Der Weg der Menschheit zu den Sternen ist das Thema dieser klassischen Science Fiction Serie. Es geht um die Abwehr von Außerirdischen, die Geheimnisse des Kosmos und um den Platz der Menschheit im Universum. Mark Tolins und seine Mitstreiter kämpfen um die Zukunft der Erde...
Dieses Buch enthält folgende SF-Abenteuer:
Freder van Holk: Raumschiff im Strahlensturm
Freder van Holk: In der Gluthölle des Transpluto
Freder van Holk: Aufzeichnung vom Prokyon
Freder van Holk: Hexenkessel Titan
Freder van Holk: Die Roboter von Nova Atlantis
Freder van Holk: Roboterintrigen
COPYRIGHT
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author
© Cover: Tony Masero, 2018
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Mark Tolins - Held des Weltraums
von Freder van Holk
Der Umfang dieses Buchs entspricht 124 Taschenbuchseiten.
Der Weg der Menschheit zu den Sternen ist das Thema dieser klassischen Science Fiction Serie. Es geht um die Abwehr von Außerirdischen, die Geheimnisse des Kosmos und um den Platz der Menschheit im Universum. Mark Tolins und seine Mitstreiter kämpfen um die Zukunft der Erde...
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author
© Cover: Tony Masero, 2018
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Mark Tolins - ein Mann für schwierige Probleme
Biggy - sein treuer Freund und Gefährte
Der Gärtner - woher kommt er?
Kermic - ein Wissenschaftler von einem anderen Stern
General Lionel Stanwyl - ein drahtiger Mann mit Bürstenhaarschnitt
In der Nacht vom 3. zum 4. August verschwand die russische Raumstation Blaganrov, die auf 1682 Kilometer Höhe stand, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Ihre letzte Routinemeldung kam fünfzehn Minuten nach zwei Uhr. Dann riss die Verbindung ab. Die Blaganrov mit ihren 216 Mann Besatzung antwortete nicht mehr. Die Baker-Nunn-Kameras konnten sie so wenig orten wie die Radargeräte. Über einen Absturz trafen keine Meldungen ein. Trümmer wurden nicht gefunden.
Die zuständigen östlichen Behörden schwankten bis zum Ministerpräsidenten hinauf. Sie schwankten, ob sie das Ereignis als feindlichen Akt, heimtückischen Angriff und Sabotage der kapitalistischen Welt, insbesondere Amerikas und der NATO, auswerten sollten, oder ob es ratsamer sei, ihn als weiteren Fortschritt zu proklamieren. Sie entschieden sich für den Fortschritt. So erfuhr denn die Weltöffentlichkeit, dass die Raumstation Blaganrov in aller Stille eine Raumfahrt zur Venus angetreten hatte, um an der Venus ihren Dienst als Raumstation aufzunehmen und Landung und Start von Raumschiffen zu gewährleisten.
Dieser Fortschritt erschütterte, wie stets, die Menschheit. Die Erschütterung drückte sich in zahlreichen bestellten Glückwunschtelegrammen aus. Die große Volkssternwarte Bochum gewann internationalen Ruhm, denn es gelang ihr, Funksignale und Sprechverkehr der Raumstation aufzufangen - wobei deutlich Frauenstimmen mit herausgehört werden konnten - und den Flug der Blaganrov zur Venus laufend zu verfolgen.
Vier Tage später, in der Nacht vom 7. zum 8. August, erlitt die amerikanische Raumstation Wernher von Braun ein rätselhaftes Schicksal. Ihre letzte Routinemeldung erfolgte pünktlich um ein Uhr amerikanischer Zeit. Drei Minuten später setzte der Sprechfunk mit einem schrillen Hilferuf ein, der nicht den Vorschriften entsprach, was sich jedoch teils mit der Verwirrung des Funkers und teils mit seiner Freundschaft mit dem Funker der Bodenstation entschuldigen ließ. Er lautete:
»SOS - SOS! Station Braun an alle Bodenstationen. Hallo, Steve, hier ist der Teufel los. Wir liegen auf der Schnauze, als hätte es eine Kollision gegeben. Keine Ahnung, was passiert ist, aber die ganze Station schmiert unter zehn Grad ab. Wir stürzen, und ob der Commodore …?«
Das war noch nicht ganz das Ende, aber der Rest blieb unverständlich und konnte auch nicht aus dem mitlaufenden Tonband enträtselt werden. Zwanzig Minuten später nahm Hawaii ein Bruchstück auf, das so klar war, als käme es aus dem Fernschreiber.
»…keine dreihundert Kilometer Höhe mehr, aber nicht mit weiterer Annäherung zu rechnen. Wir schmieren immer noch ab, wahrscheinlich mit Fluchtgeschwindigkeit an der Erde vorbei und noch nicht feststellbar, ob eine Parabel oder eine Hyperbel dabei herauskommt. Die Außenhülle ist durch die Reibungshitze angegriffen, aber …«
Von da an war auch die amerikanische Station Wernher von Braun spurlos verschwunden. Die zuständigen Behörden zweifelten, dass die Öffentlichkeit ihnen ebenfalls einen Flug zur Venus abnehmen würde, entschied sich also für einen technischen Unglücksfall. Das ehrte ihre Wahrheitsliebe, kostete sie jedoch ein Stück Prestige.
Die chinesische und kongolesische Raumstation blieben unangerührt und meldeten keine besonderen Ereignisse. Die europäische Raumstation Europa stürzte am 11. August bei hellem Tage ab und verschwand im Meer. Bevor sich die zuständigen Behörden und Sachverständigen über die Ursache der Katastrophe einigen konnten, geschahen weitere Dinge, die nicht einmal die Spiritisten erwartet hätten.
Oder wer hätte damit gerechnet, dass Hühner schräg laufen würden?
Die Sonne schien hell, aber mild wie durch dünnes Seidenpapier hindurch, eine sanfte Scheibe an einem verschleierten, blassblauen Himmel. Ihr Licht lag warm und wohltuend auf Cootshill, einem abgelegenen Dorf in der Nähe der kanadischen Grenze, und auf Bushmills, einem einzelnen Gehöft abseits von Cootshill.
Das Wohngebäude von Bushmills passte nicht an die kanadische Grenze. Es war ein altes, zweistöckiges Haus in reinem Empirestil, streng und trotz Verfallserscheinungen immer noch wundervoll in seinen Proportionen und Einzelheiten. Selbst die steinerne Treppe mit ihren abgelaufenen Stufen, die zur Haustür hinaufführte, enthielt noch eine Portion Schönheit.
Zwei alte, riesige Scheunen ohne stilistische Ansprüche flankierten das Wohnhaus und markierten einen Hof, dessen vierte Seite von einer Mauer mit einer breiten Einfahrtsöffnung begrenzt wurde. Von der Steintreppe des Wohnhauses aus blickte man über eine ehemalige Dunggrube hinweg auf die Einfahrt und darüber hinaus auf einen schnurgeraden Fahrweg, der zwischen alten Pappeln zum Dorfe Cootshill führte.
Um die Dunggrube herum scharrten und gackerten Hühner, nervöse Italiener und phlegmatische Wyandotts. Sie vervollständigten das ländliche Idyll.
Biggy saß auf der dritten Stufe. Er hielt in der linken Hand einen runden Taschenspiegel und in der rechten einen braunen Taschenkamm. Er kämmte sich liebevoll sein Haar und beobachtete die Erfolge im Spiegel. Sein Haar war sehr schwarz und glänzte von einem Schuss Brillantine. Eine korrekter Mittelscheitel teilte es in zwei Hälften, die sich in flachen Wellen an den runden Schädel anklebten. Biggy liebte diese altmodische Haartracht.
Nebenbei gab ihm der Mittelscheitel einen Stich ins Einfältige, der zu seinem runden, rosigen Gesicht passte, und Biggy legte Wert darauf, als harmloser Mitmensch zu gelten. Er besaß einen friedlichen Charakter. Von Problemen und Konflikten hielt er nicht viel. Niemand bedauerte mehr als er, dass es einige Dinge in seinem Dasein gab, die ihn um ein geruhsames Leben betrogen.
Das eine waren seine braunen, sanften Augen, die Augen eines unschuldigen Babys, die aber leider im Gesicht eines Mannes von Mitte Dreißig nicht richtig am Platze waren und andere Leute entweder zum leichtsinnigen Spott oder zu robusten Reaktionen reizten.
Das andere waren einige Muskelpakete an seinem untersetzten, stämmigen Körper, die gelegentlich Bewegung brauchten. Für einen Mann, der schon als Kind in einem Zirkus trainiert wurde, als solle er zu einem Mister Universum gedeihen, war es nicht immer leicht, diese bewegungsfreudigen Muskeln untätig zu halten.
Das dritte Hindernis auf dem Wege zu einem friedlichen Leben hieß Mark Tolins.
Biggy zog die Brauen zusammen und blickte schärfer in den Spiegel hinein. Irgendetwas störte ihn. Nein, es war nicht die Haarspitze, die sich dreist nach oben reckte und sich nicht vorschriftsmäßig anlegen wollte. Er spürte ein Unbehagen, für das er noch keine Ursache fand. Es musste jedoch etwas Körperliches sein, irgendetwas wie Kreislaufstörungen, denn der linke Arm schien plötzlich schwerer zu sein als der rechte, und er hatte den merkwürdigen Eindruck, einseitig zu sitzen.
Im nächsten Augenblick sah er die Hühner.
Sie liefen schräg.
Das erste Huhn, das seine Aufmerksamkeit erregte, stolperte über den Hof, als hätte es ein langes und ein kurzes Bein. Sein Körper besaß eine Schlagseite von ungefähr zehn Grad gegen die Senkrechte. Es behagte ihm nicht. Es ruckte, als wollte es sich aufrichten, während der Kopf unruhig hin und her fuhr, aber es gelang ihm nicht, und gleich darauf schien es sich mit der sonderbaren Lage abgefunden zu haben, wenn es auch noch aufgeregt zeterte.
Das zweite Huhn marschierte in anderer Richtung und hatte den Kopf auffallend tief unten, während die Schwanzfedern nach oben zeigten. Auch hier konnte man auf eine Abweichung von ungefähr zehn Grad schätzen.
Das dritte Huhn zeigte ähnliche Abweichungen in entgegengesetzter Richtung. Es schleifte mit dem Hinterteil, als wolle es ein Ei legen, während sich Hals und Kopf schräg gegen den Himmel reckten.
Die restliche Hühnerschar teilte sich in die Erscheinungen. Eine persönliche Note besaßen sie nicht. Die stolpernden, gackernden Hühner wechselten ständig ihre Haltung. Das gleiche Huhn lief bald schräg, bald nach vorne und bald nach hinten gekippt.
Der Hahn regte sich am meisten auf. Wahrscheinlich hatte er den Hennen erzählt, dass er die Weltordnung erfunden hätte und war nun um sein Ansehen besorgt.
Biggy klappte den Mund zu, der ihm vor Staunen aufgegangen war. Seiner Meinung nach konnte man Hühnern alles zutrauen, aber dieser Spektakel ging ihm dann doch zu weit. Er gehörte nicht in diese ländliche Idylle.
Er wollte sich erheben, als er von einem neuen Phänomen gefesselt wurde. Auf der pappelgesäumten Straße kam ein Radfahrer heran. Gelbes Rad, Mütze und Ledertasche - der Postbote!
Er fuhr auch schräg! Das Rad lag ungefähr mit zehn Grad Schlagseite schräg und der Postbote auch. Es schien beiden nichts auszumachen. Der Postbote strampelte ganz normal und näherte sich auch ganz normal auf einer leidlich geraden Linie zwischen den Pappeln. Er geriet erst in Verwirrung, als er die Einfahrt bereits passiert hatte und um die Dunggrube herumkurven musste. Irgendetwas beutelte ihn hin und her, so dass es ihm schwer fiel, auf dem Rad zu bleiben. Er schaffte es, bis zur Treppe zu kommen, wenn auch in einer Sturzlandung, und dann stand er schräg vor Biggy. als würde er im nächsten Augenblick umkippen, und auf seinem schweißigen, roten Gesicht lag ein Ausdruck, der für ein Irrenhaus gereicht hätte.
»Die Post!«, würgte er mit zitternden Lippen, während er mit seiner Ledertasche zurechtzukommen versuchte. »Nur zwei Reklamesachen, und die sind für den früheren Besitzer, aber …?«
»Stellen Sie sich gerade hin«, befahl Biggy leise, während seine Augen hart wurden.
»Ich kann nicht!«, jammerte der Postbote. »Ich habe es versucht, aber dann falle ich um. Der ganze Boden steht schräg. Da muss irgendetwas gerutscht sein. An einem Berghang muss man eben schräg stehen. Unheimlich, aber es geht. Sogar das Radfahren. Wenn ich bloß wüsste - haben Sie das etwa angestellt?«
»Ich?«
»Na ja, bei Fremden weiß man nie, nicht? Früher gab es das bei uns jedenfalls nicht. Und wenn es so bleibt - haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich hinsetze?«
»Von mir aus können Sie sich hinlegen«, erlaubte Biggy mürrisch und stand auf.
Er war auf alles Mögliche gefasst, aber er merkte praktisch gar nichts. Er stellte nur an seiner Umgebung fest, dass er schräg stand. Allenfalls konnte er dazu noch eine ungleichmäßige Belastung seiner Füße bemerken. Sonst war alles normal. Er stand sicher. Er hatte nicht den Eindruck, zu fallen.
Trotzdem war ihm unheimlich zumute. Das lag daran, dass er immerhin wusste, mit etwas Unmöglichem zu tun zu haben.
Er drehte sich im rechten Winkel. Sein Körper kippte nach vorn und stand doch so sicher wie zuvor.
Kehrtwendung! Er kippte nach hinten, ohne zu fallen oder im Gleichgewichtsgefühl irritiert zu werden.
Wieder Kehrtwendung. Kippung nach vorn.
Es war grauenhaft. Biggy wusste nicht genau, was Furcht ist, aber jetzt überkam ihn doch eine sonderbare Regung, die in diese Abteilung hineingehören konnte.
Es kam noch schlimmer. Plötzlich kippte die ganze Umgebung samt Haus und Postbote und Hühner stärker. Er stand jetzt unter ungefähr fünfzehn Grad gegen die Senkrechte. Trotzdem fiel er nicht! Trotzdem und obwohl seine Füße abrutschen wollten, stand er sicher, und nichts hätte ihn gehindert, in dieser abseitigen Lage herumzulaufen.
Die extreme Kippung dauerte nur Sekunden. Biggy wurde von einer unsichtbaren Kraft hochgezogen und fand sich wieder in der ursprünglichen Schräge. Das genügte ihm auch noch.
Der Postbote stierte ihn an. Biggy stierte zurück. Dann zog er mechanisch den Spiegel aus der Hosentasche und überzeugte sich, dass seine Frisur nicht wesentlich gelitten hatte. Das beruhigte ihn.
»Ich werde verrückt!«, murmelte er.
»Ich nicht«, seufzte der Postbote, während er sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte. »Wir von der Post können uns das nicht leisten. Die Leute wollen ihre Briefe auf die Minute haben, auch wenn die ganze Welt in den Eimer geht. Haben Sie Telefon?«
Er horchte auf das leise, schnarrende Geräusch, das in der Luft lag. Biggy beeilte sich, an das Gerät in seiner hinteren Hosentasche zu kommen und den Summer abzuschalten. Er hielt nichts davon, die postalische Klatschzentrale von Cootshill mit Sensationen zu versorgen.
»Die Eieruhr!«, lenkte er ab. »Ich habe vor einer Stunde ein paar Eier angesetzt. Jetzt sind sie gar.«
Der Postbote riss die Augen weiter auf.
»Was denn? Sie haben vor einer Stunde …?«
»Was bleibt mir anderes übrig?«, fing Biggy melancholisch ab. »Früh Eier, mittags Eier, abends Eier, und nächstens werden wir um Mitternacht herum noch einmal aufstehen und eine Eiermahlzeit einlegen müssen. Diese Hühner sind bestialische Kreaturen. Sie legen im Jahr mindestens hundertzwanzig Eier. Das gibt bei zehn Hühnern 1200 Junghühner, wenn man die Eier nicht weglässt. Wenn nun im nächsten Jahr jedes Huhn von diesen zwölfhundert wieder hundertzwanzig Küken schafft, dann gibt das schon 144 000 Hühner. Stellen Sie sich das vor. 144 000 Hühner auf diesem Hof! Da können Sie vor Hühnern nicht mehr treten. Und im nächsten Jahr - aber das rechnen Sie sich nur selbst aus. Ihretwegen werde ich nicht zum Genie. Jedenfalls gibt es eben nur ein Mittel gegen diese Hühnerschwemme - Eier essen!«
Der Postbote glotzte ihn an. Es fiel ihm sichtlich schwer, genügend Luft zu finden.
»Aber - aber Sie sind doch erst ein paar Tage hier?«
»Man muss an seine Zukunft denken«, erwiderte Biggy würdig und ging in Schräglage in das Haus hinein.
Howard Glaeser, der jüngste Lokalreporter des New York Herald, fuhr mit der Grünen Welle gemächlich die 36. Straße hinauf, links und rechts neben sich auf Lackfühlung die üblichen Leidensgenossen, die es ebenfalls eilig hatten und ebenfalls die Zeit verbummeln mussten. Während er ein halbes Auge auf den Verkehr hatte, dachte er über die Formulierung des Artikels nach, den er dem Lokalchef auf den Tisch legen wollte. Es musste unbedingt etwas Großartiges werden, das den Lokalchef erschlug oder wenigstens den Verdacht in ihm erweckte, in Howard Glaeser den Star-Reporter der Zukunft vor sich zu haben. Leider war sein Chef ein so mieser Bursche, dass er kein Organ für die Begabungen seiner Mitarbeiter besaß.
Howard Glaeser dachte mit einem Grinsen daran. Er nahm es noch nicht tragisch. Er war noch jung und optimistisch genug, um sicher zu sein, dass sich ihm eines Tages die Welt zu Füßen legen würde. Er war nicht gerade eine männliche Schönheit, sein Haar besaß einen deutlichen Stich ins Rote, und seine zahlreichen Sommersprossen lagen wie eine verrostete Milchstraße auf seinem Gesicht und seiner Nase, aber schließlich waren, andere Leute auch groß und bedeutend geworden, ohne hübsch zu sein.
Er schreckte auf. Zwei Dinge fielen ihm gleichzeitig auf. Erstens zog der Wagen plötzlich zur Seite, als ob er einen Plattfuß hätte. Howard Glaeser musste dem Steuer deutlich Gewalt antun, um in der Linie zu bleiben. Merkwürdigerweise schien es seinen beiden Nachbarn ähnlich zu gehen. Sie saßen plötzlich verkrampft und blickten mit einem Ausdruck zu ihm hin, der zwischen Bestürzung und Verzweiflung lag.
Das zweite war die sonderbare Haltung einiger Passanten jenseits der Bordkante. Sie gingen schräg, als müssten sie sich gegen einen Sturm stemmen, halb nach vorn und halb zur Seite geneigt, obgleich die Luft ruhig war.
Einige schienen nichts dabei zu finden, aber andere blieben stehen, zogen ratlose Gesichter und bewegten sich taumelnd hin und her, als wären sie plötzlich Stehaufmännchen geworden.
Howard Glaser hatte nur wenige Sekunden, um sich zu wundern, dann knallte es schon. Die dreifache Schlange des Gegenverkehrs kam auf seine eigene Kolonne zu, als rutschte sie plötzlich einen Berg herunter. Dutzende von Wagen krachten seitlich gegeneinander und verkeilten sich. Bei der geringen Geschwindigkeit der Grünen Welle ergab das keine ernsthafte Katastrophe, aber Blechschaden für Tausende von Dollars, vom eingedrückten Kotflügel bis zur aufgerissenen Seitenwand. Das Knirschen und Reißen von Blech reichte allerdings auch für stabile Trommelfelle.
Einige Sekunden lang hielt die Straße den Atem an, dann füllte sie sich mit Fluchen, Schreien und verwirrten Zurufen, übergellt von einer einsamen Polizeipfeife.
Howard Glaeser quetschte sich durch den Türspalt. Er hatte es besser als viele andere getroffen, die durch andere Wagen eingeklemmt worden waren und nicht einmal heraus konnten, soweit sie es nicht vorzogen, die Scheiben herunterzudrehen und sich durch die Fenster herauszuwinden. Er schwang sich auf die Motorhaube hinauf und stieg auf das Dach seines Wagens.
Er war Reporter. Er befand sich zufällig im größten Massenzusammenstoß des Jahrhunderts. Ein paar verrückte Einzelheiten waren auch dabei. Das genügte. Er würde dem Lokalchef einen Bericht auf den Tisch knallen, der …
Die Gedanken gingen ihm plötzlich aus. Etwas Ungeheuerliches schlug in ihn hinein.
Die Straße lag schräg!
Es war phantastisch und mit Sicherheit unmöglich, aber er sah ganz deutlich, dass die Straße schräg lag. Die hohen, grauen Miethäuser beiderseits der Straße hatten sich in einem leichten Winkel von ungefähr zehn Grad geneigt, die Straße selbst war entsprechend gekippt, mit ihnen die zusammengeschobenen Wagen, mit ihnen die Menschen, die verwirrt zwischen ihnen herumquirlten.
Während er sich ächzen hörte, als säße ihm ein fremdes Männchen in der Kehle, schlug der zweite Blitz ein.
Er selbst stand schräg!
Nein, es waren nicht die Häuser und die Straße und die Wagen, sondern er selbst stand schräg auf dem Dach seines Wagens in einer Stellung, aus der er unbedingt fallen musste. Er fiel aber nicht. Er spürte nicht einmal eine Unsicherheit oder eine Gleichgewichtsstörung. Er stand ganz fest, ganz sicher.
Eine Winzigkeit später wagte er das freilich auch nicht mehr zu sagen. Als er seine Stellung veränderte, um sich die Szene ringsum anzusehen, taumelte die Straße vor seinen Augen auf und nieder, je nach seinen Bewegungen bald vorwärts und bald zurück, bald nach rechts und bald nach links. Es war die reinste Hexenschaukel. Sie ließ ihm jedoch noch Klarheit genug, um zu erfassen, dass nicht seine Umgebung so herumkippte, sondern er selbst.
Howard Glaeser spürte auf einmal so etwas wie einen Schüttelfrost in sich. Was er jetzt erlebte - ganz zufällig - war einmalig, ungeheuerlich, unwirklich, gespenstisch und welterschütternd. Wenn es ihm gelang, das in einem Bericht hinzukriegen, würde der Lokalchef seinen Sessel räumen und ihn, Howard Glaeser, hineindrücken, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.
Also Augen auf und jeden Nerv auf Touren!
Er brauchte sich nicht anzustrengen, um Eindrücke zu sammeln. Keine fünfzig Meter vor ihm brannte ein Wagen wie eine Fackel. Menschen schrien. Einige Männer drehten sich wie Regenwürmer aus den benachbarten Wagen heraus. Andere versuchten, die verkeilten Wagen auseinander zuziehen und den eingesperrten Insassen herauszuhelfen. Die Polizeipfeife gellte immer noch. Ein Trupp Männer, Frauen und Kinder rannte in panischer Angst auf dem Bürgersteig entlang, um vom Brand wegzukommen, ein ganzer Klumpen blankes Entsetzen und doch dank der sonderbaren Schräghaltung und der stolpernden Bewegungen eine wilde Groteske. Dann ein Knall. Der brennende Wagen flog in die Luft. Autoteile schwirrten wie Geschosse. Die Straße schrie und stöhnte. Ein anderer Wagen begann zu brennen. Hundert Meter zurück glühte eine neue Fackel auf.
Die Fenster der Häuser wurden aufgerissen. Köpfe schoben sich vorsichtig heraus. Hier und dort drängten sich kleine Trauben von Neugierigen an den Fenstern.
Howard Glaeser schrieb im Geiste. Er ließ sein Notizbuch in der Tasche. Er war schon zufrieden, eine Zigarette aus der Packung herauszubekommen und anzünden zu können.
Aus einem der benachbarten Wagen heraus dudelte ein Autoradio ein Lied von Hawaii und seinen braunen Mädchen, von weißem Strand und ewiger Sehnsucht.
Dann sah er die Flutwelle herankommen.
Er wusste nicht, was es war. Er entdeckte weit vorn in der Straßenschlucht eine glasige, grünliche Wand mit weißen Rissen, die zunächst durchsichtig zu sein schien, und sich in die Straße hineindrückte. Sie kam für seine Sinne langsam heran, aber etwas später war er nicht mehr sicher, ob sie nicht schnell hereinbrach und nur seine Sinne im Zeitlupentempo reagiert hatten.
Sie war nichts Wirkliches für ihn und ließ sich nicht einordnen. Er sah von seinem erhöhten Standpunkt, wie sie Autos vor sich aufwirbelte, als wäre sie ein stäubender Besen, aber sie ging nicht in ihn hinein. Die Kontakte griffen erst, als er die Wasserwand plötzlich mit rasender Geschwindigkeit und mindestens zehn Meter hoch auf sich zukommen sah und auf ihrer weiß geäderten Kimme ein kleines Motorboot entdeckte, das wie spielerisch hin und her schaukelte.
Viel mehr als drei Sekunden blieben ihm nicht, aber in diesen drei Sekunden hatte er eine Vision, die ihn wenigstens begreifen ließ, was geschah. Und damit war er besser dran als Millionen anderer New Yorker, die von der Katastrophe erfasst wurden, ohne auch nur das Geringste zu begreifen.
Howard Glaeser sah das Meer jenseits von Manhattan und Brooklyn, den Ozean, der mit Buchten und Häfen bis in die Stadt hineingriff, unendliche Mengen Wasser vor den steinernen Klippen, auf denen New York stand. Wasser war beweglich - beweglicher noch als Menschen. Es stand nicht starr und fest verankert wie diese Häuser rechts und links. Es passte sich willig an. Was auch immer vorlag - wenn er, Howard Glaeser, so schräg in der Welt stand, dann würde auch das Wasser geneigt sein, sich so schräg einzustellen. Und wenn das geschah, dann lag jetzt der Meeresspiegel dort draußen, die
Oberfläche des Atlantik, etwa zehn Grad gegen die gewohnte Horizontale! Er sah es. Er sah den Ozean wie auf einer Karte. Irgendwo würden die Wassermassen wohl in die Tiefe sinken, aber irgendwo mussten sie sich gleichzeitig heben, wenn sieh der Meeresspiegel wie ein richtiger Spiegel um eine unsichtbare Achse drehte. An der Bewegung würde nichts Vollkommenes sein, und vielleicht machte sie nur einen geringen Bruchteil des rechnerischen Betrags aus, aber schon ein geringer Bruchteil genügte für eine Stadt, die bereits mit den Füßen im Wasser stand. Er sah es. Er sah, wie sich draußen vor der Freiheitsstatue das Wasser hob, Zentimeter erst, dann Meter, wie es sich zur glasigen, grünen Wand aufstaute, wie die Wasserwand gegen die Stadt anstürmte, Boote und Schiffe verschlang und zertrümmerte, die Kais zerriss, Menschen verwirbelte, gegen die Wolkenkratzer anbrandete und in die Straßenschluchten hineinstieß.
Dann war die Wasserwand über Howard Glaeser und hob ihn aus, einer von Hunderten, die wie dunkle Spreu zwischen irgendwelchen zerschmetterten Gegenständen herumwirbelten.
Er war jung, und er konnte schwimmen. Es half ihm nichts. Irgendwann warf es ihn gegen eine Hauswand, irgendwann prallte er mit einem harten Objekt zusammen und fühlte sich gelähmt, irgendwann schluckte er salziges Wasser und irgendwann wollte ihn die Besinnung verlassen.
Nur ein Restchen blieb, ein ganz verrücktes Restchen. Wenn er ertrank, dann würde er niemals dem Lokalchef diese Geschichte auf den Tisch knallen können, und das konnte ihm niemand versagen, das durfte er sich nicht nehmen lassen, das musste er noch erleben.
Vielleicht war es dieses Restchen, das ihn veranlasste, sich an etwas Hartes zu klammern, gegen das er geworfen wurde. Eine Kleinigkeit später öffnete sich ein schmaler Schlitz seines Bewusstseins, und er sah, dass er sich an das Rahmenholz eines Fensters klammerte; dass er auf einer Fensterbrüstung klebte und dass unter ihm ein straßenfüllender Wasserstrom, der ihn aus irgendwelchen Ursachen hochgetragen hatte, zurückfiel und ihn freigab. Und dann spürte er fremde Hände an sich und fiel in einen Raum hinein, dessen Boden mit Wasser bedeckt war.
Als er wieder zu sich kam, sah er dicht vor seinen Augen nasse Holzdielen, die mit einer schmutzigen Schicht bedeckt waren und nach Meer rochen. Rechts und links bemerkte er Hände, deren Fingerspitzen den Boden berührten. Etwas später ging ihm auf, dass es seine eigenen Hände waren. Er hing mit Kopf und Händen nach unten, während sein Körper weiter oben auflag. Irgendetwas arbeitete auf seinen Schultern herum und versuchte, sie kaputt zu machen. Dann gerieten seine Augen an nackte Füße und dazugehörige schlanke Beine, die unmöglich seine eigenen sein konnten, sondern eher nach Frauenbeinen aussahen. Da begriff er ungefähr. Ein weibliches Wesen hatte ihn übers Knie gelegt und machte Wiederbelebungsversuche oder bemühte sich wenigstens, das Wasser aus ihm herauszuquetschen.
Er überzeugte sich vorsichtshalber und griff nach den fremden Beinen. Daraufhin gab es einen Ruck, und er flog auf den Fußboden. Das schockte ihn für kurze Zeit, aber dann gelang es ihm, sich herumzuwälzen, sich hochzustützen und die Augen wieder zu öffnen.
Es lohnte sich. Das Mädchen vor ihm war nass wie eine ersäufte Katze. Das Kleid klebte überall an ihr und ließ keinen Zweifel an ihrer Figur. Das junge Gesicht war bestens abgewaschen, aber sie konnte sich das leisten. Und Ärger stand ihr.
»Typisch Mann!«, fauchte sie auf ihn herunter. »Ich strenge mich an, Sie wieder ins Leben zurückzubringen, und Sie tätscheln an meinen Beinen herum.«
»Tätscheln?«, wehrte er sich benommen. »Ich wollte mich nur vergewissern - Teufel noch mal, eben stand ich noch auf meinem Wagen, und jetzt plötzlich in den Armen einer Frau - bin ich ein Elektronenapparat, dass ich so schnell schalten muss?«
»Nicht in meinen Armen«, berichtigte sie weniger heftig. »Können Sie nicht wenigstens aufstehen?«
»Warum?«
»Warum? Ich will sehen, ob ich allein verrückt bin.«
Er drückte sich mit einer Mühe hoch und registrierte dabei, dass der Raum etwas schräg stand.
»Verrückt ist der richtige Ausdruck«, murmelte er dabei. »Was ist eigentlich los?«
»Gott sei Dank!«, atmete sie seufzend auf. »Sie sind auch schräg.«
»Ob das einen Dank wert ist, fragt sich noch«, murrte er und blickte an sich herunter. Er gab es schnell wieder auf, denn mit dem, was ihm von seiner Kleidung geblieben war, hätte er leicht auf einen Lumpenball gehen können. »Was ist los?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie kleinlaut und mit einer Verzweiflung an der Stimme, die kurz vor dem Durchbruch sein konnte. »Unten auf der Straße war etwas los, aber bevor ich mich darum kümmern konnte, zersprangen plötzlich die Scheiben und ich saß mitten im Wasser. Ich kam mir wie ein Fisch im Aquarium vor und hatte zu tun, um Luft zu bekommen. Dann wollte es mich hinausziehen, aber da hingen Sie am Fensterkreuz und ich konnte mich dagegenstemmen, und dann fiel das Wasser und ich konnte Sie hereinziehen. Und - und vor der Tür liegen ein paar Tote - Hausbewohner, die hochgeschwemmt wurden. Und - und draußen ist Venedig.«
Ihre Lippen zitterten. Sie strengte sich an, um nicht zusammenzubrechen, aber sie konnte es kaum allein schaffen. Kunststück! Er hatte Mühe, seine eigenen Lippen ruhig zu halten.
»Wenn Sie heulen, haue ich Ihnen eine runter«, versprach er grob. »Sehen Sie lieber zu, dass Sie etwas Trockenes auf den Leib bekommen. In dem Zustand empfängt man keine Männerbesuche.«
Sie starrte ihn an, wurde rund und sauber rot - und das in New York! - und zischte mit Inbrunst:
»Sie Ekel!«
Er grinste mühselig und stolperte an das Fenster heran. Dort verging ihm selbst der letzte Schatten eines Grinsens. Zwei Meter unter ihm schoss ein reißender, quirlender Strom vorbei, der durch die jenseitige Häuserfront begrenzt wurde. Hoch war die Front nicht mehr. Sie mussten sich im zweiten oder dritten Stock befinden. Im Mindestfalle stand dieser Teil von New York fünf bis zehn Meter unter Wasser.
Der Lokalchef mit seinem Schreibtisch auch.
Das Mädchen trat neben ihn und berührte seine Hand. Ihre Stimme kam flach und kleinlaut.
»Was bedeutet das?«
»Vielleicht eine Springflut?«
»Eine Springflut? Halten Sie mich für dumm?«
Er drehte sich zu ihr um. Ihre Augen waren hellbraun und jetzt übernatürlich groß. Nein, dumm sah sie nicht aus.
»Nein, keine Springflut«, antwortete er schwerfällig. »Es ist etwas, worauf wir nicht geeicht sind. Vielleicht finden wir es noch heraus - wenn wir es überleben. Und das wird nicht leicht sein.«
»Ich dachte es mir«, sagte sie leise, ohne die Augen abzuwenden.
»Wir wollen es versuchen. Und vielleicht wäre es gut, wenn wir es zusammen versuchen würden.«
»Ja«, nickte sie.
Es erleichterte ihn. Er war plötzlich sicher, dass sie es schaffen würden, aus der Katastrophe herauszukommen. Tausende von New Yorkern würden an diesem Tag gestorben sein, aber sie würden leben.
Howard Glaeser wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass an diesem Tag fünfzehntausend Menschen in New York gestorben waren und dass weitere zwanzigtausend noch sterben mussten. Er erfuhr es erst viel später, als es ihm gelungen war, sich aus dem Chaos herauszukämpfen. Und es wäre ihm kaum gelungen, wenn ihn nicht die Verantwortung für das fremde Mädchen gezwungen hätte, mehr aus sich herauszuholen, als er in sich vermutet hatte.
Mark Tolins stand auf dem Küchentisch.
Es war eine altmodische, große Küche mit einem mächtigen Eisenherd, der in das alte Haus hineinpasste. Sie erinnerte an die Zeiten, in der die Hausfrauen vorzugsweise damit beschäftigt waren, ihre Familie auf angenehme Weise zu füttern. Jetzt stand sie sauber und unberührt wie ein Museumsstück, denn inzwischen war an die Stelle der Küche die Kochnische mit Tauchsieder, Elektroplatte und Infragrill getreten, und die Kochkünste zahlloser Hausfrauen beschränkten sich darauf, sich einen Tisch in einem Speiserestaurant zu sichern.
Mark Tolins ließ Erbsen herunterfallen.
Er war über hundertachtzig groß, schlank und sehnig, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, ein Mann von dreißig Jahren, der sich sportlich in Form befand. Es war ihm leicht anzusehen, denn er trug im Augenblick nur Shorts und ein offenes Hemd. Er gehörte zu den seltenen Männern, bei dessen Anblick einem unversehens einfiel, dass der Mann eigentlich das beste Stück der Schöpfung war.
Sein braunes, verwettertes Gesicht war nicht hübsch, aber männlich und energisch mit einem guten Stich ins Verwegene und Abenteuerliche. Es wirkte beherrscht und verschlossen, ließ aber trotzdem ein frohes Lachen zu. In seinen hellen, grauen Augen lag die kühle Gelassenheit eines furchtlosen Mannes, der den Tod schon oft genug gesehen hat. Unter dem Grau lag ein dünner Hauch von Blau, der wie ein Schimmer von Eis hervortreten konnte.
Er stand schräg auf dem Küchentisch, und die trockenen Erbsen fielen schräg zum Boden, schlugen kaum hörbar auf und rollten weg.
Biggy beobachtete eine Weile von der Küchentür aus, bevor er begriffen hatte und es angemessen fand, sich zu räuspern.
»Ein neue Methode, Mark? Es wird nur etwas schwierig sein, auf diese Weise zu Erbsensuppe zu kommen. Oder soll es Erbsenbrei werden? Das wäre vielleicht eher zu erreichen.«
Mark Tolins bedachte ihn mit einem flüchtigen Blick.
»Schade, Biggy. Ich dachte, das wäre haarsträubend genug, um dich zu irritieren, aber ich sehe, dass ich mich geirrt habe. Oder ist dir überhaupt nichts aufgefallen?«
»Doch, Mark«, antwortete Biggy mit einem Seufzer. »Ich habe heute das erste weiße Haar entdeckt. Es ist grauenhaft, wenn man alt wird.«
»Ja, ich hörte schon davon. Die geistigen Fähigkeiten lassen nach. Das muss vor allem den Leuten, die nie so etwas besessen haben, außerordentlich schmeicheln.«
»Wem sagst du das, Mark?«, lächelte Biggy mild. »Es gibt nicht viele Leute, die ihrem Kopf so viel Aufmerksamkeit widmen wie ich.«
»Wenigstens nicht außerhalb der Friseursalons«, erwiderte Tolins trocken und sprang vom Tisch herunter. Er ging mit schnellen Schritten auf Biggy zu und fixierte ihn. »Nun, Biggy?«
Biggy überzeugte sich mit einem gewohnheitsmäßigen Griff, dass sein Mittelscheitel noch nicht gelitten hatte.
»Ich sage nichts von diesen Dingen zwischen Himmel und Erde, Mark. Ich sage nur, dass die Hühner schräg herumlaufen. Und der Postbote ist mit Schlagseite angeradelt gekommen. Soweit es mich selbst betrifft, werde ich mir ein Korsett zulegen. Selbst die besten inneren Organe halten diese Herumtorkelei nicht aus. Aber wenn du meinst, dass das Herumwerfen mit Erbsen etwas nützt …?«
Er schluckte, als Mark Tolins die Brauen zusammenzog, um dann hastig und beschwörend zu ergänzen:
»Ein Schlafmittel, Mark. Schlafmittel sind immer gut, wenn man Ungelegenheiten vermeiden will. Du glaubst nicht, was der Menschheit alles erspart geblieben wäre, wenn gewisse Leute ihre Epoche Verschlafen hätten. Wir sind erst einige Tage hier, und du hattest mir fest versprochen, aus Rücksicht auf meine angegriffenen Nerven längere Zeit zwischen den Hühnern und …«
»Das ist eine teuflische Sache, Biggy«, unterbrach Mark Tolins nachdenklich und wandte sich ab. »Wenn das eine allgemeine Erscheinung ist, von der die ganze Erde betroffen wird …?«
»Eine lokale Eigentümlichkeit, Mark«, redete Biggy gut zu. »Ich habe mit dem Postboten gesprochen. Er meint, das käme hier öfters einmal vor, und es hätte nichts zu bedeuten. Kein Grund zur Aufregung. Soll ich die Erbsen wieder einsammeln oder willst du, dass sie am Boden zertreten werden?«
»Gravitationsschwankungen«, überlegte Mark Tolins halblaut. »Sie sind aber unmöglich.«
»Genau das meinte ich«, nickte Biggy. »Eine alkoholische Erscheinung. Ich erinnere mich, dass ich einmal betrunken war und dass sich bei dieser Gelegenheit die Straße vor mir hob und senkte und bald nach der einen und bald nach der anderen Seite schwankte.«
Tolins lächelte flüchtig, ohne den nachdenklichen Ausdruck aus seinem Gesicht zu verlieren.
»Dann solltest du die Hühner nicht mit Whisky tränken, Biggy. Und die Erbsen haben bestimmt nicht in Alkohol gelegen. Nein, das sind schon objektive Gravitationsschwankungen. Ich frage mich nur, wie sie möglich sind.«
Biggy griff schleunigst nach der Türkante, weil er den Eindruck hatte, zu fallen. Gleich darauf bemerkte er, dass die Küche wieder normal vor seinen Augen stand. Mark Tolins ebenfalls.
»Schon vorbei, Mark«, stellte er überflüssigerweise fest.
Mark Tolins drehte sich wieder zu ihm um.
»Und was denkst du dir dabei, Biggy?«
»Nichts!«, sagte Biggy stur. »Ich denke mir überhaupt nichts mehr. Ich habe einmal in meinem Leben daneben gedacht, als ich mich von dir als Universalgehilfe engagieren ließ und mir dabei ein geruhsames Dasein mit deinen Zigarren versprach. Das hat mir genügt. Von mir aus kann mich diese Gravitation auf den Kopf stellen, ohne dass ich ein Wort darüber verliere. Wieso schwankt diese Gravitation eigentlich?«
»Das möchte ich auch gern wissen.«
»Als gebildeter Mensch hat man seine Verpflichtungen«, erinnerte Biggy vorwurfsvoll. »Wenn du es schon nicht weißt, solltest du wenigstens so tun. Ich persönlich bin für Blähungen.«
»Blähungen?«
»Erdblähungen. Ich würde mich nicht wundern, wenn sich die Erde irgendwo ausgebeult hat. Vielleicht ist aber auch nur der Mittelpunkt verrutscht? Ich erinnere mich, in der Schule gelernt zu haben, dass die Dinge nach unten fallen, weil sie von diesem Mittelpunkt angezogen werden.«
»Von der Erdmasse«, berichtigte Tolins sachlich. »Es ist nur eine Vereinfachung, wenn man die Wirkung auf den Erdmittelpunkt konzentriert denkt. Die physikalische Wirkung liegt bei der Masse. Jedes Masseteilchen zieht ein anderes mit einer bestimmten Kraft an, und da die Erdmasse allen anderen Massen an ihrer Oberfläche riesig überlegen ist, wird alles zur Erde herangezogen. Und weil die Erde eine Kugel ist, zielt die Fallrichtung auf den Mittelpunkt.«
»Also Blähungen«, wiederholte Biggy befriedigt. »Die Erde ist keine Kugel mehr. Habe ich gleich gesagt. Der Instinkt des kleinen Mannes, mein Lieber.«
»Stinkt!«, sagte Mark Tolins trocken. »Wir stehen schon wieder normal. Man kann der Erde eine ganze Menge zutrauen, aber nicht, dass sie für eine halbe Stunde zur Pflaume wird und dann wieder zur vorschriftsmäßigen Kugel.«
»Ganz meine Meinung«, behauptete Biggy unerschüttert. »Es kann nur an der Masse liegen. Ich habe da neulich ein Buch gelesen, das ›Aufstand der Massen‹ hieß. In unseren …«
»Das betrifft etwas anderes.«
»Interessant, Mark, aber in unseren revolutionären Zeiten muss man damit rechnen, dass auch die Erdmassen in Aufruhr geraten. Vielleicht haben sie sich organisiert und sind entschlossen, aus ihrer Anziehung mehr herauszuholen als bisher? Wenn ich bedenke, an wie viel Stellen der Erde von Freiheit, Selbstbestimmung und anderen demokratischen Rechten unaufhörlich gesprochen wird, wundert es mich nicht, wenn selbst diese Masseteilchen …«
»Das reicht, Biggy«, fing Tolins amüsiert ab. »Wenn du so weitermachst, werde ich dich eines Tages doch noch zwischen die Knie nehmen und deinen Kopf rasieren müssen. Eine physikalische Veränderung in den Masseteilchen scheidet schon deshalb aus, weil es dort insofern nichts gibt, was sich verändern könnte. Nicht einmal unserer gesamten Kernphysik ist es gelungen, in den Masseteilchen eine Anziehung zu entdecken - oder irgendetwas, das eine Anziehung hervorrufen könnte.«
»Hä?«, staunte Biggy.
»Eben.«
»Aber …?«
»Schon gut, Biggy. Denke lieber nicht erst darüber nach. Mit deinen Blähungen ist uns jedenfalls nicht geholfen. Wir werden uns an die Kraftlinien halten müssen.«
»Kraftlinien sind immer gut«, seufzte Biggy vorsichtig. Er kannte Mark Tolins und wusste ziemlich genau, dass hinter dieser breiten, ausdrucksvollen Stirn die Gedanken jagten und nach einer Erklärung suchten. In diesen sonderbaren Veränderungen der letzten halben Stunde drohte eine Gefahr, und Mark Tolins war nicht der Mann, der einer Gefahr den Rücken zeigte.
»Die Kraftlinien«, wiederholte Mark Tolins wie im Selbstgespräch. »Es gibt in den Atomen nichts, was anziehen könnte. Es gibt auch zwischen der Erdmasse und einem fallenden Stein keine nachweisbare physikalische Beziehung. Aber man kann sich wenigstens Kraftlinien vorstellen, mit denen die Richtung vorgeschrieben wird. Sie zeigen alle zum Erdmittelpunkt, stehen also lotrecht auf der Erde. Ein Igel mit Stacheln, die nach allen Seiten gleichmäßig gesträubt sind. Wir stehen senkrecht auf den Füßen, wie es die Kraftlinien verlangen, und jeder Stein fällt wie die Kraftlinie. Wir wissen eigentlich nicht, was physikalisch vorliegt, aber wenn es möglich sein sollte, diese Kraftlinien zu verändern, ihnen eine andere Richtung zu geben …?«
Er ließ den Gedanken stumm weiterlaufen und schloss erst nach einer Pause ab:
»Das könnte es sein, Biggy. Die Erdmasse bleibt unverändert, aber die Kraftlinien werden in eine andere Richtung gezwungen. Das würde unsere Beobachtungen erklären.«
»Interessant, Mark«, stimmte Biggy zu. »Wir werden sicher darüber noch in den Zeitungen lesen.«
Tolins lächelte schwach.
»Keine frohen Hoffnungen, Biggy. Wir werden uns nicht mit den Zeitungen begnügen. Ich weiß noch nicht, ob wir es mit einem lokalen Ereignis zu tun haben oder ob es die ganze Erde betrifft, aber wir müssen ihm nachgehen. Es bedeutet Gefahr. Ich möchte wissen, wer diese Kraftlinien verändern kann, wenn wir einmal bei dieser Vorstellung bleiben wollen.«
»Hm?«
Mehr brachte Biggy im Moment nicht heraus. Er entdeckte in den hellgrauen Augen einen gewissen blauen Schimmer, der ihm eine Menge besagte. Es war wieder einmal Zeit, die Hosen fester zu binden.
»Genau das«, sagte Mark Tolins, als könnte er Gedanken lesen. »Es spricht nämlich wenig dafür, dass ein irdischer Wissenschaftler die Mittel gefunden hat, um auf diese Weise zu experimentieren. Und das bedeutet, dass vielleicht Unbekannte aus dem Raum dabei sind, die Erde durcheinander zu bringen. Und dann könnte es hart auf hart gehen.«
»Ich kündige«, seufzte Biggy. »Ich habe mir ernstlich vorgenommen, meinen Enkelkindern Märchen zu erzählen. Wie soll ich aber zu Enkelkindern kommen, wenn du mich dauernd in Lebensgefahr bringst?«
»Ein ernstes Problem«, stimmte Mark Tolins zu. »Noch ernster ist freilich die Frage, ob deine Enkelkinder nicht mit einem anderen Großvater glücklicher wären.«
Biggy öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu.
»Ein gemeiner Trick, Mark«, sagte er nach einer Pause verwirrt. »Du bringst mich um meinen Seelenfrieden.«
Gleich darauf blinzelte er, und dann ging er hinaus.
Die rätselhafte Katastrophe traf fast den ganzen nordamerikanischen Kontinent zwischen Mexiko und Alaska, beschränkte sich jedoch auch auf ihn. Andere Gebiete der Erde wurden, abgesehen von gewissen Nebenwirkungen, nicht betroffen.
Am schwersten wurden die Städte und Ortschaften an der amerikanischen Ostküste heimgesucht. Soweit sie sich in Küstennähe befanden, gerieten sie, wie New York, unter riesige Flutwellen, die sich unversehens aus dem Meer herausbäumten, und als mächtige Wasserwände in das Land einfielen, alles zerschmetternd und alles unter sich begrabend, bis ihnen das aufsteigende Festland eine neue Küstenlinie zog. Von hier aus ebbte die Flut schon eine halbe Stunde später wieder zurück und gab das Land mit seinen überschwemmten Orten frei, aber das Wasser ließ zahlreiche Tote, zertrümmerte Dörfer und Städte, verschlammte Felder und zerstörte Plantagen, zerbrochene Brücken, zerrissene Straßen und vernichtete Leitungen zurück.
An der Westküste ergab sich gleichsam das Gegenbild. Das Meer wich plötzlich von der Küste zurück, als wolle es auslaufen, gab den abfallenden, schlicken Meeresboden frei, so weit das Auge reichte, und setzte innerhalb von Minuten alle Schiffe auf Grund, die sich in Küstennähe befanden. Eine halbe Stunde später wurden sie von dem zurückkehrenden Ozean verschlungen. Die Schiffe, die sich weiter draußen befanden, gerieten in eine turmhohe Welle, der viele von ihnen nicht gewachsen waren. Diese Welle wanderte übrigens über den ganzen Pazifik hinweg, erreichte die Küsten Japans und richtete dort noch erhebliche Verwüstungen an.
Im Innern Amerikas hielt sich die Katastrophe in Grenzen. Hart getroffen wurde der Verkehr in der Luft und auf der Straße. Dabei machte es kaum einen Unterschied, ob am Steuer ein Automat oder ein Mensch saß. Die Verlagerung der Schwerelinien machte sowohl die Automaten wie die Menschen verrückt. Sie reagierten falsch, so dass sich innerhalb von Minuten in den Staaten Tausende von Flugzeugabstürzen und Tausende von Straßenunfällen ereigneten.