Der Titel des Buches ist ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal (1874-1929).
Das Cover zeigt oben die letzte Ausgabe einer historischen kommunistischen Zeitung und unten die Altstadt von Bad Wimpfen.
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Rainer Werner: Das ganze Leben ist ewiges Wiederanfangen,
Vom Straßenkämpfer zum Studienrat
Originalausgabe
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Grafische Gestaltung: Patricia Strunk
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783753452814
„Mich selbst, ganz wie ich bin, auszubilden, das war dunkel
von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.“
Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre
Mit 15 Jahren war ich leidenschaftlicher Pfadfinder. Zelten in freier Natur, Lagerfeuerromantik und Kameradschaft prägten mein Leben als Jugendlicher. Bevor wir die Zelte abbrachen, sangen wir eine schottische Volksweise, die Claus Ludwig Laue 1946 ins Deutsche übersetzt hat. In der Pfadfinderbewegung gilt sie bis heute als das Abschiedslied.
„Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis!
Das Leben ist ein Spiel;
und wer es recht zu spielen weiß,
gelangt ans große Ziel.“
Das Bild vom Leben als Spiel kommt mir in den Sinn, wenn ich mich anschicke, mein Leben aufzuschreiben. Spiel bedeutet, dass das Leben nie exakt planbar ist, sondern immer eine improvisatorische und zufällige Komponente enthält. Dem Kind und Jugendlichen steht das Leben in seiner Verheißung groß und geheimnisvoll vor Augen. Alles scheint möglich, da man von den Gesetzen des Lebens, die auch Schranken und Hindernisse kennen, noch nichts weiß. Man ahnt nicht, dass die eigene Herkunft, die Einflüsse von Familie und Milieu, den Lebensgang eines Menschen beeinflussen können. Von Karl Kraus stammt das Bonmot: „Das Wort ´Familienbande` hat einen Beigeschmack von Wahrheit.“ Viele Lebensentwürfe sind deshalb Versuche, sich aus vorgegebenen Fesseln zu befreien.
Ich habe mich genauso ins bunte Leben gestürzt, wie das Jugendliche im Vollgefühl von Kraft und Zuversicht schon immer getan haben und immer tun werden. Der romantische Dichter Joseph von Eichendorff hat diese Aufbruchstimmung in seinem Gedicht „Die zwei Gesellen“ treffend eingefangen:
Es zogen zwei rüst’ge Gesellen
Zum erstenmal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
Des vollen Frühlings hinaus.
Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten, trotz Lust und Schmerz,
Was Rechts in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorübergingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. […]
Heute, im fortgeschrittenen Alter, blicke ich auf ein reiches Leben zurück. Ich versuche die Weichenstellungen nachvollziehen, die es in bestimmte Bahnen gelenkt haben. Mit dem Abstand und der Erfahrung vieler Jahre kann ich beurteilen, ob die Entscheidungen, die ich traf, zwangsläufig oder eher dem Zufall geschuldet waren - und ob sie mein Leben bereichert haben.
Wie schreibt man eine Autobiografie? Die Frage kann man nur beantworten, wenn man weiß, wie Erinnerung funktioniert. Psychologen geben uns die Auskunft, dass in der Erinnerung verschiedene Eindrücke zusammenfließen: Bilder von Personen, Situationen und Landschaften; Klangfarben und Geräusche; Gerüche und Düfte; natürlich auch Gefühle. Jeder weiß, dass das Erinnerte nie einem exakten Protokoll des Erlebten gleicht. Vieles bleibt in der Erinnerung vage und diffus. Manchmal gibt es aber auch Erinnerungssplitter, die fotografisch scharf in unser Gedächtnis treten. Die Psychoanalyse lehrt uns, dass der Mensch dazu neigt, unangenehme Erlebnisse zu verdrängen, um eine mitunter fragile Ich-Identität nicht zu gefährden. Solche Episoden sind dem spontanen Erinnerungsvermögen entzogen und müssen vom Therapeuten im einfühlsamen Gespräch zutage gefördert werden. Außerhalb des therapeutischen Kontexts kann eine ehrliche Selbstbefragung die Analyse des Profis ersetzen.
Als Deutschlehrer kenne ich die Autobiografie, die Johann Wolfgang von Goethe im Alter von 59 Jahren begonnen und mit 82 Jahren vollendet hat: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. Goethe war bewusst, dass er im Abstand von über 50 Jahren das real Erlebte nicht mehr würde exakt rekonstruieren können. Deshalb fügte er im Titel dem Wort „Wahrheit“ noch den Begriff „Dichtung“ hinzu. Damit gibt er zum Ausdruck, dass zum historisch Verbürgten das poetisch Gestaltete tritt. Viele Germanisten halten Goethes Autobiografie deshalb für eine gekonnte literarische Inszenierung.
An den Forderungen, die Goethe an die Autobiografie stellt, kann sich auch der nicht-literarische Autor orientieren. Die Hauptaufgabe der Biografie sieht der Dichter darin, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen“ und zu zeigen, „wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet“ hat. Goethe fordert, „dass…das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne“. Ich habe beim Schreiben versucht, die „Zeitverhältnisse“ deutlich werden zu lassen. Mein Wissen als Geschichtslehrer hilft mir dabei, privates Erleben in den Kontext des geschichtlichen Prozesses zu integrieren.
Ich bin mir dessen bewusst, dass ich beim Schreiben dem, was der Psychologe „Erinnerungskonstruktion“ nennt, nicht völlig entgehen kann. Manches, was ich schreibe, mag nachträgliche Interpretation sein, die der Konstruktion einer stimmigen Identität dient, ohne die der Mensch nicht auskommt. Diejenigen, die mich in den verschiedenen Lebensphasen erlebt haben, mögen selbst beurteilen, wie viel an meiner Schilderung Dichtung und wie viel Wahrheit ist.
Berlin, im April 2021
Am 5. Mai 1946, ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde ich in Ernsbach, einem Tausend-Seelen-Dorf in Hohenlohe, geboren. Das Dorf wurde 1037 zum ersten Mal urkundlich erwähnt, ist also eine frühmittelalterliche Gründung. Hohenlohe ist eine Region im Norden von Baden-Württemberg, die nach dem fränkischen Adelsgeschlecht der Hohenloher Grafen, späteren Fürsten, benannt ist. Hohenlohisch ist ein ostfränkischer Dialekt, der sich in verschiedenen Aspekten vom Schwäbischen unterscheidet. Die Landschaft, in der mein Heimatdorf liegt, heißt "Hohenloher Ebene". In die flachhügelige Hochebene schneiden sich zwei tiefe mäandernde Flusstäler ein: das Kocher- und Jagsttal. Im Süden ist die Landschaft begrenzt durch die Waldenburger Berge und den Mainhardter Wald, im Westen grenzt sie an das Neckartal. Die Hohenloher Ebene ist eine alte Kulturlandschaft. Äcker, Wiesen und Wald wechseln miteinander ab, kleine malerische Bauerndörfer sind in die Landschaft eingestreut. An den Hängen der beiden Täler wachsen, wenn sie nach Süden ausgerichtet sind, Weinreben. Auf den Bergvorsprüngen hat das Geschlecht der Hohenlohe Burgen und Schlösser gebaut, die heute noch trotzig in die Landschaft ragen. Am bekanntesten sind die Schlösser von Langenburg, Kirchberg und Stetten. Hohenlohe ist eine geschichtsträchtige Region.
Nicht weit von meinem Geburtsort entfernt liegen die Gemeinden Jagsthausen und Berlichingen. Dort verbrachte der berühmte Raubritter Götz von Berlichingen seine Kindheit. 1525 tobte in Hohenlohe der Bauernkrieg, bei dem sich der rauflustige reichsfreie Ritter "Götz" den Bauern als Anführer zur Verfügung stellte. 1528 wurde er von Soldaten des Schwäbischen Bundes gefangen genommen. Er musste schwören, seine Burg Hornberg am Neckar nicht mehr zu verlassen und auch kein Pferd mehr zu besteigen. Dort verbrachte er seine Zeit mit Jagen und mit dem Verfassen seiner Memoiren, auf die sich Johann Wolfgang von Goethe beim Schreiben seines Götz-Dramas stützte. 1540 hob Kaiser Karl V. den Hausarrest auf, weil er die Dienste des kampferfahrenden Ritters bei einem Feldzug gegen die Türken benötigte. 1562 starb Götz von Berlichingen über 80-jährig und wurde im Kloster Schöntal an der Jagst bestattet.
Ein anderer Hohenloher Rebell heißt Wendel Hippler. Der in Neuenstein bei Öhringen geborene Jurist war zuerst Kanzler im Dienst des Grafen zu Hohenlohe. Später überwarf er sich mit ihm und schloss sich den aufrührerischen Bauern an. Er wurde sogar ihr Verhandlungsführer. 1525 geriet er in Gefangenschaft des Kurfürsten von der Pfalz, Ludwig V. Ein Jahr später wurde er noch vor dem Prozess in seinem Heidelberger Gefängnis getötet.
Das Hohenloher Land hat nicht nur Rebellen hervorgebracht, sondern auch Tüftler und Schöngeister. In Schöntal lebte der Ingenieur und Schriftsteller Max Eydt. Sein Vater hatte am Evangelischen Theologischen Seminar des Dorfes an der Jagst eine Professur für Griechisch und Geschichte inne. Der begabte Sohn erhielt von seinem Vater Privatunterricht, auch im Klavierspiel. Seine mathematische und zeichnerische Begabung war eine gute Voraussetzung für den Beruf des Ingenieurs. 1845 besuchte der neunjährige Max mit seinem Vater das Ernsbacher Hammerwerk, das einen mit Dampfkraft angetriebenen Schmiedehammer betrieb. Wie er es in seinen Lebenserinnerungen erzählte, erwachte in ihm beim Klang des Eisenhammers die Liebe zur Technik. Aus dem Hammerwerk wurde 1898 die Schraubenfabrik L&C Arnold, in der meine Mutter einige Jahre lang gearbeitet hat. Die Reiseerzählungen von Max Eyth, die unter dem Titel „Wanderbuch eines Ingenieurs“ in mehreren Fortsetzungen erschienen, waren im Kaiserreich Bestseller. In der dynamischen Gründerzeit liebten die Menschen kühne Entdecker und pfiffige Erfinder.
In Ernsbach ist Ludwig Christian Heink geboren, der sein Leben der Technik gewidmet hat. 1877 wanderte er aus, um in der Schweiz, in Griechenland und Venezuela als leitender Ingenieur Straßen, Kanäle und Eisenbahnen zu bauen. Nach seiner Heimkehr plante und leitete er in seiner Heimatgemeinde Ernsbach den Bau der Wasserleitung.
Der Pfarrer und Dichter Eduard Mörike hat mehrfach das Ernsbacher Pfarrhaus besucht. Dort hatte sein Studienfreund aus dem Tübinger „Stift“, Ludwig Amandus Bauer, die Pfarrstelle inne. Neben seinen geistlichen Dienstpflichten schrieb Bauer historische Dramen und Romane. Wie sein Freund Mörike schied auch er frühzeitig aus dem Amt und wurde gleichfalls Lehrer. In einer Zeit des Glaubensverlustes infolge der wissenschaftlichen Revolution im 19. Jahrhundert war bei manch einem (vornehmlich evangelischen) Pfarrer die literarische Leidenschaft stärker als der Drang zur Verkündigung der christlichen Botschaft.
1921 wurde in Forchtenberg, der Nachbargemeinde von Ernsbach, Sophie Scholl geboren. Ihr Vater war dort Bürgermeister. Ihre ersten neun Lebensjahre verbrachte Sophie in dem beschaulichen Dorf am Kocher. Dann zog die Familie nach Ludwigsburg. An der Universität München studierte Sophie Biologie und Philosophie. Zusammen mit ihrem Bruder Hans schloss sie sich dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus an. 1943 wurde sie in der Universität beim Verteilen von Flugblättern verhaftet. Sophie Scholl, Hans Scholl und ihr Freund Christoph Probst wurden vom „Volksgerichtshof“ zum Tode verurteilt und durch das Fallbeil hingerichtet. Ihren Abituraufsatz hat sie zu dem Thema geschrieben: „Die Hand, die die Wiege bewegt, bewegt die Welt.“ Der jungen Frau war es nicht vergönnt, in einer Zeit zu leben, in der Kinder in Frieden und Freiheit groß werden können.
Das verzweigte Geschlecht des Grafen zu Hohenlohe hat einige Söhne hervorgebracht, die im Kaiserreich politisch Karriere gemacht haben. Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, einer Nebenlinie der Familie entstammend, wurde 1894 von Kaiser Wilhelm II. zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Diese Personalie zeigt, wie der deutsche Hochadel verwandtschaftlich miteinander verbandelt war. Da die Mutter der Kaiserin Auguste Viktoria, Herzogin Adelheid von Schleswig-Holstein, eine Cousine von Chlodwig war, duzte ihn der Kaiser und nannte ihn Onkel Chlodwig. Ein Bruder Chlodwigs, Gustav Adolf, wurde 1866 von Papst Pius IX. zum Kurienkardinal ernannt. Diese beiden Beispiele zeigen, dass der Adel neben wichtigen Offiziersstellen auch Ämter in Politik und Kirche innehatte. Ausschlaggebend war die fundierte Ausbildung der Adeligen, die sie an den besten europäischen Universitäten genossen hatten.
Das Geschlecht der Hohenlohe ist mit dem britischen Königshaus verwandt. Gottfried zu Hohenlohe-Langenburg war der Cousin des Herzogs von Edinburgh, des Gatten von Königin Elisabeth II. Gottfrieds Sohn Philipp ist heute der engste Verwandte des Hauses Windsor in Deutschland. Die britische Königsfamilie hat mehrfach Schloss Langenburg besucht. Der ökologisch inspirierte Prinz Phillip fachsimpelt gerne mit Hohenloher Bauern über die besten Schweinerassen und den Anbau traditioneller Getreidesorten wie Dinkel, Emmer und Grünkern.
Es heißt, Kindheit, Geburtsort und Landschaft prägten den Menschen für sein ganzes Leben. Prägend ist vor allem der Klang der Muttersprache. Meine Eltern sprachen unter sich und mit den Dorfbewohnern Hohenlohisch. Diese Mundart war auch die Sprache meiner Kindheit. Wenn ich eine mir aufgetragene Arbeit für zu schwierig hielt, sagte mein Vater zu mir: „des machsch anâweech.“ (Das machst du trotzdem.) - Meine Mutter intervenierte: „âmend duud er sich weeh“ (Am Ende tut er sich weh.) – Meine Großmutter schickte meine Schwester in den Keller: „Geesch in dâ Keller und hoolsch ebbiirâ.“ (Gehe in den Keller und hole Kartoffeln.) - Wenn sich meinen Eltern ein Fremder vorstellte, antworteten sie ihm mit „ougneem“ (angenehm).
Im Gespräch mit gebildeten Menschen, die Hochdeutsch sprachen, versuchten sie ihren Dialekt zu verbergen, um ihn umso freudiger wieder zu benutzen, wenn sie unter sich waren. Am Gymnasium versuchte ich von Anfang an Hochdeutsch zu sprechen, um mich vor den Honoratiorenkindern nicht zu blamieren. Überrascht stellte ich fest, dass einige Lehrer im Unterricht Schwäbisch sprachen. Während diese Mundart anerkannt und durch prominente Schwäbisch-Sprecher geadelt ist (man denke an Theodor Heuß und Winfried Kretschmann), gilt das Hohenlohische bis heute als Bauerndialekt, den man besser verbirgt. Die Mundart-Musikband „Annaweech“ hat dem Dialekt zu einer gewissen Popularität verholfen.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, höre ich das monotone Rauschen des Kochers, dessen Wasser über das Wehr fließt, dringt mir der Tannenduft des Waldes in die Nase, höre ich das Gezwitscher der Mehlschwalben, wenn sie in ihrem kugligen Nest an der Scheunenwand um Nahrung betteln, höre ich die Uhr des Kirchturms schlagen, die Tag und Nacht den Bürgern mitteilt, was die Stunde geschlagen hat. So haben sich Dorf und Landschaft, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe, in mein Gedächtnis eingegraben. In der Fremde wird mir die Heimat immer wieder zur Seelenlandschaft, der ich in Tagträumen gerne nachhänge. Carl Zuckmayer hat recht, wenn er sagt: „Geburtsheimat ist Gefühlsheimat“.
Nach soziologischen Kriterien gehörten meine Eltern zum Kleinbürgertum. Früher sagte man: "Der Junge ist in einfachen Verhältnissen groß geworden". Mein Vater war Tischler, meine Mutter die Tochter eines Bauern. Meine Mutter hatte noch drei Schwestern. Die beiden älteren Mädchen arbeiteten in der Landwirtschaft mit. Nach Beendigung der Volksschule, die damals acht Klassen umfasste, blieb meine Mutter auf dem Hof, um den Vater in der Landwirtschaft und die Mutter bei der Betreuung der beiden kleinen Mädchen, die neun Jahre jünger waren, zu unterstützen. Noch als erwachsene Frau schwärmte meine Mutter von der "schönsten Zeit ihres Lebens", als sie mit den Kühen über die Wiesen zog. Im Gras liegend, sah sie dem Wandern der Wolken zu. Wenn es von der Dorfkirche zu Abend läutete, trieb sie die Kühe, die sie liebevoll beim Namen nannte, zurück in den Stall. Im Alter von 19 Jahren verdingte sich meine Mutter bei einem jüdischen Zigarrenfabrikanten in Heilbronn als Dienstmädchen. Diese Zeit der Unabhängigkeit vom Elternhaus hat sie sehr genossen. Heilbronn war in den 1930er Jahren mit 60.000 Einwohnern schon eine große Stadt. Es gab Vergnügungsstätten wie Kinos, Tanzsäle, Theater und Varietés. Für das Mädchen vom Lande boten sich ungewohnte Verlockungen, denen sie zusammen mit einer Freundin, die auch Dienstmädchen war, nachging. Bei ihrem Tingeln durch die aufregenden Lokalitäten hielten die jungen Frauen sicher auch Ausschau nach einem Mann, den sie als Ehemann angeln konnten. Damals hatten die wenigsten Frauen einen erlernten Beruf, so dass die Versorgung in einer Ehe mit einem gut situierten Mann wichtig war. Als am 15. September 1935 die "Nürnberger Gesetze" erlassen wurden, die die deutschen Juden aus der Rechtsordnung ausschlossen, musste meine Mutter die "Stellung", wie man damals sagte, aufgeben. Juden war es den Rassengesetzen zufolge untersagt, "deutschblütige", "arische" Dienstmädchen unter 45 Jahren zu beschäftigen. Mit 21 Jahren kehrte meine Mutter in ihr Heimatdorf zurück. Dort lernte sie meinen Vater kennen, der in SA-Uniform mit dem Motorrad rasant durch das Dorf fuhr, um bei den Mädchen Pluspunkte zu sammeln. Das männliche Appetenzverhalten konnte durch die Attribute der SA eine deutliche Aufwertung erfahren. Der schnittigen Uniform und dem zackigen Habitus konnten die zivilen Dörfler wenig entgegensetzen. So wurde meine Mutter, Sophie Härtrich, die Braut von Ernst Werner. An Weihnachten 1938 fand die Verlobung statt.
Mein Vater arbeitete in der Ernsbacher Tischlerei Gebhardt, wo er die Gesellenprüfung ablegte. Als die Weimarer Republik, von der Weltwirtschaftskrise gebeutelt, ihrem Ende entgegentaumelte, kletterte die Arbeitslosigkeit auf schwindelerregende Höhen. Auch mein Vater wurde arbeitslos, weil der Tischlermeister keine Aufträge mehr bekam. Eines Tages kam ein LKW in unser Dorf, auf dessen offener Pritsche ein Trupp Braununiformierter saß. Eine Propagandaabteilung der SA (Sturmabteilung), einer Gliederung der NSDAP, rückte an. Die Braunhemden bauten eine Gulaschkanone auf und verteilten Erbsensuppe mit Wursteinlage an die Dorfbewohner. Danach spulten sie auf einer improvisierten Leinwand einen Propagandafilm ab, der die Aufmärsche der SA und die Reden Adolf Hitlers zeigte. Etliche junge Männer trugen sich in die ausliegenden Aufnahmelisten ein. Die meisten Neumitglieder waren Arbeitslose. So wurde auch mein Vater ein Nazi. Am Wochenende traf sich die SA-Gruppe zu sportlichen und paramilitärischen Übungen. In einem Steinbruch übten sie sich an Pistolen und Gewehren. Heute mutet es befremdlich an, dass damals keine Behörde einschritt und den in aller Öffentlichkeit zelebrierten Waffengebrauch untersagte. Die Hohenloher SA-Gruppe fuhr auch zu großen SA-Zusammenkünften, die den „Kameraden“ zeigen sollten, dass man es mit einer mächtigen und stetig wachsenden Bewegung zu tun hatte.
Mein Vater wurde 1939 in die Wehrmacht eingezogen. Schon im Herbst nahm er am Überfall auf Polen teil, 1940 dann am Krieg gegen Frankreich. Dort war er ein Jahr lang stationiert, bis seine Einheit mit einem Transportzug in den Osten Polens verfrachtet wurde, wo sie wochenlang für den Angriff auf Russland trainierte, der am 22. Juni 1941 begann. Sein Infanterieregiment gehörte zur Heeresgruppe Mitte, die in Hitlers Feldherrnplänen dazu bestimmt war, Moskau einzunehmen. Im kalten Winter 1941/42 wurde mein Vater in der Nähe von Smolensk - kurz hinter der Grenze zu Belarus – schwer verwundet. Bei einem Gefecht drang ein Granatsplitter in seinen Kopf ein, was zu einer Teillähmung der linken Körperseite führte. Außerdem verlor er ein Auge. Von einem Kameraden wurde er vor dem Tod durch Erfrieren oder Verbluten gerettet. Er schleppte ihn mühsam von der Front zurück zum Verbandsplatz. Von dort wurde er nach einer Erstbehandlung mit einer Junkers 52 nach Königsberg ausgeflogen und im dortigen Krankenhaus operiert. Einige Wochen später kam er dann nach Nürnberg, wo er im Lazarett bis zu seiner Entlassung aus der Wehrmacht behandelt wurde. Insgesamt brachte er fast ein ganzes Jahr in Lazaretten zu.
Ich habe meinen Vater auf die Verbrechen der Wehrmacht angesprochen, über die ich in Büchern gelesen hatte. Von der Erschießung von Juden und polnischen und russischen Zivilpersonen durch die Sonderkommandos der SS und die Wehrmacht will er nichts gesehen oder gehört haben. Im Nachlass meines Vaters habe ich seine Orden gefunden. Darunter das Eiserne Kreuz (EK), das goldene Verwundetenabzeichen und die „Medaille Winterschlacht im Osten 1941/42“, die die Soldaten ironisch „Gefrierfleischorden“ nannten. Sie spielten damit auf die eisigen Temperaturen an, die sie im russischen Winter zu ertragen hatten. Ich erbte auch ein Fotoalbum mit der eingravierten Inschrift „Meine Kriegserinnerungen“. Darin fand ich ein Foto, das einen Galgen zeigt, an dem sieben Menschen hängen, darunter zwei Frauen. Auf ihre Kleidung ist ein Judenstern aufgenäht. Ein am Galgen angebrachtes Schild trägt auf Deutsch und Russisch die Inschrift: „Diese Juden haben gegen die deutsche Wehrmacht gehetzt.“ Wenn mein Vater oder ein Kamerad das Foto gemacht hat, wäre es zumindest ein Indiz dafür, dass die Wehrmacht oder die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei diese Morde begangen haben. 1995 kam in der Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung ans Licht, dass die Wehrmacht an der praktischen Umsetzung des Holocaust in Osteuropa aktiv mitgewirkt hat. Meinen Vater habe ich mit Rücksicht auf sein hohes Alter und seine schwere Kriegsverletzung nicht mehr mit diesen Tatsachen konfrontiert.
Die Rettung durch einen Regimentskameraden hat sich bei ihm tief eingebrannt. Nach dem Krieg besuchte er die Kameradschaftstreffen seines Regiments, wenn sie in Baden-Württemberg stattfanden. Einmal habe ich ihn zu einem solchen Treffen begleitet. Soweit ich mich daran erinnere, waren die Kameradschaftstreffen frei von nationalistischer Ideologie und Heldenmythos. Die meisten der Anwesenden waren vom Krieg schwer gezeichnet, hatten Gliedmaßen verloren oder waren blind. Bei einem solchen Treffen kaufte mein Vater ein Buch, das die Geschichte seines Regiments schilderte. Als ich es las, fiel mir auf, dass der Krieg vornehmlich als anspruchsvolle Handwerkstechnik geschildert wurde, die man möglichst perfekt ausübt und bei der es wie im Sport um Sieg oder Niederlage geht. Die Dimension des rassistischen Vernichtungskrieges, den die Nationalsozialisten führten, wurde völlig ausgeblendet. Mit dieser Lesart wollten die Ex-Soldaten der Wehrmacht ihre Soldatenehre retten.
Der Krieg hat in der Familie meines Vaters weitere Opfer gefordert. Seine Schwester Martha kam am 4. Dezember 1944 beim Bombenangriff der britischen Royal Air Force auf Heilbronn ums Leben. Sie war 33 Jahre alt. Der Feuersturm war so gewaltig, dass man den Feuerschein noch im 40 km entfernten Ernsbach am nächtlichen Himmel flackern sehen konnte. 6.500 Menschen fielen dem Luftangriff zum Opfer. Da der Heilbronner Hauptfriedhof die große Zahl der Opfer nicht aufnehmen konnte, wurde im Köpfertal, einem heutigen Naturschutzgebiet, ein neuer Friedhof angelegt. Dort wurden die Opfer in sieben anonymen Massengräbern bestattet. Auf diesem „Ehrenfriedhof“ findet jedes Jahr am Tag des Bombenangriffs eine Gedenkfeier statt.
Ein Bruder meines Vaters, Gottlieb, fiel am 30 April 1946, eine Woche vor Kriegsende, in Dessau (Sachsen-Anhalt), als er in einem Truppentransportzug zur Ostfront unterwegs war. Britische Flugzeuge bombardierten den Zug und zerstörten Gleise und Bahnhof. Vergeblich hatten meine Eltern den Onkel zu überreden versucht, das nahe Kriegsende in einem Versteck abzuwarten. Bei Westwind „Es kommt einem das Grausen an, wie sich das deutsche Volk – man selbst mit inbegriffen – von dieser Verbrecherbande jahrelang hat nasführen lassen! Möge uns aus dem kläglichen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems, ohne jede Würde und ohne Mut und Haltung, nach all den großmäuligen Sprüchen, etwas wirklich Besseres in der Zukunft beschieden sein.“