»Kalle! Anders! Eva-Lotta! Seid ihr da?«
Sixten sah zum Bäckereiboden hinauf und wartete, ob jemand von den Weißen Rosen den Kopf aus der Luke stecken und auf seinen Ruf antworten würde.
»Darf man fragen, warum ihr nicht da seid?«, schrie Jonte, als sich im Hauptquartier der Weißen nichts regte.
»Seid ihr wirklich nicht da?« Sixten fragte noch einmal ziemlich ungläubig.
In der Bodenluke wurde Kalle Blomquists heller Haarschopf sichtbar. »Nee, wir sind nicht hier«, versicherte er ernst. »Wir tun nur so.«
Die feine Ironie dieser Sätze war an Sixten verschwendet. »Was macht ihr?«, wollte er wissen.
»Ja, was meinst du?«, fragte Kalle. »Glaubst du, wir spielen Vater, Mutter, Kind?«
»Euch ist doch alles zuzutrauen«, entgegnete Sixten. »Sind Anders und Eva-Lotta auch da?« Zwei Köpfe tauchten neben Kalles oben in der Bodenluke auf.
»Nee, wir sind auch nicht hier«, sagte Eva-Lotta. »Was wollt ihr übrigens, ihr Roten?«
»Ach, euch nur ein bisschen auf den Kopf klopfen«, sagte Sixten zärtlich.
»Und endlich wissen, was mit dem Großmummrich werden soll«, ergänzte Benka.
»Oder sollen etwa die ganzen Sommerferien draufgehen, ehe ihr euch entscheiden könnt?«, fragte Jonte. »Habt ihr ihn nun versteckt oder nicht?«
Anders rutschte schnell am Seil hinab, dem Seil, das die Weißen Rosen benutzten, um rasch von ihrem Dachboden-Hauptquartier auf die Erde zu kommen.
»Klar, dass wir den Großmummrich versteckt haben«, sagte er. Er ging auf den Chef der Roten Rosen zu, sah ihm ernst in die Augen und sprach, jedes Wort betonend:
»Schwarz und weiß der Vogel, baut ein Nest, nicht weit von öder Burg. Sucht heute Nacht!«
»Läusepudel!«, war das Einzige, was der Rote Chef auf diese Mahnung erwiderte. Aber er nahm seine Getreuen sofort mit an einen geschützten Platz hinter den Johannisbeersträuchern, um sich mit ihnen zu beraten, was es mit »Schwarz und weiß der Vogel« auf sich haben könnte.
»Bah, das ist natürlich ’ne Elster«, rief Jonte. »Der Großmummrich liegt in einem Elsternnest! Das kann sich doch ein Säugling an zehn Fingern ausrechnen.«
»Ja, ja, kleiner Jonte, das kann sich ein Säugling ausrechnen«, rief Eva-Lotta vom Bäckereiboden herunter. »Sogar ein so kleiner, winziger Säugling wie du kann sich das ausrechnen. Jetzt freust du dich aber, was, kleiner Jonte?«
»Kann ich nicht schnell mal Urlaub haben und sie verprügeln, Chef?«, fragte Jonte.
Doch Sixten hielt den Großmummrich für das Wichtigste auf der Welt – Jonte musste auf seine Strafexpedition verzichten.
»… nicht weit von öder Burg. Damit kann nur die Schlossruine gemeint sein«, flüsterte Benka vorsichtig, damit Eva-Lotta nichts hören konnte.
»In einem Elsternnest nahe bei der Schlossruine«, sagte Sixten zufrieden. »Kommt, wir hauen ab.«
Die Gartentür des Bäckermeisters flog hinter den drei Rittern der Roten Rose mit einem solchen Knall zu, dass Eva-Lottas Katze auf der Veranda erschrocken aus ihrem Vormittagsschlaf hochfuhr. Bäckermeister Lisander steckte sein gutmütiges Gesicht aus dem Fenster und rief seiner Tochter zu: »Na, Eva-Lotta, wie lange, glaubst du, wird es noch dauern, bis ihr die Bäckerei umgeworfen habt?«
»Ihr?« Eva-Lotta war sehr erstaunt. »Können wir was dafür, wenn die Roten das Grundstück wie eine Herde Bisonochsen verlassen? Wir knallen nicht so mit der Tür.«
»Wer’s glaubt«, sagte der Bäckermeister und hielt den Weißen Rosen, die nicht mit Gartentüren knallten, ein Backblech mit verlockenden Kopenhagenern hin.
Einen Augenblick später rasten die drei Weißen Rosen zum Gartentor hinaus und schlugen es mit einem Knall zu, dass die Blumen auf den Rabatten in der Nähe mit einem wehmütigen Seufzer ihre letzten welken Blätter zu Boden fallen ließen. Der Bäckermeister seufzte auch. »Bisonochsen« hatte Eva-Lotta doch wohl gesagt!
An einem friedlichen Sommerabend vor zwei Jahren war der Krieg zwischen den Weißen und den Roten Rosen ausgebrochen. Er tobte nun schon im dritten Jahr, und keine der Krieg führenden Parteien zeigte Ermüdungserscheinungen. Im Gegenteil! Anders sprach sehr oft vom Dreißigjährigen Krieg als einem nachahmenswerten Beispiel.
»Wenn die früher so lange durchhalten konnten«, beteuerte er voller Enthusiasmus, »können wir noch viel länger.«
Eva-Lotta sah die Sache nüchterner. »Stell dir vor, wenn du als dicker alter Kerl mit vierzig auf der Suche nach dem Großmummrich durch die Gräben kriechst. Die Gören der ganzen Stadt werden aus dem Kichern nicht herauskommen.«
Das war ein unangenehmer Gedanke. Ausgelacht und – schlimmer noch – vierzig Jahre alt zu werden, während es gleichzeitig Glückliche gab, die nicht mehr als dreizehn, vierzehn waren! Anders empfand einen ausgesprochenen Widerwillen gegen diese Kinder, die einmal Spielplätze, Verstecke und Kriege zwischen Rosen übernehmen würden und außerdem die Unverschämtheit hätten, über ihn zu lachen. Über ihn, den Chef der Weißen Rosen aus vergangenen großen Tagen, als diese Rotznasen noch nicht einmal geboren waren.
Anders war bekümmert. Eva-Lottas Worte hatten ihn erkennen lassen, dass das Leben kurz war und dass es darauf ankam zu spielen, solange man das konnte.
»Auf jeden Fall wird niemand so viel Spaß haben wie wir«, tröstete Kalle seinen Chef. »Den echten Krieg zwischen den Weißen und Roten Rosen wird es nie mehr geben! Davon können die kleinen Pökse nur träumen.«
Eva-Lotta war derselben Meinung. Nichts konnte sich mit dem Krieg der Rosen messen. Selbst wenn sie einmal so bedauernswerte Vierzigjährige wurden, wie sie eben prophezeit hatte, würden sie sich doch an ihre herrlichen Sommerspiele erinnern, an das wundervolle Gefühl, wie man an Sommerabenden mit nackten Füßen über das weiche Gras der Prärie lief, wie das Wasser des Baches einem warm und freundlich zwischen den Zehen perlte, wenn man über Eva-Lottas Steg platschte, auf dem Weg zu einer entscheidenden Auseinandersetzung, oder wie die Sonne durch die offenen Luken so lange in den Bäckereiboden schien, bis sogar die Holzbalken nach Sommer rochen. Ja, der Krieg der Rosen war zweifellos ein Spiel, das für ewige Zeiten mit Sommerferien, milden Winden und hellem Sonnenschein verknüpft war. Herbstdunkel und Winterkälte brachten unwillkürlich Waffenruhe in den Kampf um den Großmummrich. Sobald die Schule begann, wurden die Feindseligkeiten eingestellt, und der Krieg flackerte nicht eher wieder auf, als bis die Kastanien in der Hauptstraße wieder in voller Blüte standen und die Frühjahrszeugnisse von kritischen Elternaugen geprüft worden waren.
Jetzt aber war Sommer, und der Rosenkrieg blühte mit den echten Rosen im Garten des Bäckermeisters um die Wette.
Wachtmeister Björk, der die Kleine Straße entlangschlenderte, wusste, was im Gange war, als er zuerst die Roten den Weg zur Schlossruine stürmen sah und einige Minuten später die Weißen in sausender Fahrt in dieselbe Richtung an ihm vorbeirasten.
Eva-Lotta konnte gerade noch »Hej, Onkel Björk!« rufen, bevor ihr heller Haarschopf hinter der nächsten Ecke verschwand. Wachtmeister Björk lächelte vor sich hin. Dieser Großmummrich – mit wie wenig Kinder doch Spaß haben konnten! Der Großmummrich war ja nur ein Stein, nichts mehr als ein seltsam geformter kleiner Stein, und doch reichte er aus, den Krieg der Rosen in Gang zu halten. Ja, ja, es war oft sehr wenig nötig, um einen Krieg zu entfesseln. Wachtmeister Björk seufzte, als er daran dachte, wie wenig tatsächlich dazu nötig war. Dann ging er mit bedächtigen Schritten über die Brücke, um sich ein Auto anzusehen, das auf der anderen Seite des Flusses falsch parkte. Auf halbem Weg blieb er stehen und starrte philosophierend ins Wasser, das langsam unter dem Brückenbogen hervorrieselte. Da kam eine alte Zeitung mit der Strömung angesegelt. Sie schaukelte sacht auf den Wellen. Die großen Buchstaben ihrer Schlagzeile verkündeten, was gestern oder vorgestern oder vor einer Woche neu gewesen war. Björk las sie zerstreut.
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REVOLUTION IN DER KRIEGSINDUSTRIE
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Wissenschaft der ganzen Welt beschäftigt hat
Wieder seufzte Wachtmeister Björk. Wie schön wäre es, wenn die Menschheit sich auf den Kampf um Großmummriche beschränken würde. Dann hätte man eine Kriegsindustrie gar nicht nötig! Jetzt aber musste er sich um das falsch geparkte Auto kümmern.
»In der Eberesche hinter der Schlossruine werden sie zuerst suchen«, versicherte Kalle und machte bei diesem Gedanken einen munteren Hüpfer.
»Bestimmt«, sagte Eva-Lotta. »Ein größeres Elsternnest als da gibt es nicht.«
»Deshalb habe ich dort auch eine kleine Mitteilung für die Rötlichen hingelegt«, sagte Anders. »Und wenn sie die gelesen haben, werden sie schön sauer sein. Ich glaube, wir können hier haltmachen und ihren Überfall abwarten.«
Auf einer Anhöhe vor ihnen reckte die alte Schlossruine ihre geborstenen Mauern in den blassblauen Sommerhimmel. Einsam lag sie dort, eine hässliche alte Burg, seit Jahrhunderten der Verlassenheit und dem Verfall anheimgegeben. Tief unter sich hatte sie die anderen Bauten der Stadt. Nur das eine oder andere Haus war gleichsam zögernd den Berg hinaufgeklettert und hatte sich der Großen, Gewaltigen oben auf der Höhe genähert.
Als letzter Posten stand auf halbem Weg zur Ruine eine altertümliche Villa, fast versteckt hinter einer üppigen Hecke aus Weißdorn, Fliederbüschen und Kirschbäumen. Ein wackliger Zaun umgab das kleine Idyll.
Den Rücken bequem an den Zaun gelehnt, wollte Anders hier die Rückkehr der Roten abwarten.
»Nicht weit von öder Burg«, sagte Kalle und warf sich neben Anders ins Gras. »Kommt ganz darauf an, wie man es sieht. Wenn wir den Abstand von hier zum Südpol als Vergleich nehmen, können wir den Großmummrich auch in der Gegend von Hässleholm verstecken und doch behaupten, es sei nicht weit von öder Burg.«
»Vollkommen richtig«, sagte Eva-Lotta. »Wir haben nie behauptet, dass das Elsternnest genau am Rand der Schlossruine sein muss. Aber die Roten sind viel zu vernagelt, um das zu begreifen.«
»Eigentlich müssten sie uns auf bloßen Knien danken«, sagte Anders grimmig. »Statt den Großmummrich in der Gegend von Hässleholm zu verstecken, was nahegelegen hätte, haben wir ihn freundlicherweise ganz in der Nähe – bei Eklunds Villa – versteckt. Wir sind doch wirklich anständig.«
»Klar sind wir anständig.« Eva-Lotta lachte zufrieden. Und dann sagte sie etwas völlig Unerwartetes: »Guckt mal, da drinnen auf der Verandatreppe sitzt ein kleiner Knirps.«
So war es. Auf der Verandatreppe saß ein Knirps, und mehr war nicht nötig, um Eva-Lotta ein Weilchen den Großmummrich vergessen zu lassen. Die forsche Eva-Lotta, die ein so tapferer Krieger war, hatte Augenblicke weiblicher Schwäche. Es half nichts, dass der Anführer ihr klarzumachen versucht hatte, dass so was im Krieg der Rosen nicht anging. Anders und Kalle waren immer wieder erstaunt über Eva-Lottas Verhalten, sowie sie in die Nähe kleiner Kinder kam. Für Anders und Kalle waren Kleinkinder nur lästig, nass und rotznäsig. Aber auf Eva-Lotta schienen sie zu wirken, als wären es alles kleine entzückende Lichtelfen. Kam sie in den Zauberkreis einer dieser Elfen, so veränderte sich ihr jungenhafter kleiner Amazonenkörper, und sie benahm sich in einer Weise, die nach Anders’ Meinung völlig blöd war. Sie streckte die Arme aus und brachte wunderliche weiche Laute hervor, die Kalle und Anders schaudern ließen. Die selbstbewusste, übermütige Eva-Lotta, Ritter der Weißen Rose, war wie fortgeblasen. Es fehlte nur noch, dass die Roten sie einmal in einem solchen Augenblick der Schwäche überraschten – der Fleck auf dem Wappenschild der Weißen Rose konnte so schnell nicht weggewaschen werden, meinten Kalle und Anders.
Der Kleine auf der Verandatreppe hatte wohl bemerkt, dass vor seiner Gartenpforte etwas Ungewöhnliches geschah, denn er kam jetzt langsam den Gartenweg entlanggetrottet. Er blieb stehen, als er Eva-Lotta sah. »Hej«, sagte er etwas schüchtern.
Eva-Lotta stand vor der Gartenpforte und hatte das im Gesicht, was Anders und Kalle Idiotenlachen nannten. »Hej«, sagte sie. »Wie heißt du?«
Der Kleine sah sie mit dunklen, ernsten blauen Augen an und schien für das Idiotenlachen nicht sonderlich empfänglich.
»Rasmus heiß ich«, antwortete er und kratzte mit dem großen Zeh im Sand des Gartenweges. Dann kam er näher. Er steckte ein stumpfes, sommersprossiges Näschen durch die Latten im Gartentor und sah Kalle und Anders, die draußen im Gras saßen. Über sein ernstes Gesicht breitete sich ein entzücktes Grinsen.
»Hej«, sagte er. »Ich heiß Rasmus!«
»Ja, haben wir gehört«, erwiderte Kalle gnädig.
»Wie alt bist du?«, fragte Eva-Lotta.
»Fünf Jahre«, antwortete Rasmus. »Aber nächstes Jahr, da werde ich sechs. Wie alt wirst du nächstes Jahr?«
Eva-Lotta lachte. »Nächstes Jahr werde ich eine alte Tante«, sagte sie. »Was machst du übrigens hier? Wohnst du bei Eklunds?«
»Tu ich nicht«, antwortete Rasmus. »Ich wohne bei meinem Papa.«
»Wohnt er in Eklunds Villa?«
»Klar macht er das«, sagte Rasmus beleidigt. »Sonst könnte ich doch nicht hier bei ihm wohnen. Das verstehst du doch wohl!«
»Die reine Logik, Eva-Lotta«, sagte Anders.
»Heißt sie Äva-Lotta?«, fragte Rasmus und zeigte mit dem großen Zeh auf Eva-Lotta.
»Ja, sie heißt Äva-Lotta«, sagte Eva-Lotta. »Und sie findet dich nett!«
Da die Roten noch nicht in Sicht waren, kletterte sie schnell über das Gartentor zu dem netten Kind in Eklunds Garten.
Es konnte Rasmus nicht entgehen, dass zumindest einer da war, der an ihm interessiert war, und er beschloss, als Gegenleistung höflich zu sein. Nun kam es nur noch darauf an, einen passenden Gesprächsstoff zu finden.
»Mein Papa macht Bleche«, begann er nach reiflicher Überlegung.
»Bleche macht er?«, fragte Eva-Lotta. »Ist er Klempner?«
»Nein, das ist er nicht«, sagte Rasmus. »Er ist ein Professor, der Bleche macht.«
»Wunderbar«, sagte Eva-Lotta. »Dann kann er vielleicht für meinen Papa Bleche machen. Der ist Bäcker, verstehst du, und der kann eine Menge Bleche brauchen.«
»Ich werde meinen Papa bitten, dass er ein Blech für deinen Papa macht«, sagte Rasmus freundlich und legte seine Hand in Eva-Lottas.
»Ach, Eva-Lotta, lass doch bloß den Bengel«, sagte Anders. »Die Roten können jeden Moment kommen.«
»Immer mit der Ruhe«, sagte Eva-Lotta. »Ich werde die Erste sein, die ihnen auf den Kopf haut.«
Rasmus starrte Eva-Lotta voller Bewunderung an.
»Wen willst du als Erste auf den Kopf hauen?«, fragte er.
Und Eva-Lotta erzählte. Vom ehrenvollen Krieg zwischen den Roten und den Weißen Rosen. Von wilden Verfolgungsjagden durch Straßen und Gassen. Von gefahrvollen Aufträgen, geheimen Befehlen und spannendem Schleichen in dunklen Nächten. Von dem verehrten Großmummrich und dass nun bald die Roten auftauchen würden, wütend wie die Hornissen, und was für einen großartigen Kampf es dann geben würde.
Das verstand Rasmus gut. Endlich verstand er den eigentlichen Sinn des Lebens! Eine Weiße Rose musste man sein! Etwas Herrlicheres konnte es nicht geben. Tief unten in seiner fünfjährigen Seele wurde in diesem Augenblick der Wunsch geboren, so sein zu dürfen wie diese Äva-Lotta und Anders und der andere – wie hieß er doch …? Kalle! Genauso stark und groß zu sein, die Roten auf den Kopf zu hauen, Kriegsschreie auszustoßen, zu schleichen – und all das andere. Mit Augen, die voll waren von all seinen Wünschen, sah er begeistert zu Eva-Lotta auf und fragte beschwörend:
»Äva-Lotta, darf ich auch eine Weiße Rose werden?«
Eva-Lotta gab seiner sommersprossigen Nase spielerisch einen leichten Stups. »Nein, Rasmus, dafür bist du noch zu klein«, sagte sie.
Da wurde Rasmus böse. Eine heilige Wut packte ihn, als er die verhassten Worte »Dafür bist du noch zu klein« hörte. Immer und immer wieder bekam man sie zu hören! Wütend starrte er Eva-Lotta an.
»Dann finde ich, dass du blöd bist«, sagte er.
Nachdem er das festgestellt hatte, überließ er sie ihrem Schicksal.
Jetzt wollte er zu diesen Jungen gehen und sie fragen, ob er nicht eine Weiße Rose werden dürfe. Sie standen am Gartentor und sahen interessiert zum Schuppen hinüber.
»Du, Rasmus«, fragte der, der Kalle hieß, »wem gehört denn das Motorrad da?«
»Papa natürlich«, sagte Rasmus.
»Donnerwetter!«, murmelte Kalle. »Ein Professor, der Motorrad fährt! Wie mag das wohl aussehen? Ich denke, sein Bart wird sich in den Rädern verwickeln.«
»Was für ein Bart?«, fragte Rasmus wütend. »Mein Papa hat keinen Bart!«
»Wirklich nicht?«, sagte Anders. »Jeder Professor hat doch wohl einen Bart!«
»Stell dir vor, hat nicht jeder«, sagte Rasmus und ging mit würdigen Schritten zur Veranda zurück. Die Kinder waren alle blöd, und er dachte nicht mehr daran, mit ihnen zu sprechen!
Als er die Sicherheit der Veranda erreicht hatte, drehte er sich um und schrie den dreien am Gartentor zu: »Mensch, seid ihr blöd! Mein Papa ist ein Professor ohne Bart, und er macht Bleche!«
Kalle, Anders und Eva-Lotta sahen belustigt auf die böse kleine Gestalt oben auf der Veranda. Sie hatten ihn doch nicht ärgern wollen. Eva-Lotta machte einige schnelle Schritte, um ihm nachzulaufen und ihn ein bisschen zu trösten, aber sie blieb gleich wieder stehen. Denn im selben Augenblick öffnete sich hinter Rasmus die Tür, und jemand kam heraus. Es war ein sonnenverbrannter Mann in den Dreißigern. Mit festem Griff packte er Rasmus und schwang ihn sich auf die Schulter.
»Du hast recht, Rasmus«, sagte er. »Dein Papa ist ein Professor ohne Bart, und er macht Bleche.« Er kam den Weg herunter, Rasmus auf der Schulter, und Eva-Lotta schämte sich ein wenig: Sie war ja auf privatem Grund und Boden.
»Siehst du nun, dass er keinen Bart hat?«, schrie Rasmus triumphierend Kalle zu, der sich zögernd an der Gartentür herumdrückte. »Dann kann er also auch Motorrad fahren«, setzte er stolz hinzu. Vor seinem inneren Auge sah er seinen Papa mit langem, wallendem Bart, der sich um die Radachsen wickelte, und es war ein äußerst empörender Anblick für ihn.
Kalle und Anders verbeugten sich höflich.
»Rasmus sagt, Sie machen Bleche«, sagte Kalle schnell, um von der Sache mit dem Bart abzulenken.
Der Professor lachte: »Ja, so kann man es fast nennen. Bleche … Leichtmetall … Ich hab eine kleine Erfindung gemacht, müsst ihr wissen.«
»Eine Erfindung?«, fragte Kalle interessiert.
»Ich habe eine Möglichkeit gefunden, Leichtmetall unzerstörbar zu machen«, erklärte der Professor. »Das nennt Rasmus Bleche machen.«
»Oh, davon habe ich in der Zeitung gelesen«, sagte Anders eifrig. »Dann sind Sie ja direkt berühmt!«
»Klar ist er berühmt«, versicherte Rasmus von seinem erhöhten Platz aus. »Und einen Bart hat er auch nicht, siehst du wohl!«
Der Professor ließ sich auf keine Diskussion über seine Berühmtheit ein. »Na, Rasmus«, sagte er, »wollen wir ins Haus gehen und frühstücken? Ich könnte dir Schinken braten.«
»Ich hab gar nicht gewusst, dass Sie hier in der Stadt wohnen«, sagte Eva-Lotta.
»Nur während des Sommers«, gab der Professor zurück. »Ich habe dieses Haus für den Sommer gemietet.«
»Ja, Papa und ich machen hier Sommerferien«, sagte Rasmus, »und Mama ist im Krankenhaus. Wir beide ganz allein, siehst du wohl!«
Eltern waren oft hinderlich, wenn man Krieg führen wollte. Sie griffen auf verschiedene Weise störend in den Gang der Geschehnisse ein. Manchmal bekam der Lebensmittelhändler Blomquist den Einfall, dass sein Sohn im Geschäft helfen sollte, wenn es dort am meisten zu tun gab. Und der Postdirektor verlangte alle naselang, dass Sixten die Gartenwege harken und den Rasen mähen sollte. Vergeblich versuchte Sixten seinem Vater klarzumachen, dass ein wild wuchernder Garten viel schöner sei. Der Postdirektor schüttelte nur verständnislos den Kopf und zeigte stumm auf den Rasenmäher.
Noch verstockter und fordernder war Schuhmacher Bengtsson. Er hatte von seinem dreizehnten Lebensjahr an selbst für sich sorgen müssen, und das sollte sein Sohn auch, meinte der Schuhmachermeister. Deshalb versuchte er, Anders während der Sommerferien mit äußerster Strenge an den Schuhmacherhocker zu fesseln. Aber Anders hatte im Lauf der Zeit eine besondere Technik entwickelt, allen Attentaten auf seine goldene Freiheit zu entgehen.
Der Hocker, auf dem Anders sitzen sollte, war deshalb meistens leer, wenn der Schuhmacher in die Werkstatt kam, um seinen ältesten Sohn in die Geheimnisse seines Berufes einzuweihen.
Richtig menschlich dachte nur Eva-Lottas Vater. »Wenn du nur glücklich bist – und nicht zu viel Unfug anstellst, will ich mich nicht weiter darum kümmern, was du treibst«, sagte der Bäckermeister und legte sanft seine väterliche Hand auf Eva-Lottas blonden Scheitel.
»Solch einen Vater müsste man haben«, sagte Sixten verbittert und mit lauter Stimme, um das Geknatter des Rasenmähers zu übertönen. Das war nun das zweite Mal seit kurzer Zeit, dass sein unbarmherziger Vater ihn zur Gartenarbeit zwang. Benka und Jonte lümmelten am Zaun und sahen Sixten teilnahmsvoll bei seinen Anstrengungen zu. Sie versuchten, ihn mit glühenden Schilderungen eigener Leiden zu trösten. Hatte Benka nicht tatsächlich den ganzen Vormittag Johannisbeeren gepflückt, und hatte Jonte nicht den ganzen Vormittag auf seine kleinen Geschwister aufpassen müssen?
»Klar, auf diese Weise wird man ja gezwungen, die Nächte zu Hilfe zu nehmen, wenn man die Weißen verhauen will«, sagte Sixten ärgerlich. »Man hat ja keinen Augenblick frei am Tag, sodass man nicht mal das Nötigste schafft.«
Jonte nickte zustimmend. »Du hast das richtige Wort gesagt! Wollen wir nun heute Nacht die Weißen verhauen?«
Sixten warf sofort den Rasenmäher beiseite.
»Du bist gar nicht so dumm, kleiner Jonte«, rief er. »Kommt, wir wollen ins Hauptquartier und Kriegsrat halten.«
Und im Hauptquartier der Roten Rosen in Sixtens Garage wurde der Plan für die kommende Nacht entworfen. Dann wurde Benka mit der Botschaft des Roten Chefs zu den Weißen geschickt.
Anders und Eva-Lotta saßen in der Laube des Bäckermeisters und warteten darauf, dass der Lebensmittelladen geschlossen und Kalle für diesen Tag frei wurde. Sie spielten Mensch-ärgere-dich-nicht und aßen Pflaumen. In der warmen Julisonne sah der Weiße Chef ziemlich faul und nicht besonders kriegerisch aus. Aber er wurde doch munter, als er Benka über Eva-Lottas Steg laufen sah, dass das Wasser nur so um seine nackten Füße spritzte. Benka hielt ein Papier in der Hand, und dieses Papier überreichte er dem Chef der Weißen Rosen mit gemessener Verbeugung, worauf er schnell auf demselben Weg verschwand, auf dem er gekommen war. Anders spuckte einen Pflaumenkern aus, bevor er mit lauter Stimme las:
»In dieser Nacht bei des Mondes Schein wird ein Fest in der Burg meiner Väter stattfinden. Denn die Rote Rose wird die glorreiche Wiedereroberung des Großmummrich aus den Händen der Heiden feiern.
WARNUNG: Stört uns nicht!!! Alles schleichende Ungeziefer der Weißen Rose wird schonungslos niedergemacht.
Sixten,
Edelmann und Chef der Roten Rose
Achtung! Punkt 24 Uhr in der Schlossruine.«
Anders und Eva-Lotta sahen sich an und grinsten zufrieden.
»Komm, wir warnen Kalle«, sagte Anders. Er stopfte den Zettel in die Hosentasche. »Denk an meine Worte: Hier zieht es sich zusammen zu einer Nacht der Schrecken.«
»Bei des Mondes Schein« schlief die kleine Stadt unbekümmert und tief und ahnte nichts von der »Nacht der Schrecken«. Wachtmeister Björk, der durch die menschenleeren Straßen schlenderte, ahnte auch nichts davon. Alles war still – das Einzige, was er hörte, waren die Geräusche seiner eigenen Absätze auf dem Pflaster. Die Stadt schlief in einer Flut aus Mondschein, und das helle Licht über Straßen und Plätzen verriet nichts von der Nacht des Schreckens. Aber über den schlafenden Häusern und Gärten lagen dunkle Schatten, und wenn Wachtmeister Björk etwas aufmerksamer gewesen wäre, hätte er merken müssen, dass in dieser Dunkelheit Leben war. Er hätte hören müssen, wie dort jemand schlich und sich vorbeischlängelte und flüsterte. Er hätte sehen müssen, wie im Haus des Bäckermeisters Lisander vorsichtig ein Fenster geöffnet wurde und wie Eva-Lotta die Leiter hinunterkletterte. Er hätte Kalle dahinten an der Ecke des Blomquist’schen Hauses leise das Signal der Weißen Rosen pfeifen hören und einen Schimmer von Anders sehen müssen, bevor er im schützenden Schatten der Fliederhecke verschwand. Aber Wachtmeister Björk war ziemlich müde und wünschte sich, dass sein Rundgang endlich ein Ende nehmen möge. Deshalb begriff er nicht, dass dies die Nacht der Schrecken war.
Die armen, unwissenden Eltern der Weißen und Roten Rosen schliefen ruhig in ihren Betten. Keiner hatte sie nach ihrer Meinung über die nächtlichen Übungen ihrer Kinder gefragt. Nur Eva-Lotta hatte sicherheitshalber einen Zettel geschrieben und auf ihr Kopfkissen gelegt für den Fall, dass jemand ihr Verschwinden bemerken würde. Auf dem Zettel stand ganz beruhigend:
»Hej, alle miteinander! Macht jetzt kein Theater! Ich bin draußen und kämpfe und komme bald zurück, glaube ich, trallala.
Eva-Lotta«
»Nur eine kleine Sicherheitsmaßnahme«, erklärte sie Kalle und Anders, während sie den steilen Weg zur Schlossruine hinaufkletterten.
Eben hatte die Rathausuhr zwölf geschlagen. Die Zeit war gekommen.
»Burg meiner Väter – ich werd nicht wieder«, sagte Kalle. »Was meint Sixten damit? Soviel mir bekannt ist, hat hier noch nie ein Postdirektor gewohnt.« Vor ihnen lag im Mondlicht die Schlossruine und sah wirklich nicht besonders postmäßig aus.