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Lothar Englert

Ostfriesisches Komplott

Mieke Janßen zieht durch

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Zum Buch

Schmutziges Geld Drei Morde erschüttern die ostfriesische Stadt Aurich. Als die Kommissarin Mieke Janßen nach den Hintermännern der Taten sucht, stößt sie auf eine Wand aus Schweigen, die ein Komplott schützen soll, eine Verschwörung, die bis in die Spitzen der Stadt reicht. Die grauenhaften Vorfälle scheinen zudem eine merkwürdige Verbindung zu haben – zur künftigen Verwendung des ehemaligen Kasernengeländes in der Stadt Zur gleichen Zeit verbreiten sich Gerüchte über fast obszön anwachsenden Reichtum bei städtischen Eliten. Man hört von frisch gekauften Residenzen in Südeuropa und sogar von Landbesitz in Übersee. Neue Luxuskarossen werden stolz gezeigt, ungeniert plaudert man öffentlich über kürzlich erworbene Vermögen, was das Gerede zusätzlich nährt. Die Kommissarin wird argwöhnisch, sie vermutet Zusammenhänge und bohrt nach. Dabei stößt sie auf Widerstand: Sie wird bedrängt und unter Druck gesetzt, sieht sich mit der Drohung konfrontiert, ihre eigene Karriere aufs Spiel zu setzen. Doch Mieke Janßen lässt sich nicht beirren. Wird es ihr gelingen, das kriminelle Konstrukt zu enttarnen?

Lothar Englert ist in Brühl bei Köln geboren und lebt seit vielen Jahren in Aurich/Ostfriesland. Er war Berufsoffizier, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Neben Satiren, Gesellschafts- und Kriminalromanen hat er vor allem historische Romane veröffentlicht. Besondere Beachtung fand seine dreibändige Ostfriesland-Saga, deren erster Band auf der Spiegel-Bestsellerliste stand. Mit „Ostfriesisches Komplott“ wirft er erneut einen Blick hinter die Kulissen seiner Wahlheimat Ostfriesland.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © rphfoto / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6972-5

Widmung

Für Mieke

 

 

Prolog

Er kennt die Strecke genau, ist sie mehrmals in Ruhe abgegangen. Es gibt hier viele Stellen, die für seinen Zweck geeignet sind. Er braucht eine, die verwinkelt liegt und schwer einsehbar ist. Ein langer, gerader Abschnitt kommt nicht infrage, die Gefahr, beobachtet zu werden, ist zu groß. Eine doppelte Kurve, ein Stück, in dem sich der Weg zweimal windet und der Bewuchs am Rand recht hoch ist, erscheint ideal und er findet sie ohne Schwierigkeiten.

Er weiß auch, wann sein Opfer dort läuft. Jeden Dienstag und jeden Freitag am späten Vormittag ist der Mann unterwegs. Er ist nicht mehr jung, joggt gemütlich, es wird keine Schwierigkeiten machen, ihn zum Stehen zu bringen. Und der Rest wäre nur noch Überwindung, kein Kinderspiel, aber versüßt durch den Nervenkitzel der Tat, die er schon oft in seiner Fantasie durchgespielt hat. Die Vorstellung fasziniert ihn jedes Mal, er spürt dann ein leichtes Brennen in seiner Kehle, ein Gefühl, das er als Kind immer empfunden hat, wenn er mit Soda versetzte Limonade trank. Über die Berechtigung hegt er keinerlei Zweifel; der Mann hat den Tod verdient. Er erfüllt dafür alle Voraussetzungen: Er ist reich, hat Einfluss in der Stadt und ist ein arrogantes Schwein, einer, der seinesgleichen kaum ansieht, geschweige denn das Wort an ihn richtet. Außerdem lautet sein Auftrag, den Ukena kaltzumachen. Umzulegen. Möglichst geräuschlos, unauffällig, und das ist kein Hindernis. Nicht das geringste. Im Gegenteil. Gerne macht er das.

Als der Tag kommt, ist er ruhig. Er hat gut geschlafen, steht zeitig auf und frühstückt ausgiebig. Dann bereitet er sich vor, achtet auf dunkle und derbe Kleidung und festes Schuhwerk mit glatter Sohle. Auf den Kopf setzt er eine dunkle Sportmütze. Das graue Klebetape schiebt er in eine innere Brusttasche, die lange Klinge steckt in einer Lederscheide unter der Jacke. Am frühen Vormittag macht er sich mit dem Fahrrad auf den Weg. Er nähert sich der ausgewählten Stelle von einem Stichweg. Dazu muss er das Fahrrad ein Stück durch den Wald tragen. Die Bäume stehen hier nicht besonders dicht, es gelingt ohne Mühe. Er lässt das Fahrrad ein paar Schritte abseits im Gesträuch liegen. Dann streift er die Handschuhe über, hockt sich hin und wartet. Irgendwann ist es so weit. Er hört das Schnaufen und die Schritte seines Opfers schon von Weitem. Der Waldweg ist mit Splitt und Schotter belegt. Die Steine knirschen und spritzen von den Füßen. Er passt den Moment perfekt ab, genau im richtigen Augenblick tritt er auf den Weg. Das Opfer stutzt, verhält seinen Schritt, will ausweichen. Er folgt der Bewegung des Mannes, bis der stehen bleiben muss. Dann zieht er das Stilett. Der Mann wankt und glotzt, er atmet schwer. »Was …?«

Als er ihm das Messer in die Brust stößt, ist nur ein schmatzendes Geräusch zu hören, ein seltsames Fauchen und Seufzen, er muss noch lange darüber lächeln. Dann zieht er sein Opfer ins Gebüsch und wundert sich, wie leicht der Mann ist. Er hockt sich hin und wartet eine ganze Weile. Die Leiche stinkt ein wenig, ihm scheint, nach Schweiß, aber er glaubt auch Fäkalgeruch zu erschnuppern. Es macht ihm nichts aus. Er kauert und lauscht, alles ist ganz friedlich. Vögel zwitschern, Bienen summen, plötzlich hat er den zarten Geruch von wilden Veilchen in der Nase. Er liebt Blumen, ihren Duft kennt er durch seine Arbeit. Ein Gefühl tiefer Harmonie erfüllt ihn. Der Tote im Gras stört dabei nicht. Er wirft einen zufriedenen Blick auf die Leiche, die gebrochenen Augen, das Gesicht ist erstarrt in einer grotesken Mischung aus Staunen, Schreck und Schmerz. Es ist gut, er hat alles richtig gemacht. Seine Spannung löst sich rasch, der Puls geht ruhig. Nun hat er Muße, seine Tat zu vollenden. Die Schnitte setzt er mit sicherer Hand an, er wundert sich selbst, wie geübt sie erscheinen. Dann zieht er das graue Tape aus der Tasche. Endlich richtet er sich auf und betrachtet sein Werk. Perfekt. Es ist alles genau so, wie er es sich vorgestellt hat. Er spielt mit dem Gedanken, sein Opfer unter Zweigen zu verbergen, doch dann lässt er es. Ukena soll ja gefunden werden – nicht sofort zwar, aber er will, dass man ihn zeitig genug findet. Man soll das Schwein noch erkennen können, auf den ersten Blick.

Auf dem Rückweg trifft er keinen Menschen. Erst später, auf dem Dünenweg, kommt ihm eine Fußgängerin entgegen. Er grüßt sie freundlich und überlegt später, dass das vielleicht ein Fehler gewesen ist. Aber wirkliche Sorgen macht er sich nicht. Zu Hause stopft er Jacke und Hose in die Waschmaschine und wählt das Kochprogramm. Später wird er sie in die Graue Tonne entsorgen. Vorher wird er die Bekleidung chemisch reinigen lassen. Er weiß nicht, ob das wirklich nötig gewesen ist, aber er findet es professionell. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Es ist eben zwölf. Zeit genug für ein ausführliches Mittagessen, bevor er zur Arbeit geht. Seine Schicht beginnt um zwei.

1.

Das erste Opfer

»Wer tut denn so was?« Miekes Stimme versickert in der Kühle des frühen Vormittags. Die Oberkommissarin ist tief entsetzt. Grund dazu hat sie, aber man kann ihre Frage trotzdem seltsam finden. Von den Männern der Spurensicherung antwortet deshalb niemand, sie arbeiten verbissen weiter.

»Psychopathen. Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben. Irre halt«, grunzt schließlich einer. »Geh’n Sie doch mal weg, Frau Kollegin«, fordert er dann, »da ist noch etwas Blut.«

Mieke Janßen tritt noch weiter zurück, aber ihre Augen bleiben auf der Leiche. Albert Ukena, Immobilienmakler aus Aurich. Ein geachteter Bürger der Stadt, im letzten Jahrhundert hätte man ihn noch als Patrizier bezeichnet, als einen der Honoratioren. Gediegen. Erfolgreich. Wohlhabend. Sehr wohlhabend. Besitzer einer eleganten Agentur am Marktplatz und mehrerer Häuser in der Innenstadt. Großer Benz, Yacht, Villa in der Toskana, die ganze Klaviatur. Nun liegt er da, in seinen besten Jahren erstochen, mit einer dünnen langen Klinge. »Stilett oder so«, sagt der Arzt, »irgendein schmales Stecheisen. Soweit man jetzt sehen kann.«

Der Fundort liegt einige 100 Meter tief im Wallinghausener Wald, aber abgelegen ist er nicht. Er befindet sich wenige Schritte neben einer markierten Joggingstrecke. Der Tote ist dort wohl gelaufen. Man hat ihn abseits ins Gesträuch gezogen, ob postmortal oder lebend ist noch unklar. Spuren eines Kampfes gibt es jedenfalls nicht. Weder im Gesträuch, was darauf schließen lässt, dass Ukena schon tot war, als man ihn hier abgelegt hat, noch auf dem Weg. Dort liegt Schotter und Splitt, es gibt lose Steine, doch sie geben nichts Auffälliges her.

Die Stichwunde in der Brust ist klein, wohl tief, viel Blut ist trotzdem nicht ausgetreten. Als Ukena gefunden wird, ist sein Kopf mit einem grauen Klebeband umwickelt, einem Tape, wie man es im Baumarkt findet. Das Band verdeckt die Augen. Sie lösen es vorsichtig, weil ihnen Übles schwant. Und richtig: Die Augen sind ausgestochen.

Mit derselben Klinge?

Der Arzt hebt die Schultern. Möglich wäre es. Ohne die Tatwaffe zu sehen, sei es aber schlecht zu beurteilen. Höchstens näherungsweise. Genaueres müsse die Untersuchung der Gerichtsmedizin ergeben. Auf jeden Fall war das Messer scharf wie eine Rasierklinge. Es sei noch zu früh, um das zu sagen. Der Arzt mutmaßt knapp und in geknurrten Satzfetzen.

Über die dürren Worte des Mediziners verliert der Anblick kaum von seinem Schrecken; unter den Tränensäcken des Toten finden sich kleine öffnende Sichelschnitte. Lederhaut und Netzhaut sind sauber durchtrennt und die Glaskörper ausgelaufen. Unter leeren Augenhöhlen liegen die Linsen wie winzige Scheiben in kleinen Geleepfützen. Die Joggingstrecke ist abgesperrt, den Fundort der Leiche hat man großzügig trassiert und mit einem Wetterzelt abgedeckt. Die Spurensicherer bewegen sich vorsichtig darin, mit ihrer weißen Schutzbekleidung sehen sie aus wie verirrte Wintersportler.

Der ihn gefunden hat, steht abseits auf dem Weg und raucht wie ein Schlot. Mieke lässt ihn rauchen, es hat viel geregnet, der Wald ist nass. Sein Hund liegt neben ihm im feuchten Gras. Er geht diesen Weg mehrmals in der Woche, sagt der Mann.

Ist er heute jemandem begegnet?

Nicht direkt. Einen Reiter habe er gesehen, aber nur kurz und von Weitem, er sei nach Norden abgebogen, dort liegt ein Reitstall mit Einstellpferden.

Die Oberkommissarin fasst den Spaziergänger ins Auge. Dann wagt sie einen Schuss ins Blaue: »Die Leiche war noch warm. Es kann kaum angehen, dass Sie nichts gesehen haben.«

Der Mann zieht hastig an seiner Zigarette. »Ich? Gesehen? Ich habe überhaupt nichts gesehen. Kein Stück. Wenn der Hund nicht gewinselt hätte, wäre ich glatt an der Stelle vorbeigelaufen.«

»Der Hund hat also angeschlagen?«

Er schüttelt den Kopf. »Angeschlagen? Das habe ich nicht gesagt. Gewinselt hat er.«

»Und dann?«

»Hat er sich hingesetzt. Und nichts mehr gemacht.«

»Sie! Was Sie getan haben, will ich wissen.«

Er wirft die Kippe zu Boden und tritt sie aus. Tastet dann nach seiner Brusttasche, eher er die Hand zurückzieht. »Ich? Getan? Sie machen mir Spaß. Ich finde hier einen Toten und Sie tun so, als hätte ich ihn auf dem Gewissen.« Er zögert einen Augenblick, dann zieht er doch seine Zigaretten aus der Tasche und zündet sich eine neue an. Die Oberkommissarin wartet. »Der Hund wollte nicht weiter. Keinen Schritt. Er saß da und peilte ins Gebüsch. Da bin ich halt rein. Und dann habe ich die Leiche gefunden.« Er führt die Zigarette an den Mund, seine Hand zittert. »Ich bin mit den Nerven parterre. Mein Tag ist versaut, das können Sie glauben.«

Mieke sieht hinüber zum Fundort der Leiche, wo der Arzt soeben seinen Koffer schließt. Die Kollegen vom Erkennungsdienst sind noch emsig bei der Arbeit. »Und dann? Was genau haben Sie gesehen?«

Der Mann zieht die Nasefeuchte hoch, es klingt fast so, als hätte er geheult. »Gesehen? Was denn wohl? Ein Riesenrad auf der Auricher Kirmes? Eine Leiche. Mit einer blutigen Brust.«

»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«

Der Mann schnaubt. »Aufgefallen?«, echot er. »Glauben Sie denn, ich sehe jeden Tag einen Toten? Nein, Frau Kommissar, mir ist sonst nichts aufgefallen.« Er betont ihren Rang auf ironische Art. Mieke wendet sich ab.

Jetzt tritt der Arzt auf den Weg. »Bericht kommt. Die Leiche wird gleich abgeholt.«

Sie sieht ihn an. »Haben Sie noch etwas gefunden?«

Er zögert einen Moment, sein Blick wandert zwischen ihr und dem Zeugen hin und her. »Nein. Was ich zu sagen habe, steht dann im Bericht.« Er nickt und geht.

»Moin, Frau Janßen.« Der Zeuge will sich anschließen, er ruckelt an der Hundeleine, sein Bello kommt auf die Beine.

»Und dann haben Sie die Polizei angerufen?«, nimmt Mieke die Befragung wieder auf.

Darauf gibt der Mann keine Antwort. Er sieht sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Kann ich jetzt gehen?«

»Haben Sie dann die Polizei angerufen?«, herrscht sie ihn an. »Hören Sie mal, Herr Schmalfuß, ich frage nicht zum Spaß. Und Sie antworten gefälligst!«

Die Kollegen vom Erkennungsdienst sehen neugierig herüber.

»Vielleicht liegt es an Ihren Fragen?«, vermutet Schmalfuß aufsässig, und nun ist ihre Geduld erschöpft. Das sagt sie ihm auch.

»Das machen wir jetzt anders. Sie kommen morgen früh in mein Büro. Hier ist meine Karte. 8 Uhr sind Sie bei mir. Moin, Herr Schmalfuß.«

Er öffnet den Mund und will etwas erwidern. Dann sieht er ihre Augen und lässt es. Er steckt die Karte ein, nimmt seinen Hund und zuckelt davon.

Mieke Janßen verlässt den Waldweg und tritt an die Absperrung des Fundortes der Leiche. Einen Moment sieht sie den Kollegen bei der Arbeit zu. Die Seitenwände des Wetterzeltes sind hochgeschlagen. Nur drei Beamte halten sich darunter auf, mehr wäre abträglich, es sollen ja keine unnötigen Spuren hinzugefügt werden. Aus diesem Grund sind auch zwei Pfade angelegt, auf denen sich die Polizisten bewegen. Jede doch erforderliche Veränderung am Platz wird protokolliert, es wird auch festgehalten, wer sie durchgeführt hat. »Wie sieht es aus, Jupp?«, fragt Mieke.

Der Oberkommissar hebt den Kopf. Eigentlich heißt er Johann, Johann Dierks, aber jeder nennt ihn Jupp. Den Grund kennt niemand mehr. Angeblich hängt er damit zusammen, dass Dierks ein Riesenfan des rheinischen Karnevals ist und jeden Rosenmontag nach Köln fährt. »Standard, Mieke«, sagt Jupp jetzt nüchtern. Dann lacht er meckernd. »Blut und etwas Dreck. Dann das Übliche. Blasen- und Darmentleerung ante mortem, aber das hat dir der Doktor bestimmt schon gesagt. Man hat’s ja auch gerochen.«

Mieke hat nichts gerochen und der Arzt hat darüber kein Wort verloren. Sie gibt Jupp keine Antwort. Tritt zurück auf den Waldweg und mustert den Boden. Geht auch ein paar Schritte auf und ab. Die Stelle liegt in einer Kurve. Sie ist von keiner Seite einsehbar. Ein perfekt gewählter Platz für einen Mord – so scheint es zumindest.

2.

Der Bürgermeister erhält einen Anruf

Bachmann kommt. Bachmann ist der Bürgermeister. Darüber hinaus ist er der Star der ostfriesischen Politik. Nicht nur ein Mann von ungeheurer Popularität, sondern der Cicero der kommunalen Selbstverwaltung. Genie in allen Fragen der Erhebungs- und Ertragshoheit. Unerreicht im durchaus maßvollen Jonglieren mit Gebühren, Steuern und Beiträgen. Ein ausgewachsener Tiger, wenn es darum geht, das Prinzip der Subsidiarität zu verteidigen. Der Bürgermeister kommt früh ins Rathaus. Bachmann ist immer früh. Lässig, mit elegantem Schwung nimmt er die Stufen zur oberen Etage. Seine Schritte federn, als er über den Korridor seinem Büro zustrebt. Um diese Zeit arbeitet kaum jemand, aber das macht nichts. Bachmann liebt seine »blaue Stunde«, sie hat etwas Frisches, Jungfräuliches. Bachmann öffnet die Glastür in den Abschnitt, den er gerne »Beletage« nennt. Das Elysium. Den Olymp. Die Residenz der herrschenden Klasse. Bachmann schreitet jetzt. Er geht nicht in sein Büro, er nimmt es in Besitz wie ein regierender Fürst sein Reich. So betritt ein Staatsschauspieler die Bühne. Bachmann kommt. Frau Vossen ist schon da, seine Sekretärin. Bachmann sagt: »Moin«, und lächelt freundlich. Er reicht seinem Vorzimmer die Hand wie ein Kardinal den Ring zum Kuss.

Frau Vossen lächelt nicht. »Da war ein Anruf«, sagt sie. »Von Herrn Christoffers. Er bittet um Rückruf.«

Bachmanns Miene wird einen Moment starr, ehe sie sich wieder lockert. »Christoffers? Um diese Zeit? So ein Schlingel!« Sein Lächeln kehrt zurück, aber die Augen sind jetzt frostig. Er geht in sein Büro und schließt die Tür hinter sich. Sonst steht sie vielfach offen. Bachmann sagt dazu, er wolle damit zeigen, dass er für seine Bürger jederzeit ansprechbar sei, aber tatsächlich will er sehen, wer draußen vorbeiläuft. Er zieht sein Handy und wählt eine Nummer. Der Angerufene meldet sich ohne Namen, auch Bachmann nennt seinen nicht. Man hört, wie ungehalten er ist. »Du hast angerufen? Auf meinem Festnetzanschluss. Wir hatten es anders abgesprochen. Ausdrücklich!« Dann lauscht er. Seine Augen weiten sich. Er setzt sich schwer in einen Sessel. »Wer? Albert Ukena?«

»Ja, Albert.«

»Ermordet?«

»So sieht es aus, ja.«

Bachmann atmet tief aus, dann holt er Luft. »Wie? Erschossen?«

»Nein, mit einem Messer.«

»Wo? In seinem Haus etwa?«

Nein, sagt Christoffers, im Wald von Wallinghausen.

Der Bürgermeister erhebt sich steif aus dem Sessel. Auf seiner Stirn stehen plötzlich winzige Schweißperlen. »Nicht mehr am Telefon. Wir müssen uns treffen. Sofort. Sag den anderen Bescheid. Ja, so wie immer.«

So wie immer. Ein Auricher Café in der Innenstadt. Sie haben hier einen Stammtisch, der ständig für sie reserviert ist. Der Tisch steht abgesondert in einer Ecke auf einer kleinen Empore, man kann ungestört reden. Ein Treffen unter Männern aus der Elite der Stadt – der Bürgermeister, wohlhabende Geschäftsleute, reiche Ruheständler. Als Bachmann eintrifft, ist Jan Christoffers schon da. Hockt nervös hinter einem doppelten Espresso, extra stark. Sie benicken sich schweigend. Bachmann ordert Tomatensaft mit Pfeffer, den trinkt er immer, wenn er hier sitzt. Christoffers will anfangen zu reden, doch der Bürgermeister hebt die Hand. »Hast du alle erreicht?«

»Alle. Außer Albert.«

Albert, das ist Ukena, der Tote. Bachmann verzieht mürrisch das Gesicht. Wenn das ein Scherz sein soll, dann gefällt er ihm nicht. Auch Christoffers gefällt ihm nicht. Der Mann ist Besitzer eines alteingesessenen Kaufhauses und hält große Anteile an einer Leeraner Reederei, aber jetzt gleicht er einem verängstigten Schuljungen. Er zappelt und ruckelt auf seinem Stuhl. »Verlier jetzt bloß nicht die Nerven, Mensch!«, zischt Bachmann, und als der andere den Mund öffnet, knurrt er ihn an: »Ruhe. Wir warten auf die anderen!«

Die Bedienung bringt den Tomatensaft, sie sagt etwas von »außer der Reihe« und bittet um Nachsicht für die Wartezeit.

Bachmann nickt und dankt mit einem freundlichen Lächeln. Er hat sich wieder voll im Griff.

Nach und nach trudeln die anderen ein. Justus Nowack, ein Bauunternehmer, staubig und ungepflegt wie so oft. Tjarko Joosten, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater mit eigener Kanzlei. Joosten ist kreidebleich und schwitzt, er weiß schon Bescheid, er weiß oft etwas vor allen anderen. Günter Müller, der leitende Direktor der Ostfriesischen Creditbank. Berthold Krang, Eigner der »Auricher Rundschau« in dritter Generation, einer, der in der Stadt die Meinungen macht. Und schließlich Harm Bendichs, ein Großbauer vom Stadtrand. Harm hat reich geheiratet. Ihm gehören die größten und besten Flächen im Umkreis, zudem besitzt er einen riesigen Ferienhof in der Krummhörn. Sie warten schweigend, bis die bestellten Getränke kommen. Joosten trinkt als Einziger nichts, er sagt, er hat keinen Durst. Bürgermeister Bachmann missfällt das, er wirft ihm einen scharfen Blick zu. Als sie allein sind, stößt er Christoffers an. »Los. Aber leise!«

Christoffers erzählt stockend. Er redet heiser in abgehackten Sätzen. Lange braucht er nicht, dann ist er zu Ende. Joosten schwitzt und nickt zu jedem Wort. Die Sache ist in seiner Kanzlei schon rund, eine Mitarbeiterin hat etwas aufgeschnappt.

»So!«, sagt Bachmann, als Christoffers fertig ist. »Und woher weißt du das?«

»Lisa hat mich angerufen. Uns. Sie war völlig fertig und wir sind es auch«, sagt der andere mit schwankender Stimme. Lisa, das ist Ukenas Frau, jetzt seine Witwe. Ukenas und Christoffers haben privaten Kontakt, so wie ihn viele aus diesem Kreis miteinander haben. »Wir sind dann sofort hingefahren«, fährt Christoffers fort, »meine Frau und ich. Sofort. Lisa hat nur geweint. Sie konnte kaum reden. Aber was ich weiß, ist, dass sie Albert massakriert haben. Er muss viehisch ausgesehen haben. Viehisch. Wie hingerichtet.«

Betroffenes Schweigen in der Runde. Schließlich wischt sich Justus Nowack über seine staubige Hose. »Es wird eben viel gequatscht. Gerade bei solchen Sachen«, knurrt der Bauunternehmer.

»Bei solchen Sachen? Was soll das denn heißen, Mann? Albert ist ermordet worden!«, schießt Christoffers hoch.

»Ja, Mensch. Aber vielleicht hat er selbst …«, setzt Justus Nowack an, ehe ihn ein warnender Blick des Bürgermeisters stoppt. Doch dann fährt er fort: »Albert hatte schon immer ein loses Maul, das wissen wir alle!«

»Ist doch kein Grund, ihn abzustechen wie eine Sau!«, versetzt der andere.

Bachmann fährt dazwischen wie ein gereizter Tiger, obwohl seine Stimme gedämpft bleibt. »Ruhe jetzt. Wir warten ab. Ihr tut nichts, habt ihr verstanden? Nichts tut ihr. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Ihr alle haltet die Schnauze. Und reißt euch bloß zusammen, verdammt noch mal, vor allem du, Jan!« Er funkelt Christoffers so scharf an, dass der sofort den Blick senkt.

Bachmann ruft die Bedienung, sie zahlen ihre Rechnungen und gehen. Der Bürgermeister marschiert mit festen Schritten, einige der anderen schleichen sich davon. Vor allem Christoffers sieht bedrückt aus. Das bemerkt sogar die junge Frau aus dem Service. Nachdenklich folgt sie dem Reeder und Kaufhausbesitzer mit ihrem Blick. Auch Bachmann fällt es auf. Draußen vor der Tür nimmt er den Mann noch einmal scharf ins Gebet. »Deine alberne Zappelei macht alles nur noch schlimmer«, zischt er ihm zu. »Sieh dich vor, Jan, ich rate dir gut. Sieh dich vor und nimm dich zusammen, sonst fliegt uns der ganze Laden noch um die Ohren, verdammt!« Sonst bist du der Nächste, liegt ihm eigentlich auf der Zunge, aber er schluckt es hinunter. Man muss nicht noch Öl ins Feuer gießen. Schon überhaupt nicht bei diesem Flatterheini.

Er lässt ihn stehen und eilt zurück in sein Büro. Diesmal schreitet Bachmann nicht, er fliegt die Rathausstufen hinauf wie ein Sturmtrupp einen feindlichen Hügel. Erst oben, auf der Beletage, verlangsamt er seinen Schritt. Frau Vossen ist nicht da, sie macht Frühstückpause. Das hatte er jetzt nicht im Kopf. Er geht in sein Büro und schließt die Tür. Dreht sogar den Schlüssel im Schloss. Seine Gedanken rasen. Vielleicht ist ja alles nur ein monströser Zufall. Vielleicht hat dieser Vorfall ja überhaupt nichts mit ihrer Sache zu tun. Vielleicht, vielleicht. Er zieht das Handy und wählt die Nummer. Der andere nimmt das Gespräch sofort an. Es geht so rasch, man könnte denken, er hat auf den Anruf gewartet. »Ja?«

»Ich bin’s«, sagt Bachmann.

»Ja?«

»Ukena«, sagt Bachmann, nur dieses eine Wort, und dann ist es auf der anderen Seite lange still.

»Ja?«

»Er ist tot. Ermordet«, sagt Bachmann dumpf. Noch immer hofft er auf ein planloses, ja irres Zusammentreffen Ukenas mit seinem Mörder, doch der andere wischt jede Hoffnung mit einem Satz zur Seite.

»Es war nötig.«

Bachmann spürt sein Herz in der Brust. Es hat einen Hüpfer gemacht und klopft jetzt heftig. Er fängt an zu schwitzen. »Es war nötig?«

»Er hat geplaudert. Beim Stammtisch und im Freundeskreis«, sagt der andere dürr. »Du kennst die Regeln. Wer Mist macht, ist draußen. So haben wir es vereinbart.«

Ja, denkt Bachmann, das haben wir vereinbart. Wer Mist macht, ist draußen. Aber doch nicht so! Doch nicht, wer Mist macht, ist tot. Laut sagt er: »Geplaudert? Woher weißt du das?«

»Ich weiß es. Das genügt«, sagt der andere.

»Und der Täter? Wer …«, setzt der Bürgermeister an, doch der andere fängt ihn ab.

»Das geht dich nichts an«, sagt er grob. Dann fragt er: »Was hast du in dieser Sache unternommen?«

Bachmann lauscht diesen Worten nach. Unternommen? In dieser Sache? Ich? »Ich habe die anderen zusammengetrommelt und vergattert«, antwortet der Bürgermeister kurz.

»Gut!«, hört er, »sieh zu, dass sie den Mund halten.« Und dann, nach einer Pause, sagt der andere: »Reden ist Gift, das weißt du. Vielleicht hätten wir uns die Leute besser aussuchen sollen?«

Das ist ein eindeutiger Vorwurf, denn er, Bachmann, hat die Leute ausgewählt. Schon vor Monaten hat er sein Umfeld beobachtet. Wer ist vertrauenswürdig? Wer hat genügend Geld? Wer ist, wenn es Not tut, verschwiegen genug? Er ist der Mann, der den Kreis festgelegt hat. Und dann die Leute angesprochen hat, einen nach dem anderen, in Einzelgesprächen, mit deutlichem Hinweis auf den erwartbaren Gewinn. Und auf das Risiko. Das war er. Bachmann. Anscheinend hat er dabei mindestens einen Fehler gemacht, so lautet jedenfalls die Rüge des anderen, auch wenn sie unausgesprochen bleibt. Der Bürgermeister nickt und will schon antworten, aber der andere hat die Verbindung abgebrochen. Draußen hört er Frau Vossen am Telefon, sie ist zurück von ihrer Frühstückspause. Er zählt langsam bis zehn, eher er behutsam den Schlüssel im Türschloss dreht. Atmet dann tief durch und öffnet mit einem Ruck fröhlich die Tür. Bürgermeister Bachmann ist wieder der Alte. Zumindest äußerlich.

3.

Die Arbeit beginnt

Mieke Janßen nimmt einen großen Schluck Tee aus ihrer Tasse. Sie wirft dem Kollegen Günter von der Spurensicherung einen forschenden Blick zu. Die beiden reden über den Täter, den Mann, der Albert Ukena erstochen und ihm die Augen aus den Höhlen geholt hat. Und über seine Signatur am Tatort. Da ist doch einer gewesen. Der Mörder. Also ein Mensch. Einer, der geatmet und gedünstet, vielleicht geschwitzt oder, wenn er dumm gewesen ist, ins Gebüsch gespuckt hat.

»Na? Was sagt der große Fährtenleser? Der amtierende Weltmeister unter den Spionen und Kundschaftern?«

Günter beantwortet den Blick aus trägen Augen unter schweren Lidern. Er ist selten zu Scherzen aufgelegt, heute schon gar nicht. »Was der sagt? Nichts sagt der. Kein Stück. Weil er nichts gefunden hat.«

Also ist der Täter nicht dumm gewesen. Die Oberkommissarin beugt sich trotzdem vor. »Wie denn? Nichts? Kein Hautfetzchen? Kein Schweiß, kein Tropfen von irgendwas? Das gibt’s doch nicht!«, entfährt es ihr.

»Nichts, rein gar nichts. Der hat noch nicht mal gefurzt.«

»So? Woher weißt du das?«

»Es hat nicht danach gerochen«, sagt Günter spröde und seine Lider senken sich zu einem schmalen Spalt.

Das sollte wohl lustig sein, oder zumindest das, was der Kollege in seiner kruden Art für humoristisch hält. Mieke kann es aber nicht komisch finden. Sie streicht ihr blondes Haar zurück. »Und das Tape? Das um die Augen gewickelt war?«

»Kannst du für ein paar Euro in jedem Baumarkt finden.« Gelangweilt zählt Günter die Baumärkte auf, bis ihn die Oberkommissarin unterbricht.

Sie lehnt sich zurück, in ihrer Hand dreht sich der Bleistift. »Schlechter Tag?«

»Kaum schlechter als alle anderen«, sagt der Kollege leicht bissig. Günter schielt auf Miekes Teetasse, sie sieht es und will ihm einschenken, aber er schüttelt den Kopf. »Das sind die dürren Fakten, gewöhne dich daran. Der Täter hat absolut nichts hinterlassen. Er hat wohl feste Kleidung getragen, kein auffälliges Schuhwerk. Er hat weder geschwitzt noch ins Gebüsch gespuckt. Was er gesagt hat, wissen wir nicht.« Wieder so ein galliger Scherz. Günter steht auf. »Ist noch was? Jetzt sofort?«

Die Oberkommissarin schüttelt den Kopf.

»Bericht kommt«, murmelt Günter und geht zur Tür. Der Mann ist seit Jahren frustriert. Er wartet auf die Beförderung, die irgendwo zwischen Hannover und Aurich hängen geblieben ist. Seine Arbeit tut er trotzdem, aber ohne Begeisterung.

Draußen wartet Werner Schmalfuß, der Spaziergänger aus dem Wald. Er war für acht bestellt, aber er hat sich verspätet. Um ganze 30 Minuten. Stiller Protest oder Schlamperei?

Mieke versteht diesbezüglich jedenfalls keinen Spaß. »Wenn ich sage 8 Uhr, dann meine ich es auch so. Das nächste Mal lasse ich Sie abholen, Herr Schmalfuß.«

Der verbeißt die Lippen zu einem harten Strich. Schlechter Beginn für eine Zeugenvernehmung, denkt Mieke.

Ob er hier rauchen dürfe?

Nein, dürfe er hier nicht.

Tee wolle er auch nicht, das sei kein Ersatz für die Zigarette. Das Gesicht des Zeugen wird endgültig zur steinernen Maske. Kein Wunder, dass die Atmosphäre frostig ist. Werner Schmalfuß ist kurz angebunden, seine Antworten kommen mürrisch. Die Oberkommissarin überlegt kurz, ob sie den Zeugen reizen soll, etwas Unbedachtes zu sagen. Dann lässt sie es. Unnötige Mühe. Verschwendung von Zeit und Energie. Ist es besser, wenn sie ihn rauchen lässt? Nein, so weit geht die berühmte Liebe nun doch nicht. Der Mann hat den Ermordeten als Erster nach der Tat gesehen, vielleicht sogar zu einem Zeitpunkt, als der Mörder noch im Wald war. Aber Mieke weiß, wie man sich in einer solchen Lage fühlt. Und sie weiß die Art der Antworten als das einzuordnen, was sie ist: keine Unwilligkeit zu kooperieren, sondern Ausdruck eines aufgewühlten Gemüts. Die Befragung ergibt auch keine Neuigkeiten. Schmalfuß wiederholt, was er schon am Tatort gesagt hat. Der Hund sei plötzlich stehen geblieben, ging keinen Schritt mehr. Gebellt oder geknurrt habe er nicht. Dann sei er selbst rein ins Gebüsch und habe die Leiche gefunden. Gesehen habe er nur die Reiterin, aus der Ferne, sie bog in einen anderen Weg ab.

»Was war das für ein Pferd?«, will die Oberkommissarin wissen.

»Eins mit vier Beinen«, sagt der Zeuge Schmalfuß spöttisch. Dann sieht er ihren Blick und schiebt etwas lahm hinterher: »Sorry, ich verstehe nichts von Pferden. Soweit ich mich erinnere, war es ziemlich dunkel. Braun.«

Mieke lässt das Protokoll ausdrucken, Schmalfuß unterschreibt. »Ich werde Sie vielleicht noch brauchen«, sagt die Oberkommissarin. Es klingt in seinen Ohren wie eine Drohung. Schmalfuß nickt knapp. »Grüßen Sie Ihren Hund.«

Er lächelt nicht, sondern verschwindet wortlos. Sie sieht ihn unten über die Straße laufen, Richtung Rathaus, dort hat Schmalfuß seinen Wagen abgestellt. Auf dem Parkplatz des Bürgermeisters glänzt eine neue Oberklassenlimousine, ein Benz. Mieke wundert sich nicht darüber und dann wieder doch. Bachmann liebt große Autos, das weiß die ganze Stadt. Seine Frau hat auch eine Schwäche dafür, sie fährt seit ein paar Monaten einen weißen SUV der Marke BMW. Arm scheint er nicht eben zu sein, der Herr Bürgermeister. Was verdient der eigentlich so?, schießt es ihr durch den Kopf.

Dann läutet das Telefon. Der Inspektionsleiter will sie sprechen. Es geht um den Mord im Wald von Wallinghausen.

Zur gleichen Zeit steht Bachmann ebenfalls am Fenster seines Büros. Auch er sieht den Zeugen Schmalfuß über den Parkplatz gehen. Er denkt sich nichts dabei, weil er den Mann nicht kennt. Außerdem hat der Bürgermeister andere Sorgen. Es geht ihm eine Menge durch den Kopf. Der Tote und die Art, in der Albert Ukena ums Leben gekommen ist. Die Männer in seinem Umfeld. Darüber, was sie zusammengeführt hat, durch seine, Bachmanns, Auswahl. Es hat halt alles recht schnell gehen müssen und die Zahl der solventen Partner ist nicht besonders groß gewesen. Eher übersichtlich. Also klein. Leute mit Geld sind gesucht worden, mit viel Geld, Geld, das sofort verfügbar gewesen ist. Anders ist ja das ganze Projekt nicht zu heben gewesen. Er selbst hat gewarnt, nun lass uns das mal in Ruhe angehen, aber der andere hat nichts davon wissen wollen. In Ruhe? Heute geht nichts mehr in Ruhe. Wer den rasanten Zeittakt des Lebens nicht aushalte, der verabschiede sich von der Teilnahme daran. Es müsse sofort gehandelt werden. Hat von einem kleinen Zeitfenster gesprochen, einem »window of opportunity«, das sich bald schließen würde.

Ärgerlich schüttelt der Bürgermeister den Kopf. Dass man im Kreishaus immer so geschwollen daherreden muss. Modern, nennt man das dort. Er hört Frau Vossen draußen telefonieren. Sie bereitet seine Termine vor. Davon hat er heute nicht viele, aber wichtige. Der Rat tagt zum Thema neuer Haushalt. Und heute Nachmittag der Finanzausschuss. Dazwischen Gespräche und Beratungen. Auch im Kreishaus. Da holen ihn seine alten Gedanken wieder ein. Die Regeln sind glasklar. Jeder hat sie gehört und ist einverstanden gewesen. Auch Albert Ukena hat sie gehört, aber vielleicht hat er nicht zugehört. Wer dabei ist, verdient eine Menge Geld. Aber alle haben unbedingtes Stillschweigen zu bewahren. Wer das nicht macht, der ist draußen. Draußen. So hat es damals geheißen. Jetzt weiß Bachmann, was das bedeutet, draußen. Nämlich tot. Wer das Maul nicht halten kann, der ist tot, so lautet die Regel. Dass man weg ist vom Fenster, weg von den Fleischtöpfen Ägyptens, so viel hat jeder gewusst. Aber dass ein Verstoß so grausam bestraft wird, das nicht. Jetzt ist es klar. Hoffentlich allen. Wen der Griff ans große Geld oder dessen Verlust nicht diszipliniert, der muss halt büßen. Zur Not mit der Höchststrafe. Zur Not? Nein, in jedem Fall. Und wenn der Kaufmann und Reeder Jan Christoffers nicht aufpasst, dann ist er der Nächste. Aber wer ist der Täter? Der Vollstrecker? Wer ihn steuert, das weiß Bachmann jetzt. Das ist er, der Mann im Kreishaus. Er wird ihn heute noch sehen. Mit ihm reden. Nicht darüber, denn sie sind nicht allein. Aber Bachmann weiß schon jetzt, dass es ihm schwerfallen wird, seine Gedanken auf die Politik zu richten.

4.

Unruhe

Auf der Titelseite der Auricher Rundschau springt ihm die erwartete Schlagzeile ins Auge. »Prominenter Bürger der Stadt brutal ermordet!« Sein Herz macht einen kleinen Hopser, aber es beruhigt sich sofort. Du stehst in der Zeitung! Genüsslich lehnt er sich zurück, nimmt noch einen Schluck Kaffee und faltet die Rundschau langsam auf. Das Papier knistert, es ist ihm Musik in den Ohren. Zuerst tasten seine Augen über den Artikel, er ist mehrere Spalten breit und sehr ausführlich. Das gefällt ihm. Dann liest er. Wort für Wort und sehr sorgfältig. Die Tat wird langatmig geschildert. Auch der Fundort der Leiche im Wallinghausener Wald, der Spaziergänger, der die Leiche entdeckt hat. Sogar sein Hund wird erwähnt. Auf die Einzelheiten wird aber verzichtet. Auch das Tape verschweigt man. Dann folgt das Eingeständnis fehlender genetischer Spuren am Tatort. Nichts gebe es dort, überhaupt nichts habe man gefunden. Der Rest ist leeres Geschwätz. Wortakrobatische Hülsen. Wilde Vermutungen zum Täter. Spekulationen über sein rätselhaftes Motiv. Kann er überhaupt eins gehabt haben? Doch wohl nicht. Zynischer Zufall. Die Polizei tappt völlig im Dunkeln. Ermittlungen erst am Anfang. Erfolgsaussichten höchst ungewiss, wenn nicht gar zweifelhaft. Warme Zufriedenheit erfasst ihn.

In einem Leitartikel wird dem Toten nachgeweint und dem schweren Verlust für ganz Ostfriesland. Ausgerechnet Albert Ukena. Tiefe Bestürzung über diese abscheuliche Tat, ihre Sinnlosigkeit, die Tragik des Opfers. Abscheu. Welch großartiger Mensch er gewesen sei. Erfolgreicher Unternehmer und Förderer der Stadt. Ehrbarer Bürger, Vorbild für uns alle. Einer, der anpackte und half, wo es notwendig war. Der dabei seine eigenen Mittel nicht schonte. Mäzen und Gönner. Auf diesen Sohn Aurichs könne man gewiss stolz sein. Ein ehrendes Gedenken sei das Mindeste. Als er diese Zeilen liest, werden seine Augen schmal und das Kinn hart. So ein Schwein. Arrogantes Stück Scheiße. Schade? Um den? Im Leben nicht! Er muss an sich halten, um nicht auszuspucken. Angewidert wirft er die Rundschau auf den Tisch und langt nach seiner Kaffeetasse. Doch schon nach dem ersten Schluck setzt er sie ab. Kalt. Einen Augenblick lang denkt er an seinen Auftraggeber. Er hat ihn getroffen, gestern Abend noch, auf einer Brache vor der Stadt. Es war ein fast feindseliges Gespräch, mit einem Mal hat der feine Herr Skrupel bekommen. »Ich habe gesagt, Sie sollen ihn beseitigen. Mehr nicht. Ihre perversen Spielereien missfallen mir.«

Er hat sich das Lamento angehört, aber es hat ihn weniger berührt als das Summen einer Fliege im Sonnenlicht. »Wenn ich mir schon für Sie die Hände dreckig machen soll, tue ich es auf meine Art«, hat er schroff geantwortet. Und dann angefügt: »Wenn es Ihnen nicht passt, dann machen Sie es doch selbst.«

Darauf ist der andere nicht eingegangen. »Was sollte das Tape? Die ausgestochenen Augen?«

»Es ist ein Zeichen«, hat er selbst trocken geantwortet und der andere ist aufgefahren.

»Ein Zeichen? Wofür?«

»Ein Zeichen für mich. Mein Markenzeichen.«

Sein Gegenüber hat ihn angesehen wie einer, der einen zu vollen Jaucheeimer anfassen soll. »Übertreiben Sie es nicht, Mann. Lassen Sie die Kirche im Dorf. Jedes unnötige Beiwerk ist ein Faden, an dem Ermittler ziehen können, denken Sie daran.«

Übertreiben Sie es nicht? Lassen Sie die Kirche im Dorf? Was soll das heißen? So spricht einer, der noch Aufträge hat. »Wobei soll ich die Kirche im Dorf lassen?«, hat er spöttisch gefragt. »Haben Sie denn weitere Stücke zu schlachten?«

Da hat sich der andere mit einem Ruck abgewendet und ist in die Nacht verschwunden. »Sie hören von mir!«, hat er noch von sich gegeben.

Für einen Moment verlor er selbst die Beherrschung. »Glauben Sie bloß nicht, dass Sie mich in der Hand haben. Es ist mindestens auch umgekehrt!«, fauchte er, doch da hatte die Dunkelheit den anderen schon verschluckt. Er hörte nur noch seine Schritte. »Aber Sie bezahlen mich, das ist doch wohl klar. Und das nächste Mal vorher. Auf die versprochenen 30.000 werde ich nicht verzichten!«, röhrte er ihm zornig hinterher.

Daran denkt er jetzt wieder, aber sein Atem geht ruhig, ebenso sein Herz. Er macht sich null Sorgen. Es ist eine Fügung gewesen, ein Zusammentreffen von Umständen, die eben passten, damals, bei seiner Einstellung im Landkreis. Wie solche Dinge sich manchmal ergeben, es lohnt nicht, darüber nachzudenken. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass ein anderer den Posten bekommt, und wurde dann, als er eben gehen wollte, zu seiner Verwunderung in das große Amtszimmer gerufen. Der Mann wies ihm grußlos den Stuhl vor dem Schreibtisch an und schloss die schwere Tür. Der massive Eichentisch war blank und leer, vor dem Mann lag nur die Bewerbungsakte, ein dünner Hefter mit wenig Inhalt. »Sie sind schon lange arbeitslos.« Eine Feststellung, die verdammt nach Vorwurf klang. Und dann: »Es spricht für Sie, dass Sie versuchen, diesen Zustand zu ändern.«

Er hörte zu, während sich im Kopf die Räder drehten. Was will der, fragte er sich, was will er von dir? »In diesem Fall ja wohl wieder einmal vergeblich«, antwortete er trocken.

Der andere schloss die Akte und musterte ihn kühl wie jemand, der sich vor einer Entscheidung zum letzten Mal vergewissern will. »Nicht unbedingt.« Jawohl, die Stelle als Hausmeister in der IGS werde anders besetzt, aber es gebe eine weitere Möglichkeit. »Arbeiten Sie gerne an der frischen Luft?« Er dachte über die Frage nach, aber der andere wartete seine Antwort gar nicht ab. »Es gibt da einen Punkt in Ihrem Leben, über den ich mit Ihnen reden muss.«

Was weiß der über mein Leben?, schoss es ihm durch den Kopf.

Und dann las der Mann ihm brühwarm die Leviten. Tischte ihm diese alte Jugendsünde auf, die Sache mit dem jungen Fuchsweibchen, das er im Wald mit der Falle gefangen, an einen Baum gebunden, danach mit einem Stich in den Hals stimmlos gemacht und lebendig gehäutet hatte. Woher wusste er davon? Nachdem alles vorbei gewesen war, hatte er den Kadaver im Wald vergraben, an einer anderen Stelle, gut einen Meter tief. Ein Nachspiel hatte der Vorfall nicht gehabt, niemand hatte ihn beobachtet. Oder doch?

Als der andere wieder sprach, klang seine Stimme leicht angewidert. »Das ist, um es vorsichtig auszudrücken, ziemlich unappetitlich. Haben Sie da eine spezielle Neigung?« Das »spezielle« hatte er besonders betont und dabei seine Augen schmal gemacht. So einen nimmt man nicht in den öffentlichen Dienst, das sagte der Mann nicht, aber es klang durch.

Er wollte schon aufstehen– ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen, noch weniger habe ich mich vor Ihnen zu rechtfertigen –, aber da war der Job und seine lange Hartz-4-Zeit, die ihn ankotzte.

»Das bleibt unter uns. Ich nehme Sie trotzdem. Wir brauchen Gärtner«, sagte der Mann hinter dem großen Schreibtisch und fügte an: »Ihren Job verdanken Sie mir. Ich erwarte als Gegenleistung Ihre Gewogenheit.« Was das genau hieß, blieb offen, er fragte auch nicht danach.

Vor vier Monaten hat dieses Gespräch stattgefunden, vor vier Monaten und sieben Tagen, um genau zu sein. Und dann ist der Anruf gekommen. Sie haben sich auf der Brache getroffen, der andere hat geredet. Er hat zugehört und keine Fragen gestellt, es war nicht nötig, denn alles war ebenso klar wie einfach. Das Opfer kannte er, ein arrogantes Stück Mist, um das es nicht schade war. Er hatte sogar einen persönlichen Grund, ihn nicht zu mögen, denn beim letzten Stadtfest hatte er den Kerl gegrüßt, und der hatte blasiert über ihn hinweggesehen. Zu den Gründen für den Auftrag hat der Mann nur das Nötigste gesagt. Es gebe da ein gemeinsames Geschäft, das Diskretion verlange, aber der Ukena könne den Schnabel nicht halten. Das bringe alle in Gefahr, die damit zu tun hätten. Ukena müsse zum Schweigen gebracht werden. Er hörte sich das an, ohne weiter darüber nachzudenken. Es kümmerte ihn nicht. Aber schon damals bewunderte er die Umsicht des anderen. Das musste wohl ein pikantes Geschäft sein, von dem der da sprach, und ein großes. Auch eins, über das man nicht öffentlich reden durfte. Also eins, das nicht sauber war. Folglich musste der Mann frühzeitig erwartet haben, dass einer der Beteiligten quatschen würde. Und hat für den Fall Vorsorge getroffen. An diesem Punkt hörte er selbst auf, sich mit den Hintergründen zu befassen. Sie gingen ihn nichts an, sie interessierten ihn nicht. Der Rest war fast ein Kinderspiel. Sein Plan für die Tat war bald fertig, die notwendigen Fakten rasch ermittelt. Und die Umsetzung hat ihm ein stilles Vergnügen bereitet, diesen seltsamen Kitzel, den er so gern spürt.

Den er vielleicht wieder spüren wird, denn es hat ihm so geklungen. Er wäre jedenfalls bereit, und die weiteren 30.000 könnte er gut gebrauchen. Er legt die Zeitung zusammen und gießt sich einen neuen Kaffee ein. Während er trinkt, sieht er auf die Küchenuhr. Noch zwei Stunden bis zu seiner Schicht. Behaglich streckt er die Beine.

ihre

Sie nickt und nimmt die Spurenakte vom Tisch, aber der Chef ist noch nicht fertig. »Ich muss nicht betonen, dass der Fall trotzdem wichtig ist. Wir wollen ihn schnell lösen. So schnell wie möglich.« Wieder das »wir«, wo ein »Sie« gemeint ist. Und der Fall? Wichtig? Schnell lösen? Also doch nicht ganz so wie bei einem Malocher vom flachen Land?

Der Oberrat schenkt beiden Tee nach. Er ist gebürtiger Auricher, aber seine Familie stammt aus Pommern. Rüster blickt sinnend in seine Tasse, schaut zu, wie die Sahne im Tee verläuft. Dann hebt er den Kopf. Auf seinen Lippen steht ein nachdenkliches Schmunzeln. »Kollege Janßen hat ja nun Urlaub. Wenn Sie ihn brauchen, hole ich ihn zurück.«

Hauptkommissar Jonte Janßen ist Leiter des Fachkommissariats 1, jetzt mit seiner Frau in Ferien auf Norderney. Mieke gehört zu seinem Team, das Rüster manchmal scherzhaft als »Kampfgruppe Janßen« bezeichnet. Verwandt sind die beiden nicht, es handelt sich lediglich um eine vollständige Namensgleichheit. »Ob ich mich daran gewöhnen kann, weiß ich nicht«, hat Rüster grinsend bemerkt, als er die Polizeiinspektion übernommen hat. Jetzt legt er nach. Wird sogar ironisch. »Sie brauchen es nur zu sagen und Jontes Urlaub ist gestrichen. Er würde sich übrigens riesig freuen.«

Mieke schüttelt den Kopf. »Bloß nicht!«, versetzt sie selbstsicher.

Rüster nickt, er hat es nicht anders erwartet. »Ist ja auch doof, dass gerade jetzt Kollege Bullerjahn auf Lehrgang ist.«

Kriminalrat Bullerjahn ist Leiter des Zentralen Kriminaldienstes und besucht, kurzfristig abberufen, ein mehrwöchiges Weiterbildungsseminar in Hannover. Das ist auch der Grund, warum beide hier sitzen; der Chef nimmt Bullerjahns Aufgaben zusätzlich wahr, weil Jonte im Urlaub ist. »Sie müssen halt mit mir vorliebnehmen«, sagt Rüster, ohne zu lächeln, »aber die anderen sind ja auch noch da.«

Die anderen, das sind zwei Kollegen aus dem Fachkommissariat 1. Oberkommissarin Banafsheh Schariatmadari, das »Veilchen«, und Oberkommissar Frerich Frerichs. Mit Mieke bilden sie den Kern der Sonderkommission, die eigentlich eher eine erweiterte Ermittlungsgruppe ist. Wie bei Mord üblich, arbeiten die übrigen Fachkommissariate zu. Der Leiter der Polizeiinspektion hat Mieke Janßen mit der Führung der Mordkommission beauftragt. Frerichs hat gerade eine Brandstiftung am Hals und Frau Schariatmadari ermittelt in einer Schutzgeldsache. Es ist die übliche Lage. Viel Arbeit für zu wenig Leute. Es wird, es muss auch so gehen, denkt die Oberkommissarin. Mieke erhebt sich. »Das ist nicht nötig«, sagt sie fest. Noch nicht.

Rüster nickt entspannt. »Viel Erfolg! Und kommen Sie zu mir, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Das sagt er wieder. Ob er es bei Jonte auch gesagt hätte? Rüster ist nicht nur ein Stoiker, er kann auch Gedanken lesen. »Würde ich dem Kollegen Janßen bei diesem Fall auch anbieten. Im Übrigen weiß ich sehr gut, was Sie können. Sie werden es schaffen.«