Moni Nilsson, So viel Liebe

»Vergiss diese Reise nie«, hatte Mama gesagt, »Wenn du später einmal traurig bist, denk daran, wie es war, als wir unsere Zehen im Stillen Ozean gebadet haben.«

Sie hatten am Strand gesessen, die Füße im Meer. Mama war schon damals krank gewesen, aber nicht so schlimm wie jetzt. Der Krebs ist zurückgekommen und Lea begreift allmählich, dass ihrer Mutter nicht mehr viel Zeit bleibt. Verzweifelt stemmt sie sich gegen das unerbittliche Schicksal. Aber das ist unmöglich und so packen Mama, Lea, Lukas und Papa so viel Liebe wie möglich in die letzten Wochen.

Wohin soll es gehen?

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Für Jessica Skarpsvärd,

die wollte, dass ich dieses Buch schreibe,

obwohl sie es selbst nicht zu Ende lesen konnte.

Noa

Du tust mir so leid«, sagt Noa und guckt mich mit ihren grünen Augen an. Niemand hat so grüne, freundliche Augen wie meine beste Freundin. Ich habe sie schrecklich lieb! Sie hat mich genauso lieb. Sogar wenn ich sauer bin. Und ich habe sie lieb, wenn sie langweilig ist und zu nichts Lust hat. Wir sind uns ähnlich wie eineiige Zwillinge. Bei wichtigen Sachen sind wir immer einer Meinung. Unsere Lieblingstiere sind Delfine, und wenn wir groß sind, wollen wir Delfinpflegerinnen werden. Wir müssen immer gleichzeitig zum Klo, werden zu genau derselben Zeit krank und pulen beide gerne am Schorf unserer Wunden.

Lucas, mein großer Bruder, sagt, wir sind beide gleich eklig.

Eigentlich heißt Noa Nora, aber als ich noch klein war, konnte ich das r nicht aussprechen. Seitdem nennen sie alle nur Noa.

Es gibt nichts, was Noa nicht von mir weiß. Nichts, was ich nicht von ihr weiß.

»Wieso?«, frage ich erstaunt. »Warum tu ich dir leid?«

»Weißt du es denn nicht?«, fragt Noa.

»Nein, ich kapier gar nichts.«

»Weil deine Mama sterben wird.« Noas grüne Augen werden dunkel und ihr ganzes Gesicht ist traurig.

»Wird sie nicht«, sage ich.

»Das habe ich gestern im Fernsehen gesehen. Bei der Krebsgala. Aber Mama hat gesagt, dass ich dir nichts erzählen darf.«

Ich gucke Noa genau an, um festzustellen, ob sie einen Witz macht. Dann wäre es aber ein sehr schlechter Witz. Doch Noas Gesicht sieht kein bisschen nach Lachen aus.

»Deine Mama hat es selbst gesagt im Fernsehen.«

»Hat sie nicht«, sage ich.

»Hat sie doch«, sagt Noa. Sie sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

»Deine Mama kann sterben«, sage ich und gebe ihr einen Schubs.

So einen festen Schubs, dass sie hinfällt. In eine Pfütze. Dann trete ich ihr gegen das Bein.

»Ich hasse dich!«, schreie ich. Und trete noch einmal zu. Ganz fest.

Noa fängt an zu weinen. Ein paar andere aus unserer Klasse holen eine Pausenaufsicht.

Als die kommt, renne ich weg. Weg aus der Schule. Weg von Noa. Weg. Weg. Weg.

Mein Herz klopft, als wollte es kaputtgehen.

Mama

Alle anderen Mamas arbeiten. Meine Mama ist fast immer zu Hause, schon seit ich in die erste Klasse gekommen bin. Sie sagt, ihre Arbeit ist es, gesund zu werden. Und mich rund um die Uhr lieb zu haben.

»Hallo!«, rufe ich, sobald ich meinen Ranzen im Flur auf den Boden fallen lasse.

»Hallo, meine kleine Amsel«, ruft Mama dann zurück. »Appetit auf was Leckeres?«

Sie hat verschiedene Namen für mich. Mal sagt sie Schätzchen, mal Lämmchen oder Gänseblümchen, weil sie die Wiesen im Frühling so hübsch findet. Lea, wie ich eigentlich heiße, nennt sie mich fast nie. Aber immer, immer habe ich Appetit auf was Leckeres. Und Mama auch.

Ich kann mich kaum noch erinnern, wie das war, bevor Mama krank wurde und mich rund um die Uhr lieb haben konnte. Früher hat sie auch ihre Arbeit geliebt. Bei einer Zeitung. Jetzt hat sie keine Kraft mehr zu arbeiten. Aber wenn ich nachts wach werde und zu ihr ins Bett krieche, kann sie mich immer noch lieb haben. Oder wenn ich meine Schlüssel verbummelt oder die Sportklamotten verloren habe.

Manchmal ist sie schrecklich krank und muss sich in die Toilette übergeben. Sie verliert ihre Haare und wird glatzköpfiger als ein Fisch. Dann male ich ihr mit Filzstiften Tattoos auf den Kopf. Manchmal ist sie gesund und die Haare wachsen wieder. Dann unternehmen wir lustige Sachen, gehen ins Kino, besuchen Freunde oder verreisen.

Mama wollte immer schon nach Bora Bora. Das ist eine Insel, die zu Französisch-Polynesien gehört. Seit wir im Fernsehen eine Sendung darüber gesehen haben, hatte Mama Sehnsucht danach. Als sie sechsunddreißig wurde, haben Papa und ich ihr die Reise geschenkt. Er hat sich Geld bei der Bank geliehen und ich habe mir Geld von Oma und Opa geliehen. Im letzten Jahr, als Mamas Haare wieder anfingen zu wachsen, grau und kraus statt dunkel und glatt wie früher, sind wir über Weihnachten hingeflogen. Die ganze Familie. Wir mussten furchtbar lange fliegen und haben in einer Hütte gewohnt, die auf hohen Stelzen draußen im Wasser stand. Auf dem Dach gab es große Eidechsen, und die Hütte hatte einen gläsernen Boden, durch den man die Fische im Meer sehen konnte.

Niemals ist jemand gesünder gewesen als meine Mama auf Bora Bora. Wir haben über Korallenriffen in tausend Farben geschnorchelt, gebadet, uns gesonnt und sind mit riesigen Rochen, die einen samtweichen Bauch hatten, um die Wette geschwommen. Ich habe sogar Delfine gesehen, zwar nicht aus der Nähe, aber so etwas Schönes habe ich noch nie gesehen. Selbst Lucas, der meistens schlechte Laune hat und in seinem Zimmer laute Musik hört, war fröhlich und brachte mir an den Abenden Kartenspiele bei. Mama und Papa waren total verliebt, gingen Hand in Hand und küssten sich, dass es schon peinlich war.

Mama und ich kauften uns jede ein geblümtes Tuch und knoteten es über unsere Kleider. Wir pflückten Hibiskusblüten und steckten sie uns in die Haare, genau wie die Mädchen in Polynesien. Das Tuch habe ich noch. Es riecht immer noch nach Meer, Delfinen, Korallen und Glück. Ich werde es niemals waschen.

Am letzten Tag auf Bora Bora, als Mama und ich am Strand saßen, die Füße im Meer, fing Mama plötzlich an zu weinen.

»Warum bist du traurig?«, fragte ich.

»Ich bin nicht traurig«, antwortete Mama. »Ich weine, weil ich im Augenblick der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt bin. Stell dir vor, mein Vögelchen, das alles habe ich dir zu verdanken.«

»Papa hat auch geholfen«, sagte ich und reckte mich etwas. Es ist komisch, wenn man sich wie der wichtigste Mensch auf der Welt fühlt, scheint man zu wachsen und so stark zu sein, als könnte man einen Schreibtisch ganz allein tragen.

»Vergiss diese Reise nie«, sagte Mama. »Wenn du später im Leben einmal traurig bist, erinner dich und denk daran, wie es war, als wir unsere Zehen im Stillen Ozean gebadet haben. Wochen wie diese sind genauso lang wie fünfzehn ziemlich langweilige Jahre.«

Jedes Mal, wenn Mama so etwas sagt, kriege ich einen Angstklumpen im Bauch. Ich bin ja nicht blöd, dass ich nichts kapiere. Zum Beispiel, dass Mama Krebs hat und man daran sterben kann. Ich versteh doch, was die Erwachsenen reden, auch wenn sie glauben, dass ich nicht hinhöre.

»Aber jetzt bist du gesund«, sagte ich. »Das bist du doch?«

»Im Augenblick ist niemand gesünder als ich«, antwortete sie und zog mich an sich. »Aber wenn sie keine neue Medizin finden, werde ich nie mehr gesund. Das weißt du.«

»Ja«, flüsterte ich und drückte mich fest an sie.

Ich hasse Mamas Krankheit, die sich in ihrem Körper versteckt, ohne dass man sie von außen sehen kann. Und ich hasse ihren Arzt, der nicht die richtige Medizin für sie hat.

Jetzt ist es ein halbes Jahr her, seit wir auf Bora Bora waren. Danach sind wir noch nach Neuseeland gefahren und haben Mamas kleinen Bruder Lasse besucht, der dort wohnt. Da musste ich Englisch sprechen, denn meine Cousinen können kein Schwedisch. Sie können überhaupt nicht gut sprechen. Sie sind ja erst drei und ein Jahr alt.

In Neuseeland war es auch schön, aber auf Bora Bora war es viel schöner. Dort wollen Noa und ich hinziehen, wenn wir groß sind.

Als wir nach Hause kamen, ist Mama wieder krank geworden und hat alle ihre Locken verloren. Ich habe auf Mamas blanken Kopf einen Rochen gemalt, aber der ist nicht besonders gut geworden, einen Delfin und einen blau gestreiften Fisch. Sie sollte lieber an unsere Reise denken als an ihre Krankheit.

Und ich auch. Es ist viel schöner, an Bora Bora zu denken als an Krebs.

Ich darf nicht vergessen, Noa zu hassen

Oma und Opa haben bei uns übernachtet, als Mama und Papa in Stockholm auf der Krebsgala waren. Aber als ich aus der Schule nach Hause komme, sitzt Mama schon wieder auf dem Sofa und schreibt auf ihrem Laptop.

»Gänseblümchen, du bist schon da?«, sagt sie erstaunt.

»Ja«, sage ich und stürme an ihr vorbei, die Treppe hinauf in mein Zimmer.

»Wollen wir nicht was Leckeres essen?«, ruft Mama.

»Nein!«, schreie ich wütend und knalle die Tür zu.

Ich weiß nicht, auf wen ich wütender bin, auf Noa, Mama und Papa oder auf Oma und Opa, die mir nicht erlaubt haben, die Krebsgala anzuschauen. Warum durfte Noa sie sehen? Das ist ungerecht! Meine Mama war doch dabei, nicht Noas. Doofe, blöde Noa.

Ich bin so wütend, dass ich das gerahmte Foto von meiner Kommode reiße und auf den Boden schmeiße. Das Glas geht kaputt, genau wie mein Herz. Es ist ein Bild von Noa und mir im Fußballtrikot. Wir haben einander die Arme um die Schultern gelegt und sehen fröhlich aus. Kein Wunder. Wir haben gerade ein wichtiges Spiel gewonnen. Ich reiße das Foto in der Mitte durch. Am wütendsten bin ich auf Noa. Wieso erzählt mir meine beste Freundin, dass meine Mama sterben wird?

Plötzlich weiß ich es: Solange ich Noa hasse, wird Mama nicht sterben.

Bleistiftkratzen und Mamas Luftschnappen

Ich höre Mama telefonieren und dann höre ich sie die Treppe heraufkommen. Es geht langsam. Mehrmals bleibt sie stehen und ruht sich aus. Mama bekommt nicht genügend Luft, wenn sie Treppen steigt oder bergan geht.

Sie klopft an meine Tür. Mama ist die Einzige in unserer Familie, die das tut und auf ein »Herein« wartet. Papa klopft an und öffnet gleichzeitig die Tür. Lucas reißt sie einfach auf, stürmt herein und nimmt sich, was er will. Meistens mein Ladegerät. Nie weiß er, wo sein eigenes ist.

Ich gehe nie in Lucas’ Zimmer. Jedenfalls nicht, wenn er zu Hause ist. Aber oft, wenn er nicht da ist. Noa und ich schnüffeln gern darin herum. Kürzlich haben wir ein Päckchen Zigaretten in einer Schublade gefunden. Jetzt habe ich Angst, dass Lucas auch Krebs kriegt. Aber ich weiß nicht, ob ich ihn bei Mama und Papa verpetzen soll.

»Komm rein, wenn du unbedingt musst«, antworte ich auf Mamas Klopfen.

Sie öffnet die Tür, setzt sich auf mein ungemachtes Bett und ringt nach Luft. Ich tue so, als wäre sie gar nicht da. Wie ich ihr atemloses Nach-Luft-Schnappen hasse. Es klingt schrecklich. Warum kann sie nicht wie andere Mütter sein? Eine gesunde Mama mit Haaren auf dem Kopf, eine Mama, die zur Arbeit geht, anstatt mit Schläuchen in der Nase herumzusitzen und eklig zu japsen.

Ich schlage eine neue Seite in meinem Block auf und beginne zu zeichnen. Ich zeichne gern, wenn ich wütend oder traurig bin. Und wenn ich froh bin. Wenn ich es mir recht überlege, zeichne ich immer gern.

»Frau Molin hat eben angerufen«, sagt Mama, als sie wieder genügend Luft bekommt. Frau Molin ist meine Lehrerin.

»Und?« Ich zeichne weiter, ohne mich umzudrehen.

»Sie sagt, dass ihr euch geprügelt habt, du und Noa.«

»Das ist gelogen«, sage ich. »Nur ich habe Noa verprügelt.«

»Erzähl«, sagt Mama.

»Nein«, antworte ich und zeichne einfach weiter.

Es ist nichts zu hören als Mamas Atemzüge, das Kratzen von Bleistift auf Papier und mein kaputtes Herz.

Das Bild ist hässlich, ich reiße das Blatt ab und knülle es zusammen.

»Komm«, sagt Mama und klopft auf das Bett neben sich.

»Nein.« Ich bleibe sitzen und starre gegen die Wand. Starre, bis meine Augen vergessen, wie man blinzelt. Starre, bis sie sich mit Tränen füllen. Dann drehe ich mich um.

»Musst du sterben, Mama?«, frage ich. »Das hat Noa gesagt. Und vielen Dank, dass du deshalb im Fernsehen warst. Jetzt weiß die ganze Welt, dass du Krebs hast. Das wollte ich vielleicht gar nicht!«

»Aber mein Gänseblümchen!« Mama sieht mich bekümmert an. »Du weißt doch, dass ich da mitgemacht habe, um Geld für die Forschung zu sammeln.«

Und ich? Ich mag es vielleicht nicht, wenn meine Mama allen außer mir erzählt, dass sie sterben wird. Ich will nicht weinen, aber ich muss.

»Entschuldige«, sagt Mama. »Entschuldige. Aber ich habe nicht gesagt, dass ich sterben werde.«

Ich weiß nicht, ob ich ihr glaube.

Wir kriechen unter die Bettdecke mit dem Star-Wars-Bezug. Es gibt keinen schöneren, finden Mama und ich.

Eine Weile liegen wir still da. Im Garten singt eine Amsel. Jedenfalls glaube ich, dass es eine ist.

»Wirst du sterben?«, frage ich und schaue Mama an, die mit geschlossenen Augen daliegt.

»Jeder muss sterben«, sagt Mama. »Und keiner von uns weiß, wann.«

Sie zieht mich an sich und ich bohre mein Gesicht in ihre Halsbeuge.

»Ich will das nicht«, sage ich.

»Ich weiß«, sagt Mama.

»Und du – willst du sterben?«

»Nein«, antwortet Mama. »Ich will sehen, wie du erwachsen wirst. Nichts möchte ich lieber.«

»Mehr als dass es Frieden auf der Welt gibt?«, frage ich.

»Ja«, sagt Mama. »Ich bin schrecklich, nicht?«

»Dann bin ich auch schrecklich«, sage ich. »Ich will es mehr, als dass kein Kind hungert.«

»Ja«, sagt Mama.

»Dann werde doch gesund!«, flüstere ich.

»Ich versuche es«, flüstert Mama und küsst mich. »Wenn du wüsstest, wie sehr ich es versuche.«

Wir liegen still da und schauen uns in die Augen.

Mamas laufen über.

Meine auch.