Sei du selbst.
Außer wenn du ein Einhorn sein kannst.
Dann sei ein Einhorn.
Unbekannt
Der Tag, an dem ich merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte, war ein Freitag. Ein stinknormaler Freitag, mit stinknormalem Tagesplan (Schule, dann Aushelfen in Tante Roses Tierhandlung), stinknormalem Wetter (nasskalt, wie immer in Schottland) und stinknormalen frühmorgendlichen Gerüchen (heiße Pfefferminzschokolade, igitt!) aus der Küche meiner drei Tanten.
Es wäre auch ein stinknormaler Tag geblieben, wäre nicht diese Sache in der Jungsumkleide passiert. Diese eine Angelegenheit, die niemals geschehen wäre, wenn mich Lora nicht dazu gedrängt hätte. Aber da Lora meine Schwester ist, meine ältere, eineiige Zwillingsschwester, um genau zu sein, machte ich an manchen Tagen immer den gleichen Fehler. Ich hörte auf sie.
Jetzt steckte ich allerdings bereits mittendrin und konnte die Sache genauso gut durchziehen. Immerhin trug ich Adrians Einladung zu meiner Geburtstagsparty schon ziemlich lange mit mir herum. Jemand wie Lora hätte Adrian das dumme Stück Papier einfach mit einem Lächeln während der Theaterproben in die Hand gedrückt. Eigentlich sollte das auch keine schwere Aufgabe sein, wenn man wie Adrian und ich ein Liebespaar spielte, ständig an seiner Seite probte und ihn am Ende des Stücks sogar küssen würde. Trotzdem hatte ich beschlossen, ihm die Einladung lieber während des Fußballtrainings in die Sporttasche zu stecken. Die Feige-Hühnchen-Variante. Natürlich.
Dank Lora wusste ich zumindest, dass Adrians Tasche dunkelblau war. Und was der Junge aus dem Schauspielklub, den kaum jemand genauer kannte und der für die ganze Schule ein Buch mit sieben Siegeln war, alles so mitnahm. Eigentlich waren es ganz normale Sachen: frische Unterwäsche in der Farbe Grün, Duschgel, Zahnpasta, einige zerlesene Bücher vom Flohmarkt und der Text des Theaterstücks, in dem wir die Hauptrollen spielten. Kurz hatte ich fragen wollen, woher Lora solche Insider-Informationen hatte, aber vielleicht war es besser, das nicht so genau zu wissen. Wer behauptete, Zwillingsschwestern wären aus einem Holz geschnitzt, verstünden sich blind und wären automatisch die besten Freundinnen, kannte mich und Lora nicht. Meine ältere (und hübschere, nebenbei bemerkt) Schwester war nämlich die meiste Zeit ziemlich anstrengend.
Doch manchmal hatte sie Mitleid und half mir, so wie heute. Und so zog ich die Tür zur Umkleide auf und betrachtete eilig die Garderobenhaken. Da hingen mindestens ein Dutzend dunkelblauer Sporttaschen, allesamt mit dem Maskottchen unserer Schule bedruckt: Ziggy Stardust, dem glitzernden Einhorn mit regenbogenfarbiger Mähne, der sein Horn zum Vollmond emporstreckte. Das Einhorn ist übrigens das schottische Nationaltier, aber das war für unsere Jungs auch kein großer Trost. Umso erstaunlicher, dass so viele von den Taschen tatsächlich verwendet wurden. Fragte sich nur, welche Adrian gehörte. Weil die Zeit drängte, das Fußballtraining in der Halle nebenan bald zu Ende ging und Lora wieder im Unterricht saß, blieb mir nichts anderes übrig, als in jede einzelne hineinzuschauen.
Ich war gerade halb durch (nirgendwo auch nur ein Hinweis auf eine dunkelgrüne Unterhose, Bücher, Duschgel, Theaterstück oder Zahnpasta, dafür haufenweise anderer Jungskram, den ich lieber nicht gefühlt hätte), da ließ mich das schrille Kreischen einer Trillerpfeife herumfahren, die das Ende der Trainingseinheit verkündete. Meine Hand verharrte in einer Tasche mit einem halb gegessenen, klebrigen Snickers. Die Tür flog auf und Teamkapitän Clifford MacAllister brach in die Garderobe. Ihm folgte ein ganzes Rudel Jungs, die Cliff, ihren Anführer, abklatschten und ihn beglückwünschten, gefolgt vom Versprechen, dass sie nächste Woche den Erzfeinden aus Aberdeen ordentlich in den Hintern treten würden. Und dann … Adrian! Ein kurzer Blick auf seine dunklen Haare, die verträumten Augen, und schon schlug mein Herz doppelt so schnell wie zuvor. Er hastete etwas abseits zu seiner Tasche, als könnte er es nicht erwarten, vom Sportunterricht zu verschwinden.
Verdammter Mist. Eilig riss ich mich vom Anblick Adrians los, versteckte mich in einer dunklen Ecke zwischen zwei Spindreihen und hörte, wie Cliff MacAllister voller Inbrunst die letzten Worte seiner flammenden Motivationsrede zum Besten gab. Dabei rollte ich mit den Augen. Der Kerl war wirklich kaum auszuhalten. Allein sein blendendes Aussehen hätte wahrscheinlich schon ausgereicht, um ihn zur absoluten Nummer eins unter den Oberstufenschülern zu machen, aber was ihn letztendlich in den Olymp der Superstars beförderte, war, dass er immer nett und freundlich war. Tag für Tag. Cliff war selbst den ganzen April über gut gelaunt gewesen, als es wie aus Eimern geschüttet hatte und alle anderen schon wie lichthungrige Zombies herumgelaufen waren. Womöglich war er einfach ein programmierter Gute-Laune-Roboter.
Trotzdem wollte ich mein Glück nicht unnötig herausfordern. Was würde Adrian von mir denken, wenn er mich entdecken würde? Oder die anderen Spieler? Nervös drängte ich mich an die Wand und lauschte, wie Klamotten zu Boden flogen und jemand mit einem nassen Handtuch geflitscht wurde und dabei grölte.
Als sich die Jungs in Richtung Dusche aufmachten, war es höchste Zeit, zu flüchten. Nicht mal der unverrichtete Auftrag mit der Einladung konnte mich jetzt noch hier halten. Ich steuerte auf die nächste Tür zu und schlüpfte hindurch. Keuchend lehnte ich mich gegen die Fliesenwand und presste die Augen zu. Das war knapp gewesen. Ich atmete tief durch, blinzelte und sah mich um.
Leider war das hier nicht etwa der Ausgang, sondern ein fensterloser, viel kleinerer Raum, in dem ich noch nie zuvor gewesen war. Neonröhren flackerten an der Decke und in der Ecke lag ein Stapel Klamotten. Von hier aus führten zwei Türen weg, die, aus der ich gekommen war, und eine andere, die den Geräuschen nach zu urteilen zur Dusche führen musste.
Mist. Wie es aussah, saß ich in der Falle.
Zu allem Übel glitt jetzt auch noch die Tür zur Dusche auf und Mr Cartman stand plötzlich vor mir. Bis auf die Sportshorts war der Trainer der Jungs splitterfasernackt. Mir fiel siedend heiß ein, dass jedes Mädchen auf der Schule total verschossen in ihn war, obwohl er einen dieser perfekt getrimmten Vollbärte hatte, von denen man bestimmt Pickel bekam, wenn man mit dem Träger knutschte. Allein schon deshalb hatte ich nie für Mr Cartman geschwärmt.
»Entschuldigen Sie, ich …«, stammelte ich und versuchte, ihn nicht zu sehr anzustarren, was nicht einfach war, da er genau im Licht der Neonlampe stand. Okay, vielleicht konnte ich jetzt ein klitzekleines bisschen nachvollziehen, was alle hatten. Mit diesen fast schon unmenschlichen Muskeln, den breiten Schultern und den blonden, langen Haaren gab er die Idealbesetzung für jedes Heldenepos ab. Mir wurde plötzlich klar, warum sich Lora neulich drei Mal hintereinander »Thor« reingezogen hatte.
»Hast du dich verlaufen?«, knurrte Thor.
Ich schluckte. Die Situation erinnerte mich an neulich, als dieser rothaarige Junge aus dem Fußballteam namens Roger mit seinem Balance Board in den Cafeteriawagen gekracht und im Wackelpudding gelandet war. Aus Anstand hatte man da weggucken wollen, aber absichtlich woanders hinzusehen hätte noch blöder gewirkt, also blieb einem in solchen Momenten nichts anderes übrig, als dort hinzustarren, wo die Musik spielte. Direkt auf den durchtrainierten Mr Cartman.
»Die Mädchenumkleide ist am anderen Ende der Schule«, erklärte der jetzt nüchtern. Der Lehrer duldete natürlich keine Mädchen in den Umkleidekabinen. Und schon gar nicht beim Fußballtraining. Er war der Ansicht, die Anwesenheit von Mädchen schrumpfe das Gehirn der Spieler auf die Größe einer Rosine und ließe sie über ihre eigenen Schnürsenkel stolpern. Ich erwartete schon, dass er mir die letzten zehn Niederlagen gegen Aberdeen zur Last legen würde (nicht dass ich tatsächlich je eine solche Ablenkung hätte sein können!), doch stattdessen unterzog er mich einer Musterung.
»Moment. Bist du nicht dieses Mädchen aus der Zehnten, das mir einen Liebesbrief hinter die Windschutzscheibe geklemmt hat? Und das nach einer Locke von mir gefragt hat? Wie heißt du noch mal? Lorelei?«
»Lora ist meine Zwillingsschwester«, korrigierte ich, weil eigentlich niemand Lora wirklich Lorelei nannte. Dabei glitt mein Blick weg von seinen Muskeln hoch zu seinem Bart. »Ich bin allerdings nicht Lora, sondern Ophelia. Ohne Spitznamen. Nur Ophelia.«
Thor legte die Stirn in Falten und sah aus, als glaube er mir kein Wort. »Das war mein böser Zwilling« klang ja auch wie die schlechteste Ausrede der Welt.
»Nein, wirklich, wir sind Zwillinge, sogar eineiig, nur dass Lora lange Haare hat und ich kurze. Ich bin nicht verrückt, ehrlich nicht! Okay, aber eher drei-Eisbecher-an-einem-Tag-verrückt und nicht ich-denke-mir-eine-Zwillingsschwester-aus-verrückt.«
Da Mr Cartman nicht sprach, riet mir eine kleine, durchgeknallte Stimme, einfach weiterzuschwafeln. »Nicht dass ich nicht ein klitzekleines bisschen verstehen könnte, warum die halbe Schule für Sie schwärmt, also auch wenn …« Man bei Ihrem Bart bestimmt Pickel bekommt. »Wenn Sie ein Lehrer sind. Aber …«
»Aber jetzt ist es höchste Zeit für dich zu gehen«, vervollständigte Mr Cartman meinen Satz und klang ein bisschen wie der echte Thor. Als wollte er einen Blitz beschwören und auf mich niedersausen lassen.
»Ja. Bevor Sie denken, dass Geisteskrankheit in der Familie liegt.« Wenn er das nicht ohnehin schon dachte. »Außerdem wollen Sie sich bestimmt anziehen.«
»Wiedersehen, Ophelia.«
»Wiedersehen Mr Bartma…, äh … Cartman.« Und dann, endlich, kam mein Fluchtinstinkt zurück, ich machte kehrt und flog beinahe durch die Tür, durch die ich gekommen war.
✵
Weil die Jungs duschen waren, schaffte ich es tatsächlich, unbemerkt durch die Garderobe zurück zum Ausgang zu flitzen, aber auch dieser winzige Erfolg konnte nichts daran ändern, dass ich den Mr Cartman-Umkleiden-Überraschungsbesuch als einen der drei peinlichsten Momente meines Lebens verbuchen musste – nur übertroffen von dem Tag, als ich mir mitten in der überfüllten Innenstadt von Edinburgh meinen Sweater über den Kopf zog und alle Shirts darunter unabsichtlich mit aus, und dem Tag in der Grundschule, an dem ich mich an Röhrennudeln mit Pilzsoße überfressen hatte und im Anschluss auf die Schuhe meiner Lehrerin reihern musste.
Ich konnte nur hoffen, dass Mr Cartman niemandem von heute erzählen würde und die Sache auf ewig geheim blieb. Meine Hand fuhr über meine linke Wange. Irgendetwas juckte bestialisch in meinem Gesicht. Hoffentlich hatte ich mir bei meinem kleinen Ausflug nicht Läuse geholt. Oder angriffslustige Flöhe. Oder eine biblische Plage, die mich heimsuchte, weil ich mich nicht an die Schulregeln gehalten hatte. Was auch immer mich da im Gesicht kribbelte, es hatte erst begonnen, nachdem ich aus Mr Cartmans Lehrerumkleide gestürmt war. Eine Allergie vielleicht? Eine unentdeckte, medizinisch nicht begründbare … Sportlehrer-die-aussahen-wie-Götter-Allergie? Inzwischen scharrte meine Hand schon so fest über meine Wange, dass ich sicher war, die Spuren meiner Nägel würden zu sehen sein. Das war gar nicht gut. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Ich warf einen Blick auf die große Schuluhr am Ende der Eingangshalle. Fünf Minuten meiner Freistunde waren noch übrig, dann gab es Mittagessen in der Cafeteria. Genügend Zeit, auf die Toilette zu huschen und nachzusehen, was zur Hölle da in meinem Gesicht los war. Doch weil unsere Schule nun mal keine gewöhnliche Schule war, sondern eins dieser historischen Backsteingebäude, die gern von Touristen fotografiert wurden und in denen es Tausende Ecken, Winkel und knarzende Treppen gab, sodass man einen Lageplan brauchte, um sich zurechtzufinden, dauerte es eine ganze Weile, bis ich die Mädchentoilette erreicht hatte. Als ich um die letzte Ecke bog, ertastete ich an meiner Wange plötzlich etwas, das vorher noch nicht da gewesen war. Stoppeliges, borstiges Haar, das knisterte, als meine Finger darüberstrichen. Einen Augenblick später stand ich vorm Spiegel. Und schluckte.
Was mich da aus dem Spiegel anblickte, war zwar mein Gesicht. Ich, dieselbe Ophelia mit den dunkelbraunen, störrischen Haaren, den grünen Augen, dem Muttermal an der Wange und der Einhorn-Schuluniform, die einen glatt drei Jahre jünger aussehen ließ. Und doch war etwas anders. Das stoppelige Borstenhaar, das ich eben erst ertastet hatte, war nun zu einem goldblonden Vollbart angewachsen, der die gesamte Unterseite meines Gesichts bedeckte.
Vor Schreck wäre ich fast umgekippt. Das konnte unmöglich wirklich passieren. Eine plötzliche Veränderung meines Körpers war genau das, wovor ich mich seit Ewigkeiten gefürchtet hatte.
Denn mir wuchs ein Bart. Mitten im Gesicht. Auf dem Mädchenklo. Wo in exakt … zwei Minuten und dreißig Sekunden, wenn die letzte Stunde vorüber war, eine Horde Schülerinnen hineinstürmen, mich angaffen und denken würde, ich sei … ja, was eigentlich? Eine bärtige Lady aus dem Zirkus? Ein Werwolf? Oder das Biest aus dem Disneyfilm? Das durfte nicht wahr sein!
Mit zitternden Knien trat ich näher an den Spiegel, bis ich die Poren sehen konnte, aus denen die Haare wuchsen. Mein Kopf suchte fieberhaft nach Erklärungen. Befand ich mich in einem gruseligen Traum? Oder hatte ich heute früh statt Vitaminpillen Testosterontabletten geschluckt und verwandelte mich nun in eine Kopie … unseres Sportlehrers Mr Cartman?
Doch es war nicht zu bestreiten. Der Bart, der in meinem Gesicht prangte, war dem Exemplar, das Mr Cartman trug, gar nicht mal so unähnlich. Die Bartkopie in meinem Gesicht war ebenso perfekt getrimmt wie das Original, das ich gerade eben in der Lehrerumkleide vor lauter Verlegenheit niedergestarrt hatte. Und das bedeutete …
Meine Gedanken stoppten mitten im Satz, weil draußen die Schulglocke läutete und eine Sekunde später die Toilettentür zum Gang aufglitt. Vor Schreck zog ich mir meinen Pulli übers Kinn, bis ich sah, wem die dunkelbraune lange Mähne gehörte, die sich von hinten auf mich zubewegte. Es war Lora.
»Hey, da bist du ja.« Lora warf einen schnellen Blick auf mich und starrte dann wieder auf das Display ihres Handys. »Ich wollte dich eben suchen und fragen, ob du die Sache mit der Einladung endlich erfolgreich …«
»Die Einladung ist gerade mein geringstes Problem«, unterbrach ich sie und drehte mich langsam zu ihr um.
Endlich hob sie ihren Kopf und lächelte. Doch ich konnte sehen, wie ihr Lächeln Stück für Stück gefror, bis ihr das Handy aus der Hand fiel und das Gehäuse sich am Fliesenboden zweiteilte. »Ach du Schande. Du hast es auch.«
»Was habe ich auch?«, fragte ich, doch ich wusste leider ganz genau, wovon sie sprach. Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Dabei rieb ich mir über die Wange, als könnte ich den Bart einfach wegrubbeln wie eine Schicht Dreck.
»Na, die Sache!« Sie nahm mich genauer unter die Lupe. »Du hast sie. Genau wie ich. Ich wusste es!«
In der Schule nannten wir es einfach nur »die Sache«, weil uns unsere Tante Mildred leider diesbezüglich einen unumstößlichen Maulkorb verpasst hatte. Selbst hier, unter uns und weit entfernt von Lauschangriffen, durften wir unter keinen Umständen auf die Heimlichtuerei verzichten, was ziemlich nervte.
»Sollten wir nicht vorher andere Ursachen für diesen Bart in Betracht ziehen?«, schlug ich vor. Mir ging alles viel zu schnell. Und dass auch Lora gleich an die Sache dachte, verunsicherte mich noch mehr.
»Was denn für andere Ursachen?«, brummte Lora. »Etwa eine biologische Spontangeschlechtsumwandlung?«
»Zum Beispiel.«
»Ophelia! Es gibt keine biologische Spontangeschlechtsumwandlung!«
»Doch, die gibt es! Bei Fröschen!«, erwiderte ich. »Ausgelöst durch Medikamentenrückstände im Wasser. Ist das nicht erschreckend? Das haben wir neulich in Bio …«
»Mag sein, dass es das schon mal gab«, unterbrach mich Lora genervt. »Aber doch nicht bei Menschen!«
»Das kannst du doch gar nicht wissen. Was, wenn das Grundwasser verseucht ist?«
»Wir wohnen aber nicht in der Nähe von verseuchtem Grundwasser, sondern in Schottland. In unserem Wasser gibt’s höchstens Spuren von Schafskacke und Whisky.« Lora grinste, als wäre das alles hier was Gutes! »Jetzt sieh es endlich ein. Du bist genau wie ich. Auch wenn Tante Mildred nicht zufrieden sein wird mit diesem … unfertigen Ergebnis. Aber lass dir deswegen keinen Bart wachsen.«
»Haha, sehr witzig. Außerdem, was würde Tante Mildred denn besser gefallen? Wenn ich als ausgewachsener Kerl in die sechste Stunde Chemie spazieren würde, als wäre alles normal?«, rief ich und konnte nicht aufhören, auf mein jämmerliches Ich im Spiegel zu starren. Selbst ohne Spontanbehaarung an den Wangen war ich ganz sicher niemand, der sich stundenlang selbstverliebt betrachtete, aber an guten Tagen, oder wenn ich etwas Besonderes vorhatte (wie den tollsten Jungen der Welt auf meine Party einzuladen), legte ich doch ganz gerne etwas Make-up auf. Absolute Zeitverschwendung, wenn man sich dann zwischen fünfter und sechster Stunde in einen Waldschrat verwandelte.
Lora zuckte mit den Schultern. »Und was willst du jetzt machen?«
Ich griff nach ihrer Hand. »Ich? Was soll ich denn machen? Du musst etwas machen. Du weißt genau, dass ich damit nichts zu tun haben will. Mach, dass es aufhört.«
»Flossen weg, Gandalf.« Lora zog ihre Finger weg. »Wenn du jetzt ausflippst, wird es nur schlimmer. Dann hast du den Bart noch länger am Hals.« Sie betrachtete mich. »Wer soll das eigentlich sein, in den du dich verwandelst?«
»Mr Cartman«, wisperte ich und merkte, wie meine Wangen alleine schon beim Gedanken an die peinliche Situation in der engen Umkleidekabine wieder heiß wurden. Wenigstens konnte man bei der Gesichtsbehaarung nicht erkennen, dass ich rot wie eine Tomate war.
Lora schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Ach du Schande! Ja klar, der Bart.« Plötzlich trat ein verschmitzter Ausdruck in Loras Augen. Sie musterte mich von oben bis unten. »Sag schon, hast du sonst noch was von ihm übernommen? Seine Kleidung? Seinen Sixpack? Oder das Tattoo? Er hat eins mit dem Geburtsdatum seines Hundes am linken Oberarm …«
»Er hat was?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich meine, nein. Es ist nur der Bart, glaube ich.«
»Keine weiteren Auffälligkeiten? Sicher?« Bevor ich darüber nachdenken konnte (oder wollte!), was Lora damit genau meinte, sprach sie auch schon weiter. »Wenn du willst, kann ich dich ja mal genauer unter die Lupe nehmen. Denn je mehr du geschafft hast, von ihm zu übernehmen, desto …«
»Hände weg von mir! Es ist wirklich nur der Bart«, knurrte ich, bevor Lora auf die Idee kam, mich zu filzen wie einen Drogenschmuggler am Flughafen und jeden Zentimeter meiner Haut auf plötzlich hinzugekommene Muttermale, Narben … oder sonstige Auffälligkeiten zu überprüfen. Am liebsten hätte ich sie einfach rausgeschmissen, doch ich wusste, dass Lora meine einzige Rettung war. »Sag mir, was ich tun muss, damit das Ding verschwindet. Gibt es irgendeine magische Formel? Einen Zauberspruch?«
Lora schnalzte mit der Zunge. »Erst mal brauchst du einen Zauberstab. Dann musst du nur noch drei Mal Expelliarmus rufen und sofort löst sich das Ding in einer Rauchwolke auf. Ist ganz easy!«
»Echt?«
»Natürlich nicht.« Sie bückte sich. »Und jetzt hilf mir, das Handy zu reparieren. Ich muss unsere Tanten anrufen, bevor dich jemand so sieht. Wir haben einen Plan für solche Situationen.«
»Das wirst du nicht tun!« Panisch riss ich ihr das Handy aus der Hand. »Hör mal, die drei dürfen auf keinen Fall wissen, was passiert ist. Sonst … werde ich am Ende noch so wie du!«
Ohne große Mühe angelte sich Lora ihr Handy zurück und steckte die SIM-Karte ins Gerät. »Jetzt mach mal halblang, Chuck Norris! Du bist doch schon eine Kopie von mir. Außerdem wollen alle so sein wie ich.«
»Als ob!«, knurrte ich, so gefährlich und bedrohlich, wie mein Bart es zuließ. »Jetzt bring mich hier raus, ich rasiere mir das Ding einfach ab, und wir vergessen, dass das jemals passiert ist.«
»Und was dann, hm? Es wird wieder geschehen.«
»Wird es nicht.«
»Natürlich wird es das«, sagte sie, viel sanfter, als ich es von ihr gewohnt war. »Ich weiß, dass du gehofft hast, es würde dich verschonen. Aber du bist meine Zwillingsschwester. Die Chancen standen immer schon gut, dass es dich auch erwischt.« Sie stupste mich an. »Sieh es positiv. Der Bart ist der Beginn von etwas Großartigem. Etwas, das dich für immer verändern wird.«
»Ach ja? Filtert das Ding Schadstoffe?«, witzelte ich, auch wenn mir eher nach Heulen zumute war. »Ist es ein natürliches Abwehrmittel gegen Krokodile, Bären und sonstiges Kleintier? Oder erhöht es drastisch meine Holzhack-Fähigkeiten?«
»Denk doch mal in größeren Dimensionen.«
»Einen Job im Einkaufscenter als Weihnachtsmann? Oder, noch besser, als Mrs Santa! Trägt die Frau des Weihnachtsmanns eigentlich auch Bart? Obwohl, nein. Das wäre seltsam.«
»Vergiss doch mal den Bart«, rief Lora und prüfte dabei ihr Make-up im Spiegel, als gäbe es gerade nichts Wichtigeres zu tun. »Wenn du das alles unter Kontrolle hast, kannst du damit total angesagt werden. Und musst nicht mehr mit diesen nichtsnutzigen Idioten rumhängen, mit denen du dich immer triffst. Diesem Drogenjunkie Stan und seiner gemeingefährlichen Schwester Mae.«
»Drogenjunkie? Stan trinkt noch nicht mal Kaffee.«
Lora hob die Augenbraue. »Ach ja? Neulich im Speisesaal hat er behauptet, er braucht dringend neuen Stoff.«
»Weil er fürs Theater Kostüme schneidert!«
»Dafür hat seine Schwester ein Rad ab. Die sieht aus, als würde sie am liebsten jemanden verprügeln.«
»Okay, damit hast du recht. Mae verprügelt wirklich Leute …«
»Sag ich doch!«
»Aber nur im Ring«, knurrte ich. »Sie ist Boxerin.«
Lora zögerte einen Moment. »Und wenn schon. Die beiden sind trotzdem Freaks! Wenn du dich einmal mit der Sache arrangiert hast, willst du nicht mehr ohne leben und kannst dir neue Freunde suchen. Tante Mildred sagt, es bietet uns ungeahnte Möglichkeiten. Was uns zurück zum Thema bringt.« Sie zückte ihr Handy und tippte hastig darauf herum, und bevor ich auch nur ausholen konnte, um es zu schnappen, war sie auch schon fertig. Bestimmt hatte sie mit unseren drei Tanten irgendeinen geheimen Kurz-Code vereinbart für genau diese Situation. Mit mir hatte mal wieder niemand gesprochen.
»So, erledigt. Sie müssten in wenigen Minuten da sein«, erklärte Lora und lehnte sich schützend gegen die Klotür. »Und jetzt entspann dich und versteck dich am besten in der Klokabine da, bevor jemand anders versucht, hier hinein…«
»Wieso hast du das getan?«, schimpfte ich und sank vor Verzweiflung in mich zusammen. Loras SMS war raus und ich war meiner verrückten Familie ausgeliefert.
»Ich sagte, entspann dich, Dumbledore! Sonst verschwindet der Bart nicht … Oh Mann, das war ja klar, dass ausgerechnet jetzt jemand hier reinwill.« Sie seufzte, denn von der anderen Seite der Tür wurde an der Klinke gerüttelt. Meine Schwester streckte ihren Kopf durch den Türspalt und zischte: »Jemand hat einen Feuerwerkskörper in die Kloschüsseln geworfen und jetzt ist alles eine riesige Pfütze. Ihr nehmt besser die anderen Klos, wenn ihr euch nicht auf der Stelle übergeben wollt.« Dann lehnte sie sich erneut gegen die Tür und sah mich an. »Entschuldigung. Was wolltest du sagen?«
Einen Moment war ich irritiert, doch dann richtete ich mich auf. »Vergiss es. Ich mache da nicht mit! Ich habe keine Lust, euren Geheimsitzungen beizuwohnen. Oder darauf, Tante Mildred aufs Wort zu gehorchen, nur weil ich ab jetzt Teil eures magischen Grüppchens bin. Schreib ihr sofort, dass das mit dem Bart ein Fehlalarm war!« Ich zog die Tür zum Flur einen Spalt auf und spähte hinaus. »Und ich schleiche inzwischen … Oje.«
Jetzt die Toilette zu verlassen, war keine gute Idee. Anscheinend war die halbe Stadt draußen auf dem Flur unterwegs. So voll war das Gebäude nur, wenn man partout niemandem über den Weg laufen wollte. Oder in Träumen, in denen man nackt zur Schule ging.
»Seit der sechsten Stunde leitet Direktor MacScott die Einschreibung fürs neue Schuljahr. Das dauert noch bis abends«, erklärte Lora und spähte an mir vorbei durch die Tür. Gerade als ich mich fragte, wie zum Teufel es Tante Mildred wohl anstellen wollte, mich bei diesem Tumult unerkannt aus der Schule zu schmuggeln, schob sie hinterher: »Oh, da sind sie ja! Pünktlich auf die Sekunde.«
Ich blinzelte zweimal, um sicherzugehen, dass ich nicht träumte. »Bitte sag mir, dass das gerade nicht wirklich geschieht.«
»Szenario zwei also«, murmelte Lora vor sich hin. »Schade, ich hatte mich schon auf den Hubschrauber gefreut.«
Szenario zwei, wie Lora es nannte, war offenbar, als Notfallsanitäter verkleidet und mit einem Krankenbett auf Rollen durch die Flügeltür der Schule zu preschen, dabei drei Schüler fast über den Haufen zu fahren und wild »Notfall« und »Aus dem Weg« zu schreien. Es waren zwei Krankenschwestern: Tante Rose und Tante Helly sahen aus wie immer, nur dass sie in Schwesternklamotten steckten und einen Mundschutz trugen. Doch die dritte Person sah nicht aus wie Tante Mildred, sondern wie ein attraktiver, dunkelhaariger Oberarzt, der mir entfernt bekannt vorkam.
»Ophelia, da bist du ja.« Tante Helly drückte sich durch die Tür und nahm mich in den Arm. »Hab keine Angst. Wir haben alles unter Kontrolle und holen dich hier raus. Und daheim sorgen wir dafür, dass du wieder ganz die Alte wirst, okay?«
Es tat gut, meine Lieblingstante zu sehen, und ich entspannte mich, wenn auch nur ein kleines bisschen. »Aber wie wollt ihr mich denn unbemerkt hier rausbekommen?«
Bevor Tante Helly antworten konnte, flog erneut die Tür auf, und der gut aussehende Arzt kam herein, riss sich den Mundschutz vom Gesicht und starrte mich an wie ein Ausstellungsstück im Museum. Kein besonders schönes Ausstellungsstück. Eher wie ein konserviertes Stück Dinosaurierkot.
»Es ist also jetzt auch bei dir so weit«, knurrte er und begann dann, meinen Kopf mit Bandagen zu umwickeln. »Immerhin bist du noch ein Mensch. Besser als ein haariger Orang-Utan. Das hätte uns ziemlich in Schwierigkeiten …«
»Tante Mildred? Du siehst haargenau so aus wie McDreamy aus ›Grey’s Anatomy‹! Wie ist das denn möglich?«, rief Lora begeistert, bevor ich fragen konnte, warum der Oberarzt alias Tante Mildred froh war, dass ich kein Orang-Utan war. Ging mir übrigens ähnlich.
»Nun, du wirst es kaum glauben, aber ich besitze im Pfandladen eine Zigarettendose von Patrick Dempsey«, antwortete Tante Mildred mit tiefer Stimme, als hätte sie nur auf Loras Frage gewartet. Dabei hörte sie nicht auf, unzählige Laufmeter weißer Bandagen um meinen Bart, meinen Hals und meine Schultern zu wickeln, bis ich aussah wie eine halb konservierte Mumie. »Er hat sie bei einem Dreh zu einem Film in den Highlands vergessen. Ich wollte sie schon zur Auktion geben, aber ich hatte das Gefühl, ich würde sie irgendwann noch mal brauch…«
»Halt!«, schrie ich und wand mich aus ihrem Griff. »Jetzt wartet doch mal einen Moment! Ihr wollt mich doch nicht wie ein Unfallopfer auf einem Krankenbett aus der Schule schieben? Das ist total pein…« Ich verstummte unfreiwillig, weil Tante Mildred mir jetzt Bandagen über den Mund wickelte. Das war die reinste Folter.
»Jetzt beruhige dich, Zauselbart. In der Aufmachung wird dich keiner erkennen!«, zischte Lora. Bevor ich auch nur ein geknebeltes Murmeln von mir geben konnte, packte mich Tante Mildred-McDreamy auch schon unter den Achseln, zog mich durch die Tür in den Flur, hievte mich mit Tante Hellys und Loras Hilfe auf das Krankenbett und zog eine dunkelblaue Decke bis über mein Kinn. Wie nicht anders zu erwarten, hatten sich inzwischen Dutzende Schaulustige vor dem Mädchenklo versammelt. Auch etliche Lehrer waren darunter und ich wollte am liebsten auf der Stelle im Erdboden versinken.
»Macht Platz, das ist ein Notfall«, verkündete McDreamy und setzte sich und das Bett in Bewegung, sodass die Menschenmenge sich vor uns teilte. Dann beugte er sich hinab und wisperte in mein Ohr: »Und du, Ophelia, schau möglichst leidend drein. Die müssen uns die Show abkaufen, verstanden?«
Leidend war kein Problem. Ich litt. Und wie ich litt. Immerhin starrte die gesamte Schülerschaft auf das Krankenbett, auf dem ich lag. Dabei erhaschte ich einige Blicke auf die anderen. Chelsea aus Loras Biologiekurs sah aus, als müsste sie gleich kotzen, einige Mädchen aus der Unterstufe begannen zu heulen, und selbst die Jungs aus der Fußballmannschaft, vorhin noch bester Laune, sahen aus, als wäre ihnen plötzlich schlecht geworden. Rechts von mir entdeckte ich die schockierte Miene von Teamkapitän Cliff MacAllister, was ziemlich ungewöhnlich war, weil er ja immer nur grinste, sowie einige andere aus dem Team und schließlich auch Adrians dunklen Lockenkopf. Er starrte mich an und biss sich dabei auf die Lippen. Bitte, mach, dass er mich nicht erkennt, flehte ich in Gedanken. Doch da hörte ich, wie in der Menge wieder und wieder jemand meinen Namen wisperte, bis schließlich Mrs Goddard, Erdkundelehrerin und kurzsichtig wie ein Maulwurf, Tante Rose am Fußende des Bettes eingeholt hatte und lauthals fragte, was um Himmels willen denn Ophelia Sedgewick zugestoßen sei.
Prima.
Okay, jetzt noch mal langsam zum Mitschreiben:
Ich hatte einen Bart. Er war einfach in meinem Gesicht gewachsen und war die exakte Kopie des Bartes von Mr Cartman. Meine drei Tanten waren felsenfest davon überzeugt, dass er nicht durch verseuchtes Grundwasser entstanden war, sondern eine andere Ursache hatte. Die Sache. Das, was eine gemeine kleine Stimme in mir von Anfang an befürchtet hatte. Etwas, was seit Ewigkeiten in unserer Familie passierte, wenn man das Pech hatte, als Zwilling (oder, wie bei meinen drei Tanten, als Drilling) zur Welt gekommen zu sein. Das kam bei uns ziemlich oft vor.
Man verwandelte sich. In Menschen, so wie Tante Mildred. Oder in Tiere, wie Tante Rose. Oder in bärtige Sportlehrer. So wie ich.
Wenn man Glück hatte und talentiert genug war, konnte man es vielleicht irgendwann kontrollieren. Und es wieder rückgängig machen. Die Betonung lag auf vielleicht und auf irgendwann. Zwei Wörter, die meine Tanten gerade ständig verwendeten, während wir am runden Tisch im Wohnzimmer der Villa saßen, und an der heißen Pfefferminzschokolade nippten, die Tante Helly vorhin gemacht hatte, um die Situation zu entspannen. Leider schmeckte das Zeug nicht nur nach flüssiger Zahnpasta, sondern half nicht mal annähernd, mich zu beruhigen. Tante Mildred, Tante Rose und Tante Helly redeten seit der Autofahrt wild aufeinander ein, während Lora am laufenden Band Bartwitze riss. Ich hatte große Mühe, aus alldem Gebrabbel schlau zu werden. Und meinen Bart nicht in den Kakao zu tunken.
»Vielleicht ist es das übliche Muster«, murmelte Tante Mildred. Sie war wieder in ihrer eigenen Haut angelangt, obwohl mir das Gesicht des attraktiven Schauspielers deutlich lieber gewesen war als die spitze Nase, der strenge Kurzhaarschnitt und die pulsierende Ader auf ihrer Stirn. »Zweitgeborene Zwillinge haben es immer schwer. Vielleicht lernt sie, die Verwandlungen zu kontrollieren … irgendwann. Aber sicher sein kann man sich nicht. Es wäre denkbar, dass Ophelia das alles nun jeden Tag passiert.«
»Was meint ihr mit jeden Tag?«, fragte ich, während sich in meinem Kopf schlimme Bilder abspielten, in denen mich meine drei Tanten tagtäglich in immer peinlicheren Rettungsaktionen aus der Schule schaffen mussten. Doch keiner am Tisch machte sich die Mühe, meinen Horrorvisionen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Noch nicht mal Tante Helly, die sonst immer auf meiner Seite war. Stattdessen fuhr sie sich immer wieder mit der Hand durch die roten Locken und nippte an der Schokolade, als wäre sie ein abstruser Gedächtnistrunk, der ihr helfen würde, eine Lösung für meinen Zustand zu finden. Einzig Tante Roses Hausschwein Mr Darcy schien es zu kümmern, dass mit mir etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, denn er schmiegte seine Rüsselnase an meine Beine.
»Jetzt malt mal nicht den Teufel an die Wand«, erwiderte Tante Helly dann doch. »Vielleicht ist es eine einmalige Sache. Was ist, wenn wir weitermachen wie bisher? Am besten geht Ophelia noch heute Nachmittag ganz normal wieder zur Schule, ungeachtet dieser klitzekleinen, unerfreulichen Veränderung.«
»Klitzeklein? Ein eingewachsener Fußnagel ist eine klitzekleine, unerfreuliche Veränderung!« Tante Mildred funkelte Helly an. »Wie soll sie so zur Schule gehen, hm? Sie wickelt sich einfach einen Schal von der Nase abwärts bis zum Dekolleté und behauptet, sie hätte einen monströsen Knutschfleck? Als ob das jemand glauben würde.«
»Na, vielen Dank auch.« Jetzt musste ich von Tante Mildred auch noch Kritik zu meinem Liebesleben einstecken. Wer war denn hier die engagierte Frauenrechtlerin?
»Eine Verwandlung, klitzeklein oder nicht, ist niemals ein Zufall«, fauchte Tante Mildred weiter und ignorierte meinen Protest. Und ich war einmal mehr froh drüber, dass sie sich mithilfe der richtigen Gegenstände zwar in jedes beliebige Menschen- und Tierwesen verwandeln, aber keine Gedanken lesen konnte. »Junge Mädchen bekommen nicht in der Mittagspause einen Vollbart. Oder ist dir das schon mal passiert? Nein! Bei dir gab es schließlich auch keine einmalige Verwandlung, Helly. Sondern eben gar keine.«
Tante Helly schmollte. Als drittgeborener Drilling hatte sie die Fähigkeit, sich zu verwandeln, als Einzige gar nicht geerbt. Die meiste Zeit war sie froh darüber, aber an Tagen wie heute war dieser Umstand für meine anderen Tanten ein Grund, sie einfach zu übergehen.
»Ich sehe das genauso wie du, Mildred. Außerdem müssen wir die Sache melden«, mischte sich Tante Rose ein und nahm eins der Karamellbonbons, die in Glasschüsseln überall im Haus herumstanden. »Es führt kein Weg daran vorbei.«
Ich fragte mich still, wem man denn plötzliche Bartwüchse bei fünfzehnjährigen Mädchen in Edinburgh so meldete. Gab es ein Amt für so was? So richtig mit Sprechzeiten, Nummernziehen, unfreundlichen Beamten mit Formular und so? Ich hatte jedoch keine Zeit, diese oder eine der anderen tausend Fragen zu stellen, die mir auf der Zunge brannten, denn schon kreischte Tante Helly lauthals: »Melden?«
»Natürlich melden.« Tante Rose wich meinem fragenden Blick aus, und obwohl wir uns die meiste Zeit über gut verstanden – was auch an dem unersättlichen Schokoladenvorrat lag, den sie in ihrem Stockwerk hortete –, beschlich mich das Gefühl, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte wegen dem, was sie sagte. »Er wird ganz schön sauer sein, wenn wir es ihm nicht erzählen, nicht wahr, Mildred?«
Tante Mildred starrte in ihre Schokolade, während Tante Helly sich nun über den Tisch beugte und so aussah, als würde sie Tante Rose die Brühe am liebsten ins Gesicht kippen. »Aber dann wird er sie zu sich holen. Du weißt genau, was man sich über ihn so erzählt. Denk nur mal an das, was Tante Bertha dort zugestoßen ist.«
»Großtante Bertha?«, mischte ich mich ein. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer »er« war, der aus heiterem Himmel in diesem Gespräch aufgetaucht war, über Großtante Bertha wusste ich Bescheid, und ich war froh, zumindest ein wenig mitreden zu können. »Ihr meint die durchgeknallte alte Schachtel, die einsam hoch oben auf den Shetlandinseln wohnt und nur mit Schafen spricht?«
»Genau die.« Tante Helly sah mich an, als müsste ich plötzlich Angst davor haben, in absehbarer Zeit ein ähnliches Schicksal zu erleiden. Was im Moment keinen großen Unterschied gemacht hätte, immerhin unterhielt ich mich heute eh nur mit dem Hausschwein.
»Ach, komm schon, Helly«, raunte Tante Rose und aß noch ein Bonbon. »Du kannst da doch gar nicht mitreden.«
Das ließ Tante Helly nicht gelten. »Trotzdem lebe ich schon lange genug in dieser Familie, um zu wissen, dass ich Ophelia nicht an irgendeinen Irren in den schottischen Highlands ausliefere.«
Ich schluckte. Einen Irren? Zugegeben, seit ich in die große viktorianische Villa meiner Tanten gezogen war, hatte ich mich immer über die Eigenheiten der drei Schwestern lustig gemacht. Zum Beispiel darüber, dass sie getrennte Etagen bewohnten und jede ihr Stockwerk in ihrem eigenen, unverkennbaren Stil eingerichtet hatte. Oder darüber, dass sie in der Innenstadt drei Läden nebeneinander führten – ein Pfandleihgeschäft, eine Tierhandlung und einen Blumenladen. Und nicht zuletzt über ihre ganze Geheimnistuerei mit den Verwandlungen und das viele Um-den-heißen-Brei-Herumreden.
Aber jetzt bekam ich es mit der Angst zu tun. Wer zur Hölle war er?
Offenbar wusste Lora ganz genau, von wem hier die Rede war. Denn anstatt ein schockiertes Gesicht zu machen, lehnte sie an der Tür und knabberte an einem Stück Sellerie. »Beim Barte des Propheten! Jetzt kriegt euch doch mal ein.« Sie rollte mit den Augen. »Bei meiner ersten Verwandlung hat er doch auch nicht verlangt, dass ich persönlich inspiziert werde.«
Tante Mildred schnalzte mit der Zunge. »Lora, du bist ja auch ein Naturtalent. Dein Verwandlungsgrad liegt bei über achtzig Prozent und du hast als eine der Jüngsten in unserer Familie die Freigabe für öffentliche Verwandlungen bekommen. Deine erste Verwandlung war beinahe komplett und nach nur sechs Tagen hast du dich in eine exakte Kopie der Küchenhilfe Blanka aus der Schulkantine verwandelt.«
Tante Rose nickte. »Das war ausgezeichnete Arbeit.«
»Ungeachtet von Loras Verwandlungsgrad war es ja auch nicht besonders knifflig für sie, herauszufinden, wie Blanka so tickt«, widersprach Tante Helly.
Tante Rose brummte. »Trotzdem. Ein Verwandlungsgrad von achtzig Prozent ist beeindruckend. Davon kann ich nur träumen. Ich dümpele immer noch bei unter fünfzig Prozent herum. Und da klappen nun mal nur tierische Verwandlungen.«
Lora warf ihr Haar über die Schulter. »Und doch war bei dir, Tante Rose, auch keine Inspektion notwendig.«
»Aber doch bloß, weil sich Rose vor dreißig Jahren auf dem Schulball in eine echte Königskobra verwandelt hat«, setzte Tante Helly entgegen. »Auch wenn es nur ein Tier war, es war doch eindrucksvoll. Ihm muss es wohl genügt haben.«
»Schlangenleder war damals groß in Mode und irgendwie muss mich das inspiriert haben.« Tante Rose zwirbelte eins ihrer blonden Löckchen. »Ich weiß noch, wie ich mich auf der Tanzfläche zu Moon River über das Bein meines Dates bis zu seinem Hals hinaufgeschlängelt habe. Das war richtig romantisch, außerdem hatte er so muskulöse Waden, müsst ihr wissen.«
Lora hob die Augenbrauen. »Hast du nicht erzählt, er hätte wie am Spieß geschrien und sich vor Angst fast angepinkelt?«
Tante Rose hob die Schultern. »Möglich. Ich hätte ihm natürlich nie etwas angetan. Das wollte ich ihm auch sagen, aber das Zischen, das aus meinem Mund kam, nahm er wohl eher als Zeichen, dass ich ihm jeden Moment meine Fangzähne in die Halsschlagader rammen wollte.«
»Wie auch immer. Wir müssen uns an die Regeln halten«, erklärte Lora. »Wir liefern Ophelia ja nicht aus, wenn wir ihm von ihrem Bartwuchs erzählen. Und selbst wenn er sie persönlich unter die Lupe nehmen will, was wäre denn so schlimm daran? Ophelia lässt ihren Verwandlungsgrad messen, bekommt womöglich ihre Freigabe für öffentliche Verwandlungen und schon lässt er sie und ihren hübschen Suppenfänger in null Komma nichts wieder …«
»Genug jetzt.« Ich war aufgesprungen und hatte dabei gar nicht mitbekommen, dass ich dem armen Mr Darcy, der gerade im Schweinsgalopp über die Treppen in Tante Roses Stockwerk flüchtete, einen Riesenschreck eingejagt hatte. Wenn ich etwas noch mehr hasste als Pfefferminzschokolade, dann war es, wenn über mich gesprochen wurde, als sei ich entweder gar nicht da oder irgendein unbedeutendes Ding. Ach, und natürlich Bartwitze. Ich hatte für den Rest meines Lebens genug Bartwitze gehört. »Ich schnappe mir jetzt einen Rasierer und fahre danach zurück zu meinem Vater und dem normalen Teil meiner Familie. Dem ohne verrückten Verwandlungsschnickschnack.«
»Ophelia, du bleibst. Du bist nicht gesellschaftsfähig«, bestimmte Tante Mildred. Dafür, dass sie eigentlich das Familienoberhaupt war, verhielt sie sich die ganze Zeit schon ruhig und nachdenklich, doch jetzt klang sie wieder so wie immer. Unumstößlich und knallhart.
Doch ich hatte nicht vor, mich einschüchtern zu lassen. »Na und? Was soll schon passieren? Dass der Bart wiederkommt, wenn ich ihn erst mal abrasiert habe?« Und wenn schon. Das war mir im Moment vollkommen egal. Ich hatte nur noch das Bedürfnis, zu meinem Vater zu fahren. Dorthin, wo mein richtiges Zuhause gewesen war, bevor er mich und Lora hierhergeschickt hatte, offiziell, weil die Schule so gut war. Inoffiziell, weil wir Zwillinge waren und Mildred, Rose und Helly MacBiggs, die Schwestern meiner verstorbenen Mutter, besser damit umgehen konnten, wenn zum ersten Mal Verwandlungen auftraten. Ob mein Vater ahnte, dass Mildred und Rose jetzt über mein Schicksal feilschten, als wäre ich ein mutiertes Monster, das es zu verstecken galt? Und was um alles in der Welt war eigentlich der Verwandlungsgrad, über den die drei die ganze Zeit sprachen?
»Der Bart ist erst der Anfang, Schätzchen«, erklärte nun Tante Rose. »Stell dir nur mal vor, dir begegnet im Zug zurück nach London … sagen wir mal, ein Schäferhund, eine grauhaarige Dame und ein Zirkusäffchen, und im nächsten Moment stehst du mitten in Kings Cross als … bellende alte Schachtel mit Hundeschnauze und einem roten Samthütchen am Kopf.«
Ich unterdrückte ein Kichern, doch offenbar war ich die Einzige, die die Vorstellung witzig fand. Tante Mildred, Helly und sogar Lora pressten betroffen die Lippen aufeinander.
Mein Lächeln erstarrte. »Wartet mal, ihr meint das ernst?«
»Wir würden niemals Scherze darüber machen.« Tante Rose lief in die Küche und kam mit dem Telefon zurück. Dann beugte sie sich zu Tante Mildreds Ohr hinunter. »Und jetzt ruf ihn an, um diese Uhrzeit ist er in seinem Büro immer erreichbar. Je länger wir warten, desto verdächtiger macht es uns.«
Gegen meinen Willen musste ich grinsen. Bei all dem Wahnsinn, der meine Tanten umgab, hatte ich vermutet, dass der Mann, um den es ging, mindestens ein mystisches Zauberwesen war. Ein Dämon, der die Verwandlungen in unserer Familie überwachte und den Zorn der Unterwelt auf uns niedersausen ließ, wenn wir uns ihm widersetzten.
Aber er besaß offenbar einen Festnetzanschluss.
»Auf keinen Fall«, rief Tante Helly und riss ihr das Telefon aus der Hand, und trotz meiner misslichen Lage war ich ihr sehr dankbar.
»Wir müssen es aber tun«, beharrte Lora.
Tante Rose nickte. »Solange Ophelia die Sache nicht unter Kontrolle hat, ist sie eine Bedrohung. Unsere Verwandlungen könnten auffliegen. Er wird ihr helfen.«
Jetzt packte Helly Rose am Oberarm, worauf die laut zu quietschen begann. »Hast du dir schon mal darüber Gedanken gemacht, wie er es anstellt, Ophelias Verwandlungen zu kontrollieren? Man sagt, er habe ein geheimes Labor im Keller, wo er Menschenexperimente durchführt.«
Vor Schreck verschüttete ich meine Schokolade. Das wurde ja immer schlimmer. Ein Irrer aus den Highlands, der im Keller Experimente durchführte, das klang nach … einem schlechten schottischen Low-Budget-Horrorfilm.
Tante Rose schnaubte. »Hör nicht auf Helly, Ophelia. Das sind nur üble Gerüchte von Tante Bertha. Wenn man der glaubt, dann hält er sich auch Nessie an der Leine und füttert sie zweimal täglich mit Marzipantörtchen.«
»Und wenn schon. Ich sage, wir verschweigen es«, befand Tante Helly.
»Melden«, beschloss Tante Rose. »Eins zu eins. Mildred entscheidet!«
Ich stöhnte auf und ließ die Schultern sinken. Wenn Tante Helly und Tante Rose tatsächlich ihre älteste Schwester entscheiden ließen, war ich geliefert. Tante Mildred war der Inbegriff der Gesetzestreue, außerdem Frühaufsteherin, Pedantin, humorloser als die Queen und ein solcher Reinlichkeitsfreak, dass sie Wäscheklammern nach Farbe sortierte und regelmäßig die Fransen der Teppiche kämmte. Sie würde mich ohne mit der Wimper zu zucken zu einem Irren in die schottische Einöde schicken, wenn ich dann bloß kein Chaos anrichten konnte.
»Wir warten ab«, verkündete Tante Mildred. »Wir sagen ihm nichts. Vorerst.«
Ich riss überrascht die Augen auf. Hatte ich mich verhört?
»Ist das dein Ernst?« Tante Rose wirkte nicht weniger verblüfft als ich selbst. »Aber …«
»Nichts aber.« Tante Mildred zog die Vorhänge zu. »Wir warten, bis sich Ophelias Zustand bessert. Und sobald es wieder auftritt, werden wir sie unterstützen, bis sie kein Aufsehen mehr erregt. Wir bekommen das hin. Ohne die Methoden unseres Onkels. Verstanden?« Alle nickten, Lora und Tante Rose immer noch ein wenig verdattert, Tante Helly mit einem Lächeln im Gesicht.
Da klingelte es an der Tür.
Aus Gewohnheit stand ich auf, doch Tante Mildred griff nach meinem Handgelenk. »Du bleibst schön hier, Ophelia.«
»Ach ja, der Bart …«, sagte ich und blickte mich um. Meine Tanten standen stocksteif da und sahen aus, als hätte der leibhaftige Sensenmann angeklopft. Was war denn plötzlich los?
»Ist das etwa …« Tante Helly spähte durch die Vorhänge.
»Verdammter Mist«, sagte Tante Mildred, und es war das erste Mal, dass ich sie fluchen hörte. »Wie um alles in der Welt hat er das so schnell mitbekommen?«
Mein Magen rutschte mir in die Kniekehlen.
»Er ist da?« Lora löste sich vom Türrahmen. »Ihr meint, bei uns, vor der Haustür?«
Es klingelte erneut, diesmal länger.