Professor Dr. Elmar Erhardt lehrte bis zur Emeritierung Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht beim Bundeskriminalamt und an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg. Neben fachlichen Veröffentlichungen wie Kunstfreiheit und Strafrecht (1989), Drogenabhängigkeit und Beschaffungskriminalität (1991), Drogen und Kriminalität (1993), Freigabe von Drogen – Pro und Contra (1994) und Strafrecht für Polizeibeamte (5. Auflage 2016) schreibt er auch Nonsensgedichte (Meine Geliebte, das Chamäleon, 2019).
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Umschlagbild: Lithographie von A. Gocht: »Der Raubmörder« (1865).
1. Auflage 2019
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Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-036728-9
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Der Band »Deutsche Kriminalgeschichte« bietet anhand von 14 Kriminalfällen eine historische Zeitreise vom Jahr 1800 (»Schinderhannes«) bis zum Jahr 2005 (»Mordfall Moshammer«). Seit jeher faszinieren spektakuläre Verbrechen die Menschen. Anliegen des Bandes ist es, den Blick über die Einzelfälle hinaus auf die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge zu lenken. So hätte es ohne Napoleons Besetzung des Rheinlandes den Räuberhauptmann Schinderhannes nicht gegeben. Kaspar Hauser wurde als »Kind Europas« bezeichnet. Als der Reichstag brannte, begann die Nazi-Diktatur. Der Fall »Rosemarie Nitribitt« ereignet sich zur Zeit des Wirtschaftswunders. »Vera Brühne« ist vermutlich zwischen die Fronten des »Kalten Krieges« geraten. Fälle aus der Adenauer-Ära, aus der DDR oder in Folge des sog. »Deutschen Herbstes« verdeutlichen die jeweilige gesellschaftliche Situation. Der strafrechtliche Umgang mit zwei jugendlichen Kindermördern, der eine aus der Bundesrepublik, der andere aus der DDR, ermöglicht einen unmittelbaren Vergleich der politischen Systeme.
Darüber hinaus eröffnet der Band ein breites Spektrum historischer Themen: Die Geschichte der Strafen und der Strafzwecke. Könnte die Todesstrafe wieder eingeführt werden? Wie lange dauert eigentlich die lebenslange Freiheitsstrafe? Wie hängen die Rasterfahndung und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zusammen? Können moderne DNA-Analysen alte Fälle lösen? Und viele andere Fragen mehr.
Viele Themen des Buches gehen auf meine langjährige Tätigkeit als Professor für Strafrecht an der Hochschule für Polizei Baden-Württemberg zurück. Zahlreiche Fragen, Hinweise und Anregungen von Studierenden und Kollegen haben Eingang in das Buch gefunden. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Mein besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Frank Adler, der die Arbeiten am Manuskript mit stets konstruktiver Kritik begleitet hat. Schließlich bedanke ich mich bei allen, die durch persönliche Unterstützung, Interesse und wertvolle Anregungen zum Gelingen des Buches beigetragen haben.
Freiburg im Breisgau, im September 2019 |
Elmar Erhardt |
Unser Streifzug durch die deutsche Kriminalgeschichte beginnt am 21. November 1803, dem Tag der Hinrichtung des Johannes Bückler, genannt »Schinderhannes«, in Mainz und endet am 21. November 2005 mit der Verurteilung des Mörders des prominenten Modezars Rudolf Moshammer. Dazwischen liegen zwölf weitere Kriminalfälle, die in erster Linie nicht wegen ihrer Spektakularität, sondern wegen der Zusammenhänge mit der allgemeinen Zeitgeschichte ausgewählt wurden. Im Fokus der Darstellung stehen die Fälle selbst, mit ihren tragischen Geschichten, den Täter- und Opferbiografien, den polizeilichen Ermittlungen und den Strafprozessen.
Mit der Epoche vor der Gründung der Bundesrepublik beginnt die kriminalhistorische Zeitreise. Der älteste Fall beinhaltet das kurze und wilde Leben des »Räuberhauptmanns Schinderhannes«, gefolgt von der merkwürdigen, in ganz Europa Aufsehen erregenden Geschichte des Findlings Kaspar Hauser. Ein Hauptlehrer namens Ernst August Wagner, der an einem Tag 14 Menschen umgebracht hat, war der erste Amokläufer der jüngeren deutschen Geschichte. Viel berühmter als er wurde der Massenmörder Fritz Haarmann, der von 1918–1924 mindestens 24 junge Männer im Liebesrausch umgebracht hat. Als am 27. Februar 1933 der Reichstag brannte, begann die Nazi-Diktatur in Deutschland. Generationen von Historikern sollen sich später mit der Frage beschäftigen, wer die Brandstifter waren.
Die Epoche der frühen Bundesrepublik beginnt mit der Adenauer Ära. Großes Aufsehen erregte 1957 die Ermordung der Prostituierten Rosemarie Nitribitt, die in der »noblen Gesellschaft« verkehrte. Bis heute konnte ihr Mörder nicht ermittelt werden. Der Fall »Vera Brühne« mit seinem fragwürdigen Indizienprozess und die dramatische Geschichte des Kindermörders Jürgen Bartsch beschäftigten nachhaltig die Diskussionen in der jungen Republik.
Es folgen zwei ›typische‹ Fälle aus der »Deutschen Demokratischen Republik« (DDR). Erwin Hagedorn, der »Jürgen Bartsch der DDR«, hatte drei Kinder getötet und war dafür zum Tode verurteilt worden. Durch einen sog. »unerwarteten Nahschuss« mit einer Pistole in den Hinterkopf ist er am 15. September 1972 hingerichtet worden. Das geschah, als in der Bundesrepublik die Todesstrafe längst abgeschafft war. Im Fall »Kreuzworträtselmord« wurde die größte Schriftprobenüberprüfung aller Zeiten organisiert, ein weltweit einmaliger Vorgang. Die Auswertung von über 550 000 Schriften führte schließlich zur Überführung des Mörders, der am 2. November 1981 in Halle-Neustadt festgenommen wurde.
In der Bundesrepublik erregte danach der »Hammermörder« mit einer Serie von Morden und Banküberfällen 1984 und 1985 im Südwesten der Republik die Gemüter, vor allem als sich herausstellte, dass dieser Polizeibeamter gewesen ist. Dann trat einer der intelligentesten Straftäter der deutschen Kriminalgeschichte auf den Plan: Es handelte sich um den Kaufhauserpresser Arno Funke, der unter dem Pseudonym »Onkel Dagobert« mit der Polizei »Katz und Maus« spielte. Als »Kannibale von Rotenburg« ist Armin Meiwes in die Kriminalgeschichte eingegangen, nachdem er 2001 einen 43-jährigen Mann mit dessen Einwilligung getötet, geschlachtet und Teile der Leiche gegessen hatte. Der letzte dargestellte Fall betrifft die Ermordung des Rudolph Moshammer, einer schillernden Persönlichkeit der Modewelt, der auf der Suche nach einem Sexualpartner am Münchener Hauptbahnhof auf seinen Mörder traf. Am 13. Januar 2005 erdrosselte dieser sein Opfer in dessen eigener Wohnung mit einem Elektrokabel. Bereits zwei Tage später wurde der Täter aufgrund eines DNA-Abgleichs ermittelt und der Tat überführt.
Neben der zeitgeschichtlichen Dimension bietet die Darstellung auch einen Querschnitt durch maßgebliche Kriminalitätsfelder, strafrechtliche Fragen und kriminalistisch-kriminologische Gesichtspunkte. Dabei werden alle relevanten interdisziplinären Aspekte berücksichtigt. Kriminalfälle sind naturgemäß in erster Linie Strafrechtsfälle. Im Fokus des Interesses stehen deshalb strafrechtliche Themen. So geht es in vielen Fällen um die Mordproblematik, einschließlich der Fragen von »Lebenslanger Freiheitsstrafe« und »Besonderer Schwere der Schuld«. Warum sind die einzelnen Mordmerkmale »restriktiv« auszulegen? Das ist beispielsweise eine Vorgabe, die das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1977 gemacht hat. Wie lange dauert eigentlich die lebenslängliche Freiheitsstrafe? Und welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die neuerdings in zahlreichen strafrechtlichen Urteilen festgeschriebene »besonders schwere Schuld«? Dazu gehören aber auch Themen wie Schuldprinzip, Bestimmtheitsgrundsatz, Sexualstrafrecht oder »Organisierte Kriminalität«. In strafprozessualer Hinsicht werden Fragen zu Themen wie »in dubio pro reo«, »verbotene Vernehmungsmethoden« und »verdeckte Ermittlungen« behandelt. Aber auch Stichworte wie »Revision« und »Wiederaufnahme« kommen vor. Der RAF-Komplex lenkt das Augenmerk auf neue Begriffe wie »Rasterfahndung«, »Kontaktsperre« und »Kronzeugenregelung«.
Die einzelnen Fälle umfassen ein breites Spektrum interdisziplinärer wissenschaftlicher Themen: Es beginnt im Falle des »Schinderhannes« mit der Frage der »bandenmäßigen Begehung« oder der »Organisierten Kriminalität«, wie es im aktuellen, kriminologischen Sprachgebrauch heißt. Es folgen Fälle zum »Serienmord«, »Triebtäterschaft« über die Themen »Amoklauf« bis hin zu »Kannibalismus«. So streift z. B. der Amoklauf »Wagner« brisante Themen wie die aus der amerikanischen Kriminologie stammenden Begriffe »School-shooting«, »Homicide suicide« und »Suicide by cop«. Behandelt werden »politisch motivierte« Taten, wie der »Reichstagsbrand-Fall«, dessen historische Bewertung bis heute umstritten ist. Nicht zuletzt werden auch rechtstheoretische und rechtsphilosophische Fragen gestreift. So geht es in manchen Fällen etwa um die Frage, welchen Zweck die staatliche Strafe eigentlich hat. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Könnte sie für bestimmte Delikte wieder eingeführt werden? Gibt es eine Abschreckungswirkung der Strafe? Was bedeutet Generalprävention und Spezialprävention?
Und schließlich kommen sie alle vor, die phänomenologischen Tätertypen: Die Kindermörder (Jürgen Bartsch und Erwin Hagedorn), der Serienmörder (Fritz Haarmann), der Amokläufer (Ernst August Wagner), der Raubmörder (»Hammermörder« Norbert Poehlke), der Brandstifter (Reichstagsbrand) und selbst ein Kannibale (Armin Meiwes) ist vertreten. Aber auch die politisch motivierten Täter sind dabei wie z. B. im Reichstagsbrandfall und selbst ein Kaufhauserpresser (Arno Funke) wird besprochen. Zwei Fälle aus der ehemaligen DDR zeigen, dass sie sich nur unter den Bedingungen einer Diktatur ereignen konnten: Hagedorn war der letzte Todeskandidat, der in der DDR nach zivilem Recht hingerichtet wurde. Auch der »Kreuzworträtselmord« mit der weltweit umfangreichsten Schriftprobenerhebung aller Zeiten konnte so nur in einem totalitären System stattfinden. Prominente Opfer (Moshammer) sind ebenso vertreten wie unbekannte Opfer wie z. B. die Prostituierte Rosemarie Nitribitt oder wie manche Täter, die erst durch ihren Fall zur Bekanntheit kamen. Selbst ein Räuberhauptmann (Schinderhannes) ist dabei, und auch ein Polizist, der zum Räuber und Mörder wurde (Hammermörder).
In manchen älteren Fällen gibt es neue Erkenntnisse. So taten sich seit der deutschen Wiedervereinigung neuen Blickrichtungen auf. Ganze Regale an ehemals beschlagnahmten Aktenbeständen wurden nach der Wiedervereinigung frei gegeben. Es ergaben sich neue Bewertungen etwa im Reichstagsbrandfall und in den Fällen »Hagedorn« und »Kreuzworträtsel«. Aber auch im Fall »Rosemarie Nitribitt« erfolgte die Aktenfreigabe sehr spät. Prompt stellte sich heraus, dass ganze Aktenbände verschwunden sind. Und ausgerechnet solche, die Vernehmungsprotokolle prominenter Zeitgenossen betrafen. Zufall?
Und schließlich bleibt eine Menge weiterer Fragen zu beantworten: War »Schinderhannes« wirklich der edle Räuber aus der Pfalz, der »Robin Hood des Hunsrück«, der die Reichen bestahl und die Armen bedachte? Und der Findling Kaspar Hauser, war er Betrüger oder Prinz? Wer hat denn nun den Reichstag angezündet, wenn es die Nazis dann doch nicht waren? Was eigentlich macht heute »Onkel Dagobert«, der Kaufhauserpresser Arno Funke? Hat der »Kannibale von Rotenburg« noch immer Gelüste auf Menschenfleisch? Was ist aus dem Kreuzworträtselmörder geworden?
Andere Fragen werden aller Voraussicht nach für immer unbeantwortet bleiben. Zum Beispiel: Was hat eigentlich Fritz Haarmann mit dem Fleisch seiner Opfer gemacht? Deren aufgefundenen Überreste waren nämlich fleischlos gewesen. Hat er es selbst gegessen, oder zu Wurst verarbeitet und verkauft? So wird man wohl auch den wahren Mörder der Rosemarie Nitribitt nicht mehr finden. Wurden Johann Ferbach und Vera Brühne unschuldig verurteilt?
Natürlich ist die Kriminalgeschichte nur ein winziger Ausschnitt aus der allgemeinen Geschichte. Und doch gewährt sie uns markante Einblicke in die gesellschaftliche Wirklichkeit verschiedener Epochen. Hinter den persönlichen Schicksalen werden auch die sozialen, gesellschaftlichen Zusammenhänge deutlich. »Die Geschichte wiederholt sich nicht«, lautet ein kategorischer Imperativ der Geschichtsschreibung. Gewiss bestehen die einzelnen Kriminalfälle aus einmaligem, unwiederholbarem menschlichem Handeln. Aber neben jeder Individualität gibt es immer auch das Durchgehende und Konstante. Man nehme nur die deutlichen Parallelen zwischen dem Amoklauf des Ernst August Wagner und dem des Tim K. in Winnenden, auch wenn fast 100 Jahre dazwischen liegen. Oder die vergleichbaren Fälle der Kindermörder Jürgen Bartsch (Bundesrepublik) und Erwin Hagedorn (DDR), die in gegensätzlichen politischen Systemen gelebt haben.
Die Darstellung im vorliegenden Buch enthält einzelne Kriminalfälle aus verschiedenen Epochen und bietet authentische Zeitgeschichte. Zudem erhält jeder Fall auch einen Kommentar (Anmerkungen), der strafrechtliche, kriminalistisch-kriminologische und sonstige interdisziplinäre Aspekte aufgreift und erläutert. Im Einzelfall wird auch auf künstlerische Verarbeitungen in Literatur, Theater, Musik, Film, Dokumentation und ähnlichem hingewiesen (Rezeption).
Am Ende des Streifzugs angekommen lässt sich wohl feststellen, dass die Kriminalgeschichte wie auch die allgemeine Geschichte nie abgeschlossen ist. Die Kriminalität entwickelt sich immer proaktiv weiter, wie z. B. die Zunahme der Straftaten im Internet zeigt. Strafverfolgung ist dagegen reaktiv veranlagt. Bekanntlich mahlen nicht nur die Mühlen der Justiz langsam, sondern auch die der Gesetzgebung. Naturgemäß hinkt das Recht dem Unrecht hinterher. Aber vielleicht vermag die Kriminalgeschichte nach der Devise »Aus der Geschichte lernen« ja doch einen kleinen präventiven Beitrag zur Verbrechensvorbeugung zu leisten.
Berücksichtigt wurden im Einzelfall die einschlägigen Quellen, wie Vernehmungsprotokolle in Bundes- und Landesarchiven, Tagebuchaufzeichnungen, Gerichtsentscheidungen, rechtsmedizinische Gutachten, literarische Bearbeitungen, Sekundärliteratur sowie Presse- und TV-Dokumentationen.
»Die Wälle und benachbarten Anhöhen wimmelten von Neugierigen. Über die Hälfte gehörten sie zum weichen, zärtlichen Geschlechte, von denen sogar ein großer Theil die Metzeley von 20 Menschen ohne sonderliche Anfälle von Weichheit mit ansehen konnte.«1
So berichtete die »Mainzer Zeitung« am Tag nach der Hinrichtung des berühmt-berüchtigten Räuberhauptmanns »Schinderhannes«, der mit bürgerlichen Namen Johannes Bückler hieß. Mit ihm waren 19 seiner Mitverurteilten unter der Guillotine gestorben. Zehntausende Neugierige strömten am 21. November 1803 zur öffentlichen Hinrichtungsstätte vor den Toren der Stadt Mainz, wo sich heute der Stadtpark befindet. In fünf offenen Wagen wurden die 20 zum Tode Verurteilten zum Richtplatz gefahren. In einem zeitgenössischen Bericht von Johann Gottlob Schulz hieß es:
»Es schlug 12 Uhr. […] Dann kamen die fünf Leiter Wagen mit den Verbrechern. Auf dem ersten Wagen saßen fünfe, Schinderhannes in einem rothen Hemde oben an. Zur Auszeichnung hatte man ihm eine weiße Kappe aufgesetzt. Mit rothen Hemden, dem Zeichen des Mörders, waren überhaupt sieben bekleidet. Er war, wie die übrigen, mit den Händen auf den Rücken an die Wagenleitern angebunden. […] Es war ein höchst niederschlagender Anblick für den Menschen von Gefühl, diese zwanzig Schlachtopfer der Gerechtigkeit dahin schleppen zu sehen. […] Schinderhannes wurde zuerst hingerichtet. Als er auf die Guillotine kam, betrachtete er einige Augenblicke das Beil, dann sagte er mit ziemlicher Fassung: ›Ich sterbe willig, ich habe den Tod verdient; aber von diesen‹, indem er auf die übrigen zeigte, ›sterben wenigstens zehen unschuldig.‹ Er ward angebunden, unter das Beil geschoben, es fiel, und Schinderhannes war nicht mehr.«2
Die Exekution aller zwanzig Verurteilten dauerte nur etwas mehr als zwanzig Minuten. Vorausgegangen war dem Ganzen einer der größten Schauprozesse der deutschen Justizgeschichte. Knapp sechzehn Monate hatten sich die Ermittlungen hingezogen, bis am 24. Oktober 1803 der Prozess gegen den 25-jährigen Räuberhauptmann »Schinderhannes« und 67 Mitangeklagte begann und nach vier Wochen endete. Etwa 400 Zeugen waren vernommen worden. Es ergingen 20 Todesurteile und immerhin 20 Angeklagte wurden freigesprochen. Drei Angeklagte verstarben in der Haft, einer wurde nach Trier überstellt und das Schicksal von drei anderen ist unbekannt. Von 21 Mitangeklagten erhielten sieben eine »Kerkerhaft in Ketten« von 24 Jahren, eine Strafe, die zur damaligen Zeit kaum ein Häftling überlebte, sodass sie einem Todesurteil gleichkam. Neun weitere Mitangeklagte wurden für zweiundzwanzig, vierzehn, zehn, acht oder sechs Jahre »in die Ketten geschmiedet«. Drei »Räuberbräute«, darunter Juliane Blasius, die letzte Geliebte des »Schinderhannes«, kamen für zwei Jahre und fünf Monate ins Zuchthaus. Zwei andere wurden über die Rheingrenze abgeschoben. Die meisten zeitgenössischen Berichterstatter bezeichneten die Mainzer Urteile als »harte Strafen für grause Thaten«, wie sie auch das Gerichtsverfahren als durchaus »fair« bewerteten.3
Abb. 1: Zeitgenössische Darstellung des Schinderhannes (links) und seiner Hinrichtung (rechts) aus dem Jahre 1803.
Johannes Bückler wurde im Herbst des Jahres 1779 in Mühlen (heute Miehlen) im Taunus als zweiter Sohn von »Johann Bückler, dem Alten«, wie er in den späteren Gerichtsakten genannt wurde, und der Bauerntochter Anna Maria Schmitt geboren. Der »alte« Johann Bückler war zeitweilig als Scharfrichter- und Abdeckerknecht tätig, wodurch die Familie Bückler zur sozial untersten Schicht der damaligen Zeit gehörte. Generationenlang waren die Bücklers Scharfrichter, Wasenmeister und Abdecker gewesen, die auch »Schinder« genannt wurden. So hatte der alte Bückler »krepiertes Vieh auf den Wasen zu holen und abzuhäuten. Waren Pferde und Ochsen an einer Hauptseuche eingegangen, so durfte er für das Abhäuten einen Gulden berechnen«.4 Als die Mutter des Schinderhannes 1784 des Diebstahls von Holz und Leinwand bezichtigt wurde, musste die Familie Bückler Hals über Kopf ihren Wohnort verlassen. In Miehlen, das damals von einem absolutistischen Kleinfürsten streng regiert wurde, hatten Diebinnen mit schwersten Strafen zu rechnen, wahrscheinlich sogar mit der Todesstrafe. So »entwichen die Bücklerischen Eheleute heimlich«.5 Der ohnehin geringe Familienbesitz wurde zwangsversteigert, wobei ein jüdischer Kaufmann den Zuschlag erhielt.6 Wie der Angeklagte Johannes Bückler später zu Protokoll gab, wollte die Familie eigentlich nach Polen auswandern, doch verpflichtete sich sein Vater dann unterwegs für sechs Jahre zum Militärdienst im kaiserlichen Regiment Hildburghausen zu Olmütz in Mähren. Am 21. August 1787 desertierte der alte Bückler und kehrte mit seiner Familie in seinen Geburtsort Merzweiler auf dem Hunsrück zurück. Später wechselte die Familie – der junge Johannes hatte inzwischen mindestens sieben Geschwister – wiederholt die Wohnorte, wie z. B. Hommerich, Kirchenbollenbach, Idar und Veitsroth, wo der Vater vorwiegend als Feldschütz tätig war. In dieser Zeit ging Johannes zur Schule und lernte etwas Lesen, Schreiben und Rechnen, Fertigkeiten, mit denen er sich später bei seinen Kumpanen hervortat. Was die Dorfschulen damals vermitteln konnten, lässt sich anhand der erhaltenen Unterschriften des »Schinderhannes« erahnen. Nur mit Mühe konnte er nämlich seinen Namen »auf das Papier kritzeln«.7
Mit fünfzehneinhalb Jahren begann die kriminelle Karriere von Johannes Bückler. In diesem Alter hatte er sein Elternhaus verlassen, wie er im Mainzer Gerichtsverfahren zu Protokoll gab. Ein Gastwirt hatte ihm einen Louisdor anvertraut, um dafür Branntwein zu kaufen, für den er aber eine bessere Verwendung hatte: Er vertrank das Geld im Wirtshaus mit einem Zechkumpan namens Hannfried. Aus Angst vor Strafe kehrte er nicht nach Hause zurück und irrte einige Zeit durch die Gegend. Weil er kein Geld und nichts zu essen hatte, stahl er ein Pferd und verkaufte es. Noch hatte er wohl Skrupel, seinen Lebensunterhalt mit Diebstählen zu bestreiten und so trat er in die Dienste eines mit ihm verwandten Wasenmeisters namens Nagel in Bärenbach und begann eine Lehre als Abdecker (»Schinder«). Wahrscheinlich stammt aus dieser Zeit der Beiname »Schinderhannes«, den sich Johannes Bückler nach seinen eigenen Angaben in Mainz nicht selbst gegeben hatte, sondern nach seiner Vermutung »der Pöbel« wegen seines Großvaters, der Schinder gewesen war.8 Weil er dann bei seinem Lehrherren einige Viehhäute gestohlen hatte, wurde er öffentlich der Prügelstrafe unterzogen. Nach dieser Demütigung tauchte er unter und stand wohl kurze Zeit als Soldat in österreichischen Diensten. Jedenfalls wurde ihm später nachgesagt, dass er manche Überfälle und Angriffe »in militärischer Manier« durchgeführt habe. Im Jahre 1796 kehrte er zu seinem alten Lehrherren Nagel zurück und ließ sich dort aber bald zu Hammeldiebstählen anstiften. Diese wurden schnell aufgeklärt: Johannes Bückler wurde verhaftet, abgeführt und ins Gefängnis von Kirn gesteckt. Aber, so gab er es später in Mainz an: »Ich entwischte aus meinem Gefängnis in der ersten Nacht«.9 Es erfolgte der erste Steckbrief, ausgeschrieben auf den aus dem Gefängnis entwichenen »Johannes Pückler«, datiert auf den 14. Dezember 1796.
Mit der Unterschlagung eines einzigen Louisdors im Alter von fünfzehneinhalb Jahren hatte Johannes Bückler die Weichen für seine kriminelle Karriere gestellt. Nachdem er aus dem Gefängnis entwichen war, schloss er sich einem losen Bund von Vagabunden, Dieben und Räubern an. Dazu gehörten unter anderen seine späteren Kumpane Jakob Fink (der »Rote Fink«) und Peter Petri, der den bekannten Beinamen »Schwarzer Peter« bekommen sollte. Schinderhannes knüpfte Kontakte zu anderen Hunsrückbanden, wie z. B. einer Bande von Pferdedieben um Philipp Mosebach. Laut Mainzer Gerichtsakten sind allein im Jahre 1797 sechzehn schwere Straftaten wie Pferdediebstahl, Tuch- und Lederdiebstahl nachgewiesen, die er bei nächtlichen Einbrüchen verübte. Dann entstand Ende 1797 der Verdacht, dass er an einem Mord beteiligt gewesen sei. Seine Anwesenheit bei der Tat gilt als nachgewiesen, ob er aber an der Tatausführung beteiligt war, ist jedenfalls im Mainzer Urteil offengeblieben. Dabei lässt sich der »Rote Fink« als sein Freund Jakob Fink identifizieren. Mordopfer war der »Plackenlos«, der eigentlich Niklas Rauschenberger hieß und selbst ein wüster Räuber und krimineller Geselle war. Dieser hatte die von Schinderhannes begehrte Anna Maria Schäfer, die »Schöne Amie« bedrängt oder belästigt und war von vier Schinderhannes-Komplizen zu Tode geprügelt worden:
»Auf dem Baldenauer Hof trafen sie den ›Plackenlos‹, der von Seibert und Schinderhannes sofort angegriffen wurde. Sie brachten ihm einen Messerstich bei und schlugen ihn vollends mit Knüppeln tot. Auf dem Leichnam gingen sie mit Füßen und schleppten ihn unter wildem Gelächter in der Küche herum.«10
Verurteilt wurde Schinderhannes wegen dieses Mordes jedoch vom Mainzer Tribunal nicht.
Anfang des Jahres 1798 überfielen bewaffnete Räuber unter seiner Führung die Ziegelhütte in Soonwald, deren Eigentümer Johann Schmitt so schwer misshandelt wurde, dass er zwei Jahre später an den Verletzungen verstarb. Schinderhannes und der Schwarze Peter, die zur Festnahme ausgeschrieben waren, wurden in der Weidener Mühle ergriffen, nach Saarbrücken geschafft und ins Gefängnis eingeliefert. Dort saß schon der Rote Fink und hatte bereits Vorkehrungen zur Flucht getroffen. Noch in der Nacht sägten sie die Gitterstäbe durch und entkamen in die Freiheit.
Schon ein halbes Jahr später wurde Schinderhannes in Zusammenhang mit einem weiteren Mord gebracht. Am 17. August 1789 zechte er mit Peter Petri in der Thiergartenhütte in Seibersbach. Während Schinderhannes, der selten unmäßig trank, nüchtern blieb, geriet der Schwarze Peter immer mehr in Feuer. So zwang er vorbeiziehende jüdische Wandermusikanten, zum Tanz aufzuspielen und steigerte sich nach und nach in einen Rausch hinein und führte einen wilden Tanz auf. In diesem Augenblick brachte der Zufall den unglückseligen Juden Simon Seligmann, der ein Bündel auf dem Rücken trug und eine Kuh an der Hand führte, in die Gaststätte. Petri hatte eine drei Jahre zurückreichende, alte Rechnung mit dem Viehhändler Seligmann zu begleichen. Dieser band das Tier fest, betrat die Wirtsstube, bat um einen Schluck Wasser, trank und ging weiter seines Weges. Der Schwarze Peter forderte Schinderhannes auf, den Angeber totzuschlagen, der für den Tod seiner »Gevatterin« (Taufpatin) verantwortlich sei. Bückler lehnte angeblich unwirsch ab:
»Es gehört demselben ein Bukkel voll Schläg. […] Gehe du hin und schlage ihn tod, ich mag nicht.«
Darauf stürzte Petri aus dem Hause dem Seligmann hinterher. Schinderhannes hatte seine Aussagen zu dem Vorfall auch vor den Mainzer Richtern aufrechterhalten. Danach sei er seinem Kumpan gefolgt. Schon von weitem habe er ihn brüllen gehört. Als er ihn zu Gesicht bekam, lag Seligmann hinter einem Gebüsch. Der Schwarze Peter stach ihm mit einem Messer in die Brust, traktierte ihn mit Stockschlägen, packte den Sterbenden am Halstuch und schleifte ihn hinter einen alten Stock. Wenn auch Schinderhannes den Mord weder gewünscht noch begünstigt haben mag, so hatte er sich mit dem Delinquenten dennoch die Habseligkeiten des Ermordeten geteilt. Noch im letzten Mainzer Verhör rechtfertigte er sich dafür:
»Es ist bei den Leuten unseres Schlags ein angenommener Gebrauch, daß, nachdem man Kamerad und in Gesellschaft miteinander ist, getheilt werden muß, was man stehlen mag, auch wenn der andre nicht dazu beigetragen hat.«11
Schinderhannes wurde landesweit steckbrieflich gesucht, nachdem Peter Petri bereits einen Monat nach der Tat verhaftet wurde. Im Februar 1799 wurde dann auch Bückler gefasst, ins Gefängnis nach Kirn und anschließend in den Gefängnisturm von Simmern (heute »Schinderhannesturm« genannt) gebracht. Dieser galt zur damaligen Zeit als absolut ausbruchsicher. Nachts wurde der Häftling sogar in Ketten gelegt. Dessen ungeachtet gelang dem Schinderhannes erneut die Flucht mit Hilfe eines Mithäftlings und eines Gefängniswärters. Er sprang aus dem Turmfenster, brach sich ein Bein und konnte trotzdem unbemerkt entkommen.
Abb 2: Johannes Bückler, genannt »Schinderhannes«, Portrait von Karl Mathias Ernst, 1803.
Kaum gesundheitlich genesen wechselte Schinderhannes im September 1799 auf die rechte Rheinseite, nachdem der Fahndungsdruck erhöht worden war. In der Nähe von Darmstadt lernte er bald seinen später treuesten Weggefährten kennen, den Christian Reinhardt, der als »Schwarzer Jonas« in die Kriminalgeschichte eingehen und am 21. November 1803 zusammen mit Schinderhannes unter dem Mainzer Fallbeil sterben sollte.
Anfang des Jahres 1800 war Schinderhannes an einem Überfall auf einen reichen Bauern in Otzweiler beteiligt. Weil das Opfer getötet wurde, hatte Schinderhannes zwei Räuberkomplizen zurechtgewiesen und einen sogar gezüchtigt. Von den anderen kam kein Widerspruch und so zeigte sich zum ersten Mal ganz deutlich, dass er als Anführer anerkannt war. Diese »Otzweiler Schreckensnacht« ist in den Mainzer Gerichtsprotokollen belegt: Heinrich Philippi, der mit dem Bürger Peter Riegel noch eine alte Rechnung offen hatte, weil dieser ihm seine Tochter als Braut verweigert hatte, steckte wohl aus Rache und Hinterlist dem Schinderhannes, dass
»Riegel neun hundert Gulden von der Gemeinde Krebsweiler erhalten habe, sein Tochtermann (Philippis Nebenbuhler) habe 500 Gulden beigebracht, und der alte Riegel müsste überdies viel Geld bei sich haben.«12
Aufgrund der Aussicht auf stattliche Beute ließ er sich »aufmuntern, besagten Riegel zu bestehlen«. Er schickte unverzüglich seine Kumpane Karl Benzel und Philipp Klein, auch »Husarenphilipp« genannt, zum Auskundschaften nach Otzweiler, Dickesbach und Kirchenbollenbach, um weitere Kumpane zu rekrutieren. Es kamen daraufhin Philipp Gilcher, Jacob Benedum, Johannes Welsch, Adam Glaser, Carl Engers und Peter Dahlheimer. Später stießen Peter Stiebitz und Johann Seibert hinzu. Gegen 22 Uhr überfiel die Truppe zunächst die Antesmühle des Michel Horbach. Die Ehefrau des Müllers musste die halbe Nacht lang Butter und Brot auftragen, Speck schneiden und Eierkuchen backen. Während die Räuber sich die Bäuche vollschlugen, kam es in der Wohnstube zu einem Vorfall. Johann Welsch hatte aus Jux auf Adam Glaser geschossen. Schinderhannes stellte die Ordnung wieder her, indem er dem besagten Johann Welsch kräftige Hiebe versetzte, sodass dieser in Ohnmacht fiel. Auch war Blut geflossen. Noch in derselben Nacht zog ein Teil der Räubergruppe weiter, um wie geplant im Dorf Otzweiler den Peter Riegel zu überfallen. In den Mainzer Voruntersuchungsakten zeigte sich die Bücklersche Prozesstaktik, die später noch des Öfteren zu Tage treten wird, indem er seinen eigenen Anteil am Überfall in Otzweiler in den Hintergrund rückt:
»Ich klopfte an der Türe an. […] indem wir noch beschäftigt waren, ein Licht anzuzünden, hörte ich vor dem Haus einen Flintenschuss, ich ging sogleich hinaus und fand einen Mann aus dem Hause, der von diesem Schuss getötet worden.«
Sofort machte er als Schützen Peter Stiebitz, den »Judenpeter«, aus. Sodann befahl er den sofortigen Rückzug seiner Raubgesellen. Der Getötete war übrigens jener besagte Peter Riegel, der dem Heinrich Philippi seine Tochter als Braut verweigert hatte.13
Aufgrund der Todesfälle wurde der Fahndungsdruck erneut erhöht. Ab März 1800 wechselte Schinderhannes deshalb zeitweilig die Rheinseiten, wobei er auf der linken Seite weiter als Räuber unterwegs war, auf der rechten aber unter dem Namen Jakob Ofenloch als rechtschaffener Bürger auftrat und das Gewerbe eines Marktkrämers ausübte. Weil dieser Broterwerb für seinen gehobenen Lebensstandard offenbar nicht ausreichte, beging er auf der anderen Rheinseite weiter Erpressungen und Raubüberfälle auf Handelsreisende. Rechtsrheinisch trat er als ehrenwerter Krämer Ofenloch in Erscheinung, linksrheinisch trieb er als Räuberhauptmann Schinderhannes sein Unwesen.14 Auf einer Tanzveranstaltung lernte er am 13. April 1800 Juliane Blasius, seine mittlerweile siebte Geliebte kennen. Dies sollte die einzige feste Verbindung seines Lebens werden.
Johann Leyendecker – einer seiner Freunde – kam Anfang des Jahres 1800 auf die Idee, nachts in Häuser reicher Juden einzubrechen. Fortan konzentrierte sich die Bande nicht mehr auf Viehdiebstähle und Straßenräubereien, sondern kaprizierte sich auf Einbrüche in bewohnte Häuser. Zudem beging die Schinderhannesbande nun vermehrt Schutzgelderpressungen bei Mitgliedern jüdischer Gemeinden. Jüdische Händler und Kaufleute mussten hohe Geldbeträge zahlen, um von ihr nicht überfallen und misshandelt zu werden.15
In dieser Zeit diente der Räuberbande neben Mühlen und Gasthäusern auch die halb verfallene Schmidtburg bei Bundenbach im Hunsrück als Unterschlupf. Als Winterquartier für die von ihm schwangere Juliane Blasius wählte er die bewirtete Hasenmühle bei Schlossborn im rechtsrheinischen Taunus. Schnell sprach sich in Gaunerkreisen herum, dass der Schinderhannes in der Hasenmühle residierte. Anfang des Jahres 1801 sprach sogar der Hauptmann einer Niederländer Räuberbande (so genannte »Niederländer Bande«) namens Picard in Schinderhannes’ »Räuberhöhle« vor, und man unternahm am 10. Januar 1801 einen gemeinsamen Überfall auf die Posthalterei in Würges. Dabei wurde der Posthalter schwer misshandelt und die Räuber machten reiche Beute.16 Ende Januar 1801 brachte Juliane Blasius ein Mädchen zur Welt, das aber nach kurzer Zeit verstarb. In dieser Zeit schloss sich Georg Friedrich Schulz, »Schlechter Freier« genannt, der Bande an. Er wird später einer der neunzehn Räuber sein, die unter der Guillotine in Mainz den Tod fanden.17
Am 25. Mai geriet Schinderhannes in Kleinrohrheim zusammen mit seinem Freund Reinhardt, dem »Schwarzen Jonas«, in eine Wirtshausschlägerei, bei der ein Mainzer Korporal zu Tode geprügelt wurde. Bei einem Überfall auf das Ladengeschäft eines jüdischen Händlers wurden der Händler, seine Frau und eine Magd schwer misshandelt. Die polizeiliche Fahndung nach den Räubern wurde massiv verstärkt, sodass schließlich ein Teil der Bande von pfälzischen und fränkischen Jägern verhaftet werden konnte. Schinderhannes entkam jedoch.
Bei einem Überfall im August 1801 wurde der Jude Mendel Löb, der sich gegen die Räuber zur Wehr gesetzt hatte, umgebracht. Darauf verstärkte die französische Besatzungsmacht die Fahndung nach Schinderhannes und seinen Leuten. Nunmehr wurde auch die Bevölkerung einbezogen, um bei der Bekämpfung des Räuberunwesens mitzuhelfen. Es wurden Bürgerwehren gebildet, des nachts Wachen in den Orten aufgestellt und der Widerstand gegen die Räuber organisiert.18 Seit Anfang des Jahres 1802 erfolgten daher nur noch wenige Überfälle, vereinzelt Gelderpressungen oder Viehdiebstähle. Aufgrund des starken Fahndungsdrucks der französischen Gendarmerie und der sich zunehmend wehrenden Bevölkerung gelang dem Schinderhannes und seiner Bande ab April 1802 überhaupt kein Raubüberfall mehr.
Nicht nur die französischen Behörden waren dem Schinderhannes nun dicht auf den Fersen, sondern auch auf der rechten Rheinseite wurde verstärkt und systematisch nach ihm gefahndet. Deshalb versuchte er, über einen einflussreichen Bekannten, dem Salineninspektor Lichtenberger, ein Gnadengesuch bei den französischen Behörden einzureichen. Die Franzosen lehnten jedoch strikt ab. Begleitet von seiner Frau »Julchen« (Juliane Blasius), dem »Schwarzen Jonas« und einem anderen Kumpan, konnte er bei einer Kontrolle durch eine Patrouille zunächst noch entkommen, um schließlich einem kurtrierischen Kommando in die Arme zu laufen.
Beinahe wäre er durch eine List noch einmal entkommen. Er behauptete nämlich, weder Johannes Bückler noch Jakob Ofenloch, sondern Jakob Schweikart zu sein, der sich beim kaiserlichen Heer als Soldat bewerben wolle. Durch Verrat des ehemaligen Komplizen Zerfaß flog die Täuschung jedoch auf und er wurde als Johannes Bückler alias Schinderhannes identifiziert, in Ketten gelegt und nach Frankfurt verbracht. Dies geschah am 11. Juni 1802. Noch am selben Tag beschloss die französische Besatzungsmacht, in Mainz ein Kriminalsondergericht zur Aburteilung des Schinderhannes und seiner Komplizen einzurichten. Am 16. Juni 1802 wurde Johannes Bückler von der kaiserlichen Militärdirektion in Frankfurt an die französischen Behörden ausgeliefert. Man brachte ihn ins damals französische Mainz und sperrte ihn in den dortigen Holzturm. Auch »Julchen« Juliane Blasius wurde in Mainz inhaftiert und brachte dort am 1. Oktober 1802 einen Jungen zur Welt, der den Namen Franz Wilhelm bekam.
Von Juni 1802 bis März 1803 wurde Johannes Bückler von dem für die Voruntersuchung zuständigen Johann Wilhelm Wernher in vierundfünfzig Einzelsitzungen vernommen, wobei ihm insgesamt 565 Fragen gestellt worden sind.19 Mehr als 400 Zeugen wurden vernommen und zahlreiche Gegenüberstellungen durchgeführt. Wernher bestärkte Schinderhannes in seiner Hoffnung auf ein mildes Urteil durch die französische Justiz, und entlockte ihm auf diese Weise zahlreiche Geständnisse, was die Beteiligung und Verbrechen seiner Kumpane betraf. Johannes Bücklers Taktik war klar: Er verriet unzählige Mittäter, legte bis ins kleinste Detail alles offen, was sich auf relativ leichte Straftaten bezog. Bei den schweren Gewaltdelikten und seinen eigenen Kapitalverbrechen hielt er sich jedoch auffallend zurück. Auf diese Weise hoffte er offenbar, einen Gnadenerweis Napoleons zu erreichen und der Todesstrafe zu entgehen.20
Der eigentliche Prozess begann am 24. Oktober 1803 mit der Verlesung der 72-seitigen Anklageschrift in französischer und deutscher Sprache. Ort der Gerichtsverhandlung war der Akademiesaal des Kurfürstlichen Schlosses in Mainz. Den Vorsitz führte der Präsident des Mainzer Kriminalgerichts Georg Friedrich Rebmann. Vier Wochen später endete der größte Schauprozess der damaligen Zeit am 20. November 1803 mit 20 Todesurteilen und 20 Freisprüchen. Zu den
Abb. 3: Juliane Blasius mit Franz Wilhelm – Ausschnitt aus einem Stich von Karl Mathias Ernst, 1803.
Verurteilten, die eine vierzehnjährige Kettenstrafe erhielten, gehörte übrigens auch ein Sohn des »Schwarzen Peter«, der 19-jährige Peter Petri, Sohn, der auch der »Junge Schwarzpeter« genannt wurde.21 Der Vater des Schinderhannes, der »alte Bückler«, wurde zu 22 Jahren Haft in Ketten verurteilt, von denen er jedoch nur einige Wochen verbüßte, da er bereits im Dezember 1803 verstarb. In seinen Aussagen hatte sich Schinderhannes vergeblich für ihn eingesetzt.
Noch mehr lag ihm aber offenbar das Schicksal seiner Geliebten »Julchen« Blasius am Herzen. In den letzten Tagen seines Lebens wiederholte er immer wieder die Beteuerung: »Ich habe das Mädchen verführt, sie ist unschuldig.«22 Vielleicht hatte dies eine gewisse Wirkung auf das erkennende Gericht, aber wahrscheinlich noch mehr die Tatsache, dass Juliane erst 20 Jahre alt war und am 1. Oktober in der Haft das Kind geboren hatte, »dem im Sturme des Verbrechens empfangen und im Kerker zur Welt gebracht, wenigstens eine Mutter übrig blieb.«23 Sie erhielt im Mainzer Urteil nur eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Nach Strafverbüßung heiratete sie ausgerechnet einen Gendarmen. Sie starb am 4. Juli 1851. Des Schinderhannes und Julchens Sohn, Franz Wilhelm, soll als Offizier in österreichischen Diensten ums Leben gekommen sein. Einige der direkten Nachfahren leben heute im Taunus.
Schon zu seinen Lebzeiten verbreitete sich der Ruf vom Schinderhannes als einem edlen Räuber, als Freiheitskämpfer und großer Frauenheld. Es gab in einschlägigen Kreisen kaum ein Zechgelage oder Fest, bei dem er nicht im Mittelpunkt stand. Johannes Bückler hatte offenbar ein gewisses Charisma, das ihn nicht nur in der kriminellen Halbwelt und bei den Frauen in diesen Kreisen bekannt werden ließ, sondern ihn auch in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses brachte. Manche romantische Verklärung machte aus ihm eine Art von »Robin Hood des Hunsrück«, die bis heute in vielen Beispielen erhalten geblieben ist. Verharmlosend finden sich Wanderwege oder Radtouren nach dem Schinderhannes benannt. Die Gaststätten, Hotels, Pensionen und Straßen, Wege oder Plätze, die seinen Namen tragen sind Legion. In Simmern finden sogar »Schinderhannes-Festspiele« statt. Dieses Phänomen der Schinderhannes-Mystifizierung hat der Historiker Manfred Franke treffend charakterisiert:
»Wäre Johannes Bückler den Folgen einer Krankheit erlegen oder als Soldat in der kaiserlichen Armee untergetaucht, sein Verschwinden wäre von vielen mit Erleichterung zur Kenntnis genommen worden, andere hätten ihn im Laufe der Zeit vergessen. Aber dass der jahrelang Gesuchte, mit großem Polizeiaufwand Verfolgte, als politische Herausforderung empfundene und als Konterrevolutionär überschätzte Räuberhauptmann vor Hunderten von Zuschauern den Prozess gemacht bekam, schließlich vor Tausenden zur Guillotine gefahren und geköpft wurde und dass selbst seine Leiche noch Aufmerksamkeit beanspruchte – das trug zur Unsterblichkeit bei.«24
Weit entfernt von einem edlen Freiheitskämpfer zeichnen die Protokolle der Mainzer Hauptverhandlung ein ganz anderes Bild, welches die brutale Seite des Johannes Bückler aufzeigt und ihn immer wieder in Zusammenhang mit Verbrechen jeglicher Art bringt. Gleichwohl gründet sich das Mainzer Todesurteil allein auf den Straftatbestand des bewaffneten Einbruchs, auf den nach damaligem, französischem Recht die Todesstrafe stand. Insofern blieben Tötungsdelikte und andere schwere Gewaltverbrechen im Urteil ausgeklammert. Aber dem Schinderhannes hat dies nichts genützt, denn nach »revolutionärem« Recht stand bereits für schwere Einbrüche die Todesstrafe.
Eine Geschichte, am Rande erzählt, betrifft des Schinderhannes frühen Gefährten »Schwarzer Peter«: Dieser soll nämlich im Gefängnis das gleichnamige und noch heute weithin bekannte Kartenspiel erfunden haben. Aber möglicherweise gehört diese Geschichte auch in die Welt der Sagen und Märchen.
Und schließlich bleibt noch eine weitere Mystifizierung zu entlarven: das Narrativ vom »Robin Hood des Hunsrück«. In sämtlichen 2 792 Aktendokumenten der Mainzer Voruntersuchung gibt es keinen einzigen Beleg dafür, dass Schinderhannes (lediglich) die Reichen beraubt habe, um den Armen zu helfen. Im Gegenteil zeigen die Quellen, dass die Taten sich nicht nach sozialen Stellungen, sondern ausschließlich nach der zu erwartenden Beute ausrichteten. Am Anfang, als Bückler sich vor allem auf Viehdiebstahl spezialisierte, war sogar ausschließlich arme Landbevölkerung von seinem Treiben betroffen. Als er später dazu überging, gezielt wohlhabende jüdische Händler und Kaufleute zu überfallen, war ihm die Sympathie der Armen sicher, die aber davon nicht profitierten.
Und zum Schluss seien noch zwei Kuriositäten angemerkt, die Kopf und Skelett der hingerichteten Johannes Bückler und Christian Reinhardt betreffen. Während der Hinrichtung der 20 zum Tode Verurteilen am 21. November 1803 hatten zwei Mainzer Medizinstudenten die ehrenvolle Aufgabe, die abgetrennten Köpfe pathologisch daraufhin zu untersuchen, ob noch Bewusstsein und Empfindung vorhanden seien. Sobald ein Kopf durch den ledernen Sack ohne Boden in den Raum unter dem Schafott gefallen war, ergriff einer der beiden Herren Studenten den Kopf, während der andere abwechselnd in beide Ohren rief: »Hörst du mich?« Indes er bekam keine Antwort. Auch ansonsten waren keine Reaktionen zu erkennen.25
Bei der anderen Geschichte geht es um ein im Anatomischen Institut der Universität Heidelberg ausgestelltes Skelett. Es war bis ins Jahr 2009 dem Räuber Georg Philipp Lang, »Hölzerlips« genannt, zugeordnet worden. Zwei Heidelberger Medizinerinnen haben nunmehr zweifelsfrei aufgeklärt, dass es sich in Wahrheit um das Skelett des Christian Reinhardt, des »Schwarzen Jonas« handelt.26 Es kann zusammen mit dem Skelett seines Freundes »Schinderhannes« im Anatomischen Institut des Heidelberger Universitätsklinikums besichtigt werden.
Der »Schinderhannes« war ein »Kind der Französischen Revolution«. Seine Hinrichtung durch die französische Guillotine am 23. November 1803 lag nur kurz vor der Kaiserkrönung Napoleons im Jahre 1804. In den linksrheinischen, deutschsprachigen Gebieten hatte sich die französische Verwaltung eingerichtet, während rechtsrheinisch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor dem Zusammenbruch stand. Ohne ein durch diese politisch instabile Situation entstandenes Machtvakuum ist das Aufkommen des Bandenunwesens entlang des Rheins nicht zu erklären. Das napoleonische Frankreich sah das östliche Rheinufer als »Räubernest« an, als Rückzugsgebiet für Räuberbanden und Kriminelle aller Art. Selbst die »Freie Reichsstadt Frankfurt« stand im Verdacht, mit den Räuberbanden zu paktieren. Somit war es nur konsequent, dass die französischen Besatzungsbehörden in ihren Herrschaftsbereichen, etwa in Köln und Mainz, begannen, Maßnahmen zur Bekämpfung des Bandenunwesens zu treffen. Die Gendarmerie wurde verstärkt, Geheimagenten in die Provinz ausgesandt und Sonderstrafgerichte in Mainz und Köln eingerichtet. Es galt ab sofort französisches Recht. Danach war mit einem bewaffneten Einbruch bereits die Todesstrafe verwirkt.27
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