Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.
Internet: https://ebooks.kelter.de/
E-mail: info@keltermedia.de
Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-463-7
Der Krach an der Haustür hörte nicht auf. Da schien jemand die Klingel abreißen zu wollen.
Roberta verabschiedete sich hastig von ihrer Freundin Nicki. Doch ein schlechtes Gewissen musste sie deswegen überhaupt nicht haben. Sie hatten lange genug miteinander telefoniert, und eigentlich war auch alles besprochen worden. Und es hatte bei Nicki schon einige Neuigkeiten gegeben, keine Festanstellung mehr, ein anstehender Umzug in einen Loft, und dass die Bredenbrocks nach San Francisco ziehen würden, das hatte Roberta beinahe die Sprache verschlagen. Doch darüber dachte sie allerdings jetzt nicht mehr nach.
Ehe Roberta zur Haustür lief, warf sie rasch einen kurzen Blick auf den kleinen Philip. Der war zum Glück durch das Geklingele nicht wach geworden, sondern schlief tief und fest mit seinem geliebten Teddy im Arm und mit vom Schlaf gerötetem Gesichtchen.
Es war ein anrührendes Bild, das einem so richtig ins Herz ging. Wie gern wäre Roberta jetzt einfach noch eine Weile ganz ruhig vor dem Bettchen stehen geblieben, um dieses idyllische Bild zu genießen. Es ging leider nicht. Sie musste sich sputen, denn sonst wurde der kleine Philip wirklich noch wach. Und da konnte er sehr unleidlich werden. Das wusste sie aus Erfahrung, und leider war Alma nicht daheim. Sie war mit ihrem Gospelchor unterwegs und würde erst in der Nacht oder gar morgen früh zurückkommen.
Ein wenig ungehalten riss sie schließlich die Haustür auf. Sie hatte keine Ahnung, wer so spät noch Einlass begehrte, und sie hatte bereits ein paar scharfe Worte auf der Zunge, denn so spät machte man keine Besuche. Es sei denn, es handelte sich um ihren Exmann, der war in jeder Hinsicht schmerzfrei, und eigentlich hatte Max ja angeordnetes Hausverbot. Doch für ihn würde sie keine Hand ins Feuer legen.
Roberta prallte allerdings zurück, als sie sah, wer da vor der Haustür stand. Von wegen Max. Nein, wer da Einlass begehrte, obwohl er einen Haustürschlüssel besaß, das war Lars …, ihr Lars, und mit dem hatte sie nicht einmal ansatzweise gerechnet.
Wieso war er hier?
Sie hatten sich doch eine Auszeit verordnet, und die hatte gerade erst begonnen.
Das hatte ihr jetzt die Sprache verschlagen, sie konnte ihn nur ansehen. Und er sah wieder einmal umwerfend aus, dieser Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen, die sie anstrahlten, als sei die Welt zwischen ihnen in Ordnung, als hätten sie sich gerade erst liebevoll und ohne Zoff voneinander getrennt.
Roberta verstand die Welt nicht mehr, dabei war sie nun wirklich nicht auf den Mund gefallen.
Er reagierte zuerst, er machte ein paar Schritte auf sie zu, und dann nahm er sie einfach in seine Arme, und bei ihr machte es klick, und prompt war die alte Magie wieder da, durchströmten sie Wellen der Liebe.
Sie wehrte sich nicht, es gab kein wenn oder aber, es gab nur dieses unbeschreibliche Gefühl, das allen Verstand ausschaltete, das warm, schön und voller Zärtlichkeit war.
Ihre Blicke versanken ineinander, er verstärkte den Druck seiner Arme, zog sie noch enger an sich heran, und dann küssten sie sich. Es ging überhaupt nicht anders.
Was immer sie auch trennte, worin sie unterschiedlicher Meinung waren. All das gab es in diesem Augenblick nicht mehr.
Liebe brauchte keine Worte.
Liebe kannte keine Grenzen.
Liebe schwebte über allem. Wenn es da bloß nicht den Alltag gäbe!
Sie genoss seine Nähe, seine Wärme, seine leidenschaftlichen Küsse.
Sie verloren jedes Gefühl für Zeit und Raum, und gewiss hätten sie noch eine ganze Weile in der geöffneten Haustür gestanden, wenn draußen nicht ein Auto vorbeigefahren wäre und jemand begeistert gehupt hätte.
Sie fuhren auseinander. Roberta konnte nicht sehen, wer das Auto fuhr, doch ein wenig peinlich war es ihr schon. Es musste um diese Zeit jemand aus dem Sonnenwinkel sein. Hier gab es keine Durchgangsstraßen. Und hier war sie bekannt wie ein bunter Hund, schließlich war sie die Ärztin, die jeder mal in Anspruch nehmen musste.
Und trotz dieser Tatsache hatte sie sich gerade präsentiert wie in der Liebesszene eines Films. Wie peinlich!
Hastig zog sie Lars mit ins Haus, schloss die Tür.
Er schien das eben genossen zu haben, alles.
»Liebes, entspann dich. Es wissen doch alle, dass wir ein Paar sind, und da ist es ja wohl auch selbstverständlich, dass man sich küsst.«
Sie sah das nicht so locker.
»Das muss ja nicht vor den Augen aller sein«, bemerkte sie. Er lachte.
»Liebes, übertreib nicht. Ein einsamer Autofahrer hat uns gesehen, und es schien ihm gefallen zu haben, denn sonst hätte er nicht gehupt. Für mich war das eine Zustimmung.«
Sie sagte dazu nichts, ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und das jetzt nicht wegen des Autofahrers, sondern sie fragte sich, warum er die Regeln durchbrochen hatte. Warum war er hier?
Lars neigte ja schon immer dazu, einfach da zu sein, da unterschied er sich nicht von ihrem Ex. Der Unterschied bestand darin, dass sie weiche Knie bekam, wenn sie Lars sah, und dass sie ein Magengeschwür befürchtete beim Anblick von Max.
Er ging ins Wohnzimmer, er kannte sich im Doktorhaus aus, entdeckte den Rotwein auf dem Tisch und rief: »Oh, ein Gläschen Wein würde ich jetzt auch gern trinken.«
Roberta, noch immer durcheinander, holte ein Glas aus dem Schrank, stellte es vor ihn hin, beobachtete, wie er sich Wein einschenkte, dann setzte sie sich. Nicht neben ihn, sondern sie nahm ihm gegenüber in einem Sessel Platz.
Und weil er ganz selbstverständlich tat als sei nichts geschehen, stellte sie ihm die Frage, die sie beschäftigte, seit sie ihn gesehen hatte: »Lars, warum bist du hier? Ich meine …, wir haben …«
Sie hatte auch schon flüssiger gesprochen, doch Lars verwirrte sie in jeder Hinsicht. Sie schwammen zwar in vieler Hinsicht auf einer Welle, in sehr vieler sogar. Doch seine Selbstverständlichkeit, mit der er kam und ging, die konnte sie einfach nicht nachvollziehen. Das war nur etwas, was sie an ihm störte, auch wenn sie zugeben musste, dass es ihr anfangs nichts ausgemacht hatte. Vielleicht stimmte das ja wirklich mit den Werbewochen. Ihre Freundin Nicki behauptete steif und fest, dass es sich nach den Werbewochen erst zeigte, ob eine Beziehung Bestand hatte oder nicht. Lars und sie hatten diese sogenannten Werbewochen längst hinter sich gebracht. Doch sie durfte es sich nicht länger schönreden. Das, was sie wollte, unterschied sich ganz gewaltig von dem, was für ihn im Fokus stand.
Doch nein, darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Lars war gekommen!
Und warum hatte sie törichterweise überhaupt die Frage gestellt, warum er gekommen war. Als wenn das von Bedeutung war.
Er zögerte ein wenig, trank einen Schluck des köstlichen Rotweins, den sie beide liebten, sagte, wie herrlich er doch schmecke, dann blickte er sie an. Und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Roberta eine Gänsehaut bekam.
»Es gibt einen Grund für mein Hiersein, und das hat sich mehr als kurzfristig ergeben. Ich habe morgen einen Termin, und dann muss ich auch schon wieder weg. Doch ich möchte jetzt noch nicht darüber reden, weil mir, ehrlich gesagt, alles ein wenig verworren vorkommt. Warum also über ungelegte Eier reden?«
Er machte eine kleine Pause.
»Ich bin so glücklich, dich bei dieser Gelegenheit sehen zu dürfen, und ich pfeife auf unsere Vereinbarung. Roberta, ich liebe dich so sehr. Und ich habe eine wahnsinnige Angst davor, dich zu verlieren. Es hat sich da bei uns etwas eingeschlichen, was mir Unbehagen verursacht, etwas, was unserer Beziehung die Leichtigkeit, die Unbeschwertheit nimmt. Was ist geschehen? Ich habe keine Ahnung, und ich habe dir doch auch von Anfang an nichts vorgemacht. Ich habe offen und ehrlich gesagt, wer und wie ich bin. Und an meiner Liebe zu dir hat sich nichts verändert, im Gegenteil, sie ist größer und inniger geworden. Du bist meine Traumfrau, und ich …«
Plötzlich erklang ein klägliches Wimmern, Lars verstummte und Roberta sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte dorthin, woher das Geräusch gekommen war.
Philip …
Auf Zehenspitzen lief sie in das Zimmer. Der Kleine schlief.
Er musste schlecht geträumt haben.
Roberta hob den Teddy auf, der auf den Fußboden gefallen war, legte ihn neben Philip auf das Kopfkissen, dann deckte sie ihn wieder zu. Er hatte sie aufgestrampelt. Danach strich sie ihm behutsam über das strubbelige Haar und verließ wieder auf Zehenspitzen den Raum. Ehe sie den verließ, warf sie einen zärtlichen Blick auf das Kind.
Sie war nur eine kurze Zeit weg gewesen, doch alles schien verändert.
Lars hatte einen verbissenen Gesichtsausdruck, und das Schweigen, das plötzlich zwischen ihnen herrschte, wirkte belastend.
Zumindest auf Roberta.
Er knüpfte nicht mehr an das an, was er vorher gesagt hatte.
Es gab keine weiteren liebevollen und zärtlichen Worte. Jetzt schwieg Lars beinahe trotzig.
Um das Schweigen zu durchbrechen, und um überhaupt etwas zu sagen, bemerkte Roberta: »Philip scheint nur schlecht geträumt zu haben.«
Er sagte nichts, zuckte die Achseln.
Das Schweigen begann beklemmend zu werden.
»Lars, der Kleine ist nun mal vorübergehend hier, und ich muss mich um ihn kümmern, bin für ihn verantwortlich.«
»Warum erzählst du mir das jetzt? Ich weiß von dem Kind, und ich habe doch überhaupt nichts gesagt.«
»Was soll ich denn dazu sagen?«, begehrte er auf. »Meine Meinung kennst du, daran hat sich nichts verändert. Ich finde es nach wie vor mehr als nur grenzwertig, dass eine Frau in deiner Position plötzlich Babysitterin spielt.«
»Wäre ich nicht eingesprungen, hätte Trixi diesen Auslandsjob nicht annehmen können«, versuchte sie sich zu rechtfertigen, weil sie spürte, dass die Stimmung zwischen ihnen immer mehr kippte.
Er warf ihr einen erbitterten Blick zu.
»Roberta, ich bitte dich. Dafür bist du doch nicht zuständig. Es gibt Institutionen, wo man ein Kind vorübergehend parken kann. Und wenn nicht, dann hätte deine Freundin Trixi eben daheim bleiben müssen, so einfach ist das. Ehe man Kinder bekommt, muss man sich vorher entscheiden, was wichtiger ist, Karriere oder ein Kind. Beides geht nicht. Aber darüber möchte ich jetzt nicht wieder diskutieren. Das letzte Mal hatten wir deswegen Krach, und das möchte ich nicht erneut riskieren. Roberta, ich möchte wirklich …«
Wieder erklang ein Wimmern. Doch diesmal schien Philip wachgeworden zu sein. Richtig, denn es dauerte nicht lange, da kam er, den Teddy unter den Arm geklemmt, ohne den überhaupt nichts ging bei ihm, ins Zimmer getappt.
Roberta sprang auf, eilte auf Philip zu, nahm ihn in die Arme, hob ihn zu sich empor, und er legte sofort vertrauensvoll seine Ärmchen um ihren Hals.
»Was war denn los, mein Herz?«, erkundigte sie sich sanft. »Hast du schlecht geträumt?«
Er nickte.
»Dann bringe ich dich jetzt wieder in dein Bettchen, und ich bleibe bei dir, bis du wieder eingeschlafen bist, ja, mein Liebling?«
Wieder nickte Philip.
Roberta warf Lars einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie Philip zurück ins Bett brachte.
Für Situationen wie diese gab es kein perfektes Timing. Sie hatte es sich nicht ausgesucht, doch sie hatte überhaupt keine andere Wahl. Ein Traum hatte den Jungen aufgeschreckt, und da konnte sie ihn doch jetzt nicht sich selbst überlassen.
Sie legte ihn ins Bett, sprach beruhigend auf ihn ein, strich über sein Gesichtchen, seine Haare.
Das gefiel Philip, und er schenkte ihr ein anrührendes Lächeln, bei dem die Sonne aufzugehen schien, ehe er wieder einschlief, ihre Hand fest umklammernd.
Roberta wartete noch eine Weile, bis sie ganz sicher sein konnte, dass Philip tatsächlich schlief. Dann machte sie sich aus seiner Umklammerung frei, warf ihm einen letzten zärtlichen Blick zu, ehe sie das Zimmer wieder verließ.
Sie würde es Lars erklären, er musste es verstehen, es zumindest versuchen.
Als Roberta ins Wohnzimmer kam, war von Lars nichts zu sehen. Sein Weinglas war noch fast gefüllt. Sie vermutete, er sei zur Toilette gegangen, doch dann entdeckte sie den Zettel auf dem Tisch, den er irgendwo herausgerissen hatte.
Sorry, ich hatte mir unser Wiedersehen anders vorgestellt. Diese Nummer mit dem Kind, das kann ich nicht. Bleiben wir lieber bei der vereinbarten Auszeit – Lars.
Nichts von Liebe, kein versöhnliches Wort. Lars war gekränkt, und er hatte überhaupt kein Verständnis für Kinder. Das war nicht unbekannt, doch jetzt hatte sie die Bestätigung.
Kälte breitete sich in ihr aus und eine unendliche Traurigkeit. Sie sah den Abgrund, dem sie entgegensteuerten. Aber es gab nichts, womit sich dieser Sturz aufhalten ließ. Ihre Lebensperspektiven, ihre Vorstellungen von einem Miteinander, drifteten immer mehr auseinander.
Das hatte nichts mit Philip zu tun. Durch seine Anwesenheit wurde der Prozess nur noch beschleunigt. Selbst wenn sie ihren Wunsch nach dem Ring an ihrem Finger, nach einem Zusammenleben, nach Kindern zurückstellen würde. Lars würde weiterhin ein Getriebener sein, den es hinauszog. Er war jemand, der, wie man so schön sagte, sein Ding machte. Und sie war für ihn so etwas wie ein Sahnehäubchen, das man nicht immer in seinem Leben brauchte, doch wenn, dann war es angenehm, dann genoss man es. Vielleicht tat sie ihm unrecht. Sie wollte es vielmehr glauben, dass es so war.
Dass er jetzt einfach gegangen war, das war beinahe schon pubertär.
Sie war wie erstarrt. Er hatte sie kurzzeitig in den Himmel gehoben, und dann hatte er einfach losgelassen und sie war böse auf dem Boden aufgeschlagen. Auf dem Boden der Tatsachen.
Lars Magnusson war in erster Linie ein einsamer Wolf. Er brauchte niemanden, er konnte auch gut ohne sie. Denn sie war sich so sicher, dass er nicht immer so lange unterwegs sein musste, dass er früher zurückkehren könnte. Er wollte es nicht, weil nicht sie an erster Stelle in seinem Leben war, sie war, wenn sie Glück hatte, die Nummer Zwei.
Diese Erkenntnis war nicht neu für sie, warum traf es sie heute ganz besonders?
Weil sein Besuch unverhofft gekommen war, weil er diesen Glücksrausch in ihr ausgelöst hatte zu glauben, er könne doch nicht ohne sie sein. Außerdem war sie noch jetzt wie elektrisiert von seinen Küssen, seinen Umarmungen, seiner spürbaren Präsenz.
Liebe konnte verdammt schmerzhaft sein!
Sie zog ihre Schuhe aus, die Beine aufs Sofa, umfasste ihre Knie mit beiden Händen und starrte stumm vor sich hin.
Sie glaubte, den Schmerz körperlich zu spüren.
Sie lauschte, von nebenan war nichts mehr zu hören. Der kleine Philip schlief wieder ganz fest.
Warum war er wach geworden?
Auf diese Frage wusste sie keine Antwort. Fast schien es, als wolle das Schicksal sie herausfordern und prüfen.
Seine Reaktion war panisch gewesen, deutlicher hätte Lars seine Abneigung gegen Kinder nicht ausdrücken können.
Ein Bild tauchte vor ihr auf …
Wie schön wäre es gewesen, sie hätten den Kleinen gemeinsam wieder in sein Bettchen gebracht, hätten gemeinsam gewartet, bis er eingeschlafen war.
Ahnte Lars eigentlich, worum er sich mit seiner strikten Abwehrhaltung eigentlich brachte?
Jetzt kamen ihr doch die Tränen.