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Benjamin Dürr
ERZBERGER

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Benjamin Dürr

ERZBERGER

DER GEHASSTE VERSÖHNER

Biografie eines Weimarer Politikers

Ch. Links Verlag

Diese Publikation erfolgte mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Oberschwaben.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Der Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

I. Auflage, Juni 2021

entspricht der 1. Druckauflage vom Juni 2021

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0

Umschlaggestaltung und Satz: Nadja Caspar, Ch. Links Verlag

Coverfoto: ullstein bild (01083452)

ISBN 978-3-96289-116-9

eISBN 978-3-86284-495-1

INHALT

PROLOG

DER AUFSTEIGER

Aus der Abgelegenheit

Sonnige Aussichten

Erster Aufruhr

DER POPULIST

Bewahrung des Alten

»Erzbergereien« in den Kolonien

Aufeinandertreffen

Ausgeschaltet

Angepasst

DER REALIST

»Keine Sentimentalität«

Unterwegs

Die Wende

Friedensversuche

Verschleppung

Die Unterschrift

DER VISIONÄR

Erhalt der Waffenruhe

Die Macht der Ideen

Entscheidung für den Frieden

Steigerung des Hasses

Erzberger und die Einheit des Reichs

Der Prozess

Erzbergers Rückzug

Der Mord

EPILOG

Die Täter

Hass auf Helfferich

Schwester Maria Erzberger

Erzbergers Vermächtnis

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Personenregister

Dank

Der Autor

PROLOG

Schwer hing die Hitze über der Stadt. Die Menschen versammelten sich schweigend in den Straßen. Mit Sonderzügen waren sie aus dem ganzen Land in das oberschwäbische Städtchen Biberach angereist, um Matthias Erzberger an diesem Mittwoch, dem 31. August 1921, die letzte Ehre zu erweisen. Am Tag zuvor hatten sich in der Stadtpfarrkirche bis zum späten Abend Tausende Menschen am Sarg vorbeigeschoben, der wie bei der Beerdigung eines Papstes vor dem Hochaltar aufgebahrt war, geschmückt mit Lorbeerbäumen und bewacht von einer Ehrengarde mit schwarzen Schärpen und Lanzen.

Nun, als die Sonne am höchsten stand, wurde der Eichensarg aus der Kirche getragen und auf einen Leichenwagen gehoben. Davor bauten sich alle Vereine der Stadt mit ihren Fahnen auf, die Post- und Eisenbahnbeamten, die Stadtkapelle, der Militärverein, die Bürgermiliz, der Arbeiterverein. Um Punkt ein Uhr setzten sich die Zugpferde des Leichenwagens in Bewegung. Das Cortège führte vorbei am Gasthaus »Zum Waldhorn«, wo sich die Menschen, wie in anderen Häusern entlang der Strecke, hinter den Fenstern im ersten Stock und auf den Dächern drängten, um das Schauspiel verfolgen zu können. Die Straßenränder waren schwarz von Tausenden in Trauertrachten. Die Männer schwitzten unter dem dicken Stoff, Frauen schützten sich mit Schirmen gegen die Sonne.

Hinter dem Sarg her rollte die Kutsche mit Frau Erzberger und der sechsjährigen Tochter. Dahinter schritten der Rottenburger Weihbischof Johannes Baptista Sproll und Reichskanzler Joseph Wirth, der seinen schwarzen Zylinder in den Händen trug. Dahinter der Präsident des Reichstags, Paul Löbe. Anschließend Politiker und Parlamentarier, Beamte, Parteifreunde, Offiziere und schließlich Zehntausende Bürger.1

Für viele gehörte Erzberger zu den größten Politikern des späten Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Inmitten des totalen Kriegs hatte er versucht, Frieden zu erreichen und die Kämpfe mit Verhandlungen zu beenden. 1918 unterzeichnete er einen Waffenstillstand und ein Jahr später sorgte er für die Annahme des Versailler Vertrags, durch den Deutschland Frieden schloss. Sein Leben lang hatte Erzberger für die politische Mitbestimmung des Volks gekämpft und nach dem Krieg dem neuen demokratischen Staat ein modernes und gerechtes Steuersystem gegeben.

Tragischerweise legte er mit seinen größten Triumphen auch die Saat für seine härtesten Rückschläge. Der Waffenstillstand, der Versailler Vertrag und die Steuerreform entfesselten einen Hass auf Erzberger, der zu seinem Ausscheiden aus der Politik und schließlich zu seiner Ermordung führte. Auftragsmörder einer rechtsextremen Geheimorganisation erschossen ihn am 26. August 1921 bei einem Spaziergang im Schwarzwald.

Die Schüsse auf Erzberger erschütterten das Land, weil sie nicht nur Ausdruck des Hasses auf einen polarisierenden Politiker waren, sondern auch als Angriff auf die Republik empfunden wurden. Erzberger stand für die Demokratie, für Frieden mit den Feinden und ein welt- und zukunftsgewandtes Deutschland in einer Zeit, in der nationalistische Gefühle auflebten und sich viele lieber zurückzogen. Ein Anschlag auf ihn war ein Anschlag auf das Neue.2

Am Tag von Erzbergers Beerdigung bildeten sich deshalb überall im Deutschen Reich Menschenmassen, die gegen den Mord und für die Republik demonstrierten. Während in Biberach der Trauerzug mit dem Sarg zum Friedhof kroch, begannen in Berlin die Angestellten in den Fabriken die Arbeit niederzulegen. Eine halbe Million Menschen zog durch die Straßen der Hauptstadt und füllte am Nachmittag den Schlossplatz, den Lustgarten und die Innenstadt. In Hamburg brach der Bus- und Straßenbahnverkehr zusammen, weil sich mehr als 40 000 Menschen im Regen und mit schwarz-rot-goldenen und roten Fahnen zum Heiligengeistfeld aufmachten. In Hannover versammelten sich 100 000, in Wuppertal 50 000, in Mannheim und Karlsruhe jeweils 30 000, in Gera 20 000.3 Seine Unterstützer sahen in Erzberger einen Märtyrer, der für seine Ideale gefallen war.4 Er entstammte einer einfachen Familie aus Buttenhausen, einem Dorf auf der Schwäbischen Alb, und hatte seine Heimat in den ersten Jahrzehnten seines Lebens kaum verlassen. Als er 1903 nach Berlin kam, war er nicht nur einer der jüngsten Reichstagsabgeordneten, sondern auch einer der wenigen ohne Adelstitel, Militärdekoration, Landbesitz oder Industriellenverwandtschaft. Er besaß keine Kontakte, keinen Hochschulabschluss und keine Umgangsformen für die Salons. Er musste sich Geld bei anderen leihen und lebte in Mietwohnungen. Sein schwäbischer Dialekt ließ ihn – besonders in den Gesprächen mit dem Papst, mit Kaisern und mit Königen – stets etwas provinziell wirken. Zwar bewegte er sich in den kosmopolitischen Kreisen Berlins, Berns und Wiens, gehörte aber schon wegen seines Auftretens nie richtig dazu.

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Beisetzung Erzbergers in Biberach. Erste Reihe links Reichskanzler Joseph Wirth, Mitte Weihbischof Johannes Baptista Sproll; in der zweiten Reihe Reichstagspräsident Paul Löbe (3. v. re.), 31. August 1921
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Der Trauerzug durch Biberach, 31. August 1921

Überdies war seine Erscheinung eher klobig. Erzberger war ein stämmiger Mann ohne Hals, über dessen birnenförmigen Leib sich die Westen der Anzüge spannten. Die kleinen, runden Brillengläser ließen seine Augen noch kleiner und sein Gesicht noch kugelförmiger erscheinen. Sein Äußeres machte ihn für Karikaturisten zu einem einfachen Ziel und für Großbürger zur Personifikation der unteren Schichten, für die sie wenig mehr als Verachtung übrighatten. Der exzentrische Publizist Harry Graf Kessler beschrieb einmal gehässig Erzbergers platte Stiefel, »seine drolligen Hosen, die über Korkzieherfalten in einem Vollmondhintern mündeten, seine breiten, untersetzten Bauernschultern, die ungelenken Bewegungen« und die prallen Wangen.5

Im persönlichen Umgang traten Erzbergers Zugänglichkeit und Umgänglichkeit hervor. Er war gern unter Menschen, genoss lebhafte Auseinandersetzungen und hatte die Neigung, viel zu reden. Ein Hang zu Übertreibung und Indiskretion war ihm dabei nicht fremd. Bei einem Mittagessen im Berliner Nobelrestaurant »Hiller« saß Erzberger während des Ersten Weltkriegs einmal neben Margarethe Ludendorff, der Frau des Ersten Generalquartiermeisters Erich Ludendorff, und berichtete ihr ausführlich, wie er den Chef des Generalstabs der Obersten Heeresleitung, Erich von Falkenhayn, gestürzt habe. Noch als sie bereits vom Tisch aufgestanden waren, plauderte er in einem Fluss weiter und prahlte, er sei gerade dabei, im Geheimen in Russland eine Revolution anzuzetteln. Frau Ludendorff berichtete später, sie habe nie einen interessanteren Mann als Erzberger getroffen.6

Erzberger war ein umtriebiger, nimmermüder Macher, der tagsüber seinen politischen Geschäften nachging und nachts in seinem Arbeitszimmer Artikel, Denkschriften und Bücher verfasste, in denen er kaum ein Thema unberührt ließ. Immer wieder bewies er dabei ein Gespür für die großen Themen seiner Zeit. Er beschäftigte sich mit den sozialen Fragen und Verwerfungen, die durch die Industrialisierung entstanden; mit dem Kolonialismus, als das Deutsche Reich seinen Platz auf der Weltbühne suchte; mit einer Friedensordnung, als die Welt in Trümmern lag.

1918 entwarf Erzberger eine Verfassung für einen Völkerbund in vierzig Artikeln, die die Lösung von Konflikten nicht mehr durch Krieg, sondern durch ein internationales Schiedsgericht vorsah.7 Er setzte sich für ein Recht der Völker auf Selbstbestimmung ein und trug so einen beachtlichen Teil zur Unabhängigkeit Litauens bei, das nach den Eroberungen im Osten vom Deutschen Reich besetzt worden war. Dass er bei der Staatsgründung den thronlosen württembergischen Herzog Wilhelm von Urach, einen Schwaben, als König von Litauen ins Spiel brachte, zeugte von Erzbergers typischer Mischung aus Einfallsreichtum und Spinnerei. Wilhelm hatte bereits begonnen, Litauisch zu lernen, war von der Taryba – dem litauischen Staatsrat – als König bestätigt worden und hatte den mittelalterlichen Namen Mindaugas II. angenommen. Am Ende scheiterte seine Thronbesteigung allerdings im letzten Moment am deutschen Kaiser und der am Kriegsende aufkommenden Deutschland-kritischen Stimmung in Litauen.8

Erzbergers Persönlichkeit und seine Ideen spalteten das Land. In dem Maße, wie er bei seinen Anhängern Bewunderung hervorrief, erzeugte er bei seinen Gegnern Ablehnung und abgrundtiefen Hass. Nationalisten und Rechtsradikale führten Pressekampagnen gegen ihn, verübten Anschläge und feierten schließlich seine Ermordung. In Detmold spielte eine Kapelle auf der Grotenburg im Teutoburger Wald einen »Jubeltusch«.9 In München planten Nationalsozialisten einen Angriff auf eine Gedenkfeier.10 Und im Festsaal des Hofbräuhauses hielt ein 32-jähriger Rechtsradikaler mit dem Namen Adolf Hitler eine Woche nach Erzbergers Ermordung eine verhöhnende Rede mit dem Titel »Johannes des Judenstaates: Mathias [sic.] von Buttenhausen, sein Werk und sein Geist«.11

Keiner hasste Erzberger aber wohl so sehr wie Karl Helfferich, der in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von ihm war. Helfferich war groß gewachsen, mit kantigem Gesicht, feinen Zügen und sichtbaren Wangenknochen. Er war drei Jahre älter als Erzberger, stammte aus einer vorderpfälzischen Industriellenfamilie und hatte in Nationalökonomie promoviert.12

Erzberger sah sich als die Stimme der Arbeiter, Helfferich als die der Eliten. Erzberger war ein Macher, der nicht genug nachdachte; Helfferich ein Denker, der nicht genug umsetzte. Beide bekleideten sie das Amt des Finanzministers, Helfferich zu Beginn des Kriegs, Erzberger am Anfang des Friedens. Als Deutschland an der Schwelle von der europäischen Großmacht zur Weltmacht stand, von der Monarchie zur Republik, von Krieg zu Frieden und vom Staatsbankrott zum Wiederaufbau, tauchte Helfferich stets als Erzbergers Gegenspieler auf.

Zum ersten Mal trafen die beiden um die Jahrhundertwende aufeinander und lieferten sich im Parlament ein elegantes Gefecht mit Worten. Über die Jahre wurde die Auseinandersetzung rauer, es folgten Intrigen und Beschimpfungen, eine Medienschlacht und ein Gerichtsprozess. Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in links und rechts, demokratisch und autoritär, in weltoffen und völkisch, fand ihren Ausdruck in der eskalierenden Feindschaft der beiden Männer. Sie endete mit der Ermordung Erzbergers, für die Helfferich – wie auch für den Mord an Außenminister Walter Rathenau ein knappes Jahr später – weithin als geistiger Anstifter gesehen wurde.13

Erzberger war kein Held und kein Revolutionär, der die Welt verändern wollte, sondern ein Pragmatiker mit Hang zum Opportunismus. Seine Stärke war die Schnelligkeit, nicht die Gründlichkeit, weshalb er bei seinen Einschätzungen auch immer wieder groben Fehleinschätzungen aufsaß. Trotz seiner tiefen Frömmigkeit war Erzberger 1914 bereit, ohne moralische oder humanitäre Bedenken in den Krieg zu ziehen. Später setzte er sich für den Waffenstillstand und den Versailler Vertrag ein, sprach aber nicht offen aus, dass Deutschland den Krieg verloren hatte. Er war davon überzeugt, dass statt eines militärischen Vertreters ein Politiker der neuen, demokratischen Regierung den Waffenstillstandsvertrag unterzeichnen musste, und ermöglichte der Obersten Heeresleitung damit, die Verantwortung für den verlorenen Krieg auf die Politik abzuwälzen. So wurden Legenden gestärkt, die »Heimatfront« habe der im Felde angeblich unbesiegten Armee einen Dolchstoß in den Rücken verpasst. Sie sollten zu einem Motor der Radikalisierung und des Revanchismus werden, denen nicht nur Erzberger selbst, sondern 1933 auch die Republik zum Opfer fiel.

Seine Unvollkommenheiten und die Wendungen in seinem Leben machen Erzberger zu einem der faszinierendsten Politiker am Anfang des 20. Jahrhunderts. Sein unerschrockenes Handeln in den entscheidenden Momenten birgt wichtige Lektionen für die Nachwelt, denn der Mut, Fragen zu stellen, die eigene Meinung zu ändern, sich gegen die Mehrheit zu erheben und unbequeme – aber notwendige – Standpunkte zu vertreten, sollte besonders in unsicheren und krisenhaften Zeiten als Richtschnur für alle Verantwortungsträger dienen. Bei Erzberger haben die Zweifel am vorherrschenden Denken und die Brüche im eigenen Handeln das Ende des Ersten Weltkriegs herbeigeführt und die Einheit Deutschlands bewahrt. Wohl nur wenige Personen hatten mit ihrem Wirken einen so direkten Einfluss auf den Lauf der Geschichte wie Erzberger.

DER AUFSTEIGER

Aus der Abgelegenheit

Als Joseph Erzberger und Katharina Flad im April 1873 heirateten, begannen sie ein gemeinsames Leben, das sich in seiner Einfachheit und Bescheidenheit von dem ihrer Vorfahren kaum unterschied. Joseph Erzberger nähte und reparierte für ein paar Pfennige die Kleidung der Bauern und Händler des Dorfes. Um sein Einkommen aufzustocken, trug er Briefe aus. Er war nach Buttenhausen gezogen, weil er in seinem eigenen Heimatort Gundelfingen, eine gute Stunde Fußmarsch entfernt, nicht genug verdiente, um eine Familie gründen zu können. In Buttenhausen dagegen gab es Läden, Gastwirtschaften und Märkte, von denen er sich mehr Kundschaft erhoffte.1

Beide Dörfer lagen im Lautertal, südlich von Stuttgart auf der Schwäbischen Alb. Das Wetter in dieser Gegend war rau, das Land wenig fruchtbar und die nächste Stadt weit entfernt. Die Lebensumstände waren deshalb schwer und machten den Alltag hart und armselig. Im Winter war die Not so groß, dass man das Vieh meist nur noch mit Stroh füttern konnte. Mehr als die Hälfte aller Kinder starb im Säuglingsalter – nirgendwo im Königreich Württemberg war die Kindersterblichkeit so hoch wie im Lautertal.2 So verlor auch Joseph Erzberger zwei Brüder und eine Schwester.3

Er entstammte einer Weber-Familie, die so arm war, dass der Vater beim Gemeinderat betteln musste, weil die Kinder nichts mehr zu essen hatten.4 Joseph Erzbergers Frau Katharina Flad war die Tochter eines Bauern und Tagelöhners, dessen Vorfahren um 1800 in die Gegend gezogen waren. 1859 kauften ihre Onkel den Bauernhof eines jüdischen Unternehmers auf einer Anhöhe hinter Buttenhausen, spezialisierten sich dort auf die Pferdezucht und machten ihn als Fladhof zu einem Familienbetrieb.5

Joseph und Katharina Erzberger bekamen sieben Kinder. Die älteste Tochter starb nach nur zehn Wochen, die anderen wurden immer genau im Abstand von zwei Jahren geboren. Ein Sohn wurde Briefträger, einer Schneider, ein anderer Schriftsetzer und eine Tochter heiratete im Nachbarort einen Handwerker.6 Nur der älteste Sohn Matthias sollte weit über die Region hinaus Bekanntheit erlangen. Geboren wurde er am 20. September 1875. Seinen Vornamen bekam er wohl von einem der verstorbenen Brüder des Vaters oder einem Bruder der Mutter – einem unkonventionellen Mann, der seine Kinder in der streng katholischen Familie protestantisch erziehen ließ.

Das Haus in Buttenhausen, das Matthias Erzbergers Eltern kurz vor seiner Geburt erworben hatten, war nicht besonders groß und in den Hang gebaut, sodass das Erdgeschoss darin verschwand. Es lag nur wenige Meter unterhalb der Synagoge und des jüdischen Friedhofs auf der rechten Seite der Lauter, die das Dorf teilte. Auf der anderen Seite, auf gleicher Höhe des Tals, thronte die evangelische Michaelskirche über dem Ort. Als Matthias Erzberger geboren wurde, war die eine Hälfte der knapp 800 Einwohner jüdisch, die andere protestantisch. Buttenhausen war im Gegensatz zu den anderen Dörfern der Gegend ein geschäftiger Ort, der mit seinen mehrstöckigen Häusern, einem kleinen Park, regelmäßigen Vieh-und Pferdemärkten, den Geschäften und Gastwirtschaften eher an ein Städtchen als ein Bauerndorf erinnerte. Juden und Christen lebten hier miteinander, sangen im selben Gesangsverein, Christen arbeiteten für jüdische Geschäfte, Juden saßen im Gemeinderat.7

Erzbergers Feinde sollten später immer wieder auf die Herkunft aus einem jüdisch-geprägten Dorf anspielen. Sie verbreiteten das Gerücht, Erzberger sei »zumindest Halbjude« gewesen, denn seine Mutter sei als Dienstmädchen zum Kunst- und Antiquitätenhändler Lehman Bernheimer, einem gebürtigen Buttenhausener Juden, nach München gekommen und von ihm schwanger geworden. Daraufhin sei sie nach Buttenhausen zurückgekehrt und habe Joseph Erzberger geheiratet, um die Abstammung des Kindes zu verschleiern.8 Nichts deutet darauf hin, dass diese Gerüchte mehr sind als Lügen.9

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Bildpostkarte von Erzbergers Geburtsort Buttenhausen, zwischen 1908 und 1915
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Erzbergers Geburtshaus. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold brachte hier eine Gedenktafel an, die später von den Nationalsozialisten entfernt wurde, 8. Mai 1927

Die Erzbergers waren eine der wenigen katholischen Familien im Ort, erreichten einen gewissen Status und waren bei der Dorfgemeinschaft beliebt. Die Leute schätzten Joseph Erzbergers Verlässlichkeit und seine Offenheit. Sie schauten ihm nach, wenn er mit seinem Hochrad durch den Ort fuhr. Es hieß, er sei der erste im ganzen Lautertal gewesen, der ein Fahrrad besaß.10

Von seinen Eltern wurde Matthias Erzberger zu einem frommen Katholiken erzogen. Zwei Tage nach seiner Geburt wurde er getauft. Als er 13 Jahre alt wurde, feierte er Erstkommunion und begann, Dienste als Ministrant in Bichishausen wahrzunehmen, einige Kilometer weiter die Lauter hinunter.11 Dem Priester und Lehrer in Bichishausen, Carl Buß, fielen die Lebhaftigkeit und die geistige Schärfe des Jungen auf. Buß war ein freundlicher, engagierter Mann, der die Schulkinder zweimal in der Woche mit in die Kirche nahm, wo sie sangen und den Rosenkranz beteten. Für die wenigen katholischen Kinder aus Buttenhausen – wahrscheinlich wohl vor allem für Matthias Erzberger und seine Geschwister – hielt er im Schuljahr 1887/88 einmal in der Woche eigens Religionsunterricht ab.12

Matthias’ Lehrer überredeten seinen Vater, ihn zum Volksschullehrer ausbilden zu lassen.13 Um sich auf seinen zukünftigen Beruf besser vorbereiten zu können und weil es in Buttenhausen keine katholische Schule gab, wechselte Matthias zu Pfarrer Buß nach Bichishausen. Er zog zu seinem Großvater nach Gundelfingen, von wo der Fußmarsch in die katholische Volksschule nur eine halbe Stunde dauerte. Der Schulweg führte gegen den Strom des Bachs entlang durch das Tal. Unterwegs ging Matthias oft die Aufgaben für den Unterricht durch. Er war in der Lage, ganze Buchseiten auswendig zu lernen und den Text später Wort für Wort wiederzugeben, als läse er ihn ab.14

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Erzberger (x) als Volksschüler, um 1885

Neben seinem außergewöhnlichen Gedächtnis zeichnete sich der Junge durch Gewissenhaftigkeit mit einem Hang zum Strebertum aus. Einer Anekdote nach machten sich seine Schulfreunde auf dem Heimweg von der Schule einen Spaß daraus, mit Steinen auf die glänzenden Porzellanisolatoren an den Masten der neuverlegten Telegrafenleitung zu werfen, wobei sie einige davon beschädigten. Matthias forderte, sie sollten aufhören, und kündigte an, er werde die Tat seinem Vater melden. Dafür kassierte er zwar eine Tracht Prügel, erreichte aber, dass der Schaden ersetzt wurde.15

Mit 14 Jahren verließ er die Volksschule und begann in Schwäbisch Gmünd das Vorbereitungsseminar für die Lehrerausbildung. Wegen seiner außergewöhnlichen Leistungen durfte er die üblichen drei Jahre um ein Jahr verkürzen und besuchte ab Mai 1891 das Lehrerseminar in Saulgau, einem Städtchen südlich von Buttenhausen.16

Kurz vorher war im Reich der Kulturkampf beendet worden, bei dem Staat und katholische Kirche um Macht und Kompetenzen stritten. Auch das Schulwesen, wo die Kirche traditionell eine wichtige Rolle spielte, war ein Konfliktfeld. Reichskanzler Otto von Bismarck hatte nach der Reichsgründung 1871 begonnen, Kirche und Staat stärker zu trennen und den Einfluss der Katholiken in der Politik zurückzudrängen. Als Erstes ließ er die katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium aufheben und den sogenannten Kanzelparagraf ins Strafgesetzbuch aufnehmen, der es Geistlichen unter Androhung von Haftstrafen verbot, sich zu politischen Themen zu äußern.17 Die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan wurden abgebrochen, die staatliche Aufsicht des Religionsunterrichts wurde verschärft und ein staatliches Zulassungsexamen für angehende Theologen eingeführt.18

Eigentlich vertraten die katholische Kirche und Bismarck ähnlich konservative Werte und bekämpften mit Liberalismus und Moderne dieselben Entwicklungen. Papst Pius IX. ging in seiner Ablehnung der Moderne jedoch sehr viel weiter und wollte alten Machtansprüchen der Kirche wieder Geltung verschaffen. Bismarck wiederum hatte es im Kulturkampf vor allem auf das Zentrum abgesehen, in dem sich die Katholiken – im neugegründeten Reich Minderheitenkonfession – politisch organisierten. In der Gründung und dem Wachstum der Partei sah er eine »Mobilmachung gegen den Staat«.19

In der Zentrumspartei fanden sich Katholiken zusammen, die gegen die Reichsgründung als einen Modernisierungsschritt aufbegehrten, die Machtposition der Kirche erhalten und eine Oppositionsbewegung gegen den Zeitgeist schaffen wollten. Zu ihnen gehörte ein breites Spektrum von rechten und konservativen Gegnern der Aufklärung bis hin zu linken Sozialreformern, die eine Umverteilung von Grundbesitz und Kapital forderten. Bismarck sah die Partei als eine Versammlung von »sieben Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens schillern: von der äußersten Rechten bis zur radikalen Linken«.20 Diese Spannungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen, die nur von ihrer gemeinsamen religiösen Weltanschauung zusammengehalten wurden, sollte die Partei nie ganz überwinden können.21

Bis in die 1890er Jahre waren es vor allem konservative und reaktionäre Akademiker, Unternehmer und höhere Beamte, die den Kurs der Partei bestimmten. Statt der menschlichen Vernunft und der Souveränität des Volks beharrten diese Kräfte auf der göttlichen Ordnung und der führenden Rolle der Kirche in der Gesellschaft. Statt an aufkommenden Nationalgefühlen nach 1848 richteten sie sich am Papst in Rom, ultra montes, jenseits der Berge, aus. Dem Zentrum wurde wegen dieses Ultramontanismus nationale Unzuverlässigkeit vorgeworfen. Auch Erzberger sollte später in den Ruf geraten, den päpstlichen Interessen stärker zu dienen als den Deutschen. Mit dem Wandel der Gesellschaft durch die Industrialisierung bildete sich eine wachsende linke und volksnahe Bewegung, die die Interessen der katholischen Arbeiter, Bauern und Handwerker vertrat, als ein Gegengewicht. Weil zur gleichen Zeit auch der Mittelstand wuchs und die Zahl katholischer Händler, Bankiers und Beamter zunahm, entstand zusätzlich eine bürgerliche Gruppe im politischen Katholizismus. Gemeinsam formten diese drei Gruppen eine breit getragene Partei.22

Die staatliche Unterdrückung während des Kulturkampfs konnte diese Entwicklung nicht verhindern, ganz im Gegenteil. Katholische Vereine blühten auf, die Auflagen der Zeitungen stiegen, das Zentrum wuchs zu einer der einflussreichsten Parteien.23 Stets gehörten rund ein Viertel aller Reichstagsabgeordneten dem Zentrum an, ein Anteil, der nach allen Wahlen weitgehend stabil blieb und von der Regierung nicht ignoriert werden konnte.24 Der Reichskanzler war gezwungen, fast alle Einschränkungen während des Kulturkampfs rückgängig zu machen. Auch die Beziehungen zum Vatikan unter dem neuen Papst Leo XIII. wurden wiederhergestellt.25 Nur die Zivilehe und die Schulaufsicht blieben bestehen.

Obwohl der Konflikt damit weitgehend beendet war, spürte auch Matthias Erzberger während seiner Zeit im Lehrerseminar in Saulgau noch die Spannungen zwischen Kirche und Staat. Der liberale Katholische Lehrerverein stritt sich mit dem konservativen Schulverein darüber, ob die kirchliche Schulaufsicht abgeschafft und damit den Lehrern mehr Unabhängigkeit gegeben werden sollte.26 Die Zeitschrift Vereinsbote, die der Katholische Lehrerverein herausgab, führte die Kampagne für die Abschaffung und wurde schließlich verboten. Die Schüler schmuggelten sie trotzdem ins Seminar und lasen sie gierig.27 Matthias Erzberger las mit, auch wenn er selbst eigentlich an der geistlichen Schulaufsicht festhalten wollte und die Trennung von Kirche und Staat ablehnte.28

Statt sich in die Debatte einzumischen, konzentrierte er sich jedoch auf seine Ausbildung. Mit seinem Mitschüler Wilhelm Frick – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Nationalsozialisten – hatte er einen Wettkampf um den Platz des Klassenbesten begonnen. Frick brachte es später als Schriftsteller und Humorist unter dem Künstlernamen Wilhelm Schussen zu bescheidener Berühmtheit in Süddeutschland, schaffte es aber während der Schulzeit nie, Erzberger zu übertrumpfen.29 Zwei Jahre lang bekam dieser in Religionslehre ausschließlich die Note acht und war damit deutlich besser als die durchschnittlichen Schüler, die Noten zwischen fünfen und sechsen bekamen. Auch in Sprachlehre, Kopfrechnen und Geschichte war er stets der Beste. In Fächern wie Zeichnen, Violinspielen und Schönschreiben dagegen gehörte er mit Noten, die nie besser als eine 3,8 waren, zu den schlechtesten Schülern.30 Für seine Fleiß- und Sittennoten wurde er in beiden Jahren vom Rektor des Lehrerseminars mit dem ersten Preis belohnt.31 Seine Mitschüler nutzten das aus, indem sie ihn mit Anliegen zum Rektor schickten, weil sie wussten, dieser würde ihm keine Bitte ausschlagen.32

In den Ferien fuhr er mit seinem Freund Josef Jaisle, genannt Jos, mit dem Zug nach Hause. In Zwiefaltendorf stiegen sie aus, wo sie bei Jos’ Großmutter Kratzer bekamen, ein schwäbisches Rührei-Gericht, bevor sich Matthias von dort auf den etwa 20 Kilometer langen Fußweg durch das Lautertal zu seinen Eltern machte. Er bedankte sich stets ausführlich für die Gastfreundschaft und fiel als sozial und hilfsbereit, intelligent, ehrgeizig und fromm auf.33

Sonnige Aussichten

Für Friedrich Helfferich hatte das Jahrzehnt glänzend begonnen. In der Innenstadt von Neustadt an der Haardt, am äußersten Ostrand des Pfälzer Waldes, kaufte er 1871 gemeinsam mit seinem Geschäftspartner eine Weberei, die feine Stoffe für Unterwäsche produzierte. Hatte er vorher, wie viele Generationen seiner Familie vor ihm, sein Geld als Kolonialwarenhändler verdient, wurde er nun zum Industriellen. Noch im selben Jahr heiratete er Augusta Knoeckel, die Tochter eines angesehenen Papierfabrikanten der Stadt.34 Friedrich war streng, diszipliniert, las viel und interessierte sich für Politik, Literatur und Philosophie.35 Seine Frau war unbeschwert, freundlich und eher schüchtern.

Wenige Monate nach der Hochzeit, am 22. Juli 1872, wurde ihr erster Sohn, Karl Theodor, geboren. Bereits als Kind glich er mit seinem ernsten und bestimmten Charakter seinem Vater. Karl bekam Klavierstunden von einer Tante, überwarf sich aber mit ihr und übte fortan alleine. Wenn er mit seinen Brüdern mit Zinnsoldaten spielte, bestand er darauf, das deutsche Heer zu spielen. Drohte seine Seite zu verlieren, nahm er sich einfach Figuren von seinen Brüdern oder veränderte die Regeln.36

Karl besuchte den Kindergarten, die Volks- und die Lateinschule und wechselte mit zwölf Jahren aufs Gymnasium, wo er – außer in Sport – nur Bestnoten bekam. In seiner freien Zeit zeichnete er, malte mit Wasserfarben oder schrieb kurze Gedichte, die bei öffentlichen Veranstaltungen des Gymnasiums vorgelesen wurden. Nach dem Abitur begann er im Herbst 1890 ein Jurastudium in München und trat als Student dem bayrischen Armeekorps als Einjähriger Freiwilliger bei – eine Form des Militärdiensts, der nur jenen offenstand, die sechs Jahre gymnasiale Ausbildung vorweisen und ihren eigenen Unterhalt finanzieren konnten.37 Für das Bildungsbürgertum im wilhelminischen Deutschland war eine solche Nähe zum Militär hilfreich, schließlich lieferte sie wertvolle Kontakte und ermächtigte einen zum Führen bestimmter Titel. Bei einem Unfall wurde Helfferichs Brust jedoch so stark eingedrückt und seine Lunge so schwer beschädigt, dass er nicht mehr an den Übungen teilnehmen konnte und seine Karriere im Militär abrupt endete.38

Nach dem Studium begann Karl Helfferich eine Promotion bei Georg Friedrich Knapp, einem der führenden liberalen Wirtschaftswissenschaftler des Kaiserreichs und Schwiegervater des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss.39 Knapp fand Helfferich überheblich und sein Vorhaben, innerhalb weniger Monate eine Doktorarbeit schreiben zu wollen, illusorisch. Helfferich war verärgert, weil er sich von Knapp unterschätzt fühlte.40 In kurzer Zeit verfasste er eine 40-seitige Abhandlung zum deutsch-österreichischen Münzverein und verdiente sich den Respekt Knapps und anderer Ökonomen.41 Helfferich war intelligent, schnell, ehrgeizig, kam aus gutem Haus und schuf sich ein Netzwerk von einflussreichen Akademikern, Unternehmern und Bankiers. Niemand zweifelte daran, dass ihm eine steile Karriere im Staatsdienst, der Wirtschaft oder der Forschung bevorstand.

Erster Aufruhr

Conrad Haußmann eilte schon wegen seines Namens ein ehrfurchtsgebietender Ruf voraus: Sein Vater Julius war einer der Anführer der Revolution von 1848 und Mitbegründer der liberalen Demokratischen Volkspartei gewesen. Conrad Haußmann selbst wurde ebenfalls hoch geachtet, war ein belesener Mann, ein Freund Hermann Hesses und der Herausgeber einer literarischen Zeitschrift. Mit seinem Zwillingsbruder Friedrich führte er eine Rechtsanwaltskanzlei in Stuttgart und saß als Abgeordneter zugleich im Landtag und im Reichstag.42

Als Haußmann im Januar 1895 in einem Gasthaus in Saulgau mit einem Parteifreund einen Wahlkampfauftritt abhielt, meldete sich ein junger Mann mit runden Brillengläsern zu Wort und begann, Haußmann in eine Diskussion zu verwickeln. Haußmann hatte sich für die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht ausgesprochen, und der junge Mann – mit seinen 19 Jahren noch nicht einmal wahlberechtigt – rief ihm zu, die Volkspartei sei religionslos. Im Saal brach Unruhe aus, es wurde gerufen, man solle den Jungen hinauswerfen. Die Auseinandersetzung war so scharf, dass selbst die Zeitungen in der Landeshauptstadt darüber berichteten. Der Name des jungen Mannes war Matthias Erzberger.43

Jahre später sollten sich Erzberger und Haußmann in Berlin immer wieder begegnen. Als im November 1918 eine Delegation zusammengestellt wurde, um über den Waffenstillstand zu verhandeln, dachte man zuerst an Haußmann. Dessen schlechter Gesundheitszustand sorgte im letzten Moment jedoch dafür, dass Erzberger reiste.

Als Erzberger sich 1895 zum ersten Mal in die politischen Diskussionen stürzte, hatte er gerade seinen Abschluss am Lehrerseminar in Saulgau gemacht und ein Referendariat in Marbach und Göppingen begonnen. Als Volkschullehrer gehörte er zu einer Klasse einfacher Leute, die wiederum einfache Leute ausbildete. Wer die Volksschule besuchte, wurde meist Arbeiter oder einfacher Angestellter. Der Unterricht bestand vor allem aus Auswendiglernen und Aufsagen, die Lehrer waren pedantisch und prügelten. So war die Schule ein Abbild der altmodischen Klassengesellschaft.44 Die kuriose Meldung in der Deutschen Rundschau über einen Schüler, der durch das Konjugieren des lateinischen Verbs amare (liebhaben) aus Scham und wegen des Leistungsdrucks tot zusammengebrochen sein soll, war ein Abbild der Stimmung in den Schulen: Strenge, Steifheit und Prüderie bis zum Umfallen.45

Für diese Art von Lehramt besaß Erzberger nicht die nötigen Charaktereigenschaften: Er war unkonventionell und ehrgeizig, hinterfragte die Dinge und hatte eine eigene Meinung. Außerdem hatte er auch gar keine große Lust auf den Lehrerberuf. Er füllte ihn nicht aus, und so begann er, in seiner freien Zeit Latein zu lernen und von einer Karriere im Journalismus zu träumen. Er las Bücher und Artikel zu sozialen Fragen und beschäftigte sich mit Parteien und

Politik.46

In seinem Umfeld veränderte sich die Gesellschaft in rasendem Tempo. Die Hochindustrialisierung trieb immer mehr Arbeiter von den Feldern in die Fabriken. Der Lohndienst entstand als neue Form der Arbeiterschaft. Betriebe wurden größer und waren in der Lage, Waren schneller und billiger zu produzieren als einzelne Handwerker. Viele von ihnen und ihren Gesellen zogen auf der Suche nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten in die Städte. Diese wuchsen, und mit ihnen das Elend derer, die von einem geringen Einkommen leben mussten. Familien hausten in kleinen Wohnungen mit einem einzigen Raum, in denen es wegen schlechter Lüftung schimmelig und wegen fehlender Elektrizität dunkel war. Meist gab es nicht einmal für alle Familienangehörige ein eigenes Bett.

Vielen, die von weit weg in die industriellen Zentren gezogen waren, fehlten die Familien, die im Alter, bei Krankheit oder anderen Gründen für Erwerbsausfall hätten helfen können. Bismarcks Sozialpolitik, unter der eine Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung eingeführt worden war, bot zwar einen gewissen Schutz gegen das Abrutschen ins Elend, beseitigte aber nicht die Ungleichheit, Ausbeutung und die Abhängigkeit der Arbeiter von Betrieben.

Widrige Lebens- und Arbeitsbedingungen sorgten dafür, dass sich die Menschen zusammenschlossen. Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften vertraten die Interessen der Arbeiter, beispielsweise bei Verhandlungen über Lohnerhöhungen, boten ihnen praktische Unterstützung nach Arbeitsunfällen und gaben ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit und Hoffnung. Die Aussicht auf eine sozialistische Gesellschaft, die die Gewerkschaften prophezeiten, gab ihnen Mut, ihre Ohnmacht in Zukunft überwinden zu können.47

Frommen Katholiken wie Erzberger waren die Gewerkschaften ein Dorn im Auge, weil sie sich ausdrücklich von religiösen Einflüssen lossagten. Sozialdemokraten wie August Bebel waren davon überzeugt, dass Religion für die großen Fragen, die sie bisher beantwortet hatte, überflüssig würde. Der gesellschaftliche und technologische Fortschritt – eine »zweite Aufklärung« – würde rationale Erklärungen finden und Arbeiter von den Ketten des Glaubens befreien. So sahen die meisten Sozialdemokraten Religion als private Angelegenheit, die vom Staat und der Schule getrennt werden musste.48

Ein wachsendes Selbstbewusstsein der Arbeiterschaft setzte die Zentrumsführung unter Druck. Frustriert über die Folgen der Industrialisierung kehrten sich immer mehr einfache Bürger und Bauern von den alten Eliten der Partei ab, denen sie bisher passiv gefolgt waren.49 Neue Gruppen gewannen im Katholizismus dadurch an Einfluss. Überall im Land wurden katholische Arbeiter-, Bauern-und Handwerkervereine gegründet, die wie Gewerkschaften die Interessen der Arbeiter vertraten, vor allem aber die katholische Weltsicht verkündeten.50 Nachdem Erzberger im Mai 1895 an eine Schule in Göppingen versetzt worden war, trieb er mit dem dortigen Stadtpfarrer die Gründung solcher Vereine voran. Neben seinem Lehrerberuf und seinem Einsatz für die Arbeitervereine schrieb er als Lokaljournalist für das katholische Deutsche Volksblatt unter den Kürzeln »E.« und »m. e.« Artikel über den Kommunalwahlkampf, Konzerte des katholischen Gesangvereins Caecilia oder Vorträge der SPD-Ortsgruppe.51

1896 wurde er nach Feuerbach bei Stuttgart versetzt. Dort lernte er ein Fräulein Haßlacher kennen – ihr Vorname ist nicht überliefert – und verliebte sich zum ersten Mal. Er entwickelte ein weitergehendes Interesse an ihr, doch die Beziehung zerbrach und die junge Frau heiratete einen anderen, mit dem sie schließlich nach Amerika auswanderte.52 Derweil baute Erzberger Kontakte zu Zeitungsredakteuren auf und mischte sich immer stärker in öffentliche Debatten ein. Seine politischen Standpunkte waren stark vom Programm der württembergischen Zentrumspartei geprägt, ohne dass er eigene Akzente setzte. Themen wie die geistliche Schulaufsicht und damit die Frage, welche Rolle die Religion in der Gesellschaft im Allgemeinen und für die Erziehung der Kinder im Speziellen einnehmen sollte, und die Zulassung katholischer Männerorden wie der Jesuiten, die während des Kulturkampfs verboten worden waren, stellten drängende Fragen des Zentrums dar, für deren Lösung sich Erzberger einsetzte. Er forderte eine stärkere Vertretung von Katholiken in Führungspositionen und versuchte, den Stimmen einfacher Bürger in der von bürgerlichen Honoratioren dominierten Politik Gehör zu verschaffen.53

Dem Chefredakteur des Deutschen Volksblatts in Stuttgart, Josef Eckard, fielen Erzbergers Redefähigkeit und sein Gedächtnis auf. Eckard ähnelte in seiner Persönlichkeit und seinen politischen Auffassungen dem zehn Jahre jüngeren Erzberger. Er war umgänglich, arbeitsfreudig und klug, hatte Theologie studiert und früh die Notwendigkeit erkannt, auf die Umwälzungen in der Gesellschaft zu reagieren. Kurz bevor sich die beiden kennenlernten, war er als jüngster Abgeordneter in den württembergischen Landtag gewählt worden.54 Eckardt bot Erzberger eine Stelle als Redakteur an, und so trat dieser im Oktober 1896, nach weniger als zwei Jahren, aus dem Schuldienst aus.

Neben seiner neuen Tätigkeit als Journalist für das Volksblatt unterstützte er Eckard bei der Gründung immer neuer Arbeitervereine. In der Stuttgarter Urbanstraße richteten Erzberger und Eckard eine Anlauf- und Beratungsstelle für Handwerker und Angestellte ein. Erzberger beantwortete als ehrenamtlicher Mitarbeiter allein im ersten Jahr mehr als 1000 Anfragen zu Fragen des alltäglichen Lebens. Er reiste durch Württemberg, hielt Vorträge über Sozial- und Krankenversicherungen für Arbeiter und bot ihnen Unterstützung für das moderne Leben, beispielsweise, wie man eine Zeitung zu lesen habe.55 Manche seiner Veranstaltungen wurden bald von mehr als 100 Zuhörern besucht. Selbst wenn nur fünf Besucher kamen, hielt Erzberger seinen Vortrag, weil er davon überzeugt war, dass jeder einzelne von ihnen informiert werden müsse, und dass selbst diese kleinen Schritte dazu beitragen würden, Handwerker, Bauern und Angestellte zu ihren Rechten zu verhelfen.56

Geld verdiente er mit den Vorträgen nicht. Er reiste im Zug in der vierten Klasse, fand ein Unterkommen in katholischen Pfarrhäusern oder mietete ein Zimmer in billigen Gaststätten. Die Auftritte boten ihm jedoch die Möglichkeit, seine Redefähigkeiten zu verbessern, das politische Handwerk zu lernen und ein Netzwerk aufzubauen. Um die Jahrhundertwende sollte so, nach der Begegnung mit Eckard, eine weitere Bekanntschaft seinem Leben eine neue Richtung geben. Bei einem seiner Vorträge traf Erzberger auf den Zentrumspolitiker Adolf Gröber, einen studierten Juristen, der selbst vom Parteigründer Ludwig Windthorst entdeckt worden und im Alter von 33 Jahren in den Reichstag eingezogen war. Gröber war gut 20 Jahre älter als Erzberger, ein groß gebauter Mann mit kräftiger Stimme und einem auffallend langen und dichten Bart, der beim Lachen zitterte.57 Er war beeindruckt von Erzbergers Redekünsten und seinem politischen Gespür. Gröber überzeugte ihn, sich für die Zentrumspartei zu engagieren.

Die Partei war zu diesem Zeitpunkt von 53 Abgeordneten im Gründungsjahr 1871 auf 100 Abgeordnete 1903 zu einer ernst zu nehmenden Größe in Berlin gewachsen. In Südwestdeutschland entstand der politische Katholizismus später als im übrigen Reich. Dort waren Katholiken zunächst in die säkularen Parteien integriert und Amtsträger anderer Parteien oft persönlich stark an die Kirche gebunden. Nach der Gründung des Zentrums bekam die Partei jedoch auch dort schnell Zulauf, und obwohl das Zentrum bei den ersten Reichstagswahlen 1871 noch nicht einmal überall einen Kandidaten aufstellen konnte, bekam die Partei schnell bis zu 33 Prozent der Stimmen.58

Gröber sorgte dafür, dass das Zentrum Erzberger für die Reichstagswahlen 1903 als Kandidat aufstellte. Sein Wahlkreis umfasste die Städtchen Biberach, Leutkirch und Wangen, in dem eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung katholisch war. Ein Sieg war Erzberger damit nahezu sicher, obwohl er vielen Bürgern noch weitgehend unbekannt war. Er wurde schließlich mit 16 597 Stimmen gewählt – sein stärkster Herausforderer bekam gerade einmal 358 Stimmen. Erzberger zog für den Wahlkreis 16 in den Reichstag ein, Gröber für Wahlkreis 15.59

Gröber hatte die württembergische Zentrumspartei mitgegründet und war eine Führungsfigur des politischen Katholizismus.60 Wie Erzberger kam er aus einfachen Verhältnissen, galt aber als verschlossen und weniger lebensfroh und gesellig. Er war bescheiden, blieb unverheiratet und besaß einen bedingungslosen Glauben an Gott. Auf seinen Waldspaziergängen freute er sich über unscheinbare Pflanzen und Fossilien am Wegesrand, die er sammelte. Manche nannten ihn den »schwarzen Finsteren«, weil er sich lieber in der Natur oder in der Bibliothek des Reichstags aufhielt statt die Gesellschaft von Menschen zu suchen. Allerdings hielt er, wie Erzberger, selbst als angesehener Politiker noch Vorträge in engen schwäbischen Dorfgaststätten vor Bauern in Blaukitteln, die so viel rauchten, dass am Ende des Vortrags nur noch die Leute unmittelbar um ihn herum sichtbar waren.61

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Adolf Gröber, Führungsfigur der württembergischen Zentrumspartei und Reichstagsabgeordneter, 1918

Erzberger und Gröber vertraten ähnliche politische Ansichten und sollten während ihrer gesamten politischen Laufbahnen enge Vertraute bleiben. Beide standen den einfachen Bürgern nahe und sahen die Aufgabe des Staats darin, das Volk zu Selbstständigkeit und Tugend zu erziehen und Schwache und Bedürftige zu beschützen. Sie vertraten die Interessen von Katholiken und Kleinbürgern, die sich von der Gesellschaft des Kaiserreichs benachteiligt sahen. Statt abstrakter theologischer Vorträge boten sie konkrete Antworten auf die Fragen der Menschen. Beide profitierten von der und stimulierten eine »Fundamentalpolitisierung« der Bevölkerung, die das Land im späten 19. Jahrhundert erfasste. Der wachsende Lebensstandard erlaubte es vielen Menschen, die zuvor noch mit dem alltäglichen Überleben kämpften, sich zunehmend auch mit politischen Fragen zu beschäftigen. Die weitere und schnellere Verbreitung von Zeitungen und ein steigendes Bildungsniveau steigerten das Interesse der Massen für die Politik. Viele Entscheidungen und Prozesse des alltäglichen Lebens wurden nun zu politischen Angelegenheiten, verbunden mit deutlichen Forderungen.62

Mehr noch als Gröber, der studiert und als Richter und Staatsanwalt gearbeitet hatte, verstand Erzberger die Sprache der Leute von der Straße. Er stand am Anfang einer Bewegung, die die breite katholische Bevölkerung für die Politik mobilisieren wollte, und gehörte einer neuen Generation katholischer Politiker an, die bereit war, selbstbewusst die Ordnung des Staats und der Partei zu hinterfragen.