. Wahrscheinlich hatte sie mit ihren Tränen den Pegel um ein paar Zentimeter angehoben. Jetzt fühlte sich Robin leer und es war herrlich. Sie genoss diesen Moment der Ruhe. Das leise Gurgeln des Wassers, der wenige Autolärm, der bis zu ihr hinab drang, das Gerumpel der Züge, die zu Robins Linken auf einer Eisenbahnbrücke die Themse überquerten - mehr gab es für diesen Moment nicht. Kein Gedanke fand mehr seinen Weg in die Leere, die in Robin herrschte. Der Schmerz in ihrem Herzen war zu einem fernen Pochen geschrumpft. Perfekt - oder nein, was hatte Phil gesagt? Wunderbar. Wie ein Echo halte das Wort durch ihren Kopf. Gefolgt von dem Anblick seines Gesichtes. Trotzdem reagierte ihr Herz kaum darauf. Es war zu wenig davon übrig. So will ich mich ab jetzt immer fühlen. Leer, hohl, stumpf. So würde sie es überstehen, wenn Phil seine Finger wieder an ihre Schläfen legte, seine blauen Augen aufflackerten und die grünen Magiesprengsel hindurch tanzten. Robin schloss die Lider und versuchte, sich dieses Gefühl genauestens einzuprägen. Damit ich mich nie wieder anders fühle.

Ein Vibrieren brach ihre Konzentration. Ein Blick aufs Display genügte, um das wunderbare Gefühl der Leere verpuffen zu lassen: Phil. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen, als sie die Nachricht öffnete.

 

Wo steckst du?