Robin Rehmann

mit Marc Vogel

Steine im Bauch

Robin Rehmann

mit Marc Vogel

STEINE IM BAUCH

MEIN LEBEN MIT

COLITIS ULCEROSA

Die Diagnose »chronisch krank« hat mein Leben aus der Bahn geworfen. Mein Erfahrungsbericht ist sehr persönlich. Dieses Buch soll die chronischentzündliche Darmerkrankung Colitis ulcerosa bekannter machen, die Sensibilisierung Angehöriger schärfen und Betroffenen Mut spenden.

Robin Rehmann (FRC)

INHALT

VORWORT

EINLEITUNG

PROLOG ERTRINKEN

KAPITEL 1 BETON IN DER BRUST

KAPITEL 2 AUSBRUCH

KAPITEL 3 KEINE ROSE, ABER AUCH MIT DORNEN

KAPITEL 4 ALLES HALB SO WILD

KAPITEL 5 EIN JACKSON POLLOCK IN DER SCHÜSSEL

KAPITEL 6 RIEN NE VA PLUS – NICHTS GEHT MEHR

KAPITEL 7 GESUNDE HABEN TAUSEND WÜNSCHE, DER KRANKE NUR EINEN EINZIGEN!

KAPITEL 8 WENN DIE SCHWERKRAFT GREIFT

KAPITEL 9 PARANOID, KRAMPFEND – ICH SCHAFFE DAS

KAPITEL 10 »DU SIEHST JA GAR NICHT KRANK AUS!«

KAPITEL 11 KÄMPFEN UND VERLIEREN

KAPITEL 12 BESESSEN VOM ALLTÄGLICHEN STRESS

KAPITEL 13 BLANKES ENTSETZEN

KAPITEL 14 DU BIST, WAS DU ISST. UND DU SCHEISST, WAS DU SPEIST

KAPITEL 15 SELBSTMEDIKATION

KAPITEL 16 IM FOCUS

KAPITEL 17 REHMANN S.O.S. – SICK OF SILENCE

KAPITEL 18 DAS HAUS BRENNT

KAPITEL 19 10 SCHRITTE FÜR DIE PSYCHISCHE GESUNDHEIT

KAPITEL 20 MACH KAPUTT, WAS DICH KAPUTT MACHT!

DANKSAGUNG ROBIN

DANKSAGUNG MARC

ANHANG

VORWORT

Ich habe den Rauch stets ignoriert, und jetzt kann ich die Flamme nicht mehr kontrollieren. Die Entzündung im Dickdarm lässt mein Haus in Flammen stehen. Im Kampf gegen mich selbst! Autoimmunkrankheit. Oder wenn dein Körper sich selbst attackiert. Denn das einzige, das genügend Kraft hat, mir in den Arsch zu treten, bin ich selbst!

Das ist es wohl, das spirituelle Erwachen, von dem man in Midlife-Crisis-Büchern lesen kann. Während sich die einen auf den Jakobsweg zur Selbstfindung begeben, suche ich mir eine schwere Darmkrankheit aus. Colitis ulcerosa. Klingt wie der lateinische Begriff für eine hübsch blühende Rose, aber außer den Dornen haben die beiden wenig gemein.

Mein Leben ist jetzt ein anderes, als es vor der Diagnose war. Neue Türen wurden eingetreten, alte Fenster neu verglast, um die Sicht auf das Wesentliche nicht zu verlieren. Vom Verlorengehen, Sich-wieder-Finden und nach dem rechten Weg fragen – davon handelt dieses Buch. Keine Memoiren, um zwischen den Zeilen meine Trauer zu bekunden. Die Idee dafür entstand im Krankenhaus. Hier wurde auch die Angst geboren, den Anschluss zu verlieren. Ich dachte, es würde sich fast lohnen, alles aufzuschreiben, um vielleicht selbst zu verstehen, was mit mir passiert.

Ich bin nicht allein. Etwa 160 bis 250 von 100.000 Einwohnern in der westlichen Welt leiden an einer Colitis ulcerosa. Weder Ursache noch Heilung sind bisher geklärt, Lösungsansätze teilweise sogar diametral. Schulmedizin, Naturheilkunde, der Aspekt der Psychosomatik, in diesem Spannungsfeld bewege ich mich als Patient. Immer in der Hoffnung, meinen Dickdarm behalten zu können, um nicht ein Leben im Durchfall zu bestreiten.

Zerrissenheit. Beim Versuch, diese Zerrissenheit auf Papier zu bringen, bin ich kurios gescheitert. »Backspace« und »Delete«, als Antwort auf den nächsten Einfall. »Am Ende ergibt das alles einen Sinn.« Was als motivierender Stoßstangenaufkleber funktioniert, ist auch Benzin für meinen Schicksalsglauben. Mein Unvermögen öffnet Tür und Tor, einen neuen Menschen in mein Leben zu lassen. Denn eins hat mich meine Krankheit gelehrt: »Das schafft keiner allein!« Ohne all die lieben Menschen, die mich auf meinem steinigen Weg begleiten, hätte ich meinen optimistischen Ausblick schon längst verloren.

»Du suchst eine helfende Hand? Schau mal am Ende deines Arms nach!« Dieses Motto, das man mit sattem Bauch in Glückskeksen findet, kann man getrost in die Tonne schmeißen. Nein, du sollst dein Glück nicht von anderen abhängig machen, aber jede helfende Hand annehmen, die sich dir in der Not entgegenstreckt. Vor allem scheue dich nicht davor, danach zu greifen und nach Hilfe zu fragen.

Zu Beginn meiner Krankheit habe ich versucht, diese herunterzuspielen. Dabei habe ich insgeheim gehofft, dass meine Ärzte und mein Umfeld schon irgendwie merken, wie schlecht es mir wirklich geht. Diese Maske setze ich noch heute regelmäßig auf, welche ich dann erst hinter der verschlossenen Badezimmertür, geschüttelt von starken Bauchkrämpfen, ablegen kann.

Ich wollte nie »der Kranke« sein. Mit diesem Bild habe ich mich bis heute nie anfreunden können. Aber die Rolle des »Starken« sollte man spätestens jetzt ablegen und vertrauen. Vertrauen an das Gute und die Menschen um dich herum. Ich bin diesen Menschen unglaublich dankbar, die mich in dieser schwierigen Zeit unterstützt und sich um mich gekümmert haben. Ob mit Zuhören, Gesprächen, Medizin, Fitness- und Entspannungsübungen oder mich einfach in den Arm nehmen und Mut machen. Ihr wisst, wer ihr seid!

Ich kann meine Dankbarkeit euch gegenüber kaum in Worte fassen. Mich aber dafür zu öffnen, das war ein Prozess. Ich will hier festhalten, dass jeder solche Menschen in sein Leben holen kann. Seien es Fachkräfte wie Psychologen und Ärzte, die dich nicht nur fachlich, sondern auch empathisch behandeln. Du bist nicht egal. Ihnen nicht, und du solltest es dir selbst gegenüber auch nicht sein. Deshalb öffne dich! Such Hilfe, sei diese psychologisch, alternativ oder schulmedizinisch. Greife nach den Händen, die dir angeboten werden. Allein hätte ich das nicht geschafft. So verhält es sich auch mit diesem Buch.

Ich machte mich via Facebook-Status auf die Suche nach jemandem, dem ich meine Geschichte erzählen kann. In der Hoffnung, dass diese akkurat wiedergegeben wird. Nur einem guten alten Freund kann man diese Geschichte emotional so weitergeben, dass sie tatsächlich nachempfunden werden kann. Der Moment, wenn das Schicksal einen Homerun schlägt und deine Hoffnung auf der sicheren Base Platz findet: Marc Vogel. Um mit Metaphern vom Vogel, der im Winter nach Süden zieht, um im Sommer wieder zurückzukehren, sparsam umzugehen, bringe ich es gleich auf den Punkt: Marc Vogel und ich kennen uns, seit wir das Licht dieser Welt erblickten. Unsere Mütter waren beste Freundinnen. So verbrachten wir zwangsweise schon als kleine Kinder unsere Zeit miteinander. Diese Freundschaft wurde abrupt beendet, als die Konflikte in meiner Familie eine Dimension erreichten, die mir weit über den Kopf gewachsen sind. Dämonen. Abgründe. Ich musste fliehen. Konnte mich nicht stellen. Ich habe als volljähriger Teenager alle Kontakte und Verbindungen gekappt, die mich an meine Traumata erinnern. Verdrängen, Brücken niederbrennen, konfrontiert mit der Unmöglichkeit, den eigenen Gedanken zu entfliehen.

Erst 15 Jahre später und nach der intensiven Auseinandersetzung mit meiner Krankheit suchte ich wieder den Kontakt. Zu Patrick Vogel, Marcs vier Jahre älterem Bruder. Patrick und ich sind gleich alt. Uns verband neben Nintendo Games auch eine kreative Ader. Da Patrick Onlineportale meidet und ich deutlich leichter zu finden bin, war er es, der die erste E-Mail nach 15 Jahren losschickte. Vielleicht war die Unterstützung, die er für eine Studienarbeit suchte nur ein Vorwand – vielleicht auch nicht. Das vertraute Gefühl, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen – Balsam für meine Seele. Es verwunderte mich nur bedingt, dass sein kleiner Bruder Marc gerade dabei war, seine Ausbildung als Drehbuchautor an der Filmakademie in Baden-Württemberg abzuschließen, hatten wir doch schon im heimeligen Kinderzimmer unsere eigenen Geschichten auf Kassetten aufgenommen.

Es galt, die Naht zu schließen, die uns zusammenhält. Diese Vertrautheit von früher, sie war noch da. Das Wiedersehen fühlte sich richtig an. Ganz und gar nicht, als hätte man sich ein halbes Leben lang nicht gesehen. Eher wie eine Reise, von der wir beide zurückkommen und nun davon berichten. Marcs Leben beeindruckt mich, und schnell war klar, dass es für ihn keine Mühe bedeutet, in meine Gefühlswelt einzutauchen. Er, der mit seinem Elektrokardiogramm selbst die Grenzen ausgelotet hat, sitzt mir jetzt fast genau 15 Jahre später gegenüber, hört zu und erklärt sich bereit, mit mir dieses Buch zu schreiben. Für mich ist es mehr als ein Buch. Danke Marc.

Robin Rehmann,
im Juni 2017

EINLEITUNG

Robin war immer schon ein Bauchmensch. Spontan, energievoll, enthusiastisch, lustig. Das alles aber in besonders aufgedrehter, wilder Art. Immer hatte er frische Ideen und spannende Einfälle. Ein Traum für einen kleinen achtjährigen Knirps wie mich damals, als wir als Kinder und dann als Jugendliche viel Zeit miteinander verbrachten. Seine Welt war voller Möglichkeiten. Er vermochte den trübsten Novembertag noch unvergesslich zu machen. Egal, ob wir Hörspiele aufnahmen oder Lieder einsangen.

Einmal übernachteten wir bei ihm. Wir schliefen unten im kleinen Zimmer im Erdgeschoss, in dem sein Vater oft Klavier spielte. Wir machten durch, das erste Mal für mich. Und mitten in der Nacht kletterten wir dann einfach aus dem Fenster und liefen in Laufenburg herum. Drei kleine Jungs auf Abenteuertour. Als Proviant hatten wir diese Gummibären-Frösche dabei. »Ein Frosch uf d’Nacht« sagten wir dann. Es gab uns wohl den nötigen Mut.

Robin ist vier Jahre älter als ich, genau wie mein Bruder Patrick. Und eigentlich war er immer wie ein zweiter Bruder für mich. So oft war er bei uns zu Hause in Wallbach, aß bei uns, schlief bei uns. Die Ferien verbrachten wir gemeinsam. Einmal kamen er und seine Eltern sogar nach Rhodos mit, wo wir immer unsere Sommerferien verbrachten. Unvergesslich.

Doch dann kam irgendwann der Bruch. Abrupt oder schleichend, ich kann es nicht mehr genau sagen. Wir verloren uns aus den Augen. Seine Besuche mit dem »Töffli« wurden immer weniger, wir besuchten ihn gar nicht mehr. Seine Mutter und meine, schon seit Teenagertagen beste Freundinnen, mieden sich. So erscheint es mir retrospektiv. Aber was damals wirklich passierte, sollte ich erst viel, viel später erfahren. Es ging ihm offenbar damals schon nicht gut. Seine fröhliche Art, eine Maske für das Chaos, das in ihm tobte. In seinem Bauch. Damals nur als vages Gefühl. Irgendwann sahen Robin und ich uns schließlich gar nicht mehr. Er war ein Austauschjahr in den USA. Das hatte ich noch mitbekommen. Aber seine Reise war nicht der eigentliche Grund.

Ich lebte natürlich mein Leben weiter, war in die Bezirksschule gekommen, alles war aufregend, die Kindheit vorbei. Ich fing an auszugehen, lernte Mädchen kennen, versuchte, sorgenlos zu sein, wie ich es auch von meinem »Bruder« vorgelebt bekommen hatte.

Es sollte Jahre dauern, bis ich Robin wiedersah. Gerade hatte ich meinen Fachmaturitätsabschluss in der Tasche, da stand er mitten unter den Leuten am Marktplatz in Basel. Er hatte dieselbe Schule besucht und war als Redner geladen. Er stand neben meiner Familie und mir, unterhielt sich mit uns, und doch schien er unendlich weit entfernt.

Ein Kindheitsfreund ist ein Seelenverwandter. Er hat mit mir die Welt betreten und kennengelernt. Nie wird eine neue Bekanntschaft diese ursprünglichen, tiefen Erfahrungen mit einem teilen, die einen Menschen für sein ganzes Leben prägen. Robins abermaliges Auftauchen an diesem Tag war nicht mehr als ein Wetterflimmern. Ein kurzes Aufblitzen am Horizont, irgendwo in der Ferne. Eine Erinnerung. Aber der Donner, der sollte erst viel später hörbar sein.

Erst als ich mittlerweile Vater geworden war, seit Jahren schon in Deutschland wohnte, und seine Geschichte über die Medien indirekt erfahren hatte, saßen wir uns wieder gegenüber. Das war Anfang dieses Jahres, im März. Es hatte etwas geschneit, und kurz vor unserem Treffen war ich nervös wie vor einem ersten Date, wartete in meinem Elternhaus, das sich nie verändert hat. Was reden, was, wenn wir schweigen, werden wir uns noch immer verstehen?

Dann klingelte es, und Robin stand da.

Wenn man jemanden lange nicht sieht, dann hat SIE meistens ein bisschen kräftigere Hüften und ER einen dezenten Wohlstandsbauch. Bei Robin war das anders. Er war schmaler geworden, bleicher. Die Krankheit hatte ihn gezeichnet, und an schlechteren Tagen sieht man das. Robin wirkte zerbrechlich, schwach.

Doch schien dies nur ein oberflächlicher Eindruck zu sein. Denn er nahm mich in den Arm und drückte mich herzlich. Zwei Brüder umarmten sich nach langer Zeit. Ich spürte seine Rippen. Es war wie immer.

Wir ließen uns wieder los, und er lächelte, lachte wie früher. Das Lachen eines Menschen ändert sich nie. Das Lachen eines Menschen ist etwas so Schönes und Individuelles, es offenbart dir mehr noch als der Körper den ganzen Menschen, seine Seele. Ob verhalten, herzlich, laut und schallend, oder einfach nur ein tonloses Schmunzeln. Robins Lachen ist mehr ein Kichern, ein kindliches Grinsen, dazu die forsch glänzenden Augen. Man muss es einfach gernhaben. Robins Lachen war also noch dasselbe. Aber es hat an Kraft verloren. Er hat an Kraft verloren. Er war derselbe und doch ein anderer. Denn etwas hatte sich grundlegend geändert: Robin ist krank.

Länger schon, seit Jahren. Ich hatte es durch meinen Bruder mitbekommen, spätestens durch Robins Radiosendung »S.O.S. – Sick Of Silence«. Doch es ist etwas anderes, wenn man den Menschen dann sieht, die Geschichte aus seinem Mund hört.

Ich erfuhr die ganze Geschichte. Den Anfang, Robins Kindheit, kannte ich teilweise. Was alles danach passierte, als wir uns nicht mehr sahen, erfuhr ich dann allmählich. Die Geschichte über »Colitis ulcerosa«. Die Autoimmunkrankheit, an der Robin leidet. Die Behandlungen, die er exerziert. Die Leute, die ihm Hilfe anbieten. Die psychischen Belastungen. Die körperlichen Leiden. Das Kreuz, das Robin zu tragen hat. Die Steine, die er mit sich herumträgt. Die Steine im Bauch.

Aber Robin hat das Kämpfen nie aufgegeben. Wie in den amerikanischen Filmen, die wir als Kinder verschlangen. Indiana Jones, James Bond, Rocky. Die geben nie auf! Tschakka, du schaffst das! Aber sie haben auch keine schwere chronische Krankheit. Eine Krankheit, die dir menschliche Grundbedürfnisse schlechtmacht: Essen und Schlafen, um nur zwei zu nennen.

Dann, Wochen nach unserem Treffen, erhielt ich von Robin unerwartet eine Mail. »Hast du Interesse und vor allem Lust, das Buch über mich und meine Colitis ulcerosa zu schreiben?« Ich musste schlucken. Vor Überraschung, vor Dankbarkeit über das große Vertrauen.

Trotzdem musste ich kurz überlegen, ob ich der Richtige für dieses heikle und wichtige Thema bin. Denn persönlich wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt wenig über Colitis ulcerosa. Okay, eigentlich nichts. Wie viele Krankheiten ist diese auch mehr oder weniger tabuisiert und findet in der Öffentlichkeit kaum statt.

Ich hatte natürlich ebenfalls Erfahrungen mit Krankenhäusern und Ärzten – und die Liste meiner Krankheitsgeschichte ist auch schon etwas länger: Mumps, Windpocken, Gürtelrose, Augenentzündungen, Bronchitis, Ausfall Vestibularis links (Gleichgewichtssinn, bis heute auch nicht klar, warum) und die gute Sinusitis, mit der ich auch chronisch zu kämpfen habe. Dazu noch Knochenbrüche (Zeh, Schlüsselbein, Nase), das Loch im Kopf (Danke, Pascal), der Meniskusanriss und diverse Prellungen. Aber eine schwere chronische Krankheit ist schon etwas ganz anderes. Wenn sich dein Leben einfach mal so komplett auf den Kopf stellt.

Kann ich das überhaupt verstehen? Weiß ich, wie Robin und all die anderen Erkrankten sich fühlen? Nein. Das wissen nur die Menschen selbst, die Tag für Tag gegen die schlimmen Symptome und Schmerzen kämpfen.

Aber ich kann zuhören. Ich kann mich in einen Menschen einfühlen, ihn verstehen lernen, seine Sorgen und Gefühle aufnehmen, und diese dann in diesem Buch für andere ebenfalls erlebbar machen. Ich kann Robins Geschichte, die er mir erzählt hat, aufschreiben. Seine Interviews, die er zum Thema geführt hat, seine Vlogs (Video-Blogs), die er aus dem Krankenhaus gemacht hat, verarbeiten und in Form bringen. Dieses Buch geht jeden an.

»Ich kann das Buch nicht schreiben. Du musst es machen«, hat Robin zu mir gesagt. Und das tue ich jetzt. Nach kurzer Überlegungszeit habe ich zugesagt.

Denn in seiner Geschichte steckt etwas Universelles, etwas Allgemeingültiges. Es sind Tipps und Ratschläge zum Umgang mit Colitis ulcerosa, aber auch allgemeingültige Gedanken zum Leben und seinem Wert, die jeden zum Nachdenken bringen. Denn wir alle wissen, Gesundheit ist nicht selbstverständlich. Unser Leben auch nicht.

Und wenn wir mit diesem Buch, das wir gemeinsam immer wieder besprochen und weiterentwickelt haben, anderen Menschen helfen können, dann hat Robins elende Krankheit doch noch etwas Gutes hervorgebracht:

Niemand ist mit seinem Schicksal allein.

Marc Vogel,
im Juni 2017

PROLOG

ERTRINKEN

Da sitze ich auf meinem Thron aus Keramik und werde von Krämpfen geschüttelt. Keiner hört mich, als ich vom Toilettenring langsam auf den Badezimmerboden gleite und die Kontrolle über meine Ausscheidungen verliere. Ich weine. Ich lasse alles zu. Während mir die Tränen über die Wangen kullern und diese blutige Flüssigkeit aus meinem Hintern rinnt, erlebe ich einen Perspektivwechsel.

Ja, ich liege da im Krankenhaus auf diesem kalten Toilettenboden, heule wie ein Schlosshund und tröste mich selbst. Ja, die Schmerzen sind kaum erträglich. Und ja, ich weiß nicht, was morgen ist. Aber mein bisheriges Leben ist vorbei.

»Wieso weinst du so, Robin? Wir kriegen das wieder hin. Wir haben doch schon ganz anderes gemeistert. Das packen wir auch noch«, spreche ich mir beruhigend selbst in meine dröhnenden Ohren zu.

Ich fühle mich umarmt, bin beruhigt. Doch mein Körper krampft weiter auf diesem grau melierten Boden. Hin- und hergeschüttelt zwischen Wein- und Bauchkrämpfen.

Das ist er wohl. Der Moment, in dem alles wegbricht.

KAPITEL 1

BETON IN DER BRUST

An diesem Punkt sollte sich mein Leben also auf den Kopf stellen. Aus der Bahn geworfen, gecrasht. Ein Leben, das die letzten Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, von ganz anderen Merkmalen geprägt war. Wobei rückblickend brodelte es schon lange. Viel zu lange. Seit meiner Kindheit. Aber dazu später.

KINDHEIT

Ich bin am 21. Januar 1981 in Laufenburg in der Schweiz geboren. Schön gelegen am Rhein mit einer hübschen Bogenbrücke ins badische Laufenburg, die sogenannte Laufenbrücke. Das kleine Altstadtzentrum ist alt, sehr alt. Touristen, falls welche kämen, würden diese malerische Altstadt sicher auf Fotos festhalten, aber wir an der Grenze zum Badischen sind schon eins geworden mit dieser urtümlichen Atmosphäre.

»Das Lied von Laufenburg« bringt diese Kleinstadtromantik und Urgewalt, die ich in meinem Geburtsort erleben durfte auf den Punkt:

Singend rauscht vom Hochland her der grüne Rhein,

Gischt und Wogen schäumen um das Felsgestein.

Jubelnd in die Ferne zieht mit ihm mein Lied,

wenn er durch die Enge in die Lande flieht.

Der Urheber dieses Liedes bot auch gleich den Straßennamen, an der ich groß geworden bin: Hermann-Suter-Straße 15. Da, wo Gischt und Wogen um mein Felsgestein schäumten, getrieben von diesem einen Traum:

Jubelnd in die Ferne zu ziehen, mit mir mein Lied,

wenn ich durch die Enge in die Lande fliehe.

Aufgewachsen bin ich in einem schönen Einfamilienhaus, mit noch schönerem Garten, einer zwei Jahre älteren Schwester und immer schon mit Katzen. Ein Haus ohne Katzen ist wie ein Aquarium ohne Fische.

Für Freunde, Familie und Bekannte war ich als Jugendlicher der lustige, aufgedrehte Robin. Der immer gut gelaunt war. Der immer crazy Ideen hatte. Mit dem es nie langweilig wurde. Aber hinter der Fassade war es keine einfache Zeit für mich. So ähnlich wie bei einem Kranken, dem man nichts ansieht, der aber innerlich mit seinem Leben ringt.

Mein Laufenburg, die malerische Altstadt, der Rehmann-Brunnen, der Weiher, der Wald, der Schlossberg, das Schulhaus, die dreifache Turnhalle. Orte, verknüpft mit starken Erinnerungen. Schönen Erinnerungen. Ich war integriert. Spielte im Volleyballverein und fühlte mich wohl in der Rolle des Pausenclowns. Das gab mir Halt.

Laufenburg ist als Stadt im Grundbuchamt eingetragen, trotzdem ist es kein großer Ort. Sogar ziemlich eng, wenn man mich fragt. Wie üblich in der Schweiz sind die Menschen mehr für sich, und wenn die heimische Tür zu ist, dann ist sie wirklich zu, fest dreimal verschlossen und das Vorhängeschloss eingerastet. Ich dagegen wollte immer schon die Welt sehen, präsent sein, etwas in die Ferne ziehen. Fliehen. Ich habe mir ein Stück weit meine Welt selbst gestrickt. Schon früh ulkige Geschichten geschrieben, die ich stolz meiner Schwester zum Lesen gab. Es tat gut zu sehen, dass sie diese auch tatsächlich lustig fand. Ich fühlte mich darin bestätigt. Ich sehnte mich nach Anerkennung, wollte wahrgenommen werden.

Der Fernseher und das Radio erhielten bei uns zu Hause besondere Aufmerksamkeit. Aufgewachsen zwischen »Schwarzwaldklinik«, »Rivalen der Rennbahn«, »Verstehen Sie Spaß?«, »Wetten, dass..?« und der »Rudi-Carrell-Show«. Doktor Brinkmann, Sascha Hehn und Frank Elstner waren fixer Bestandteil meiner Kindheit. Vor allem brachte die Flimmerkiste meinen Vater zum Lachen. Ich habe ihn selten so lachen sehen, wie nach einem guten Gag von Feuerstein bei »Schmidteinander« oder bei der absurden Quizshow von Hape Kerkeling. Beim Mittagessen hörten wir dann SWF 3, und es war gut möglich, dass wir Kinder zurechtgewiesen wurden, damit der Radiomoderator besser zu verstehen war.

Klar hat mich diese Welt fasziniert. Ich wollte ins Radio. Dass man mich hört. Ins Fernsehen. Dass man mich sieht.

ERSTE RADIOSENDUNG

Als ich mit 16 in der Zeitung eine Anzeige sah, die junge Moderatoren aufrief, um ein neues Schweizer Jugendradio aufzubauen, wusste ich, dass ich da hinmusste. Dieses Schweizer Jugendradio ist heute SRF Virus. Mein Arbeitsplatz. Das sollte meinen Ehrgeiz doch schön illustrieren? Damals, beim ersten Casting meiner Karriere, habe ich es natürlich vergeigt.

Ich war nervös. Wurde dann aber zu einem Lokalradiosender vermittelt, Radio X in Basel. Dort durfte ich die ersten Monate nur den Veranstaltungskalender vorlesen. Mehr war mir zu Beginn auch nicht zuzutrauen. Aber ich war angefixt, war stolz, wollte mehr, konnte tatsächlich getrieben von Enthusiasmus die Verantwortlichen überzeugen, mir eine Chance zu geben.

»Binggeli« hieß die erste Radiosendung, die ich erfunden habe. Irgendwo im grellen Nirwana zwischen Punk-Rock-Geschrei und »Jackass« fürs Radio. Im Zentrum stand ein selbst geschriebenes Hörspiel, das ich mit Freunden aufgenommen hatte. Ich versuchte stets, die Dinge neu und frisch anzugehen. Ein bisschen verrückt, wie mich wahrscheinlich viele sehen und sahen. Nie mit angezogener Handbremse.

JAHR IN DEN USA

Dann mit Anfang 20 ging ich für ein Jahr in die USA, nach Wisconsin ins Community College, um »Communication Arts« zu studieren. Insgeheim aber auch, um die Vergangenheit vollends hinter mir zu lassen. Dort lernte ich neben »Public Speaking« auch das Radio- und TV-Handwerk kennen. Für das UW Fox College Radio durfte ich eine Sendung produzieren. Sie hieß »The Hate Show« und wurde am College im Aufenthaltsraum ausgestrahlt.

Darüber habe ich mich definiert. Meine kreative Arbeit. Du bist, was du machst. Als Austauschschüler war ich Außenseiter, aber die Amis fanden mich lustig, weil ich einen so starken Akzent hatte. Es machte mir riesigen Spaß, ich liebte die Unabhängigkeit, und es wurde eine unvergessliche Zeit.

LEIDENSCHAFT – DAS RADIO

Zurück im alten Europa gründeten wir eine unkaputtbare Punkband mit dem prophetischen Namen »Krank«. Daneben fing ich bei VIVA Schweiz an, zuerst als Praktikant. Auch wenn mein Aufstieg zum Redakteur und später Moderator von außen betrachtet zufällig schien, war es das nicht. Schon als Praktikant wusste ich, ich gehe hier erst weg, wenn ich der beste männliche Schweizer VIVA-Moderator bin. Zum Schluss war ich vielleicht nicht der Beste, aber neben Fabienne Heyne und Linda Gwerder der Einzige.

Nach einigen Umwegen zwischen WGs und Ausziehcouchs siedelte ich um nach Zürich, wo mein Leben erst richtig Fahrt aufnahm. Es ergab sich einfach so. Ich lernte viele Leute kennen, begann für das Schweizer Radio SRF Virus zu arbeiten, konnte mich so auch in Fernsehformaten einbringen, und parallel berichtete ich viral im Internet über mein Leben in einem Vlog. Live aus meinem Wohnzimmer, mit allen Höhen und Tiefen. Meine junge Karriere begann, und ich wollte immer mehr, drückte weiter aufs Gas.

Körperlich ging es mir in dieser Zeit immer recht gut. Aber ich führte schon ein wildes Leben – ein krasser Kontrast zu dem Schicksal, das mich bald ereilen sollte.

LEBEN IM RAUSCH

Ich war viel unterwegs, ließ keine Party aus, hatte den ein oder anderen Blackout, spielte mit meiner Punkband »Krank« Konzerte, zelebrierte das Bier. Donnerstag, Freitag, Samstag war ich unterwegs. In einem Klub oder mit Kollegen etwas trinken, machte Musik oder setzte irgendeine Idee um oder filmte ein Youtube-Video oder machte für SRF Reportagen oder Interviews. Radio, Fernsehen, Internet, ich war sehr aktiv und lief dabei halt auch genauso hochtourig. »Die Musik muss so laut sein, dass wir nicht hören, wie die Welt untergeht!« Dieses Tattoo hätte ich mir damals direkt unters Herz stechen lassen sollen.

Ein Leben im Rausch. Zwischen Bier und Fertigpizza mit Käseersatz. Meine Ernährung bestand aus Emulgatoren, Aromastoffen und Geschmacksverstärkern, zubereitet von der Fünf-Sterne-Köchin namens Mikrowelle. Essen war für mich mehr ein Übel als ein freudiges Ereignis. Gekocht habe ich nie. Ich war Stammgast beim Pizzalieferanten ums Eck und beim Schnellimbiss am Bahnhof. Für das Thema »Gesundheit« hatte ich nicht einmal ein müdes Lächeln übrig. Wenn mir jemand zum Geburtstag oder zu Weihnachten explizit »Gute Gesundheit« wünschte, konterte ich immer mit: »Gesundheit? Was will ich denn damit? Ich wünsche mir lieber eine Playstation.«

Bis vier Uhr in der Früh auf einem Punkkonzert und dann nach ein paar Stunden Schlaf noch halb verkatert wieder zur Arbeit. Das war mein Rhythmus. Ich hatte oft rote Augen, die brannten. Doch ich hatte ja auch Augentropfen. »Jung kaputt, spart Altersheim!«, schreit kaum noch einer Mitte Dreißig.

Das mag alles so unbeschwert, zumindest glücklich und sorgenfrei klingen. Aber das scheint mir ein verzerrtes Bild. Nicht, dass es kein lebenswertes Leben war, aber unbeschwert war ich nur dann, wenn die Musik laut, das Bier kalt oder das Youtube-Projekt intensiv genug war. Das war mein Mechanismus, meinen Gedanken zu entkommen. Gedanken, die mich mit Schuldgefühlen torpedierten. Wenn ich mich mit diesen Selbstvorwürfen nüchtern und rational befasste, war mir sofort klar, wie irrational diese waren. Trotzdem quälten sie mich. Umso mehr ich mich damit befasste, umso mehr konnte ich mich selbst in den Wahnsinn treiben und mich mit dem Gedanken zurücklassen, dass ich ein böser, schlechter Mensch bin, der kein gutes Leben verdient hat. Ein solcher Mensch lässt es seinem Körper auch nicht sonderlich gut gehen, sondern schindet diesen eher mit langen Jogging-Runden in zu hohem Tempo. Körperpflege war ebenfalls eher sekundär.

Wenn viel läuft, dann muss man sich auch nicht mit seinem Innenleben beschäftigen. Wohl deshalb war ich eigentlich immer ein gehetzter Mensch. Die Gegenseite, den Kater, die Phase, wo es mir schlecht ging, die Schuldgefühle, konnte ich immer wieder verdrängen. Mit der nächsten Party, mit dem nächsten Projekt, mit dem nächsten Event, das noch größer werden sollte.

Auch als DJ war ich oft und lange in Klubs unterwegs. Es war eigentlich immer etwas los bei mir. Und es war auch nicht geplant, dass das irgendwann stoppen sollte. Sondern eher im Gegenteil, es hat immer noch hochtouriger sein müssen, noch schneller und noch mehr. Krasser und wilder. Immer exzessiv. Party war wichtig. Es wurde erst dann spannend, wenn es über Grenzen hinausging.

Am Wochenende war immer Abriss angesagt, irgendwo zwischen Wahnsinn und Selbstzerstörung. »Richtig glücklich bin ich nur im Rausch.« Das war nicht nur so dahergesagt, sondern war auch genau so gemeint. Von 21 bis 33 Jahren war nur Durchzug! Nüchtern fühlte ich mich oft ängstlich, ausgestoßen, von Schuldgefühlen zerfressen. Es gab immer viel zu überspielen. Dafür brauchte ich nicht zwingend Bier, aber es hat auf jeden Fall geholfen.

Ich möchte diese Zeit definitiv nicht glorifizieren. Ich erlebte da zwar tatsächlich die wildesten Geschichten, die ein eigenes Buch füllen würden. Eigentlich zwei Bücher. Ein sehr lustiges, mit wilden Partynächten und abartigen Erlebnissen, die kaum zu toppen sind und …

KOSTPROBE GEFÄLLIG?

Hat da jemand »Kostprobe« gesagt? Na gut! Es war auf einer Punkparty im »Kessel« in Offenburg. Ein klassischer Punkkeller. »1, 2, 3, Oberkörper frei«, wurde von mir lautstark skandiert, als ich mit meiner Punkband »Krank« gut angesoffen auf der Bühne stand. »1, 2, 3, Oberkörper frei« war mehr als eine stumpfe Parole, es war vielmehr eine Aufforderung, sich frei zu machen von Konventionen und Zwängen. Dies wurde mit unserem Lied »Fashion Town« eingestimmt:

Schickimicki-Schickimicki – Bullshit!

Ein Kleid bei Prada – Uh la la.

Ein Stelldichein mit Calvin Klein.

Kein Wechselgeld für Lagerfeld.

Wer hat diesen Scheiß bestellt?!

Du kannst niemandem traun

in Fashion Town!

Haute Couture,

nur wofür?

Designer Hemd,

wird verbrennt!

Ne Make-up-Schicht

fürs Gesicht.

Will ich nicht,

will ich nicht!

Du kannst niemandem traun

in Fashion Town!

Die Klamotten ablegen und so sein, wie wir sind! Nackt! Das war nicht nur eine Aufforderung für unser Publikum, sondern auch für unseren Bassisten, der den Rest des Auftritts nur noch mit seiner Bassgitarre »bekleidet« bestritt. Ganz nach dem Motto »Schwänze in die Luft!« hatten wir zu dieser Zeit keinerlei Berührungsängste.

Für den späteren Abend war dann ein »Miss Wet T-Shirt Contest geplant«. Dass dies nicht in einen wirklichen Contest münden würde, war von Anfang an klar, da unsere Konzerte meist praktisch ausschließlich vor Männern stattfanden. Also wurden die Regeln kurzerhand zum »Mister Wet T-Shirt Contest« abgewandelt. Zu gewinnen gab es ein selbst bemaltes T-Shirt und ganz viel Ruhm und Ehre.

Da an der Bar tatsächlich zwei junge Damen für das Bierzapfen verantwortlich waren, erkor ich die beiden zu den Schiedsrichterinnen mit besonderem Auftrag. Sie mussten entscheiden, welcher Punker den besten Oberkörper hatte. Wie sie dies eruieren sollten? Durch Ablecken der Oberkörper, die ich mit zwei Flaschen Bier begoss. Fünf Asseln standen mit nacktem Oberkörper auf der Bühne, die beiden Jurorinnen leckten und gaben Noten von 1 bis 5, während ich die Meute als besoffener Moderator anheizte.

Als letzter Kandidat war unser Bassist an der Reihe. Er, der schon vorher splitterfasernackt auf der Bühne stand, wusste, dass er mit nacktem Oberkörper nicht durchkommen würde. Da musste mehr her! »Gruppenzwang! Gruppenzwang!«, skandierte ich. Free Willy sprang in die Freiheit, und ich übergoss ihn mit Bier. Nun forderte ich die beiden Mädels prollig auf: »Ablecken und bewerten!« Die Menge tobte. Unser Bassist »Massen Mord« erhob triumphierend die Hände und konnte kaum glauben, wie ihm geschieht, als eine wohlige Wärme sein bestes Stück umschloss. Die beiden Spielleiterinnen standen kichernd daneben, als Massen seinen Blick nach unten senkte. Da saugte ein stark behaarter Punk mit lustigen Dreadlocks an seinem Pillermann.

Das war das erste Mal, dass Massen ein Mister-Wet-T-Shirt gewonnen hatte. Am selben Abend stürmte dann auch noch die Feuerwehr den Keller, und ein Punk wurde aus Versehen bis am nächsten Nachmittag in den Getränkekeller gesperrt. Aber das ist eine andere Geschichte.

IMMER AUF DER ÜBERHOLSPUR

Meine Wochenenden waren geprägt von Bierduschen und Erinnerungslücken. Diese Momente, dieser Rausch, fühlte sich nach Freiheit an und sollte das übertünchen, was das erwähnte zweite Buch füllen würde. Die Kehrseite der Medaille, die vor der Außenwelt krampfhaft versteckt werden musste. Geplagt von Unsicherheit, Ängsten und beladen mit einem permanent schlechten Gewissen. Schuldgefühle, deren Ursachen diffus waren. Dieser Schmerz war aber auch zugleich mein Antrieb weiterzumachen.

Ich hätte mir nicht vorstellen können, ein Wochenende einfach zu Hause zu bleiben. Und falls es sich doch ergeben hatte, wegen irgendwelcher blöden Umstände, dass jemand im letzten Moment abgesagt hatte oder so, dann fühlte ich mich unwohl. Es war seltsam, zu Hause zu bleiben. Das kam aber zum Glück sehr selten vor.

Meine Freunde sagten oft: »Robin, kannst du dich nicht einmal hinsetzen und ein Buch lesen oder es mal locker nehmen?«

Nein, konnte ich nicht. Ich habe es geliebt, dieses Lustige, das Extreme. Ich hatte Geschichten zu erzählen, was am letzten Wochenende wieder passiert war, oder gestern oder vorgestern.

So hatte ich einen großen Bekanntenkreis und einen sehr guten Freundeskreis. Ich sah mich immer in der Rolle des Unterhalters. Es war auch meine Aufgabe, dass etwas läuft, also organisierte ich viel. Sei das ein Auftritt als DJ, ein Konzert der Band, ein Geburtstag von einem Freund, wo wir eine Riesenüberraschung planten, oder eine Sendung mit einem wichtigen Gast, der ein großer Aufreger war, wo es plötzlich um alles ging. Ich hatte zwar auch den Ruf, »wenn der etwas organisiert, dann herrscht Chaos«, aber das war auch, weil ich eben so viel organisiert hatte und dann natürlich auch viel schiefgehen kann. Der spätere Frust darüber, dass ich das alles nach meiner Erkrankung nicht mehr leisten konnte, war unumgänglich.

Diese durchzechten Nächte und wilden Partys mögen heute für manchen oberflächlich und nach typisch jungem Erwachsenen klingen. Ich empfand es als hochtourig. Es gab zusätzlich ein Alltagsleben im Job, das ich ebenso forcierte. Ein Ziel, das ich immer hatte, war, eine Radio-Persönlichkeit zu werden. Mit einem Radio-Format, das anders war als das, was man bisher in der Schweiz kannte. Ich wollte immer eine Sendung mit mehr Tiefgang, aber auch mit Humor und Spaß. Es ging mir nie ums bloße Provozieren, obwohl mich Kritiker als »schlimmer als Crack in der Pausenmilch« bezeichneten. Das verkörperte ich tatsächlich, in gleichem Maße privat wie beruflich.

Es ist schwierig zu sagen, ob ich in meinem vorherigen Leben glücklich und zufrieden war. Das hört sich irgendwie lustig an, »vorheriges Leben«, als wäre es ein anderes Leben nach der Diagnose. Aber es ist tatsächlich ein anderes Leben.

Davor war ich schon eher ein getriebener, gestresster Typ. Ich würde sagen, zufrieden war ich nie. Ich habe das auch immer so gesagt: »Ich bin nicht zufrieden.« Weil, wenn ich zufrieden bin, hört es auf. Und das war es auch, was mich angetrieben hat und mich wahrscheinlich zu dem gemacht hat, was ich bin. Moderator, DJ, Punksänger, Colitisulcerosa-Kranker.

SCHLÜSSELMOMENT

Die ersten Anzeichen waren für mich schwer zu deuten. Ein Moment, der aber nachträglich als Aufschrei zu verstehen ist, ereignete sich bei einem Fußballspiel des Grasshoppers-Klubs Zürich gegen den FC Basel. Beim Schlusspfiff sagte ich noch zu meinem Begleiter »Frustfoul«, dass es da ganz schön in meiner Magengegend rumore. Aber beim Gedanken an die Stadiontoilette kam nicht gerade Freude auf. In Anbetracht dessen, dass meine Wohnung nur zwanzig Minuten vom Stadion entfernt war, war es eine rationale Entscheidung, den Kobold erst zu Hause ins Klo zu boxen. Ich wusste nicht, dass die nächsten zwanzig Minuten einem Tanz auf heißer Kohle glichen. Kaum hatten wir das Letzigrund-Stadion verlassen, wusste ich, dass ich vielleicht besser in der Gastwirtschaft ums Eck einkehren sollte, um dort meine Rohrbombe krepieren zu lassen.

Doch in diesem Augenblick kam der Linienbus angefahren, und ich wurde mit »Frustfoul« und all den anderen leicht angeduselten Fans in den Bus gepfercht. Da war gar keine Zeit, groß darüber nachzudenken. Kalter Schweiß machte sich auf meiner Stirn breit. Ich war ausgeliefert. Der Gedanke, jetzt hier vor allen anderen im eng bepackten Bus einen braunen Pullover zu stricken, ließ die Panik in mir hochsteigen, und ich spürte meinen Herzschlag in der Stirn pulsieren. Keine Ahnung, was mein Kumpel »Frustfoul« in diesem Moment bei meinem Anblick gedacht hat. Erkennen konnte er nichts. Ich hatte mein obligatorisches Lächeln aufgesetzt. Am Ende ist es doch gut zu wissen, dass jeder Mensch so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass ein still leidender Junge konsequent übersehen wird. Immer. Besser so, in diesem Moment. Hätte mich jemand angesprochen, wäre der ganze Bus in Nougatcreme versunken. Ich tanzte den Disco-Fox. Sekunden wurden zu Stunden. Zehn Minuten Busfahrt, Auge um Auge mit dem braunen Killerwal. Weiche Knie. Nur aufgeben – aufgeben kann ich jetzt nicht!