1, 2, 3 – Weihnachten!
Kosmos
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© 2016, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15075-7
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Küsse im Schnee
»Jetzt erzähl schon!«, sagte Franzi ungeduldig. »Welche Überraschung hast du für mich?« Mit der rechten Hand schob sie ihr Fahrrad, den linken Arm hatte sie um ihren Freund Felipe gelegt. Am letzten Abend des alten Jahres war es so mild, dass sie nicht einmal Handschuhe brauchte.
Felipe legte seinen Zeigefinger auf ihren Mund. »Wenn ich es dir jetzt schon verraten würde, wäre es keine Überraschung mehr. Du musst dich schon bis kurz vor Mitternacht gedulden.«
Franzi drückte ihm als Bestechungsversuch einen Kuss auf den Mund. Er lächelte sie nur lieb an und schüttelte den Kopf. Die dunklen Locken flogen um sein milchkaffeebraunes Gesicht.
Franzi seufzte. Warten hatte noch nie zu ihren großen Stärken gehört. Am schlimmsten war es für sie gewesen, als Felipe zwischen Ostern und Pfingsten seine Familie in Mexiko besucht hatte. Seither war er zum Glück nicht mehr verreist, aber er wohnte viel zu weit weg: Ungefähr 25 Kilometer lag Billershausen entfernt. Dort hatte Felipes Mutter im Freizeitpark Sugarland ein mexikanisches Restaurant und er half ihr regelmäßig beim Bedienen. Deshalb konnten Franzi und Felipe sich leider nicht so oft sehen.
»Ich freu mich schon auf den Abend heute!«, wechselte Felipe geschickt das Thema.
Franzi freute sich natürlich auch. Marie hatte zu einer rauschenden Silvesterparty eingeladen, die wahrscheinlich das letzte Mal im Penthaus stattfinden würde, weil sie voraussichtlich bald umzog. Kim und einige Freunde aus Maries Schule hatten zugesagt und ein paar Freunde von Maries Vater wollten auch kommen. Es würde garantiert ein richtig toller Abend werden. Trotzdem konnte Franzi es kaum erwarten, bis Felipe endlich sein großes Geheimnis lüftete.
»Und du willst mir wirklich nicht sagen, was in deinem Rucksack drin ist?«, versuchte sie es ein letztes Mal.
Felipe lachte. Seine weißen Zähne strahlten mit der festlichen Beleuchtung in den Schaufenstern um die Wette. »Nein, das will ich wirklich nicht!«
Neugierig musterte Franzi den großen Rucksack ihres Freundes. Jetzt hätte sie ein Durchleuchtungsgerät gebraucht, wie es die Sicherheitsleute am Flughafen benutzten. Leider besaßen die drei !!! so ein schickes Teil nicht.
Franzi gab auf, etwas aus Felipe herauskitzeln zu wollen. Kurz darauf standen sie vor dem noblen Altbau, in dem Marie zusammen mit ihrem Vater Helmut Grevenbroich, seiner Lebensgefährtin Tessa und deren Tochter Lina wohnte. Franzi schloss ihr Rad ab, ging mit Felipe hinein und sie ließen sich vom Aufzug ins oberste Stockwerk fahren.
Marie stand in einem hellblauen Kleid in der Tür, das von oben bis unten mit Glitzersteinen besetzt war. Über die nackten Schultern hatte sie eine schwarze Federboa geworfen, die perfekt zu ihren Smokey Eyes und den neuen Ponyfransen passte. »Herzlich willkommen, ihr zwei Verliebten! Schön, dass ihr da seid.« Sie begrüßte Franzi und Felipe mit jeweils drei Küsschen und hinterließ einen Hauch Maiglöckchenparfüm auf ihren Wangen.
Franzi ließ sich von Felipe aus der Jacke helfen und sagte: »Du siehst echt toll aus, Marie!«
Ihre Freundin lächelte geschmeichelt. »Du aber auch.«
»Du bist wunderschön!«, fügte Felipe hinzu und sah Franzi zärtlich an. Zur Feier des Tages trug er ein weißes Hemd und eine dunkle Hose.
Franzi zupfte verlegen an ihrem dunkelgrünen Hosenanzug, den sie mit einem knallroten Gürtel kombiniert hatte. In sportlichen Outfits fühlte sie sich wohler, aber heute hatte es ihr richtig Spaß gemacht, sich zu stylen und zu schminken.
»Ich hoffe, ihr habt Hunger mitgebracht!«, sagte Marie. »Wir haben ein riesiges Buffett vorbereitet.«
Felipe nickte begeistert. Franzi dagegen spürte, wie sich plötzlich ihr Magen verkrampfte. Sie musste an den nächsten Morgen denken. Bisher hatte sie ganz weit weggeschoben, dass sie mit Kim und Marie in den Skiurlaub fuhr und Felipe eine Woche nicht sehen würde. Wie sollte sie es bloß ohne seine Küsse, ohne seine Nähe aushalten?
Felipe, der Franzis Gedanken erraten hatte, flüsterte ihr ins Ohr: »Denk nicht an morgen. Heute wird gelacht und gefeiert!«
Franzi lächelte ihn an. Entschlossen hakte sie sich bei Felipe unter und ging hinüber ins Wohnzimmer, hinein ins Licht und das fröhliche Stimmengewirr der Gäste.
»Felipe, Franzi, da seid ihr ja!« Helmut Grevenbroich klatschte in die Hände. »Hiermit erkläre ich das Buffett für eröffnet!«
Sofort bildete sich eine lange Schlange vor dem Sideboard, das heute als Buffet diente. Marie hatte nicht übertrieben. Berge von Köstlichkeiten warteten auf die hungrigen Gäste: leckere Salate, Pasteten, Minipizzen, Hähnchenspieße, der berühmte Auberginenauflauf von Maries Vater und eine große Schüssel Vanillecreme mit Himbeeren.
Kim stand vorne in der Schlange und winkte ihren Freundinnen zu. »Ich bring euch was mit!«
Franzi musste lachen. Sobald es etwas zu essen gab, blühte Kim auf. Zu ihrer Verteidigung behauptete sie immer, sie brauche als Kopf des Detektivclubs regelmäßig Nervennahrung. Hinterher beschwerte sie sich dann, sie hätte schon wieder zugenommen, was gar nicht stimmte. Kim hatte eine tolle Figur. Gerade heute sah sie mit ihrer grauen Hose und dem engen weißen Top besonders gut aus.
Felipe reservierte schon mal einen Stehtisch für die drei !!!. Dort kamen sie alle zusammen und ließen es sich schmecken. Franzis Appetit kehrte in dem Augenblick zurück, als Felipe sie mit kleinen Häppchen fütterte.
»Wie es euch beiden geht, braucht man wohl nicht zu fragen, was?«, sagte Kim. Ein wehmütiger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich vor einiger Zeit von ihrem Freund Michi getrennt und war immer noch nicht ganz darüber hinweg.
Franzi legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ich würde dir gerne was von unserem Glück abgeben.«
»Lieb von dir.« Kim lächelte und beugte sich dann wieder über ihre Fischpastete. »Hmm, schmeckt die gut! Hast du die gemacht, Marie?«
Marie nickte stolz. »Tessa hat mir nur ein bisschen geholfen. Sie kann übrigens richtig gut kochen.«
Franzi warf einen Blick zum weißen Ledersofa hinüber. Dort saß Tessa und prostete gerade Helmut Grevenbroich mit einem Sektglas zu. Franzi konnte sich noch lebhaft an die Zeit erinnern, als Tessa Maries größte Feindin gewesen war. Marie hatte sich erst daran gewöhnen müssen, dass es nach dem Tod ihrer Mutter eine neue Frau im Leben ihres Vaters gab. Aber inzwischen hatte sie ihren Frieden mit Tessa gemacht.
Da kam Lina angerannt. »Marie, kann ich schon die Musik zum Tanzen auflegen?« Sie hatte eine neue Tönung in den rotblonden, schulterlangen Haaren und auf ihren hellen Wangen schimmerte Glitzercreme.
»Jetzt doch noch nicht!« Marie bereute es, dass sie Lina ausnahmsweise erlaubt hatte, ihre Glitzercreme zu benutzen und sich ein Kleid auszuleihen. Es war immer dasselbe: Wenn man ihr den kleinen Finger hinhielt, wollte sie gleich die ganze Hand. Und heute glaubte sie wohl, Maries neue beste Freundin und der DJ auf der Party zu sein.
Enttäuscht zog Lina wieder ab.
»Die Arme!«, sagte Franzi halb spöttisch, halb ernst. Bei ihr zu Hause war es genau umgekehrt. Ihre 16-jährige Schwester Chrissie fand es gar nicht lustig, wenn Franzi an ihren Kleiderschrank ging – was sie übrigens sowieso fast nie machte, weil ihr Chrissies Geschmack viel zu mädchenhaft war.
Marie grinste. »Keine Sorge, Lina wird es überleben. Seht ihr? Sie wickelt schon wieder meinen Vater um den Finger.« Ein Hauch Eifersucht schwang in ihrer Stimme mit, als sie beobachtete, wie Lina auf den Schoß ihres Vaters kletterte.
»Aber du bist und bleibst seine Lieblingstochter«, sagte Kim und schob sich genießerisch einen Löffel Vanillecreme in den Mund. Dabei sah sie sich im Wohnzimmer um, das mit Lichterketten und Blumen geschmückt war. »Sag mal, Marie, wollte Holger nicht auch kommen?«
»Hmm, ja, schon …« Marie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Es kam selten vor, dass sie verlegen wurde. »Keine Ahnung, wo er bleibt.«
Kim und Franzi sahen sich amüsiert an. Obwohl Marie sich schon vor ewigen Zeiten von Holger getrennt hatte und die beiden »bloß Freunde« waren, hatte sie anscheinend immer noch Schmetterlinge im Bauch.
»Gibt’s sonst was Neues?«, fragte Marie, um von Holger abzulenken. »Irgendein spannender Fall für die drei !!! in Sicht?«
Kim warf einen schnellen Seitenblick zu Felipe hinüber. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass sie vor Außenstehenden nicht über ihre Ermittlungen sprachen. Das galt auch für enge Freunde. Andererseits war seit Halloween nichts passiert, was unter die Geheimhaltungsklausel fiel.
»Momentan leider nicht«, sagte Kim. »Ich bin aber ganz froh darüber. Wir hatten im letzten Jahr ziemlich viel zu tun. Das war echt anstrengend.«
Felipe nickte anerkennend. »Ihr seid ziemlich erfolgreich, was?«
»Allerdings!«, sagte Marie selbstbewusst. »Seit unserer Clubgründung haben wir einigen Verbrechern das Handwerk gelegt: Erpressern, Entführern, Fälschern und so weiter. Auch im Ausland haben wir ermittelt, in Frankreich und Großbritannien. In Paris zum Beispiel …«
»Das weiß Felipe doch alles schon«, unterbrach Franzi den Redefluss ihrer Freundin. Marie trug wieder mal viel zu dick auf. Sie wollte später Schauspielerin oder Sängerin werden und neigte leider dazu, Bühne und Leben manchmal miteinander zu verwechseln.
Marie zog einen Schmollmund. »Alles kann er doch gar nicht wissen!« Sie holte Luft, um weiterzureden, da läutete es an der Haustür. Sofort sprang Marie auf und stöckelte in Richtung Flur. »Das muss er sein!«
Kim war sichtlich erleichtert. Sie konnte es nicht leiden, wenn Franzi und Marie sich in die Haare gerieten. »Ich hol mir noch einen Nachschlag vom Buffett«, verkündete sie.
Felipe war verdutzt, wie schnell sich der Tisch leerte. »Franzi, du rennst jetzt aber nicht auch noch weg, oder?«
»Natürlich nicht!«, sagte sie. »Ich bleib bei dir, den ganzen Abend!«
Felipe lächelte. »Gut zu wissen. Schließlich haben wir heute noch einiges vor.«
»Zeigst du mir jetzt endlich deine Überraschung?«, hakte Franzi sofort nach.
»Noch nicht!«, sagte er. Es hatte fast den Anschein, als würde es ihm Spaß machen, sie auf die Folter zu spannen.
Da kam Marie mit Holger ins Wohnzimmer. Freudestrahlend ging sie zur Stereoanlage und legte eine CD mit Partymusik auf. Dann zog sie Holger, der gerade die anderen Gäste begrüßte, auf die Tanzfläche. Die beiden waren ein schönes Paar: der große, sportliche Holger mit seinen pechschwarzen Haaren und die schlanke, blonde Marie. Wenn sie denn ein Paar gewesen wären …
»Komm, lass uns auch tanzen!«, schlug Felipe vor.
Franzi ließ sich nur zu gerne von seinem mexikanischen Temperament anstecken. Seit sie bei einem Hip-Hop-Dance-Workshop im Rock Camp mitgemacht hatte, kribbelte es in ihren Beinen, sobald sie Musik hörte.
Felipe war ein toller Tänzer. Er wirbelte Franzi herum, überraschte sie mit komplizierten Drehungen und unerwarteten Moves. Aber er führte so gut, dass Franzi ihm blind folgen konnte. Trotzdem war sie froh, als endlich auch einmal ein langsamer Song gespielt wurde. Franzi legte die Arme um Felipes warmen Hals. Sie tanzten jetzt ganz eng. Franzis Herz schlug so schnell, dass es fast wehtat. Noch nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen. Plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr Glück würde auf die anderen überspringen. Auf Marie, die mit geschlossenen Augen Wange an Wange mit Holger tanzte. Und auf Kim, die eine Zeit lang einsam am Rand der Tanzfläche gestanden hatte, aber jetzt von Viktor aufgefordert wurde, einem süßen Jungen aus Maries Klasse.
Die Zeit stand still. Franzi tanzte und tanzte.
Irgendwann hörte sie Felipe sagen: »Bald ist Mitternacht. Komm mit, ich muss dir was zeigen.«
Erst wusste Franzi nicht, was er meinte, aber als ihr die Überraschung wieder einfiel, war sie unglaublich gespannt. Felipe holte seinen Rucksack aus dem Flur und führte Franzi in Maries Zimmer. Hier war kaum noch etwas von der rauschenden Party im Wohnzimmer zu hören. Feierlich breitete Felipe auf der Tagesdecke von Maries Bett ein bunt gemustertes Seidentuch aus. Dann zog er einen Stoffbeutel aus dem Rucksack und forderte Franzi auf, vor dem Bett in den Schneidersitz zu gehen.
»Was wird das denn?«, wollte Franzi wissen.
Felipes Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Sie war nur noch ein Raunen, ein Flüstern. »Ich habe einen mexikanischen Liebeszauber für uns vorbereitet.«
Franzi bekam eine Gänsehaut. Sie hatte noch die unheimlichen Prophezeiungen von Felipes Oma im Ohr. Hatte Felipe etwa das Skelett mitgebracht, das seine Oma in ihrem Zimmer aufbewahrte?
»Du zitterst ja!« Felipe legte beruhigend den Arm um sie. »Keine Angst, Franzi. Hier geht es nicht um die mexikanische Totengöttin Santa Muerte, die meine Oma verehrt. Hier geht es um Glück und um die Liebe. Wenn wir eine Kerze anzünden und gemeinsam einen Spruch aufsagen, wird unsere Liebe ewig halten. Wir müssen aber beide ganz fest daran glauben.«
Franzis Gänsehaut war verschwunden. Auf einmal fand sie Felipes Idee ziemlich romantisch. »Du bist echt süß!«, sagte sie.
Felipe erklärte ihr alles. Dann öffnete er den Stoffbeutel und legte nacheinander mehrere Dinge auf das Seidentuch: zuerst ein Foto von ihnen beiden, das sie mit Selbstauslöser gemacht hatten. Darauf streuten sie zwei Handvoll Reis und beschwerten es mit einem wunderschönen Rosenquarzstein. Anschließend zündete Felipe eine dünne Kerze an. Als die Kerze fast heruntergebrannt war, sagten sie langsam den Spruch auf, einmal auf Spanisch und danach noch einmal auf Deutsch:
Te adoro.
Te quiero.
Eres todo para mí.
No puedo vivir sin ti.
Pienso en tí en todo momento.
Ich bewundere dich.
Ich liebe dich.
Du bist alles für mich.
Ohne dich kann ich nicht leben.
Ich denke an dich in jedem Augenblick.
Der Kuss, den sie sich danach gaben, war ein feierlicher Schwur ihrer Liebe. Franzi bekam wieder eine Gänsehaut, doch diesmal vor lauter Glück. Als sie aufstand, zitterten ihre Knie und draußen vor dem Fenster explodierten die ersten Feuerwerksraketen.
»Wir müssen zu den anderen zurück, gleich ist Mitternacht«, sagte Franzi.
»Warte noch!«, rief Felipe. Er verstaute das Foto, den Rosenquarz und die Reiskörner im Stoffbeutel und gab ihn Franzi. »Bewahrst du ihn für uns auf, an einem geheimen Ort?«
Franzi versprach es feierlich. »Ja, das mache ich.«
Hand in Hand kehrten sie ins Wohnzimmer zurück. Dort knallten schon die Sektkorken und Maries Vater verkündete eine tolle Neuigkeit: »Ich hab gerade eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter entdeckt, die mir mein Makler vor ein paar Stunden hinterlassen hat. Er meint, dass wir richtig gute Chancen auf unser Traumhaus im Ostviertel haben. Es gibt nur noch einen Mitbewerber. Den schlagen wir locker aus dem Rennen. Also, drückt uns die Daumen!«
»Ja!«, jubelte Marie. Sie hatte die Villa im Internet gefunden und sich sofort in das schneeweiße Gebäude am Waldrand verliebt. Sosehr sie das Penthaus auch liebte, für vier Leute war es auf Dauer einfach zu eng.
Herr Grevenbroich und Tessa verteilten Sekt an die Erwachsenen und eisgekühlten Orangensaft an Marie und ihre Freunde. Mit den Gläsern in der Hand gingen sie hinaus auf die Dachterrasse, um das Feuerwerk zu bewundern.
Marie verkündete laut den Countdown bis Mitternacht: »Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins, NULL!«
Feuerwerkskörper knallten. Der dunkle Winterhimmel verwandelte sich in ein schillerndes Farbenmeer. Alle fielen sich lachend um den Hals. Felipe strahlte Franzi an. »Ein gutes neues Jahr wünsche ich dir.«
»Das wünsche ich dir auch.« Franzi flog in Felipes Arme. Über ihren Köpfen sprühte ein silberner Funkenregen. Felipes Lippen prickelten auf Franzis Mund. Sie lachte. Und auf einmal hatte sie das dringende Bedürfnis, nicht nur ihn, sondern auch Kim und Marie zu umarmen, ihre allerbesten Freundinnen.
Da tippte Kim ihr auf die Schulter. »Dürfen wir kurz stören? Die drei !!! müssen jetzt unbedingt anstoßen.«
Franzi nahm sich ein Sektglas mit Orangensaft vom Tablett, das Marie ihr hinhielt. Die drei !!! prosteten sich zu.
»Auf unseren Club!«, sagte Franzi.
»Auf spannende neue Fälle im neuen Jahr«, sagte Marie.
»Und auf unsere Freundschaft!«, sagte Kim.
Zwei gelbe Scheinwerfer strahlten Felipe an. Er sprang wie ein Jojo auf dem Parkplatz herum und warf Franzi Kusshände zu. Als der Reisebus losfuhr, rannte er noch ein Stück winkend nebenher. Franzi winkte zurück, bis der Bus auf die Straße einbog und Felipe hinter dem Gebäude des Jugendzentrums verschwunden war. Dann lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und fühlte sich, als hätte sie einen Teil ihrer Seele auf dem Parkplatz zurückgelassen. Das Einzige, was ihr zum Trost in dieser Woche blieb, war der Stoffbeutel mit den Utensilien des Liebeszaubers. Heute Morgen hatte sie noch in letzter Sekunde den Beutel in ihren Koffer gepackt. So hatte sie wenigstens ein winziges Stück von Felipe dabei.
»Hey, Trübsal blasen gilt nicht!« Marie knuffte Franzi in die Seite. »Ihr könnt euch doch simsen und du kannst dich jetzt schon auf euer Wiedersehen freuen. Ich dagegen fahre als einsamer Single fort und kehre als einsamer Single zurück.«
Franzi musste grinsen. »Du Arme! Gestern auf der Party warst du aber ganz und gar nicht einsam.«
»Du hättest Holger nur fragen müssen, dann hätte er dich bestimmt zum Jugendzentrum gebracht«, sagte Kim.
»Kann schon sein.« Marie betrachtete versonnen ihr Spiegelbild im Fenster. Draußen war es noch stockdunkel. Sie waren in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen, um bereits mittags im Skigebiet zu sein. »Holger und ich hatten einen tollen Silvesterabend, aber ihr wisst ja, dass ich meine Freiheit brauche. Ich will schließlich beim Flirten nicht aus der Übung kommen. Außerdem sollen die österreichischen Skilehrer besonders attraktiv sein.«
»Schon klar«, sagte Franzi. Inzwischen kannte sie Marie gut genug. So cool, wie sie tat, war sie in Wirklichkeit gar nicht. Holger bedeutete ihr immer noch sehr viel.
Kim lehnte sich zufrieden in ihrem Sitz zurück. »Also ich freu mich vor allem auf die gemütlichen Hüttenabende.«
»Und ich mich aufs Snowboarden«, sagte Franzi. Die Aussicht auf Pulverschnee und rasante Abfahrten ließ den Abschied von Felipe in den Hintergrund treten.
Der Bus war inzwischen auf der Autobahn und brummte gleichmäßig vor sich hin. Gut gelaunt griff der Betreuer der Skifreizeit zum Mikrofon. »Hallo, Leute! Das wird eine supertolle Skiwoche in Österreich. Mich kennt ihr ja schon aus dem Jugendzentrum. Ich bin Tom und ihr dürft immer noch Du zu mir sagen. Gemeinsam stürmen wir die Piste. Yeah!« Er ließ einen lächerlichen Tarzanschrei los.
Marie verdrehte die Augen. »Wir hätten Knebel mitnehmen sollen oder wenigstens ein Pflaster. Der Typ hat mich schon auf der Parisreise die letzten Nerven gekostet.«
»Ich dachte, das wären die Superzicken gewesen.« Kim zeigte auf Verena, Luise und Jasmin, die auf der gegenüberliegenden Seite des Mittelgangs saßen und Toms Sprüche wahnsinnig komisch fanden. Damals in Paris hatten die Superzicken die drei !!! mit ihrer Neugier verrückt gemacht und dauernd versucht, die Ermittlungen zu stören.
Maries Antwort wurde von Toms lauter Stimme übertönt. »Ich erwarte einen extra herzlichen Applaus für meine charmante Assistentin Chrissie Winkler!«
Jetzt verdrehte Franzi die Augen. Leider hatte sie ihrer Schwester den Ferienjob nicht ausreden können. Chrissie brauchte dringend Geld für neue Klamotten, wollte sich aber auf keinen Fall bei ihrem Job überanstrengen. Das konnte heiter werden.
»Wir sorgen schon dafür, dass deine Schwester dich in Ruhe lässt«, versprach Kim, die selbst heilfroh war, dass ihre frechen Brüder zu Hause bleiben mussten.
Franzi nickte dankbar und sah sich im Bus um. Zum Glück fuhren auch nette Leute mit. Viktor und Lars zum Beispiel, Maries Mitschüler. Und Lena war auch okay. Mittlerweile mochte Franzi ihr Gitarrenspiel sogar. Auch jetzt gerade klimperte Lena vor sich hin.
Franzi pfiff leise die Melodie mit. Fast hätte sie deshalb ihr eigenes Handy überhört. Aber wirklich nur fast. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als sie die SMS von Felipe las.
Meine Küsse fliegen zu dir in den Schnee. F.
»War das Felipe?«, fragte Marie neugierig. »Siehst du, dein Freund denkt jede Sekunde an dich.«
Plötzlich beugte sich Verena vom Mittelgang herüber. »Entschuldigt, ich hab zufällig den Namen Felipe aufgeschnappt. Redet ihr etwa von Felipe Baer-Carvallo?«
Franzi steckte schnell ihr Handy weg, bevor Verena auch noch »zufällig« die SMS las. »Ja, wieso?«, fragte sie unfreundlich.
Verena klimperte mit ihren großen blauen Augen. »Ich war neulich im Sugarland. Da hab ich deinen Felipe kennengelernt.«
»Ja, und?« Franzi versuchte, ihre aufkeimende Eifersucht zu unterdrücken.
»Er ist schon sehr süß«, redete Verena weiter. »Ich kann gut verstehen, dass du mit ihm zusammen bist. Aber ich wollte dich nur warnen – sozusagen von Frau zu Frau. Er ist nämlich leider nicht ganz so nett und unschuldig, wie er immer tut.«
Einzig und allein ihre gute Erziehung hielt Franzi davon ab, laut zu werden. »Was willst du damit andeuten?«, fragte sie beherrscht.
»Ich, andeuten?« Auf einmal war Verena die Unschuld in Person. »Gar nichts. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.« Sie drehte sich zu ihren Freundinnen um und alle drei kicherten wie auf Kommando los.
Franzi kochte innerlich vor Wut, aber noch schlimmer war die Angst hinter der Wut, dass Verena tatsächlich etwas über Felipe wusste, wovon sie selbst keine Ahnung hatte. Und dass Verena mit ihren Beschuldigungen recht haben könnte.
»Lass dich von der bloß nicht nerven«, raunte Kim ihr ins Ohr.
Marie warf den Superzicken einen verächtlichen Blick zu. Dann sagte sie zu Franzi: »Die will sich doch bloß wichtigmachen.«
Franzi nickte. Demonstrativ kehrte sie Verena den Rücken zu, startete ihren MP3-Player und drehte den neuen Song ihrer Lieblingsgruppe Boyzzzz extra laut auf. Sie wollte ihren Freundinnen nur zu gerne glauben. Trotzdem blieb ein winzig kleiner Stachel in ihrem Herzen zurück, den Verena dort mit einem Widerhaken verankert hatte.
Den Rest der Fahrt versuchte Franzi, Verena einfach auszublenden, was ihr zum Glück auch gelang. Mit Musikhören, Quatschen und Lesen verging die Zeit wie im Flug. Franzi konnte es kaum glauben, als der Bus auf dem großen Parkplatz vor der Talstation des Skiortes hielt.
»Hurra, wir sind da!«, verkündete Tom begeistert durchs Mikrofon. »Schnee und Sonne gibt es heute gratis. Um euer Gepäck und den Skipass müsst ihr euch nicht kümmern. Schnappt euch einfach eure Skier und stellt euch beim Lift an. Sobald wir komplett sind, fahren wir hinauf zur Mittelstation. Von dort ist es nur ein Katzensprung bis zu unserer Unterkunft.«
Aufgeregt sprangen die drei !!! aus dem Bus. Franzi atmete tief die klare, kalte Winterluft ein und sah sich um. Rechts und links von der Straße reihten sich große Hotels aneinander. Mit ihren rustikalen Holzbalkonen erinnerten sie Franzi an viele schöne Skiurlaube, die sie als Kind mit den Eltern in Österreich verbracht hatte. Plötzlich hatte sie das sichere Gefühl, dass es eine tolle Woche werden würde, auch ohne Felipe. Übermütig bückte sie sich, formte einen Schneeball und warf ihn auf Marie.
»Iiieh!«, kreischte ihre Freundin. »Hör sofort auf damit, Franzi. Du zerstörst meine neue Frisur.« Hektisch zupfte sie an ihren Ponyfransen.
Franzi grinste nur. »Du siehst toll aus. Und jetzt beeil dich. Sonst verpassen wir den Lift.«
Eine Viertelstunde später schwebten Kim, Franzi und Marie zusammen mit den anderen in einer großen Gondel den Berg hinauf. Die Sonne erreichte gerade ihren höchsten Punkt. Der Schnee funkelte wie tausend Diamanten. Skifahrer in bunten Anzügen wedelten die Piste hinunter. Franzi konnte es kaum erwarten, sich unter die Wintersportler zu mischen. Am liebsten wäre sie sofort losgefahren.
Tom bestand leider darauf, dass sie zuerst ihre Unterkunft besichtigten. Von der Mittelstation aus querten sie einen kleinen Hang. Bald tauchte hinter einer Felsformation ein tief verschneites Winterdorf vor ihnen auf. Es lag eingebettet in ein verwunschenes Tal, das von weiß glitzernden Tannenbäumen umgeben war. Zwölf rustikale Holzhütten gruppierten sich um einen zugefrorenen, malerischen Teich.
Kim seufzte glücklich. »Das sieht ja aus wie im Märchen!«
Franzi fand das Dorf auch wunderschön. Nur Marie machte sich Sorgen, ob der Komfort der Unterkunft auch ihren Ansprüchen genügte. »Hoffentlich gibt es Duschen in den Hütten und fließendes warmes und kaltes Wasser«, murmelte sie leise.
Franzi lachte. »Ist mir egal. Meinetwegen können wir uns auch mit Schnee abreiben.«
Marie verzog entsetzt das Gesicht.
Plötzlich hörten sie Hundegebell. Ein hagerer, dunkelhaariger Mann kam mit einem knurrenden Schäferhund auf die Jugendgruppe zu. Kim und Marie wichen lieber einen Schritt zurück. Nur Franzi blieb ruhig stehen. Kaum hatte der Mann leise »Platz!« gerufen, gehorchte sein Hund.
»Herzlich willkommen im Tannenwinkel«, sagte der Hundehalter, der Anfang 20 war und einen buschigen Schnurrbart trug. »Ich heiße Hans Schachner und bin hier der Verwalter. Ihr könnt euch mit allen Fragen an mich wenden. Mein Zimmer ist gleich hinter der Bibliothek.« Er erwähnte, dass es auch noch eine ausgebildete Krankenschwester im Dorf gab, falls jemand krank wurde oder sich beim Skifahren verletzte. Danach erzählte er einiges über die Landschaft und den Tannenwinkel.
Franzi interessierte das alles nicht besonders. Sie ging auf den großen Schäferhund zu und streckte ihre Hand aus. »Na, du? Wie geht’s?«
Der Hund knurrte wieder. Aber Franzis ruhige Stimme schien ihm zu gefallen. Bald hörte er auf zu knurren und spitzte neugierig die Ohren. Doch bevor Franzi sein weiches Fell kraulen konnte, ging Hans Schachner dazwischen. »Lass das!«, sagte er barsch. »Paco ist ein Lawinensuchhund, kein Schoßhündchen.«
Franzi runzelte verärgert die Stirn. »Mein Vater ist Tierarzt. Ich kenne mich mit Hunden aus.«
Der Verwalter musterte sie mit seinen kleinen, durchdringenden Augen. »Ich möchte trotzdem nicht, dass du Paco streichelst. Er soll nur auf meine Befehle hören. Im Ernstfall, wenn eine Lawine abgeht, muss er hundertprozentig gehorchen.«
»Verstehe«, sagte Franzi. Auch wenn er recht hatte, fand sie ihn spontan unsympathisch.
Kim und Marie ging es genauso. Leicht genervt folgten die drei !!! seinem umständlichen Vortrag. Sie erfuhren, dass Hans Schachner neben seiner Tätigkeit als Verwalter auch bei einem Lawinensuchtrupp mitarbeitete und in seiner Freizeit Sachbücher über die Region schrieb. Ein paar Bücher von ihm standen im Regal der Bibliothek, die in der Haupthütte untergebracht war, wo es auch zwei Computer mit Internetzugang gab. In der Haupthütte war außerdem ein Gemeinschaftsraum für die Mahlzeiten und Gruppentreffen.
Endlich zeigte der Verwalter ihnen die Hütten, in denen sie wohnen würden. Jede Unterkunft hatte ein Schlafzimmer mit vier Betten. Kim, Franzi und Marie machten sofort klar, dass sie zusammen in eine Hütte wollten.
Hans Schachner hakte sie auf seiner Gästeliste ab. »Gut. Dann schlage ich vor, dass Chrissie Winkler zu euch kommt. Ihr seid Schwestern, hab ich gehört.«
»Äh … ehrlich gesagt … finde ich das keine so gute …«, fing Franzi an.
»Perfekt!«, fiel Chrissie ihr ins Wort. Grinsend legte sie den Arm um Franzis Schulter. »Ich halte es nämlich keinen Tag ohne mein geliebtes Schwesterchen aus!«
Damit war es beschlossene Sache. Franzi graute jetzt schon davor, dass Chrissie jeden ihrer Schritte verfolgen und später alles brühwarm ihren Eltern erzählen würde. Zum Glück war sie ihrer Schwester nicht alleine ausgeliefert.
Als die drei !!! ihre Hütte betraten, inspizierte Marie alles und ließ einen Begeisterungsschrei nach dem anderen los. »Ein offener Kamin im Wohnzimmer! Eine Dusche mit Tropenregen! Eine WLAN-Verbindung für unseren Laptop! Und ihr glaubt es nicht: Wir haben sogar eine eigene Sauna!«
Franzi lachte. »Dann sind deine Wellnesseinheiten ja gesichert. Aber jetzt ist erst mal Skifahren angesagt!«
An der Mittelstation warteten die jungen Skilehrer auf die Gruppe. Simon und Toni waren Brüder, was Franzi auf den ersten Blick niemals vermutet hätte. Simon war blond, hatte lebhafte Augen und ein verschmitztes Grinsen. Toni hatte schwarze, schulterlange Haare, feine Gesichtszüge und besaß eine ruhige Ausstrahlung, die ihn fast noch interessanter machte als Simon. Tatsache war, dass beide unverschämt gut aussahen – und Marie nahm sich fest vor, mit beiden zu flirten.
»Hallo, Mädels, hallo, Jungs!«, sagte Simon. »Ich freu mich auf die Tage mit euch. Heute möchten Toni und ich erst mal sehen, was ihr so draufhabt. Dann teilen wir euch in zwei Gruppen ein.«
»Tut alles, was euch diese beiden Genies sagen!« Tom kratzte gut gelaunt seinen Dreitagebart. »Es sind die besten Skilehrer ganz Österreichs, Quatsch, der ganzen Welt!«
Nur die Superzicken fanden die Bemerkung witzig. Toni und Simon – beide waren wie Hans Schachner etwa Anfang 20 – lächelten verlegen und Kim stöhnte leise. Sie fuhr gern Ski, aber sie hasste das Probelaufen am ersten Tag. Da hatte sie immer das Gefühl, dass alle sie anstarrten und nur darauf warteten, dass sie einen Fehler machte.
Die Skilehrer brachten sie zu einem Übungshang in der Nähe der Mittelstation. Dort nickte Toni Kim aufmunternd zu. »Möchtest du anfangen?«
»Du schaffst das schon«, flüsterte Franzi Kim zu und Marie streckte beide Daumen in die Höhe.
Während Kim langsam den flachen Übungshang hinunterfuhr, schüttelte Chrissie vor Simon ihre rote Lockenmähne. »Hi! Ich bin Chrissie, Toms Assistentin. Ich helf dir total gerne, wenn du mal Hilfe brauchst oder so.« Worin ihre Hilfe genau bestehen sollte, ließ sie im Unklaren.
Simon grinste. »Danke. Lieb von dir.« Bewundernd musterte er Chrissies schlanke Figur, die im engen, gelben Skianzug besonders gut zur Geltung kam.
Franzi hatte es geahnt. Chrissie war gerade Single und verzweifelt auf der Suche nach einem Flirt. Kein Wunder, dass sie sich auf den erstbesten Typen stürzte, der ihr über den Weg lief. Aber im Grunde war es Franzi nur recht. Dann war ihre Schwester wenigstens abgelenkt.
Inzwischen war Kim am unteren Ende des Hangs angelangt. Toni winkte ihr zu, dass sie wieder heraufkommen sollte.
»Ist Kim nicht toll gefahren?«, sagte Marie zu Toni. »Kim ist meine Freundin. Und ich bin übrigens Marie.« Sie schenkte dem Skilehrer ihr Strahlelächeln.
Er lächelte herzlich zurück. »Alles klar. Möchtest du als Nächste fahren?«
»Unbedingt«, sagte Marie. Sie setzte sich ihre pinkfarbene, verspiegelte Skibrille auf und sauste los.
Franzi sah ihrer Freundin anerkennend zu. Sie selbst hatte es nicht eilig und ließ die anderen gerne vor. Viktor und Lars waren ebenfalls gute Skiläufer. Die Superzicken dagegen kicherten die ganze Zeit und stellten sich absichtlich dumm an. Nach einem missglückten Parallelschwung landete Verena auf ihrem Hinterteil. Sie saß immer noch im Schnee und jammerte vor sich hin, als Franzi lässig an ihr vorbeiwedelte. Den letzten Teil der Strecke fuhr Franzi Schuss, verkantete die Skier und kam mit einem eleganten Schwung zum Stehen. Von oben hörte sie den spontanen Applaus der Skilehrer.
»Sehr gut, Franzi!«, rief Simon.
Verena, die sich endlich aufgerappelt hatte, warf Franzi einen giftigen Blick zu. »Musst du immer so schrecklich angeben?«
Franzi löste ihre Skibindung und setzte ein unschuldiges Gesicht auf. »Wieso angeben? Ich hab doch noch gar nicht meinen Überschlag auf dem Snowboard gezeigt.« Dann schulterte sie ihre Skier und stapfte an der verblüfften Verena vorbei den Hang hinauf.
Abends im Bett, nach einem langen ersten Ferientag und einem gemütlichen Hüttenabend, schickte Franzi per SMS tausend Küsse an Felipe. Verena erwähnte sie mit keinem Wort. Mittlerweile gab sie Kim und Marie recht. Verena hatte eindeutig einen Minderwertigkeitskomplex und wollte sich nur wichtigmachen. Ab morgen würde sie die blöde Zicke einfach komplett ignorieren.
Marie kam zu spät zum Frühstück. Sie trug einen mintfarbenen Pullover, schwarze Röhrenhosen und Kuhfellstiefel. Auf ihren Augen schimmerten silberne Glanzpunkte. Aber ihre Laune glänzte ganz und gar nicht.
»Was ist denn mit dir los?« Kim verdrückte gerade ihr zweites Brötchen mit Honig. »Hast du schlecht geschlafen?«
»Oder hast du gestern noch mit Viktor und Lars einen Mitternachtsspaziergang gemacht?«, fragte Franzi.
Marie hatte beim Hüttenabend ihre beiden Mitschüler, die bereits seit einiger Zeit Fans von ihr waren, vollends mit ihrem Charme eingewickelt. Sie war noch mit ihnen im Gemeinschaftsraum geblieben, als Kim und Franzi sich schon hundemüde ins Bett zurückgezogen hatten.
Marie ließ sich mit einem Stoßseufzer auf die Eckbank fallen. »Geschlafen hab ich wie ein Murmeltier. Aber davor hab ich mich total geärgert. Ich wollte den gelungenen ersten Tag mit einem Saunagang ausklingen lassen, aber unsere Sauna war kaputt.«
»Das ist natürlich eine Riesenkatastrophe«, sagte Franzi grinsend. »Erdbeben und Sturmfluten sind nichts dagegen.«
Marie stieß unter dem Tisch gegen Franzis Schienbein. »Du bist blöd! Ich hab mich wirklich geärgert. Heute Morgen gleich noch mal. Ich hab diesem Verwalter Bescheid gegeben, dass er unsere Sauna sofort reparieren soll, aber er hat nicht den Eindruck gemacht, dass das auf seiner Prioritätenliste ganz oben steht.«
Kim wischte sich kichernd die Brötchenkrümel aus den Mundwinkeln. »Was für eine Überraschung! Wo Hans doch sooo nett ist.« Sie konnte es sich erlauben, offen zu reden, weil der Verwalter bisher nicht zum Frühstück erschienen war.
Bevor Marie etwas darauf sagen konnte, klatschte Tom in die Hände. »Macht euch langsam startklar. Wir sollten unsere genialen Skilehrer nicht warten lassen.«
»Los, los!« Chrissie scheuchte im Kommandoton die Leute von den Bänken.
Bei den meisten hatte sie Erfolg damit. Nur die drei !!! frühstückten jetzt erst recht in aller Ruhe zu Ende. Sie kamen trotzdem pünktlich zum vereinbarten Sammelpunkt vor dem Skischuppen. Das Tal lag noch im Schatten, aber der zartblaue Himmel ließ einen weiteren herrlich schönen Tag erahnen.
Kim rutschte nervös auf ihren Skiern herum. »Hoffentlich hat Simon heute nicht gleich eine Buckelpiste für uns ausgesucht.«
Sie hatte es leise Marie zugeflüstert, die mit ihr in einer Gruppe war, doch Simon hatte es gehört. »Keine Angst! Wir fangen ganz harmlos an. Vertrau mir!«
Kim wurde rot. »Okay …«
»Du fährst doch super Ski«, mischte Lars sich ein, worauf Kim noch röter wurde und sich gleichzeitig sichtlich freute. Lachend winkte sie Franzi zum Abschied zu.
»Viel Spaß!«, rief Franzi Kim und Marie zu.
Erst war sie ein bisschen traurig gewesen, dass die drei !!! nicht in eine Gruppe gekommen waren. Doch bei Tonis Angebot, in seinem Anfängerkurs als Einzige statt Skiern ihr Snowboard benutzen zu dürfen, konnte sie nicht widerstehen. Dafür nahm sie sogar Chrissie und die Superzicken in Kauf.
Simon, Tom, Kim, Marie, Viktor und Lars steuerten die Mittelstation an. Toni fuhr mit der Anfängergruppe hinüber zum gestrigen Übungshang. Chrissie wich dem Skilehrer nicht von der Seite. Sie nutzte die Gelegenheit, um ihn über Simon auszufragen, mit dem sie beim gestrigen Hüttenabend heftig geflirtet hatte. »Dein Bruder ist jünger als du, oder? Was macht er denn sonst so, wenn er nicht gerade Ski fährt? Unternimmt er viel mit Freunden … und äh … Freundinnen?«
»Simon ist ein Jahr jünger als ich«, sagte Toni. Franzi merkte ihm an, dass ihn Chrissies aufdringliche Art nervte, aber er blieb trotzdem freundlich. »Er arbeitet als Skilehrer und im Hotel unseres Vaters im Tal, genau wie ich. Simon liebt jede Art von Sport: Skifahren, Snowboarden, Schwimmen. Und ja – er hat viele Freunde.«
Chrissies Neugier wurde damit nur zum Teil befriedigt. Franzi musste grinsen. Es geschah ihrer Schwester nur recht, dass Toni sie zappeln ließ.
Beim Übungshang veranstalteten Verena, Luise und Jasmin einen Wettbewerb in der Disziplin, wer am häufigsten im Schnee landet. Chrissie zog erst einmal ihren Lippenstift nach. Nur Franzi legte gleich voll los. Sie führte Toni ihre Snowboardkünste aus der letzten Wintersaison vor. Da hatte sie zum ersten Mal an einem Snowboardkurs teilgenommen, der ihr total viel Spaß gemacht hatte.
»Du hast wirklich Talent«, sagte Toni, nachdem sie dreimal die Piste hinuntergesaust war. Er schlang seinen dunkelblauen Schal enger um den Hals, weil es trotz Sonne immer noch sehr kalt war. »Hast du es schon mal mit fakie probiert?«
»Du meinst rückwärtsfahren?« Franzi krauste die Nase. »Nee, bis jetzt noch nicht. Ich bin nur so ein bisschen vor mich hingerutscht.« Auch von Überschlägen war sie weit entfernt, aber es hatte sie tierisch gefreut, dass Verena gestern ihre Lüge geschluckt hatte.
»Ich hab einen Trick für dich«, sagte Toni. Er ließ sich von Franzi ihr Snowboard geben und schraubte die Bindung um. »Jetzt sind die Winkel ziemlich steil. Teste mal, wie sich das anfühlt.«
Am Anfang war es ein merkwürdiges Fahrgefühl, aber dann kam Franzi überraschend gut klar. »Super Tipp von dir, danke!«
»Hallo?« Verena stand auf wackeligen Knien oben an der Piste und fuchtelte mit ihrem Skistock. »Wird das hier eine Einzelstunde oder was? Wir sind auch noch da.«
»Verena hat recht, Toni, wir brauchen hier dringend deine Hilfe!«, rief Chrissie. Langsam fragte sich Franzi, wofür ihre Schwester eigentlich ihr Geld bekam.
»Ich komm schon!« An Tonis rechtem Ohrläppchen blitzte ein winziges, silbernes Kreuz auf, als er losfuhr, um sich geduldig um die Anfänger zu kümmern.
Franzi packte der Ehrgeiz. Sie beschloss, an diesem Vormittag perfekt fakie fahren zu lernen. Immer wieder übte sie die Rechts- und Linksschwünge. Dabei kam sie ganz schön ins Schwitzen.
Irgendwann sah Toni besorgt zum Himmel und sagte: »Es tut mir leid, aber wir müssen früher Mittagspause machen. Das Wetter schlägt um.«
Franzi hatte gar nicht bemerkt, dass sich immer mehr Wolken vor die Sonne geschoben hatten. Dunkle Schatten jagten über die Berggipfel. Plötzlich wurde es deutlich kühler und ein scharfer Wind wirbelte den Schnee auf.
Die Anfängergruppe brauchte doppelt so lange für den Rückweg zum Tannenwinkel wie am Morgen für den Hinweg. Sie hatten Gegenwind, der ihnen die Schneekristalle wie spitze Nadeln in die Gesichter trieb. Sogar Franzi war froh, als sie endlich im warmen Gemeinschaftsraum der Haupthütte saßen. Das Mittagessen war noch nicht fertig, aber die Köchin brachte ihnen Früchtetee zum Aufwärmen.
Toni schaute auf sein Handy, schrieb schnell eine SMS und zog seine Skijacke rasch wieder an. »Ich muss kurz ins Tal fahren und etwas für eine andere Touristengruppe organisieren. Chrissie, bist du so lieb und übernimmst die Aufsicht, bis Tom hier ist?«
»Natürlich, mach ich gerne«, sagte Chrissie. Kaum hatte Toni den Raum verlassen, schnappte sie sich eine Modezeitschrift und sah ab und zu gelangweilt zum Fenster hinaus.
Franzi achtete nicht mehr auf sie, bis ihre Schwester plötzlich aufstand und murmelte, sie müsse dringend irgendetwas erledigen und sei gleich wieder da. Franzi war nicht besonders traurig darüber. Entspannt lehnte sie sich zurück und rieb ihre schmerzenden Oberschenkel. Sie überlegte gerade, ob sie mit gezieltem Stretching einen Muskelkater vermeiden könnte, als Verena neben sie auf die Bank rutschte.
»Ich wollte mit dir noch mal über Felipe reden«, raunte sie geheimnisvoll.
Franzi rückte ein Stück von ihr weg. »Ich aber nicht mit dir.«
Verena ließ ihr albernes Lachen hören. »Gib dir keine Mühe. Ich seh es dir an der Nasenspitze an, wie gespannt du bist.«
Franzi fühlte sich ertappt. Verenas rätselhafte Bemerkung über Felipe spukte tatsächlich immer noch in ihrem Hinterkopf herum. »Du willst was loswerden«, stellte sie klar. »Dann tu’s endlich.«
»Ich fürchte, das wird jetzt ein Schock für dich sein«, sagte Verena scheinbar voller Mitgefühl. »Felipe ist ein Dieb. Ich habe ihn im Restaurant seiner Mutter beim Klauen erwischt.«
Der Vorwurf war absurd. Franzi kannte keinen ehrlicheren Menschen als Felipe. Einmal hatte sie ihm Geld geliehen und er hatte es ihr sofort am nächsten Tag zurückgezahlt, bis auf den letzten Cent. Sie hatte ihn nicht einmal daran erinnern müssen. »Deine Lügengeschichten kannst du jemand anderem erzählen«, sagte sie verächtlich.
Verena streckte ihre Brust heraus. »Ich hab genau gesehen, wie Felipe einem Gast die Geldbörse aus dem Jackett gestohlen und in seiner Hosentasche hat verschwinden lassen.«
»Ach wirklich?« Franzi nippte am kalt gewordenen Früchtetee, um ihre Nerven zu beruhigen. »Hast du die Polizei gerufen? Hat sie Felipe Handschellen angelegt und mit Blaulicht ins Präsidium gefahren? Tatütata?«
Verena schüttelte den Kopf. »Ich hab tatsächlich kurz überlegt, die Polizei zu rufen. Aber dann hat mir Felipe leidgetan. Er hat so unglücklich ausgesehen.«
Franzi hoffte immer noch, dass Verena gleich loslachen und zugeben würde, dass sie ihr einen Bären aufgebunden hatte, bloß um sie zu ärgern. Aber Verena blieb ernst. Viel zu ernst. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Franzis Magen aus. Ein Gefühl, das sie unbedingt mit ihrem detektivischen Verstand bekämpfen musste. »Und wann soll das bitte schön passiert sein?«
»Am 27. Dezember um 18:30 Uhr«, sagte Verena wie aus der Pistole geschossen.
Auf einmal musste Franzi an Felipes verstorbenen Vater denken, der in Mexiko in krumme Geschäfte verwickelt gewesen war. Trat Felipe in die Fußstapfen seines Vaters? Der Gedanke war so schrecklich, dass sie ihn gar nicht zu Ende denken wollte.
Franzi war verzweifelt. Gerade deshalb zwang sie sich dazu, äußerlich völlig ruhig zu bleiben. Vor Verena durfte sie sich keine Schwäche anmerken lassen. »Ich nehme an, das war’s, was du mir erzählen wolltest«, sagte sie kühl. »Danke für die Info.« Lächelnd stand sie auf und verließ mit kerzengeradem Rücken den Raum.
Franzi schaffte es, die coole Fassade aufrechtzuerhalten, bis sie die Tür des Gemeinschaftsraums hinter sich geschlossen hatte. Doch als sie alleine im Flur vor der Küche stand, begann sie, am ganzen Körper zu zittern. Auf dem Weg zu ihrer Hütte schickte sie Felipe schnell eine SMS. Ihr Herz war voller Angst, als sie den Text in ihr Handy tippte.
Lieber Felipe,
ich muss dich was fragen. Es ist sehr, sehr wichtig für mich. Warum, erzähle ich dir später. Wo warst du am 27. Dezember zwischen 18 und 19 Uhr?
Lg, Franzi
Felipe simste sofort zurück.
Hallo süße Franzi,
du stellst komische Fragen! Ist das irgendein Detektivspiel?
Am 27. Dezember habe ich meinem Onkel Miguel bei seiner Zaubervorstellung geholfen.
Hdgdl, dein verwirrter Felipe
Franzi starrte auf ihr Handy. Felipe hatte ihr offen geantwortet. Er klang ehrlich. So lieb wie immer. Und trotzdem blieb da diese nagende Ungewissheit zurück. Kaum war Franzi in ihrer Hütte angekommen, klappte sie den clubeigenen Laptop auf und stellte eine Verbindung zum Internet her. Dann machte sie etwas, bei dem sie sich schlecht fühlte, aber sie tat es trotzdem. Sie checkte den Veranstaltungskalender von Sugarland. Da stand es schwarz auf weiß: Am 27. Dezember hatte es gar keine Zaubervorstellung gegeben!
Felipe hatte sie angelogen. Aber warum? Franzi hatte zu viele Erfahrungen als Detektivin gesammelt, um nicht zu ahnen, was dahintersteckte. Es gab nur einen Grund, den sie sich vorstellen konnte. Felipe hatte tatsächlich etwas zu verbergen – weil er ein Dieb war!