Das Himmlische Jerusalem ist seit jeher ein ganz besonderer Ort. Dafür gibt es einen Grund: Seit zweitausend Jahren wird diese Stadt gemeinsam von Juden, Christen und Muslimen verehrt und aufgesucht. Diese drei Weltreligionen haben zu Jerusalem eine ganz besondere Verbindung, und Jerusalem ist vor allem ein Ort, der mit den Endzeitvorstellungen der Menschheit zu tun hat. Jerusalem soll ein zukünftiger Ort des Friedens sein, der Gerechtigkeit, der Gemeinschaftlichkeit, des Miteinanders. Alles Böse und Ungerechte soll aus ihm verbannt sein. In allen drei monotheistischen Weltreligionen ist Jerusalem daher eine heilige Stadt, die sie vor allen anderen Städten auszeichnet und sie zu einem besonderen Hoffnungsort macht. Oft, viel zu oft, wurden in der Vergangenheit diese Hoffnungen enttäuscht, und Jerusalem scheint mehr ein Ort der Trauer und Tränen zu sein – dennoch darf und sollte man nicht vergessen, dass es noch ein ganz anderes Bild von Jerusalem gibt, um das es in diesem Buch gehen wird.
Beginnen wir mit dem Judentum. Zu Jerusalem hat das Judentum eine alte und besonders intensive Beziehung. Etwa eintausend Jahre vor Christus eroberte König David eine kleine Stadt der Jebusiten, die sich einst am Ort des heutigen Jerusalem befand. König David überhöhte 1006 v. Chr. die Stadt zum Symbol der zwölf israelitischen Stämme, des Volkes, der Nation und schließlich des jüdischen Glaubens; Gott selbst habe Jerusalem zu „seiner“ Stadt erwählt (Jeremias 31, 34-39 sowie 33, 14-26). Hier sprach der Patriarch Abraham zu Gott, und hier baute König Salomon seinen Tempel. Jerusalem wird in der Tanach (dem Alten Testament) 669 Mal erwähnt und Zion (was meist mit Jerusalem gleichzusetzen ist) ganze 154 Mal. Keine Stadt wird in diesen und anderen alten Schriften auch nur annähernd so oft genannt. Auch im Talmud wird viel und oft von der besonderen Bedeutung Jerusalems für das Judentum gesprochen: Jerusalem ist nicht allein eine heilige Stadt, sondern die heiligste aller Städte überhaupt, der Mittelpunkt der Welt und der Ort, von dem aus die Welt von Gott regiert wird. Hier ist man dem Himmel nahe, denn an diesem Ort wird auch einmal die Endzeit anbrechen.
Vor allem die rabbinische Tradition entwickelt ihre eigene Idee eines Himmlischen Jerusalem: es ist das irdische Jerusalem, das eines Tages zu einem neuen, himmlischen Jerusalem verwandelt wird, transformiert wird, ohne aber seinen alten Charakter und Zustand ganz aufzugeben. Im irdischen ist schon immer etwas vom zukünftigen Jerusalem vorhanden. Aus diesem Grund pilgerten bereits in der Antike Juden aus der ganzen damaligen Welt nach Palästina, und es ging das Sprichwort um: „Derjenige, der nicht das Sukkotfest in Jerusalem gefeiert hat, der hat nicht gelebt“. Aus diesem Grund haben sich auch seit Tausenden von Jahren Juden aus der ganzen Welt am Jerusalemer Ölberg beerdigen lassen, da an diesem Ort laut den Propheten Daniel, Jeremia, Jesaja, Ezechiel und Sacharja das endzeitliche Gericht stattfinden soll.
Nur so lässt es sich verstehen, dass die Erinnerung an die Stadt Jerusalem in der Diaspora gepflegt wurde. Jedes Jahr wiederholte sich der Wunsch beim Pessach-Fest: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“. Und es blieb nicht allein bei einem Wunsch, da schließlich Theodor Herzl mit einem politischen Zionismus zahlreiche Anhänger und Anhängerinnen finden konnte, die nach Palästina und vor allem nach Jerusalem zurückkehrten. Daher wurde auch im 20. Jahrhundert von jüdischen Künstlern ein neues, himmlisches und zukünftiges Friedens-Jerusalem bildhaft zum Ausdruck gebracht; die Arbeiten von Reuven Rubin, Jean David, Menucha Yankelevitz oder David Yohanan belegen dies eindrucksvoll.
Vor allem entwickelte sich die Idee zukünftiger Ereignisse; das irdische Jerusalem wurde zu einem neuen, himmlischen Jerusalem. Diese Vorstellung ist natürlich mit dem Erscheinen des zukünftigen Messias verknüpft, der selbstverständlich in Jerusalem erscheinen und residieren werde. Im Judentum hatten sich zahlreiche Apokalypsen herausgebildet, die Jerusalem als Ort zukünftiger Geschehnisse, als Stätte religiöser Verheißung, als das Neue Jerusalem zum Thema hatten. Eine davon, die dann vor allem unter Judenchristen im 1. Jahrhundert n. Chr. rezipiert wurde, war die Offenbarung des Johannes.
Auch im Christentum ist die Stadt Jerusalem zu einem einzigartigen Hoffnungsort geworden: es ist der Ort, an den Jesus Christus gepilgert ist, gelehrt hat, an der Stelle der Grabeskirche gestorben und schließlich wieder auferstanden und an der Stelle der Himmelfahrtskapelle auf dem Ölberg in den Himmel aufgefahren ist. Hier war und ist der Geist Gottes präsent und hat zu den Menschen gesprochen. Hier ist der Grundstein für die Kirche gelegt und Jerusalem ist immer auch der Archetypus der Kirche. Hier formte sich die erste christliche Urgemeinde in Frieden und Gerechtigkeit – in einer Art Spiegelung des Himmlischen Jerusalem. Der Zionsberg und die „Stadt des lebendigen Gottes“ sind im Hebräerbrief 12, 22 ausdrücklich mit dem Himmlischen Jerusalem identifiziert. Es ist ein positiver Ort, eine Art endzeitliches Paradies: Nach dem Ende der Welt leben hier die Menschen sowie die ganze Schöpfung mit Gott vereint. In den letzten Kapiteln der Johannesoffenbarung ist dies alles genau beschrieben, mit detaillierten Angaben, wie die Stadt einmal aussehen soll: „Und ich sah die heilige Stadt, das Neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen (...). Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem niederkommen aus dem Himmel von Gott, die hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Licht war gleich dem edelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall; sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore und auf den Toren zwölf Engel und Namen darauf geschrieben, nämlich die Namen der zwölf Stämme der Israeliten (...). Und die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine und auf ihnen die zwölf Namen der zwölf Apostel des