Danksagung

 

Xerubian war meine erste, wirklich große Geschichte. Ein Bündel aus verrückten Ideen, das über viele Jahre hinweg erst zu einem Buch herangewachsen ist. Gerade bei diesen ersten Gehversuchen des Schreibens haben mich viele Menschen unterstützt.

Zunächst muss ich meinem Bruder Martti danken, denn mit ihm habe ich den Grundstein für diese Welt gelegt. Mein Vaddi Wolfgang hat mit seiner Unterstützung meinen ersten Text auf ein neues Niveau gehoben. Belinda und Ulla haben Nerol seinen charmanten schwäbischen Dialekt verpasst, der heute in etwas abgeschwächter Form nach wie vor seine Wirkung nicht verfehlt. Natürlich darf Nina Hasse nicht fehlen, die Xerubian in der aktuellen Fassung den Feinschliff verpasst hat.

Last but not least gehört der Dank natürlich auch meiner Frau Iris für ihren stetigen Tritt, meinen faulen Hintern hochzubekommen, sowie ihren Eifer in den entscheidenden Stunden.

 

Andreas Hagemann

Xerubian

Band 1: Aath LanTis



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Ebenfalls erschienen:

Xerubian – Barb Ylon

Xerubian – Eh’Den

Buchwächter – Das Buch der Phantasien

Buchwächter – Das Buch der ersten Magie

 

 

Andreas Hagemann

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

info@andreashagemann.com

 

 

4. Auflage
Copyright © Andreas Hagemann, 2020
Erstveröffentlichung im Februar 2012
Cover*, Satz, Illustration: saje design, www.saje-design.de
*unter Verwendung einer Grafik von 123rf.com
Lektorat: Nina C. Hasse, www.ninahasse.wordpress.com
Korrektorat: Pia Euteneuer

Druck: booksfactory, 71-063 Szczecin (Polen)

 

ISBN: 978-3-96698-261-0

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.dnb.de abrufbar.

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Das Buch ist meiner Oma Ursula gewidmet,

die leider nicht mehr die Möglichkeit hatte,

diesen Roman zu lesen.


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> Prolog

 

Gott ist nur sein Rufname. Eigentlich heißt er Fürchtegott. Seine Schöpfungen bezeichnen ihn als den Herrn über alle Dinge: die Zeit, das Licht, das Leben und Billard.

Nur zufällig hat sich dieses Spiel in seinen Alltag gedrängt und ihm schleichend den Großteil seiner freien Zeit genommen. Anfangs ist er beim Spielen unsicher, beinahe ängstlich gewesen. Er hat dem filigranen Stab und seiner Funktion misstraut. Mit stetem Üben hat sich Gott für die Balance von Kraft und Präzision begeistert, sich regelrecht in die kniffligen Spielzüge verliebt.

Auch wenn es ein Zeitvertreib ist, so verlangt der Tisch mit sechs Löchern, 16 Kugeln und dem geliebten Queue viel Verantwortung von ihm. Denn in jeder der Spielkugeln pulsiert funkelnd ein Universum voller Leben. Mit jedem Spielzug lassen sich Geschehnisse lenken, Wind und Wetter beeinflussen, aber auch Katastrophen auslösen. So ergab sich der Name Spiel des Lebens.

Gott betrachtet den Spieltisch. Den Billard-Queue als Stütze unter die Achsel geklemmt, steht er vor der im himmlischen Blau bezogenen Spielfläche. Die Kugeln der Schöpfung liegen ausgebreitet vor ihm. Er analysiert die Konstellation. Am hinteren rechten Loch liegt die grellrote Drei. Sie funkelt kurz, als wollte sie sich bemerkbar machen.

Es wäre ein Leichtes, sie mit einem gezielten Stoß zu versenken, wenn die violette Vier nicht im Wege läge. Er könnte mit der Hand vielleicht ein wenig … Schließlich wäre diese kleine Unstimmigkeit, gemessen an der Unendlichkeit der Zeit, eine kaum ins Gewicht fallende Nichtigkeit.

Er sollte es besser wissen. Auch wenn es in seinem Kopf widerhallt: »Der Wille des Herrn geschehe!«

Fest entschlossen, den Stoß regelgerecht auszuführen, begibt er sich an die kurze Seite des Tisches. Gelassen legt er den Queue zwischen Zeige- und Mittelfinger, beugt sich hinunter und wirft einen flüchtigen Blick auf die beiden Kugeln. Auch aus diesem Blickwinkel verdeckt die violette Vier die von innen leuchtende rote Drei. Belebt kreisen winzige Lichtpunkte in den Kugeln, ihn daran erinnernd, dass die in ihnen enthaltenen Galaxien darauf warten, mit neuer Energie aufgeladen zu werden.

Er konzentriert sich.

Probeweise gleitet der Queue ein paarmal vor und zurück. Dann holt er Schwung. Es ist ein banaler, nahezu belangloser Zug. Und trotzdem, eine ihm unerklärliche Spannung bringt das linke Augenlid zum Zucken, als er mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung des Handgelenkes den Stoß ausführt. Erst sacht, dann schneller werdend und letztlich viel zu wild.

Und so nehmen die Dinge ihren Lauf. Sein Handballen rutscht von der Kante des Tisches und die blaue Spitze des Queues verfehlt den anvisierten Punkt auf der weißen Kugel des Urknalls. Deutlich zu schnell fliegt sie geradewegs auf die violette Vier zu.

Gottes Augen weiten sich.

Es ist der gleiche Blick wie damals, als er von Maria erfahren hat, dass sie schwanger von ihm gewesen ist. Genau wie heute ist er in jenen Tagen in bester Absicht unterwegs gewesen. Doch die Sache verlief anders als geplant. Die Geschichte mit der unbefleckten Empfängnis ist jedoch die genialste Ausrede gewesen, die er sich je hat einfallen lassen.

Ungeachtet dessen sind die Probleme, die ihn jetzt erwarten, andere. Weniger delikat, allerdings mit noch unvorhersehbareren Folgen.

Die weiße Urknallkugel trifft die knallrote Drei mittig mit voller Wucht. Kurz darauf löst die viel zu große Energie des Zusammenpralls die Formen beinahe auf, ihr Inneres beginnt, kräftig zu strahlen. Die unerwartet intensive Vereinigung zwingt die jetzt grell leuchtende Vier in eine an dieser Stelle überflüssige Drehbewegung. Die in den Eingeweiden befindlichen Galaxien entfernen sich dabei mit rasender Geschwindigkeit von ihrer Drehachse, während die Kugel selbst rasch an Umfang zunimmt.

Da ist sie wieder, die Erinnerung an die schöne Maria.

Der ganze Vorgang dauert nicht länger als das unmerkliche Zucken seines Auges.

Derweil verfehlt völlig unbeachtet die leuchtende Drei das anvisierte schwarze Loch. Und während sie zurück in die Weiten des Tisches rollt, beginnt sich in ihr etwas unbekannt Dunkles zu materialisieren.

In einer der durcheinandergewirbelten Galaxien der Vier, in einem unscheinbaren Sonnensystem ganz am Rand, auf einem winzigen grünen Planeten namens Xerubian wird sich eine halbwegs intelligente Lebensform über diesen Drift wundern. Sie wird tollkühne, mathematisch schöne, dafür allerdings realitätsferne Alles-im-Universum-entfernt-sich-vom-Zentrum-aber-keiner-weiß-wohin-Theorien entwickeln.

Recht werden sie haben. Sonderlich geschickt war dieser Stoß wirklich nicht.

Mit der einen Hand den Unheils-Queue von sich gestreckt, die andere in die rundliche Hüfte gestemmt, steht Gott fassungslos vor dem Tisch. Nachdenklich blickt er auf die Kugeln und murmelt: »Mist! Das ist mir ja noch nie passiert. Zumindest nicht in dem Umfang.«

Die Vier ist deformiert, die ehemals strahlend rote Drei liegt abseits auf der anderen Seite des Spielfelds.

Nachdenklich kratzt er sich den Hinterkopf. Das ist mit Abstand die unglücklichste Weltenmischung, die er bislang hervorgerufen hat. Aber besser Chaos anrichten, als gar keine Spuren hinterlassen.


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> Kapitel 1

 

Die Nacht bedeckt die Stadt Punkt mit ihrem violetten Kleid. Schon vor Stunden hat der Abendhimmel den Kampf gegen die zwei Sonnen zu seinen Gunsten entschieden.

Aus einer finsteren, schwer einsehbaren Ecke des Marktplatzes starrt in diesem Moment ein wachsames Augenpaar auf die sandige Fläche vor der großen Kathedrale. Am Tage würde man den prächtigen, golden glänzenden Kuppelbau und seine hohen, mit Ornamenten versehenen Säulen in ganzer Pracht bewundern können. Im zuckenden Schein der Fackeln jedoch lässt sich das wahre Ausmaß des Bauwerks zu dieser späten Stunde nur erahnen.

Der weite Marktplatz ist übersät von zurückgelassenen Holzkarren und Fässern mit stinkenden Abfällen. Sie sind ideal, um ungesehen zum Eingang der Kathedrale zu gelangen. Der Schatten huscht aus dem Dunkel und duckt sich geräuschlos hinter einen der Behälter.

Er muss einen Würgereiz unterdrücken, als ihm die unsichtbaren Schwaden fast die Sinne rauben. Nur mit Mühe kann er die Augen offen halten. Sein Blick zum Brunnen in der Mitte des Platzes verschwimmt. Dessen langer und grotesker Schatten bietet genug Deckung, um auch die letzten Meter ungesehen zurückzulegen.

Heiser lachend kommen just in dem Moment zwei Stadtwachen scheppernd um die Ecke. Schnell drückt sich der Schatten noch tiefer auf den hier feuchten Boden. Das einzige Interesse der beiden in Blech gehüllten Wesen gilt jedoch dem grünlich schimmernden Brot in ihren Händen.

Erneut muss die dunkel gekleidete Gestalt einen Anflug von Übelkeit unterdrücken, doch diesmal entfährt ihr dabei ein leises Stöhnen.

Überrascht schaut der kleinere der beiden Wachmänner auf und bleibt stehen. Der andere geht gedankenversunken noch ein Stück weiter, bis die Einsamkeit ihn erweckt. So schnell es die sperrige Rüstung zulässt, dreht er sich nach seinem Kumpan um. »Was iszt?«, ruft er lispelnd zu ihm hinüber.

»Ich glaube, ich habe etwas gehört.«

»Dasz wird wohl eher die Bohnenszuppe von heute Mittag szein, die dir einen Sztreich szpielt«, gibt der Erste zurück.

»Wahrscheinlich hast du recht. Die Katze vorhin ist ja auch nicht ohne Grund davongelaufen«, hustet der Kleinere lachend. »Worüber haben wir gerade gesprochen? Ach ja, wenn du also die Chilischoten mit in den Bohnentopf gibst, dann pass auf, dass du sie klein schneidest, sonst passiert dir das Gleiche wie Fips. Du erinnerst dich doch, oder?«

»Na klar, die Sztichflamme habe ich noch zwei Blocksz weiter geszehen!«

Sie lachen schallend, während sie hinter der nächsten Ecke verschwinden und ihre Unterhaltung mit sich ziehen.

Warum laufen diese Kreaturen frei herum?, denkt der Schatten und verzieht wie unter Schmerzen sein Gesicht. Am Ungleichgewicht von zu viel Panzer und zu wenig Hirn sind, der Lehre des großen Charldar Win folgend, schon einige dieser überflüssigen Mutationen gestorben. Aber leider eben doch noch nicht alle.

Sobald das Scheppern der Rüstungen verhallt ist, springt er lautlos auf und rennt so leise wie möglich zur großen vergoldeten Pforte des Gebäudes. Umgeben von der Kühle der Nacht spürt er die Hitze, die die Mauer nun als wärmenden Mantel trägt.

Die Spannung wandert durch seinen verhüllten Körper. So lange hat er darauf warten müssen und nun trennen ihn nur noch wenige Meter von seinem Ziel. Er verharrt plötzlich in der Bewegung. Ein ungutes Gefühl breitet sich in ihm aus. Es ist der Blick einer Person, den er zu spüren meint.

Keine zehn Schritte entfernt ragt ein Paar Sandalen aus einem Verschlag. Zwei ärmliche Dinger aus rissigem Leder und dünnen, faserigen Schnüren. Sie umspinnen schwarzblaue, nur durch den seltenen Regen gesäuberte Füße.

Mit vorsichtigen Schritten schleicht der Schatten hinüber. Aus einem Fass auf dem Weg dorthin greift er ein Bund übel riechenden, aber fest anmutenden Gemüses. Von der Gestalt ist röchelndes Stöhnen zu vernehmen. Bei dem kleinen Bretterverschlag angekommen, schlägt ihm eine Fuselwolke entgegen. Aus einem bärtigen Gesicht schaut ihn alle paar Sekunden ein träge blinzelndes Augenpaar an. Der Teint unterscheidet sich nicht von den Füßen. Der Fremde kämpft vehement damit, ins Land der Träume zu gleiten.

Der Schatten unterstützt die Versuche des armen Kerls. Ein Zeuge, egal wie berauscht, ist das Letzte, was er gebrauchen kann.

Nass klatschend explodiert das stinkende Etwas auf der Stirn und nimmt dem kämpfenden Augenpaar die Arbeit ab. Er tippt dem Trunkenbold an die rechte Schulter, woraufhin dieser langsam an der Verschlagwand nach unten rutscht. Nun kann er sich beruhigt dem eigentlichen Ziel zuwenden.

Schnell und lautlos legt er die kurze Distanz dorthin zurück. Kaum angekommen, gleiten seine Finger über das vergoldete und reich verzierte Holz. Die makellose Verarbeitung ist beeindruckend, macht es jedoch schier unmöglich, einen Weg hineinzufinden. Es gibt weder Spalten noch Knauf oder Klinke zum Öffnen der Pforte. Seine Freude schlägt in Nervosität um.

»Was willst du von mir?«, tönt es in diesem Moment laut aus dem Nichts.

Der Schatten zuckt zusammen, dreht den Kopf rasch in alle Richtungen und streckt die Arme angewinkelt von sich. Er ist bereit, jeden Angreifer mit tödlicher Entschlossenheit abzuwehren. »Was will ich von wem?«, flüstert er.

»Na, von mir!«, antwortet die tiefe, fast angenehme Stimme beleidigt.

Dem Schatten dämmert es. Er tritt zurück und schaut prüfend zum oberen Ende der Pforte. Er hat von Resten alten magischen Wirkens in dieser Stadt gehört. Dass diese ausgerechnet jetzt seinen Weg kreuzen, gefällt ihm jedoch gar nicht.

»Ich hatte die Absicht … ein wenig zu beten. Warum?«

Noch im selben Moment könnte er sich für die dumme Antwort ohrfeigen.

»Es ist sehr unhöflich, eine wichtige Pforte wie mich zu so später Stunde unterhalb der ersten Scharnierlinie zu befingern. Wer hat dich geistig so nackt in die Welt geschickt, dass du nicht mal grundlegende Anstandsregeln kennst? Wer bist du überhaupt?«

»Verzeihen Sie die Aufdringlichkeit, es war gewiss nicht meine Absicht. Ich bin …« Der Schatten sucht stotternd einen Weg aus dieser Situation.

»Ich bin … Paul! Ja, Paul bin ich. Und … ich komme von einem Hof weit im Norden und wollte Sie wirklich nicht unsittlich berühren. Nur beten wollte ich hier. Für meine kranke Mutter beten.« Seine Worte gewinnen an Festigkeit und unterdrücken so das Zittern seiner Stimmbänder beim Lügen. »Mit wem habe ich denn die Ehre?«, schiebt er rasch hinterher.

»Ich bin die goldene Pforte des Lichts, vom großen Magier vor vielen, vielen Jahren zum Leben erweckt, mit der Aufgabe, diese heiligen Mauern und das, was sie seit dem Anbeginn aller Zeit bewahren, zu schützen.«

Die Einwohner der Stadt wissen, dass es nur knapp fünfzig Jahre her ist, dass die damals morsche und mehr als altersschwache Pforte aus den Angeln brach und durch diese hier ersetzt werden musste. Aber nun ja, wer Gold trägt, der darf natürlich auch protzen. Außerdem, wie bedeutend klingen schon fünfzig Jahre gegenüber einer scheinbaren Ewigkeit?

»Ich bin hoch erfreut«, gibt der Schatten leise zu verstehen. Die Pforte jedoch scheint ihn nicht weiter zu beachten.

»Es tut mir leid, dass wir uns auf diese Weise kennenlernen«, setzt er wieder an. »Ich habe allerdings eine kleine, aber sehr dringliche Bitte. Es ist für mich unermesslich wichtig, dass ich trotz der späten Stunde in Ihre heiligen Hallen eingelassen werde.«

Die Antwort ist kurz, dafür aber unmissverständlich: »Bedaure.«

»Lassen Sie mich raten: An einem derart komprimierten Ergebnis Ihrer Denk- und Entscheidungsprozesse haben Sie sicher jahrelang gefeilt«, grummelt der Schatten verärgert. Schnell lässt er seinen Blick über den Platz gleiten. Ihm bleiben nur noch wenige Minuten, bis die Wachen wieder vorbeikommen.

»Das habe ich gehört!«, empört sich die Pforte.

»Das war durchaus beabsichtigt«, gibt der Schatten zurück. »Darf ich trotzdem fragen, warum Sie mich nicht einlassen wollen?« Er sieht seinen Plan bereits scheitern.

»Darfst du. Ich habe absolut keine Lust! Abgesehen davon verspüren meine alten Scharniere zu dieser späten Stunde nicht den Drang, sich zu bewegen.«

»Was müsste ich denn tun, um dir ein wenig Lust zu verschaffen? Dich ein weiteres Mal für mich zu bewegen, meine ich natürlich.«

»Welch Ungeheuerlichkeit! Noch nie hat es jemand gewagt, mir solch ein frivoles Angebot zu machen und mich obendrein auch noch zu duzen. In der ganzen langen Zeit nicht! Entweder du nennst mir das geheime Losungswort der Mitglieder unseres Ordens oder du bleibst hier stehen, bis du schwarz wirst«, gibt die Pforte barsch und pikiert zurück.

Der Schatten schaut auf seinen dunklen Umhang hinab. Es leben die hohlen Phrasen.

»Wie du in deiner unendlichen Weisheit sicherlich spüren kannst, führe ich nichts Böses im Schilde. Daher dachte ich, wir seien Freunde, und habe ich es dir gleichgetan.«

Völlig fassungslos sucht die Pforte nach einer Antwort. Aber so strahlend wie ihr dicker Goldbelag glänzt, so hohl und leer ist ihr Geist.

Der Schatten sieht sich hektisch um. Mit solch einem Hindernis hat er nicht gerechnet. Die Wachen haben das Gebäude zwar noch nicht umrundet, aber die Zeit wird knapp. Eine schnelle Lösung muss her.

»Dieses Losungswort, es liegt mir auf der Zunge, will nur irgendwie nicht heraus. Meine Frau hat mir die letzten Tage vor der Reise den Kopf mit mir unverständlichen Dingen gefüllt, an die ich unbedingt denken soll. Also gönn mir ein wenig Frieden und lass mich ein.«

Kaum besser als die erste Geschichte, aber immerhin ein Versuch.

»Wenn du das Losungswort vergessen hast, musst du auf den großen Ad-Min Istrator warten. Er wird morgen um neun Uhr wieder hier sein und kann dann deine Daten überprüfen. Sei dir meines Beileids sicher«, höhnt die Pforte und kann sich ein knarrendes Lachen nicht verwehren.

Dem Schatten wird das Katz-und-Maus-Spiel zu dumm. »In Gottes Namen, lass mich hinein!«, ruft er unbeherrscht.

Kaum ausgerufen, schlägt er die Hände vor den Mund. Er hofft inständig, dass die Wachen seine laute Äußerung nicht gehört haben.

»Nur über meine Holzkohle!«, gibt die Pforte ebenso laut zu verstehen.

»Psst, sei leise!« Mit diesen Worten gleitet der Schatten abseits der Fackeln wieder in die Tiefen des Platzes zurück.

»Magie sollte verboten werden. Türen, die einem widersprechen. Das kann doch alles nicht wahr sein.« Murrend verschwindet er hinter dem Brunnen. Er braucht eine neue Idee. Sein Einfall ist zwar nicht besonders pfiffig, könnte aber Erfolg haben. Unvermittelt stürmt er mit dem Kopf voran aus der Dunkelheit gegen das vergoldete Holz.

Kraft gleich Masse mal Beschleunigung. Das hatte doch schon der alte Nyu Ten verkündet. Die Pforte zeigt sich von dieser Aussage und dem dilettantischen Versuch ihres Praxisbeweises völlig unbeeindruckt. Polternd prallt der Schatten ab.

»Mein Gott, tut das weh!«, stöhnt er gekrümmt auf der Erde liegend. Den dröhnenden Kopf hält er zwischen den Händen.

»Fünf Millimeter Goldbeschichtung«, bemerkt die Pforte stolz.

Vom Schmerz benebelt, erhebt sich die dunkle Gestalt ungelenk und wankt zur Umrandung der Pforte. Ihr Blick fällt auf einen kleinen Kasten mit der Aufschrift »Zieh eine Nummer«. Dieser war ihm vorher gar nicht aufgefallen.

Seit wann muss man hier zum Beten eine Nummer ziehen?

Unsicher streckt er die Hand aus, kann jedoch keine Nummernzettel entdecken. Von seiner Berührung angestoßen, gleitet das Holzkästchen davon.

Immer diese Scheißmagie, denkt er.

Vor Generationen schon ist der Planet des Tragens sämtlichen von seinen Bewohnern produzierten und oftmals unnötigen Plunders überdrüssig geworden. Seitdem lässt er immer mal wieder Gegenstände einfach schweben, meist solche, die er schlichtweg für besonders nutzlos hält. Dies führt jedoch dazu, dass sich viele Bewohner über blaue Knie und andere schmerzende Körperteile beklagen. Tritt man nämlich versehentlich gegen einen dieser Gegenstände, schießt dieser unkontrolliert davon.

»Himmel, Herrgott, Arsch und Zwirn! Zieh eine Nummer, sehr witzig«, murmelt er verärgert.

In jenem Moment geht ein bedächtiges Knarren durch das alte Holz. Rasch weicht der Schatten geduckt zurück.

»Du hast das Losungswort genannt und darfst daher nun mein Inneres betreten. Auch wenn es mir persönlich gar nicht passt«, gibt die Pforte zu verstehen.

Der Schatten vermag es kaum zu glauben. Dieser schwebende Kasten war quasi eine Anti-Haft-Notiz!

Vorsichtig macht er einen Schritt nach vorn. Er möchte sichergehen, dass die Pforte nicht abrupt ihre Meinung ändert und aus reiner Bosheit wieder zuschnellt. Er schiebt den Fuß ein Stückchen weiter, dann noch ein Stück und mit einer schnellen Drehung des Körpers ist er drin.

 

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Ein kühler Luftzug streift ihn. Ohne den Lichtschimmer, der durch den Spalt der Pforte einfällt, wäre es stockfinster. Gemächlich hebt er die rechte Hand vor die Augen. Trotz des diffusen Scheins erkennt er praktisch nichts. Die Schritte möglichst lautlos setzend, tastet er sich ins vor ihm liegende Dunkel. Die Zeit ist knapp, er kann nicht warten, bis sich die Augen an die Finsternis gewöhnt haben. Seine Hände berühren flüchtig raue Säulen, verschiedene hölzerne Gegenstände und gleiten über Dinge, deren Bedeutung und Funktion ihm völlig schleierhaft sind.

Der Boden ist uneben und macht ein schnelles und leises Vorankommen schwierig. Am Widerhall der Schritte kann er dennoch erkennen, dass er sich langsam seinem Ziel nähert: dem Ende der großen Halle.

Nach und nach werden die ersten Umrisse sichtbar. Mannsdicke Säulen zeichnen sich ab, Bankreihen tauchen aus dem Nichts auf und ein paar breite, über die gesamte Front der Kathedrale verlaufende Stufen werden sichtbar.

Der Schatten geht auf die nächste Säule zu und lauscht in die Tiefe des Raumes. Niemand außer ihm scheint hier zu sein. Nur schwer kann er sich beherrschen, nicht einfach zwischen den Bänken hindurch nach vorn zu rennen, um ihn endlich in den Händen zu halten. So lange war er auf der Suche. Einzig dieser Moment ließ ihn immer wieder Kraft schöpfen.

Von Säule zu Säule tastet er sich zu den Altarstufen, bis die erste hart an seine Zehen schlägt. Zehn Stufen sind es insgesamt. Dunkelgrauer Marmor, an den Rändern verziert mit filigranen Goldleisten.

Der Blick fällt auf die dunkelbraune Konstruktion am oberen Ende der Treppe. Ähnlich einem Himmelbett mit vier dicken Beinen und einem Leinentuch darüber belegt der Altar fast die gesamte Fläche. Schritt für Schritt, das Gewicht auf jeder Stufe ausbalancierend, kommt er seinem Ziel immer näher. Jetzt kann er die bescheidene Erhebung auf dem Altar sehen. Sie ist bezogen mit dunklem Samt. Auf ihr steht eine kleine Schatulle. All die kunstvollen Verzierungen und Szenen darauf interessieren ihn nicht. Er spürt seinen Herzschlag als schmerzhaftes, fast unerträgliches Pochen in den Schläfen. Endlich haben sich all die Strapazen gelohnt.

Winzige goldene Buchstaben blitzen auf, als die Hände sich der Schatulle bis auf wenige Zentimeter nähern. Seine Augen weiten sich und werden vom seltsamen Leuchten in den Bann gezogen. Das Suchen, das Warten, die Hoffnung, alles ist vergessen. Wie ein Feuer durchströmt ihn die Energie, die von dem Kästchen ausgeht. Es ist lange her, seit er diese Zeichen das letzte Mal hat funkeln sehen. Vorsichtig streicht er mit dem Zeigefinger über das Holz. Er kann das leise Knistern hören, das die winzigen Lichtbögen zwischen Holz und Fingerspitzen erzeugen.

Langsam drückt er beide Daumen fest unter die Kante des Deckels, hebt ihn an und wirft rasch einen Blick ins Innere. Giftgrünes Licht bricht daraus hervor. Der Schatten kneift für einen Moment die geblendeten Augen zusammen und atmet, von neuer Kraft durchflossen, tief ein. Vorsichtig gleiten seine Finger hinein, um den Stein herauszunehmen.

Plötzlich krachen mit ohrenbetäubendem Getöse vor der goldenen Pforte sowie den Fenstern des Kathedralen-Hauptschiffes massive Metallgitter hinunter.

Eine Falle!

Ruckartig schießt der Schatten herum. Der Eingang ist zu weit entfernt, um etwas erkennen zu können. Adrenalin durchflutet seinen Körper, die Muskeln sind angespannt. Hastig lässt er den Stein zurückgleiten und verbirgt die Schatulle im Inneren des Umhangs. Mit schnellen Schritten eilt er die Stufen hinab und verharrt an deren Ende. Jede Fluchtmöglichkeit ist versperrt.

Nervös dreht er sich in alle Richtungen, bis ihn ein fahler Lichtschimmer über dem Altar emporblicken lässt. Ein kleines Detail, das ihm zuvor entgangen ist, doch es könnte ihn jetzt retten.


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> Kapitel 2

 

Etwas donnert lautstark über seine Hörnerven und verlangt penetrant nach seiner uneingeschränkten Aufmerksamkeit. Hin- und hergerissen zwischen schillernder Traumwelt und trister Realität entschließt er sich letztlich, dem Drängen nachzugeben. Langsam öffnet Dalon die Augen. Erst einmal nur einen kleinen Spalt. Wahrscheinlich wird es, wie jeden Morgen, ein Fehler sein.

»Hey, du Superinspektor, runterkommen! Frühstück ist fertig!«, trällert es aus der Küche, die Treppe hinauf und in das am Ende des Flurs gelegene Zimmer.

Im Innersten still darauf hoffend, dass es eine Sinnestäuschung ist, dreht er sich auf die andere Seite. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Stimme mit ihrem fordernden Unterton erneut zu hören ist. »Daaalon!«

Wie oft hat er davon geträumt, von einem Engel geweckt zu werden. Das zarte Antlitz eingerahmt von blond schimmerndem Haar, gekleidet in einen Hauch von Nichts. Stattdessen reißt es ihn einmal mehr unsanft in die Wirklichkeit.

Schweren Herzens überwindet er sich, der Koje der Glückseligkeit zu entsteigen. Schnaufend wie ein altes Bison tritt er in den Flur hinaus. Er rümpft die Nase beim Duft von schwarzem Toast und angebrannten Eiern. Diese Kombination beschleunigt den bis dahin nur verhaltenen Drang, rasch ins Bad zu gelangen. Appetit zu haben oder besser zu behalten, bedarf in diesem Hause manchmal einer verstopften Nase.

Kaltes Wasser läuft langsam in die Waschschale vor ihm und der Blick fällt auf die kräftige Gestalt, die im Tanz der Wellen noch grotesker aussieht. Die kurzen Haare im Begriff zu ergrauen, dunkel unterlaufene Augen, die Wangen ein wenig aufgedunsen und das Doppelkinn aus dieser Perspektive in seiner ganzen Pracht sichtbar.

Das kalte Nass verfehlt die erfrischende Wirkung völlig, und so beschließt Dalon, das wohlige Gefühl der morgendlichen Schläfrigkeit einmal mehr beizubehalten.

Zurück im Schlafzimmer weicht der Pyjama seiner Arbeitskleidung, einer dunkelgrauen Uniform in der stattlichen Größe 62. Bewusst so gestaltet, als würde sie schon seit drei Generationen getragen, soll sie jenen Bürgern, die noch immer und völlig unbelehrbar Vertrauen in die Verwaltung haben, den permanenten Überschuss an Steuergeldern nicht allzu deutlich vor Augen führen.

Schnaufend bückt er sich, um unters Bett zu schauen, denn trotz intensiver Suche fehlt ihm eine Socke. Seit Jahren schon kursiert das Gerücht, dass es eine ominöse Sekte gibt, die sich dem markanten Duft von Fußtextilien verschrieben hat. Besonders dem von Beamtensocken. Aber selbst ein Inspektor der königlichen Polizei wie er hat es bisher nicht geschafft, Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Auch liegt es wohl daran, dass er überhaupt keine Lust verspürt, dem Gerücht nachzugehen. Zumal der Jahresdurchschnittspreis von Socken regelmäßig sinkt.

Die Entscheidung ist schnell gefällt. So nackt, wie der rechte Fuß ist, bleibt er dann auch. Auf dem Weg hinab knarzen die Stufen unter dem Gewicht seiner Amtswürde.

Dalons Frau steht in der Küche wie ein Krake, die Arme in schnell wechselnder Folge nach diversen Küchenutensilien ausgestreckt. Sie wirbelt so schnell umher, dass sich das feine Stechen von Kopfschmerz ankündigt.

Was hatten sie sich früher geliebt. Freiwillig sogar. Ewig scheint es jetzt her zu sein. Damals haben sie bestimmt zweimal die Woche miteinander gekuschelt oder bis zum Klopfen der Nachbarn schweißtreibende Zärtlichkeiten ausgetauscht. Heute hingegen sind es ihr immerwährender Versuch, ihn nach ihrem Bilde zu formen, und sein genauso hartnäckiger Widerstand dagegen, die sie verbinden. Insgeheim ist er froh, den Job noch nicht aufgegeben zu haben, obwohl er diese Zweisamkeit schmerzlich vermisst.

Polternd geht der Frühstücksteller vor ihm auf dem Tisch nieder. Die kulinarische Morgengabe rutscht auf dem glatten Untergrund beschwingt hin und her. Mit gehobenen Augenbrauen deutet Gerdlinde auf seinen Platz.

»Morgen«, gähnt er ihr entgegen und entschuldigt sich dafür mit einem Lächeln.

Um diese Uhrzeit spielt ihm sein Körper selbst nach all den Jahren noch Streiche. Der Magen schreit nach Nahrung, während der Appetit noch in den Träumen hängt. So folgt das allmorgendliche Ritual: »Der Hunger treibt es rein, der Ekel runter und der Geiz behält es drin.« Nach heftiger 20-minütiger Diskussion mit der Magenschleimhaut gelingt es Dalon schließlich, das Morgenmahl bei sich zu behalten. Jedoch nur, um für den restlichen Tag mit der permanenten Abwesenheit eines Sättigungsgefühls bestraft zu werden.

Mit sehnsüchtigem Blick schaut er aus dem Fenster auf das lichtüberflutete Grundstück. Nicht nur die Sonnenstrahlen ziehen ihn mit unbändiger Kraft hinaus. Aus dem Augenwinkel sieht er seine Frau nach einem großformatigen Zettel greifen und tief Luft holen.

Das sieht nach Arbeit aus.

»Oh, schon so spät? Entschuldige, wenn ich dir nicht mehr Zeit widmen kann. Ich muss los.« Unter ihrem skeptischen Blick stolpert er aus der Küche.

»Kein Problem, dann machst du es heute Nachmittag.«

Dalon beißt die Zähne zusammen. Sie kennt ihn zu gut.

Nerol, ein blauer Drache und bereits seit Generationen ein treuer Gefährte der Familie, liegt schlafend in seinem Verschlag hinter dem Haus. Genau genommen tut er nur so. Auf Dalons Weckversuche reagiert er, wie üblich, mit Ignoranz. Schließlich hegt er weiterhin die Hoffnung, er könnte seinen Herrn eines Morgens von dessen Plan abbringen, pünktlich auf der Arbeit zu erscheinen.

Dalon wiederum ist es leid, große Teile seines Wachwerdens für das Wecken seines Reisedrachen zu vergeuden. Vom Unterhalt einer solchen Futtervernichtungsmaschine, wie er ihn gern bezeichnet, ganz zu schweigen.

Eiskalt marschiert Dalon an Nerol vorbei und verschwindet hinter der Holzwand am Ende des Verschlages. Dort streift er sich Handschuhe über. Lächelnd reibt er diese noch einmal aneinander, bevor er einen langen Holzhebel umschließt. Mit kräftigen Auf-und-ab-Bewegungen setzt er einen Mechanismus in Gang, der die Rückwand von Nerols Unterschlupf langsam nach vorn schiebt. Auf diese Weise reduziert er den zur Verfügung stehenden Platz und zwingt seinen widerspenstigen Drachen zum Handeln.

Als die Wand Nerols Hinterteil erreicht, öffnet dieser das rechte Auge. Er prüft, ob die Welt um ihn herum gerade schrumpft oder er an einem spontanen Wachstumsschub leidet. Was mit einem übermäßigen Konsum von Megga-Bohnen durchaus im Rahmen des Möglichen ist. Ein kräftiger Ruck drückt ihn in diesem Moment nach vorn. Neugierig hebt er den Kopf und wirft einen Blick auf die drängelnde Wand an seinem Hinterteil. Der Drache schüttelt den Kopf. Trotz seines langen Lebens begreift er nicht, weshalb Xerubianer so viel Zeit in technischen Firlefanz investieren, nur um einer direkten Kommunikation aus dem Weg zu gehen. Dalon hätte ihn schließlich einfach bitten können herauszukommen. Gut, seine Antwort wäre Nein gewesen wie jeden Morgen. Dennoch kein Grund für solch albernes Benehmen.

Mit jedem weiteren Hebelzug rutscht Nerol über den sandigen Untergrund weiter in die morgendliche Sonne. Als er zur Hälfte außerhalb der Hütte liegt, erhebt er sich leise grummelnd und legt sich in den Schatten des Hauses zu seiner Rechten.

Verwundert über den geringeren Kraftaufwand wirft Dalon einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Als er Nerol an der Hauswand liegen sieht, lässt er resigniert die Schultern hängen. Er schleudert die Handschuhe zu Boden und geht zu ihm hinüber.

»Dann machen wir es eben wie immer, ja?« Ein leiser Seufzer entflieht ihm. »Liebster Nerol, würdest du dich bitte erheben, damit ich zur Arbeit gelange?«

Eigentlich ist die Frage überflüssig, da er die Antwort bereits kennt.

»Wenn i mir des rechd überleg … hanoi, i denk nedd. Geh doch z Fuß, wie alle andere au.«

»Wenn ich das könnte, würde ich es tun. Da aber die Südbrücke nicht mehr steht und die Fähren verschwunden sind, ist mir das bedauerlicherweise nicht möglich.«

Nerols Idee, die Fähren zu versenken, war grandios und bedurfte eines intensiven Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfens. War es doch einer der wenigen erfolgreichen Versuche, sein Leben angenehmer zu gestalten. Die Situation mit der Brücke hatte sich dann zwangsläufig von allein ergeben. Kaum waren die Fähren verschwunden, nahmen die Bewohner von Punkt fast ausschließlich die Südbrücke. Aufgrund ihres Alters war die jedoch dem Ansturm nicht gewachsen und alsbald zusammengebrochen.

Nerol zeigt sich einmal mehr entgegenkommend.

Es macht einen drolligen Eindruck, wie der massige Körper sich mit einem einzigen Schwung versucht zu erheben. Immerhin sind es stattliche zwei Meter bis zur Rückenkante.

Eine kleine Rauchwolke entflieht seiner Schnauze, als Dalon ihm sanft die ledrige Haut darauf krault. »Siehst du? Es geht doch«, grient er, als hätte er gewonnen.

Nerol blickt ihn finster an. Hädde i gerad nedd oi galobierend Unlusch zur Nahrungsaufnahm, würdesch des Kraule schnell soi lasse, verebbt der Gedanke noch vor der Formulierung.

Mit geübtem Schwung landet Dalon auf dem blauen Rücken. Ohne ein weiteres Wort breitet Nerol die riesigen Schwingen aus. Ungelenk nimmt er über den Weg am Haus Anlauf. Beim dritten Sprung hebt er in einer steilen Kurve ab. Dalon hält sich fest und sieht zu, wie das Haus unter ihm als kleiner werdender Fleck zurückbleibt.

 

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Nerols Pranken lassen das Dach des königlichen Polizeigebäudes erzittern. Der Bau scheint so alt zu sein wie die Polizeigeschichte Xerubians selbst. Dank halbherziger Renovierungsarbeiten ist es immer wieder gelungen, das Gemäuer vor dem völligen Verfall zu bewahren. So umweht es der Charme einer alternden Ruine. Ein würdiger Rahmen für all die Beamten, die darin ihre Erfüllung als unverrückbare Säulen des Gemeinwesens finden.

Schwungvoll hebt Dalon sein Bein über Nerols Rücken und rutscht an dessen Flanke hinunter. Als Dankeschön wirft er ihm eine Dali-Rübe in die Schnauze. Danach wenden sich beide ihrer täglichen Beschäftigung zu: Dalon der schrittweisen Annäherung an die Pensionierung und Nerol einer ausgiebigen Betrachtung seiner Augenlider von innen.

In den Gängen des Polizeigebäudes wimmelt es von Menschen. Dies ist nicht ungewöhnlich für ein öffentliches Gebäude, allerdings gibt es hier eine allgemeine Begeisterung dafür, mit Papier beladen von einem Raum in den nächsten zu pilgern. Ursprünglich war dies eine Beschäftigung, um die Zeit zwischen den Pausen totzuschlagen. Inzwischen gipfelt es in einem Wettstreit um den Titel Gründlichster Chaosstifter vom Dienst.

Dalon betrachtet das hektische Treiben mit leerem Blick. »Ich denke, also bin ich dagegen. Das landet doch letztlich sowieso alles bei mir, warum bringt ihr es mir nicht gleich vorbei?«

Sein Blick bleibt bei einer älteren Dame hängen, die nur mit Mühe an ihrem riesigen Stapel vorbeischauen kann.

Ja, fast richtig. Nur noch wenige Schritte. Die kleine Tür am Ende des Ganges.

Hektisch und mit weichen Knien steht sie vor einer Tafel, die den Weg zu den verschiedenen Abteilungen weist.

»Warm, wärmer«, murmelt er.

Sie dreht sich geschickt nach rechts und links, um seitlich auf das Hinweisschild zu schauen. Dabei wankt der Papierstapel bedrohlich in Richtung Dalons Bürotür. Sie steuert direkt darauf zu.

»Noch wärmer, tendenziell heiß«, führt er den Monolog fort. Abrupt biegt sie in einen kleinen Gang links vor seiner Tür ab.

Das war knapp! Aber wir sehen uns, da bin ich mir sicher.

Unter Ellbogeneinsatz gelangt Dalon ans Ende des Flures. Er schlüpft durch die Tür und schließt sie schnell wieder. Seine Zufluchtsstätte heißt ihn stumm willkommen.

Der Raum ist kaum größer als zehn Umzugskisten und vollkommen zugestellt. Aktenkörbe, Aktenschränke, Wandregale mit Akten, ein großer Papierkorb, in dem zwei Akten liegen, und ein Aktenvernichter, der allerdings leer ist. Als wäre dies noch nicht genug Arbeitsmotivation, hat die Direktion ihn mit einem kleinen Fenster belohnt. In der Größe eines aufgeklappten Aktendeckels gibt es den Blick auf die gegenüberliegende Hauswand frei.

Dalon zieht den Bauch ein und schiebt sich seitlich an den Aktenbergen vorbei zum Schreibtisch. Die Tasche landet neben dem rechten Bein des Tisches, ein Platz, den er bewusst freihält. Sein Stuhl erinnert ihn knarzend daran, dass auch die Sitzfläche nur begrenzten Platz besitzt. Er liebt die Regierung für die konsequente Umsetzung des Gesetzes zur Fertigung von Einheitsgrößen für den Dienst am Gemeinwohl.

Ein lauter Knall durchbricht die Stille des Raumes. Eine hagere Gestalt mit einem halben Meter Papier auf den Armen erscheint im Türrahmen.

»Entschuldigung, Herr Inspektor. Störe ich?«, ertönt eine etwas piepsige Männerstimme.

»Nicht viel mehr als ein Arztbesuch in der Mittagspause«, gibt Dalon trocken zurück.

Der sprechende Papierturm fährt ungerührt fort: »Ich benötige noch ein paar Abzeichnungen und Stempel. Die runden bitte, um die Vorgänge nach einer amtlich beglaubigten Abschrift ins Archiv geben zu können.«

»Worum geht es denn?« Nicht, dass es ihn wirklich interessieren würde. Aber die Arme des Burschen zittern bereits.

»Letzte Woche wurde doch Punkt 12.9 der Arbeitsoptimierung ›System zur stressreduzierten Neuverteilung des notwendigen Papiervolumens‹ vorgenommen. Das ist Ihnen sicher nicht entgangen, Inspektor.«

Dalon stutzt. Doch, das ist es, sonst wäre ich nämlich der Erste gewesen, der sich damit beschäftigt hätte.

»Die Abteilungen haben noch so ihre Schwierigkeiten damit. Deshalb stauen sich Anzeigen zu Delikten unterschiedlicher Schweregrade. Dazu gehören auch Kriminalfälle. Überflüssigerweise hat mir Frau Galsun aus der Rechtsabteilung noch 3,5 Aktenmeter Untersuchungsmaterial und Zeugenprotokolle im Zusammenhang mit der Dienstdrachenkarambolage mit Personen- und Drachenschaden der beiden Kontaktbereichsbeamten rübergeschickt. Jetzt sitzt sie mir täglich im Nacken und … sind Sie noch halbwegs bei mir, Inspektor?«

Dalon reibt sich das Gesicht.

»Sprechen Sie einfach weiter, irgendwann wird schon etwas Sinnvolles dabei sein«, stöhnt er und wedelt mit den Händen, als würde dies den Prozess beschleunigen.

Trotz Kommunikationsloch balanciert der Bote weiterhin den schweren Papierstapel.

Mal schauen, wie lange er das noch durchhält.

»Ich brauche die Unterschriften jeweils auf dem untersten Strich am Ende der Seite.«

Der Stapel kracht auf einen freien Platz vor dem Schreibtisch, der Dalon das spätere Verlassen des Büros ermöglicht hätte. Kaum hat sich der aufgewirbelte Staub verzogen, umgibt ihn nur noch die amtliche Ruhe.

Spielverderber.

Dalon sieht sich auf seinem Schreibtisch um. Nicht selten kommt es vor, dass Mitarbeiter versuchen, ihren Hang zur Selbstbelustigung an ihm auszuleben. Dann verschwinden Akten, was eher eine Belohnung ist, Schreibutensilien werden durch Scherzartikel ersetzt und der Absatz geräuscherzeugender Sitzkissen scheint neuerdings besonders gut zu laufen. Heute allerdings kann er nichts Verdächtiges entdecken. Nur ein kleiner Stapel neuer Fälle nimmt den Platz für sein zweites Frühstück in Anspruch. Dieser sollte schleunigst bearbeitet werden.

Dalon zieht ihn näher heran und sieht sich das erste Deckblatt an. M2T2 Diebstahl. Nichts Aufregendes. Für ihn ist es ein Wunder, dass es immer noch so viele von diesen handtaschengroßen Dingern gibt. Sie werden von den Herren der Schöpfung nur Frauenflüsterer genannt. Dem weiblichen Teil der Bevölkerung geben sie, angeblich völlig neutral, Ratschläge zu allen nur möglichen Entscheidungen. Vor allem aber bei Beziehungsproblemen.

Ihr Erfinder, ein unter Beziehungsstress leidender Ehemann, war sich damals der Tragweite seines Tuns nicht im Geringsten bewusst. Es sollte ein Gerät werden, das Frauen verstehen kann und Männern das notwendige Zuhören abnimmt. Da sich seine eigene Frau jedoch beim Praxistest als beratungsresistent erwies, hat er sich nie mit den beziehungsdestabilisierenden Wirkungen eines M2T2 beschäftigen müssen und das Patent einfach verschenkt.

Ein klassischer Fall für einen Neuling. Nicht dass er etwas gegen Neulinge hätte. Dalon kann nur ihr neunmalkluges Horvard-Abschluss-Gehabe nicht ausstehen.

Die nächste Akte ist mit Randalierender Drache beschriftet. Er blättert lustlos darin herum und beginnt wahllos im Text zu lesen: »… fing an, nach dem M2T2 zu schnappen, als dieser ihm den Ratschlag gab, vor dem Öffnen seines Mauls doch ein Pfefferminz zu lutschen.«

Ebenfalls eine Aufgabe für einen Frischling.

»Hast du zwei Möglichkeiten, so wähle stets die dritte«, lautet eine der wenigen Grundregeln aus der Zeit an der Beamtenakademie. Die nächste Mappe ist deutlich dünner. Dem Aktengeburtsnachweis zufolge ist sie erst ein paar Minuten alt. Sie beinhaltet ein kurzes Schreiben der polizeilichen »Abteilung für schwierige Nachtstunden«. Die Augen überfliegen es und jagen ihn aus dem Stuhl.

Mit überraschender Wendigkeit wirbelt er über den neuen Stapel vor der Tür, hinaus auf den überfüllten Gang, um die hagere Gestalt von eben zu suchen. In den angrenzenden Büros befragt er ein paar Kollegen, doch niemand hat den jungen Mann gesehen. Am Ende eines engen Ganges wartet die letzte verbliebene Tür. Ohne dort jemanden zu erhoffen, schaut er hinein. Ein großes Paar Augen starrt den unerwarteten Besucher an.

Es gibt tatsächlich Büros, die noch kleiner sind als seines.

»Das mit dem Kaffee bin ich nicht gewesen!«, platzt es panikartig aus seinem Gegenüber heraus.

»Was für ein Kaffee?« Dalon schaut ihn verwirrt an. Es gibt noch Kaffee irgendwo?

»Es ist nur, hier kommt sonst nur jemand vorbei, wenn … na ja … wieder irgendwo etwas schiefgegangen ist. Und der Kaffeezubereiter ist noch öfter defekt, als die Kollegen Pause machen. Jeder hier denkt anscheinend, dass ich mit meiner Länge der ideale Blitzableiter wäre.«

Bei diesen Worten wird Dalon schmerzlich bewusst, warum er sich nicht erinnern kann, schon einmal in diesem kleinen Büro gewesen zu sein. Bereits vor Jahren hat er sich angewöhnt, nicht mehr dem Prinzip der zehn großen A der kollegialen Zusammenarbeit zu folgen: »Alle anfallenden Arbeiten auf andere abschieben, anschließend anscheißen, aber anständig.« Prinzipienabstinenz reduziert seine sozialen Kontakte in der Dienststelle deutlich.

»Nein, keine Angst«, beschwichtigt er. »Eigentlich habe ich nur eine Frage zu einer der Akten.«

Dem schlichten »Oh« entnimmt er die Ankunft seiner Worte.

Da eine komplette Aneinanderreihung von Subjekt, Prädikat und Objekt an dieser Stelle offenbar nicht zu erwarten ist, setzt Dalon seinen Monolog fort: »Die Untersuchung in der Kathedrale am Marktplatz, sind dort schon Leute von uns vor Ort?«

»Sie sind vor 15 Minuten los. Wenn Sie einen schnellen Drachen nehmen, könnten Sie zeitgleich ankommen.«

Mit einem knappen Nicken bedankt sich Dalon und begibt sich hastig zurück ins Büro. Dort angekommen fragt er sich allerdings, was ihn, außer seinem zweiten Frühstück vielleicht, eigentlich hergezogen hat. Schließlich wollte er zu Nerol aufs Dach. Da er nun einmal hier ist, schnappt er sich die Dose vom Tisch. Die Entscheidung, probieren, essen oder doch wegwerfen, muss er ja nicht sofort treffen.

Er geht erneut hinaus auf den Gang, rempelnd durch die Menge und die Treppe zum Dach hinauf.

»Komm, wir müssen los! Den Grund erkläre ich dir unterwegs. Aber du darfst wieder einmal auf dem Marktplatz landen.«

Bei der Erwähnung des Marktplatzes reißt Nerol schlagartig die Augen auf. Ausnahmsweise kann er es kaum erwarten, den Ritt durch die Lüfte zu starten. Ohne Widerworte erhebt er sich mit Dalon auf dem Rücken und nach ein paar kräftigen Flügelschlägen schießt er über die Dachkante in den Himmel.