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ISBN: 978-3-492-98451-5
© 2018 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Sandra Lode
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»Fieke? Fiiiiieke!« Die schneidende Stimme ihrer Mutter drang durch das verwilderte Gebüsch, hinter das sich Prinzessin Sophie Auguste Friederike mit ihrem jüngeren Bruder Willi verzogen hatte.
Willi, eigentlich Wilhelm Christian Friedrich, der bislang mit seiner Spielzeugtrommel im Kreis marschiert war, blieb abrupt stehen. »Hier ist sie, Frau Mutter!«
»Petze!« Sophie, die in der Familie nur Fieke gerufen wurde, zog verärgert die Augenbrauen zusammen. Im nächsten Moment stand ihre Mutter auch schon neben ihnen.
Johanna Elisabeth von Holstein-Gottorp, Fürstin von Anhalt-Zerbst, war eine schöne Frau. Sie war am Hofe ihres Onkels in Braunschweig erzogen worden und besaß einen außerordentlichen Familienstolz. Ihre Ehe mit dem zweiundzwanzig Jahre älteren und in seiner soldatischen Schlichtheit äußerst gegensätzlichen Fürsten Christian August von Anhalt-Zerbst hatte ihrem Temperament, ihrer Lebendigkeit und ihrem Lebenshunger keinen Abbruch getan. Nur Sophie, die ungeliebte Tochter, passte nicht in ihr Leben.
»Wie siehst du denn schon wieder aus?« Fürstin Johannas Stimme steigerte sich zum Diskant. Sie fächelte sich mit einem filigranen Fächer Luft zu, und ihr geschnürter Busen wogte vor Empörung.
Sophie bot wirklich nicht das Bild, das eine Mutter von ihrer Tochter erwarten konnte. Ihr Kleid war zerknittert und am Saum eingerissen, ihr Gesicht verschwitzt und von einem Schmutzstreifen quer über die Stirn verziert, ihr Haar aufgelöst.
»Heute Abend treffen liebe Gäste ein, mein Bruder Adolf Friedrich mit seinem Mündel. Wir wollen ihn angemessen begrüßen, und du musst einen guten Eindruck hinterlassen. Schließlich muss ich sehen, dass ich für dich einen passenden Gemahl finde, und du siehst aus wie eine Gänsemagd! Wie soll ich so ein hässliches Ding wie dich bloß unter die Haube bekommen?«
Patsch! Eine schallende Ohrfeige landete auf Sophies Wange.
Willi kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Sophie unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Eher bekam sie Mitleid mit Babette, ihrer Gouvernante, die wohl den Rest des Zorns von Sophies Mutter abbekommen würde.
Fürstin Johanna legte den Arm liebkosend um Willi. Augenblicklich änderten sich ihre Laune und ihre Stimmlage. »Komm, mein kleiner Liebling, auch dich müssen wir ordentlich herrichten. Schließlich willst du doch heute Abend bei deinem Onkel auch einen guten Eindruck hinterlassen, nicht wahr?«
»Ja, Frau Mutter«, erwiderte Willi folgsam.
Sophie sah hinter den beiden her, wie sie sich entfernten. Es war ein böser, hasserfüllter Blick. Hass auf ihre Mutter, die sie so lieblos behandelte, ihren jüngeren Bruder Willi aber verhätschelte und bevorzugte; Hass auf Willi, der hinkend neben der Mutter ging, dabei sein verkürztes Bein hinterherzog wie ein lahmes Pferd. Willi würde nie ein Soldat werden, auch wenn er ständig zu irgendwelchen Heilkuren geschickt wurde. Meist benötigte er eine Krücke, und in Sophies Augen war er nichts weiter als ein nutzloser Krüppel.
Sophies Mutter sah dies allerdings ganz anders. Während sie Willi ihre ganze Liebe und Zuneigung schenkte, hatte sie für ihre Tochter nichts weiter als Verachtung übrig. Sophie war hässlich, Sophie war eine Belastung, Sophie war ein Mädchen.
»Petze«, wiederholte Sophie noch einmal, doch weder die Mutter noch Willi konnten es hören.
Babette zupfte Sophies Kleid zurecht. Nichts im Gesicht der jungen Gouvernante verriet das Donnerwetter, das sie eben über sich ergehen lassen musste. Die Fürstin war nicht zimperlich beim Austeilen von Rügen und Strafen. Sophie senkte schuldbewusst den Kopf, denn sie war die Ursache für Mutters Schelte.
Babette lachte. »Freu dich auf den Abend, Fieke. Du wirst die Schönste auf dem Empfang eures Onkels sein.«
Wider Willen musste nun auch Sophie lächeln. »Geben Sie sich keine Mühe, Babette, ich weiß, ich bin so hässlich, dass ich ganz bestimmt keinen Mann bekomme. Mutter sagt es mir bei jeder Gelegenheit.«
»Was ist schon Schönheit?«, erwiderte Babette. »Jeder sieht Schönheit anders. Und ein hübsches Kleid macht aus dir einen ganz anderen Menschen. Schau dich an.« Sie schob Sophie vor den Spiegel.
Das Mädchen, das ihr da entgegenblickte, wirkte lang und dünn wie eine Bohnenstange. Auch der weite Rock mit Rüschen und aufgenähten Stoffblüten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie mager sie war. In dem Gesicht mit den schmalen Wangen wirkten die dunkelblauen Augen übergroß.
Babette setzte Sophie eine gepuderte Perücke aufs Haupt und verzierte sie mit einer künstlichen Blüte. »Und ich behaupte, du bist heute die Schönste.«
Sophie öffnete seufzend ein Kästchen, in dem ein Paar Ohrringe auf rotem Samt lagen. Es war der einzige Schmuck, den sie besaß. Er blieb besonderen Anlässen vorbehalten wie diesem Empfang ihres Onkels, des Fürstbischofs zu Lübeck, der seit dem Tode Karls von Holstein Statthalter in Kiel war. »Mutter hat keine andere Sorge, als mir einen Mann zu suchen«, erwiderte sie und schluckte. »Ich bin gerade einmal zehn Jahre alt. Was soll ich mit einem Mann?«
Am Nachmittag hatte sie noch mit ihrem ungeliebten Bruder in einer verwilderten Ecke des Eutiner Schlosses gespielt. Diese Spiele eröffneten ihr das Tor zu einer Traumwelt, die sie mit Willi teilte. Beide träumten davon, was sie im Leben niemals erreichen würden. Willi war der Soldat, der mutige General, der eine Armee befehligte, in die Schlacht zog und als siegreicher Feldherr zurückkehrte. Sophie war die Königin, die ein Reich regierte, eine Krone auf dem Haupt trug und ein ganzes Volk befehligte. Auch ihren Bruder, den Soldaten, der mit der Blechtrommel im Kreis marschierte. Nur Babette wusste von Sophies Träumen. Nur Babette verstand ihre Sehnsucht. Aber auch sie konnte Sophie nicht helfen.
»Man kann nicht zeitig genug damit anfangen, sich einen geeigneten Gemahl zu suchen«, plauderte Babette in ihrem französisch gefärbten Tonfall. »Ich finde, deine Eltern handeln sehr verantwortungsbewusst. Schließlich müssen sie dich doch gut versorgt wissen – später einmal.«
»Eben! Später!« Sophie verzog das Gesicht. »Außerdem muss eine Königin nicht unbedingt verheiratet sein. Die englische Königin Elisabeth hatte auch keinen …«
Sophie stockte, als die Tür aufgerissen wurde. Die Fürstin stürmte herein, indem sie geschickt ihren breiten Reifrock zur Seite schwenkte. »Wie weit ist das Kind?«
Babette verfiel in einen tiefen Knicks. »Ihre Hoheit, Prinzessin Sophie, ist fertig angekleidet.«
Die Fürstin musterte Sophie von Kopf bis Fuß. Ihre Miene drückte Skepsis und Widerwillen aus. »Man müsste schon zaubern können, um aus diesem hässlichen Entlein etwas Ansehnliches zu machen. Ich weiß nicht, warum mich Gott mit so einem grauseligen Wesen gestraft hat.« Sie wirbelte herum, um Sophies Zimmer wieder zu verlassen.
»Mach dir nichts draus, sie meint es nicht so«, versuchte Babette, die Prinzessin zu trösten.
Sophie presste die Lippen zusammen, und ihre Augen schimmerten feucht. »Ich werde es ihr schon beweisen, dass in mir mehr steckt als nur ein hässliches Entlein!«
Sophie und Willi standen steif an der Wand, während die Fürstin mit ausgebreiteten Armen ihrem Bruder entgegeneilte. Der Fürstbischof trug prachtvolle Kleidung und eine tadellos gepuderte Perücke. Beim Anblick seiner hübschen und temperamentvollen Schwester huschte ein erfreutes Lächeln über sein Gesicht, und er verlor alle Reserviertheit.
»Ich freue mich so, dich zu sehen, mein Lieber«, sprudelte es aus Fürstin Johanna heraus. »Es ist ja auch eine passende Gelegenheit, wo wir doch gerade von einem Besuch der Mutter aus Hamburg kommen. Wir haben extra deinetwegen hier Aufenthalt genommen. Ach, man sieht sich ja so selten, wo wir ständig auf Reisen sind, und dann noch die Kinder …« Sie stockte und warf einen irritierten Blick auf den verschüchterten Jungen, der sich hinter dem Rücken des Fürstbischofs verbarg. »Wen hast du denn da mitgebracht? Ist das etwa dein Mündel, der kleine Peter? Ach, der Junge ist aber gewachsen! Was für ein hübscher Bursche! Lass dich anschauen, Peter!«
Sophie wunderte sich über die augenscheinliche Überraschung ihrer Mutter. Hatte sie doch schon seit Tagen erzählt, dass der Fürstbischof sein Mündel mitbringen würde.
»Geh, begrüße die Fürstin, wie es sich gehört, Peter«, forderte Adolf Friedrich den Jungen auf.
Zögerlich trat er vor und verbeugte sich tief vor Johanna. »Ich bin sehr erfreut«, murmelte er.
Johanna lächelte entzückt. »Was für ein lieber Junge«, flötete sie. »Schau, hier sind meine Kinder. Mein Sohn Wilhelm – und das ist Sophie, meine Tochter.«
Die Kinder beäugten sich neugierig, dann machte Sophie einen angedeuteten Knicks, Willi verbeugte sich. Peter verbeugte sich ebenfalls und schenkte Sophie ein verschämtes Lächeln.
»Wie alt ist der Junge?«, wollte die Fürstin wissen.
»Elf«, erwiderte ihr Bruder, während beide hinüber zum Speisezimmer gingen, wo schon die anderen Gäste, zumeist Onkel und Tanten sowie enge Freunde der Familie, versammelt waren.
»Wie passend«, sagte Johanna strahlend. Dann wies sie auf den gedeckten Tisch. »Ich habe mir erlaubt, ein bescheidenes Mahl auftragen zu lassen.«
Das war untertrieben, denn der Tisch bog sich unter den Köstlichkeiten, und die Pagen warteten darauf, die Bratenplatten auftragen zu dürfen.
Der Fürstbischof rieb sich die Hände. »Es entzückt mein Auge und meinen Magen bestimmt auch.«
Folgsam nahm Peter neben ihm Platz, während sich Willi und Sophie an die andere Seite des Tisches setzten. Während des Essens schwiegen sie und warfen sich verstohlene Blicke zu.
So sah also ein Aspirant auf den schwedischen Thron aus, dachte Sophie. Peter war für sein Alter eher klein, fast schwächlich. Die prunkvolle Paradeuniform, in der er steckte, schien ihn zu erdrücken. Sein schmales Gesicht war blass, was sein semmelblondes dünnes Haar, das bis auf seine Schultern reichte, noch unterstrich. Mit linkischen Bewegungen aß er, schüchtern und steif, als befürchtete er ständig, etwas falsch zu machen.
Nach dem Essen zog sich die Fürstin mit ihrem Bruder in einen kleinen Salon zurück, wo sich beide an französischem Wein labten. »Geht, Kinder, unterhaltet euch miteinander«, forderte sie die Kinder auf.
Steif standen sie sich gegenüber, unschlüssig, wie sie sich jetzt, entbunden von der strengen Aufsicht der Erwachsenen, verhalten sollten.
»Wie gefällt Ihnen das Schloss?«, fragte Sophie, um ein Gespräch zu beginnen.
Peter blickte sich um, ohne das Gesicht zu verziehen. »Ich habe leider nicht viel sehen können, aber es erscheint mir recht passabel.«
Sophie lächelte. »Es ist auch nicht von Bedeutung. Wir sind hier ja auch nur vorübergehend, besuchen unsere Verwandten. Haben Sie auch so viele Verwandte? Kürzlich waren wir bei Tante Hedwig in Quedlinburg. Sie ist Priorin eines vornehmen Stiftes, wissen Sie? Sie besitzt sechzehn Möpse, die sie allesamt in ihrem Zimmer hält. Den Geruch müssen Sie sich vorstellen! Einfach grauenhaft! Außerdem finde ich, sieht sie ihren Möpsen ziemlich ähnlich. Sie ist auch so klein, dick und hat kurze Beine.« Sie brach in ein glockenhelles Lachen aus. Peter lachte pflichtbewusst mit.
»Ja, und dann haben wir Tante Christiane besucht«, plauderte Sophie unverdrossen weiter. »Sie ist ganz das Gegenteil von Tante Hedwig, lang und dürr, und dann dieser hässliche Brandfleck in ihrem Gesicht! Sie bewohnt ein Stift in Gandersheim und hat auch gar keine Hunde. Dafür sammelt sie alle möglichen verletzten Vögel auf und pflegt sie gesund. Da gibt es eine einbeinige Drossel und eine Lerche, deren Flügel gebrochen ist. Und einen Stieglitz mit nur einem Auge hat sie auch. Alles flattert in ihrem Zimmer herum, in kleinen Käfigen oder einfach so unter der Decke. Mir taten diese armen Tiere leid, sehnten sie sich doch nach der Freiheit. Ich habe ihnen die Freiheit geschenkt. Sie hätten erleben müssen, wie jubelnd sie in den Himmel hinaufgeflattert sind! Allerdings war meine Tante überhaupt nicht beglückt darüber. Ja, sie wurde richtig böse, und ich darf sie nun nie wieder besuchen.« Einen Augenblick verzog sie das Gesicht in tiefer Bestürzung, und auch Peter sah sie bestürzt an. Dann lachte sie plötzlich hell auf. »Ich bin gar nicht böse darüber!«
Peter lachte ebenfalls, aber er schien den Grund dafür nicht verstanden zu haben.
»Sagen Sie, reiten Sie viel?«, wechselte Sophie abrupt das Thema. »Ich würde auch so liebend gern reiten, aber leider erlauben es mir meine Eltern nicht. Es würde sich für eine Dame nicht ziemen. Manchmal wünsche ich mir wirklich, ein Mann zu sein.«
Peter schaute sie befremdet an. »Reiten?« Er schüttelte bedächtig wie ein alter Mann den Kopf. »Nein, ich reite nicht. Ich … ich mag keine Pferde.« Er schwieg, und es entstand eine peinliche Pause. »Dafür mag ich Puppen.« Er sprach leise, sodass Sophie meinte, sich verhört zu haben. »Ihre Mutter ist eine sehr schöne Frau«, sagte er lauter und ein Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.
»Meine Mutter?« Sophie schluckte. »Ja, sie ist schön«, fügte sie hinzu.
Dieser Peter war ein seltsamer Junge. Wenn er nicht diesen unsichtbaren Glanz des zu erwartenden schwedischen Thrones ausstrahlen würde, wäre er ein völlig farbloser und unerheblicher Knabe mit einer viel zu großen und unpassenden Uniform.
Es war der ewig ungestillte Durst nach Zärtlichkeit und Zuwendung, der Sophies Kindheit durchdrang, seit sie sich erinnern konnte. Lange ehe sie das Wort Liebe überhaupt kannte, fühlte sie die Sehnsucht danach, und doch wurde sie nie erfüllt.
Sophie wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab und unterdrückte die Tränen. Sie ließ sich wieder in den Sitz der Kutsche sinken, aus der sie eben, froh über das Ende der langen Reise, herausspringen wollte.
»Übe dich gefälligst in Bescheidenheit und Zurückhaltung«, zischte Fürstin Johanna erbost und beugte sich dann über ihren Sohn Wilhelm, der neben ihr in der Kutsche saß. »Willi gebührt der Vorrang.« Sie hob den Jungen eigenhändig vom Sitz, noch bevor ein Lakai die Tür öffnete.
»Weg da!« Die Fürstin scheuchte den Lakai beiseite und hob Willi aus der Kutsche. Vorsichtig stellte sie ihn auf die Füße. Es war augenscheinlich: Er besaß zwei unterschiedlich lange Beine, was ihn beim Gehen stark behinderte. Selbst wenn er stand, wirkte er wie ein verunglückter Pudding, schief und unansehnlich. Aber er war Fürstin Johannas ältester Sohn, nur das zählte.
Die Kinderfrau von Friedrich August, dem vierjährigen jüngeren Sohn, folgte ihr mit gesenktem Kopf. Nur nicht den Zorn der Fürstin heraufbeschwören!
Sophie presste die Lippen zusammen. Sie war zwei Jahre älter als Willi und das erste Kind des Fürstenpaares – doch das zählte nicht. Sie hatte das Pech, ein Mädchen zu sein. Ihre Mutter ließ keine Gelegenheit aus, sie dies spüren zu lassen, auf ungerechte und häufig ziemlich handgreifliche Weise.
Sophie rieb sich die Wange, die von der Ohrfeige ihrer Mutter brannte, dann kletterte auch sie aus der Kutsche und sah sich um. Da waren sie also wieder in Stettin angelangt, in dem tristen, langweiligen und so schrecklich provinziellen Stettin. Zumindest darin war sie sich mit ihrer Mutter einig – sie wäre lieber in Braunschweig geblieben. Zwar hätte sich auch dort niemand um das unscheinbare Mädchen gekümmert. Aber am Hof von Braunschweig gab es tägliche Abwechslungen wie Opernaufführungen, Ausfahrten, Jagden und Bälle. Das war ganz nach dem Geschmack der lebenslustigen Fürstin, die das eintönige Leben am Hof von Zerbst nicht ertragen konnte.
Fürst Christian August, der vom preußischen König zum Statthalter von Stettin ernannt worden war, nahm die Seufzer seiner Gattin mit Gleichmut zur Kenntnis. In seiner soldatischen Schlichtheit war er ein grundehrlicher und gerechter Mensch, dem die Fähigkeit zu Gefühlsäußerungen fehlte. Die Erfüllung seiner Dienstpflicht lag ihm näher als seine Familie, die ohnehin von Fürstin Johanna dominiert wurde.
Immerhin, der Fürst war in Stettin der Stellvertreter des Königs, und Sophie bewunderte ihren Vater, wenn sie dabei sein durfte, wenn dieser die Parade abnahm. In seiner blauen Generalsuniform mit dem Säbel an der Seite sah er selbst wie ein König aus. Und Sophie träumte davon, Königin zu sein und ihren Soldaten die Parade abzunehmen …
»Fieke, träumst du schon wieder?« Die Stimme ihrer Mutter riss Sophie aus ihren Gedanken. Sie wandte sich unwillig um, während aus dem geöffneten Tor des herzoglichen Schlosses, das sie in Stettin bewohnten, ihre Gouvernante geeilt kam. Ein Lächeln huschte über Sophies Gesicht.
»Oh, mon dieu, ma chérie, was ist geschehen?« Babette Cardel sah Sophie tadelnd an, doch das belustigte Blitzen in ihren Augen verriet, dass sie es nicht ernst meinte. Natürlich hatte die resolute und lebenserfahrene Tochter hugenottischer Einwanderer sofort die rote Wange und die Tränenspuren in Sophies Gesicht entdeckt.
Sophie begann zu schlucken und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
»Es wird Zeit, dass dieses Kind wieder die straffe Hand der Erziehung spürt«, ließ sich die Fürstin von der Treppe vernehmen. »Sie ist aufsässig und vorlaut. Ich werde darauf drängen, dass ihr endlich dieser bösartige Stolz ausgetrieben wird.« Sprach’s und verschwand mit Willi im Schloss.
»Nun, wir nehmen das nicht ganz so wörtlich«, murmelte Babette. Dann blickte sie auf Sophie herab. »Jetzt möchte ich keine Tränen mehr sehen, ma chérie, denn es gibt keinen Grund zum Weinen. Ich wünsche nicht, so begrüßt zu werden, sonst denke ich, du magst mich gar nicht leiden.«
Ein Lächeln stahl sich wieder auf Sophies mit Schmutzstriemen verziertes Gesicht. »Ja, Mademoiselle«, flüsterte sie.
Babette legte ihren Arm um Sophies Schulter und geleitete sie ins Schloss. »Siehst du, du lachst schon wieder. Und schon scheint die Sonne. Nun erzähl mir, was du in Braunschweig erlebt hast. Ich bin ganz neugierig auf deine Schilderungen.«
Die Glocke der unmittelbar neben dem Schloss gelegenen Marienkirche schien gegen Sophies Zimmerwand zu schlagen. Erschrocken fuhr sie im Bett auf. Babette war schon aufgestanden.
»Bon jour, ma chérie«, rief sie und zog Sophies Bettdecke weg.
»Ich stehe heute nicht auf«, entgegnete Sophie entschieden und zog die Decke wieder zurück. Babette schlief in ihrem Zimmer und ließ sie kaum einen Augenblick allein. Auch wenn Sophie sich wünschte, manchmal ganz ihrem Bewegungsdrang und ihrer Spielfreude nachgeben zu können, liebte sie ihre sanfte, immer fröhliche, belesene und geduldige Gouvernante.
»Und warum nicht?«, wollte Babette wissen. »Es ist Sünde, am Tag zu schlafen. Es sei denn, man ist eine Eule.«
»Lieber wäre ich eine Eule, als zu dem Wagner zu gehen.«
»Der Herr Pastor Wagner ist ein ehrenwerter Kirchenmann und hat Respekt verdient.«
Babette wollte streng klingen, was ihr nicht so recht gelang. Sie goss Waschwasser aus einem Krug in die Schüssel, die in einem eisernen Gestell hing. »Bitte, ma chérie, wir wollen doch mit rosigen Wangen dem Herrn Pastor gegenübertreten.«
»Wir? Mademoiselle, Sie auch? Dann sagen Sie dem Herrn Pastor, dass ich krank bin.«
»Krank?« Babette betrachtete Sophie aufmerksam. »Ich kann nichts entdecken.«
Sophie zeigte auf ihren Bauch. »Hier drinnen bin ich krank. Da steckt die Angst, die mir der Herr Pastor einflößt. Er erzählt immer so schreckliche Dinge.«
»Was kann denn ein ehrenwerter Kirchenmann für schreckliche Sachen erzählen?«, wunderte sich Babette, während sie Sophie ein Handtuch reichte.
Sophie tupfte ihr Gesicht ab. »Vom Jüngsten Gericht und dass wir alle im Fegefeuer brennen werden.«
»Nur die Sünder, ma chérie, nur die Sünder. Dein Herz ist doch rein, du brauchst nichts zu befürchten.«
Babette seufzte. Sie würde mit Pastor Wagner mal ein ernsthaftes Wort reden müssen. Immer nach seinen Gruselgeschichten träumte Sophie schlecht und schrie manche Nacht im Schlaf.
Sie half Sophie, ihr schlichtes Kleid anzulegen. Wenn man das Mädchen betrachtete, so sollte man nicht glauben, dass sie eine Prinzessin war. Die Fürstin achtete streng darauf, dass Sophie Bescheidenheit lernte. Das äußerte sich ebenso in bescheidener Kleidung.
Babette betrachtete das Mädchen mit kritischem Blick, dann legte sie ihr den Mantel über die Schultern und nahm sie an die Hand. Gemeinsam verließen sie das Zimmer. Sophie wäre so gern die breite Treppe hinuntergesprungen, aber das ließ Babette nicht zu.
»Contenance«, zischte sie, während sich zwei Lakaien im Foyer vor ihnen verbeugten.
»Ich mag aber nicht zu Pastor Wagner gehen«, flüsterte Sophie, sodass es nur Babette hören konnte. »Sein Unterricht langweilt mich.«
»Die Fürstin darf solche Worte aber nicht hören«, erwiderte Babette schmunzelnd.
»Deswegen sage ich es Ihnen.« Sophie senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe. Es war ihr anzusehen, dass sie einen schweren Gang antrat.
Vor dem Schloss schlug ihnen die feuchte Luft entgegen, die durch die grauen Straßen der Stadt von der Ostsee hereinwehte. Sophie zog den Kragen enger um den Hals. Es waren nur wenige Schritte bis zum Pfarrhaus, das sich an die Marienkirche anschmiegte. Babette begleitete sie bis zur Tür.
»Können wir nicht lieber zum Hafen hinuntergehen?«, fragte Sophie mit leiser Verzweiflung in der Stimme. »Dort kommen so viele fremde Schiffe an, und es herrscht reger Trubel. Das gefällt mir viel besser.«
Babette legte den Kopf zur Seite. »Ma chérie, Bildung ist wichtig, und du solltest dankbar sein, dass deine Eltern der gleichen Meinung sind. Herr Pastor Wagner ist belesen in Geschichte und Geografie. Vergiss nicht, es gibt nichts Schlimmeres als einen dummen Menschen.«
Sophie nickte stumm, dann betrat sie das Pfarrhaus. Babette blieb draußen zurück.
Ein muffiger Geruch schlug ihr entgegen. Im Flur war es düster, Licht fiel nur durch ein schmales, fast blindes Fenster herein. Der ausgetretene Backsteinfußboden knirschte unter ihren Füßen. Hier wurde offensichtlich nie sauber gemacht.
Auch wenn Sophie am liebsten davongelaufen wäre, verlangsamte sie ihre Schritte. Die wenigen Meter bis zur Tür zu Wagners Arbeitszimmer sollten sich zur Ewigkeit dehnen. Doch sie war schneller angekommen, als ihr lieb war.
Zögerlich griff sie nach der Klinke. Sie hasste das blasse, strenge Gesicht des Pastors. Auch wenn ihr Vater große Stücke auf Wagner hielt, der früher Feldgeistlicher gewesen war und für Sophies rechtgläubige religiöse Erziehung sorgen sollte, so fürchtete sie ihn. Er war streng und ließ Sophie häufig lange Bibelstellen auswendig lernen, die er zuvor rot angestrichen hatte. Wenn sie auch nur ein Wort falsch aufsagte, züchtigte er sie.
»Ich bin kein dummer Mensch«, murmelte Sophie, dann drückte sie die Klinke herunter.
Pastor Wagner thronte hinter einem riesigen, mit Bergen von Papier und Büchern bedeckten Schreibtisch. Er blickte kaum auf, als Sophie eintrat.
»Guten Morgen, Herr Pastor«, grüßte sie artig.
Wagner antwortete nicht, sondern schrieb weiter. Einen Augenblick zögerte die Prinzessin, dann ging sie zu ihrem Platz, einer alten, knarrenden Bank an der mit Schimmelflecken überzogenen Wand. Ihr fiel auf, dass die Papierstapel auf Wagners Schreibtisch immer gleich aussahen, wie eine Kulisse, die nicht benutzt wurde. Lediglich die Bibel in einem speckig glänzenden ledernen Einband nahm er gelegentlich zur Hand.
»Habt Ihr Eure Lektion gelernt?«, ließ sich der Pastor mit näselnder Stimme vernehmen. Er wischte sorgfältig die Federspitze an einem Läppchen ab. Dann blickte er Sophie streng an. Einen kurzen Moment zuckte sie zusammen und wäre am liebsten in ein Mauseloch verschwunden. Dann jedoch hob sie den Kopf und reckte das Kinn vor.
»Jawohl, Herr Pastor.«
»Dann lasst hören.« Er sprach Sophie niemals mit Namen an, aber auch nicht mit ihrem Titel. Als Prinzessin hätte er sie mit Hoheit anreden müssen. Sie hatte lange Zeit geglaubt, der Pastor wüsste das nicht. Doch der pedantische Kirchenmann war sehr wohl bewandert in den höfischen Etiketten. Allerdings dachte er im Traum nicht daran, diese bei Sophie anzuwenden. Er hatte seine Order vom Fürsten und auch von der Fürstin. Er hatte Sophie in Demut und Gehorsam zu schulen, basierend auf den heiligen Lehren des christlichen Glaubens. Und zu einer glaubensstrengen, gehorsamen und demütigen Schülerin würde er sie erziehen, das war er der Obrigkeit in Gestalt des Fürstenpaares schuldig. Außerdem hatte er als langjähriger Regimentsgeistlicher genug Erfahrung, seine Schäfchen zu unbedingten Gehorsam unter dem Kreuze Christi zu zwingen.
Sophie erhob sich und richtete ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand. »Matthäusevangelium, das Gleichnis vom Unkraut.« Sie atmete tief durch. »Jesus ließ das Volk von sich und kam heim. Und seine Jünger traten zu ihm und sprachen: Deute uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker. Er antwortete und sprach zu ihnen: Des Menschen Sohn ist’s, der den guten Samen sät. Der Acker ist die Welt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs. Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit. Der Feind, der es sät, ist der Teufel. Die Ernte ist das Ende der Welt. Die Schnitter sind die Engel. Gleich wie man nun das Unkraut sammelt und mit Feuer verbrennt, so wird’s am Ende der Welt gehen. Des Menschen Sohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alle, die Ärgernis geben und die das Unrecht tun und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird Heulen und Zähneklappern sein …« Sophie stockte und schluckte. »Werden sie richtig verbrannt?« Ihr Blick wanderte zu Pastor Wagner, ihre Augen weiteten sich.
Auch wenn es aussah, als hätte der Pastor gar nicht zugehört, so verzog er nun ärgerlich die Miene. »Selbstverständlich. So steht es in der Schrift.«
»Aber … aber Engel tun doch nur Gutes. Wieso verbrennen sie dann Menschen?«
»Nur die bösen. Es geschieht am Tag des Jüngsten Gerichts. Am Ende der Welt.«
»Was ist nach dem Ende der Welt?«
»Die Apokalypse. Das Chaos. Wie vor der Erschaffung der Welt.«
»Aber warum? Warum hat Gott die Welt geschaffen, wenn die Engel sie wieder zerstören?«
»Die Engel zerstören sie nicht, sie verbrennen nur das Unkraut.«
»Wieso Unkraut? Sie verbrennen die Menschen in einem Feuerofen.«
»Jawohl, die Bösen und die, die Ärgernisse bereiten.«
»Welche Ärgernisse?«
»Ungehorsam, Aufsässigkeit, fehlende Demut, Zweifel am Wort Gottes und der Wahrhaftigkeit der Schrift …« Er erhob sich von seinem Stuhl und beugte sich über den Schreibtisch. Sein Blick bekam die Schärfe eines Fleischermessers. Sophie schauderte. Wieder schluckte sie schwer. Und doch …
»Aber warum werden sie verbrannt? Sie können doch in eine Schule gehen, wo ihnen das Wort Gottes gelehrt wird …«
»Das haben sie auf Erden zu lernen, so wie Ihr.« Seine Hand tastete zu dem Rohrstock, der neben der Bibel lag. »Besser, sie lernen es auf Erden, als wenn sie dann im Feuerofen brennen.«
»Aber … aber das tut bestimmt schrecklich weh.« Sophie erinnerte sich daran, dass sie sich einmal die Hand am Ofen in der Küche verbrannt hatte. Sie war nur ein ganz kleines bisschen an die Eisenplatte gekommen, doch die Haut hatte sich gerötet, schrecklich wehgetan, und wenig später hatte sich eine Blase gebildet. Die war am nächsten Tag aufgegangen, und darunter hatte sich ein schmerzender Fleck gebildet, der wochenlang nicht richtig zugeheilt war. Wie schrecklich musste es sein, wenn der ganze Körper einer derartigen Tortur ausgesetzt war!
»Selbstverständlich tut es weh! Das ist der Sinn der Feuerhölle, die jeden erwartet, der auf Erden nicht gottesfürchtig lebt und Gottes Wort nicht wahrhaben will, es hinterfragt, darüber diskutiert und blasphemische Fragen stellt.«
Sein Gesicht verzerrte sich zu einer hässlichen Fratze. Dann sprang er plötzlich hinter dem Schreibtisch hervor, packte Sophie am Oberarm und zerrte sie aus dem Zimmer. Mit dem Fuß stieß er eine kleine Seitentür zur Kirche auf. Unsanft drückte er Sophie auf die Kirchenbank. Dann eilte er die gewundene Stiege zur Orgel hinauf. Für einen Moment hörte Sophie den Blasebalg ächzen, dann dröhnten plötzlich misstönende Orgelklänge durch das Gotteshaus. Entsetzt presste sie die Hände auf die Ohren, doch die Töne durchdrangen sie, vibrierten in ihrem Körper, peinigten sie wie Schmerzen. Sie glaubte, dass das Ende der Welt schon gekommen sei. Die Kirchenkuppel würde jeden Augenblick über ihr zusammenstürzen und sich die Erde auftun, Feuer und Schwefel würde es regnen und ein schrecklicher Engel herabschweben, der sie wie eine Brennnessel packen und herausreißen würde. Dann würde er sie mit Todesverachtung ins Feuer werfen, und sie würde brennen, brennen …
Die Hände noch auf die Ohren gepresst, rannte Sophie aus der Kirche, über den Platz und flüchtete sich ins Schloss, das ihr plötzlich wie eine sichere Zuflucht vorkam, schützend und solide mit seinen rötlich-grauen Granitsteinen, die sie immer so hässlich fand.
»Mon dieu, was ist passiert?« Babette schlug die Hände erschrocken zusammen, als sie das weinende Häufchen Elend in der Fensternische entdeckte. »Bist du gestürzt, ma chérie?« Sie legte ihre warme, beruhigende Hand auf Sophies zuckende Schulter.
»Ich … ich … ich habe Angst«, schluchzte Sophie und ließ ihren Tränen freien Lauf. Hektisch wischte sie ihre tropfende Nase mit dem Rocksaum ab.
»Aber wovor denn? Wer will dir etwas antun?«
»Die Engel. Sie werden mich verbrennen.«
»Unsinn! Engel sind gütige Wesen. Sie beschützen dich.«
»Und wenn nicht? Der Herr Pastor sagt, sie reißen böse Menschen wie Unkraut aus dem Acker und verbrennen sie im Feuerofen.«
Babette stemmte die Hände in die Hüften und nickte verstehend. »Wieder der Herr Pastor. Was hat er denn diesmal erzählt?«
»Schreckliche Dinge. Dass die Engel Menschen verbrennen, auch die, die Fragen stellen und nicht gleich alles verstehen, was in der heiligen Schrift steht und ihre Lehrer ärgern …«
»Du hast den Wagner wieder mit Fragen geärgert, stimmt’s? Das kann er nun mal nicht leiden, weil er meint, du zweifelst die Schrift an.«
»Das tue ich doch gar nicht. Aber um sie zu verstehen, muss ich doch fragen.«
»Du bist ein esprit gauche, meine Liebe«, schüttelte Babette tadelnd den Kopf. »Da wirst du dir noch gehörige Beulen holen.«
»Er hat ganz laut auf der Orgel gespielt. Es war … es war wie das Jüngste Gericht.« Sophie fing wieder an zu weinen.
Tröstend legte Babette die Arme um ihre Schultern, aber auf ihrem Gesicht zeigte sich deutliche Verärgerung. »Dem werde ich mal gründlich die Meinung wagen. Schließlich muss ich es wieder ausbaden, wenn das arme Kind nachts Albträume bekommt.«
Sie geleitete Sophie in ihr Zimmer. »Jetzt werden wir etwas Hübsches spielen, und dann hast du diesen bösen Mann vergessen.«
Sophie zog die Augenbrauen zusammen, und ihre Tränen versiegten. »Böser Mann? Ich hoffe, auch er wird in den Feuerofen geworfen.«
Babette wischte Sophie mit einem feuchten Tuch übers Gesicht und richtete ihre Frisur. »Wir müssen uns sputen, die Fürstin wartet.«
»Sie wartet bestimmt nicht«, gab Sophie trotzig zurück. »Sie will mich gar nicht sehen.«
»Würde sie dich sonst empfangen?« Babette ließ Sophies Einwände nicht gelten. Sie musterte das Mädchen kritisch, dann nickte sie. »Nun geh und vergiss die Etikette nicht.«
Babette musste Sophie nicht daran erinnern. Sophie vergaß nie etwas. Sie war kein dummer Mensch! Sie vergaß sie nicht, die Etikette, sondern befolgte sie bewusst nicht, zumindest solange sie niemand dabei beobachtete.
Babette blieb im Zimmer zurück, während Sophie auf den Gang trat. Ihr Zimmer befand sich im obersten Stockwerk im westlichen Seitenflügel. Die Salons der Fürstin lagen am anderen Ende des Schlosses. Sophie musste das ganze Schloss durchqueren, was für sie ein besonderes Vergnügen bedeutete. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, begann sie zu laufen. Mit trippelnden Schritten eilte sie die Stufen der großen Treppe hinunter, schwenkte in den Gang ein und hielt erst vor der Flügeltür inne, die zu den Gemächern der Fürstin führte. Sie zögerte nur einen winzigen Augenblick, dann wirbelte sie herum, rannte den Gang wieder zurück bis zum Treppenhaus. Sie sprang eine halbe Etage hinauf und ebenso schnell wieder hinunter, lief den Gang zurück und blieb endlich vor der Doppeltür stehen. Niemand hatte sie dabei gesehen, und es kam ihr vor, als wäre sie an diesem Tag etwas schneller gewesen als am Tag zuvor. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Dann klopfte sie zaghaft an die Tür.
Als würde sie eine andere Welt betreten, änderte sich Sophies Haltung. Aus dem vor Lebensfreude und Bewegungsdrang sprühenden Mädchen wurde plötzlich ein stilles, gehorsames Kind, das wusste, wie es sich in Gegenwart seiner Mutter zu benehmen hatte. Mit verhaltenen Schritten, fast auf Zehenspitzen, ging sie zur nächsten Tür, hinter der sie ihre Mutter wusste. Es gab keine Dienstboten und Lakaien, die an den Türen standen. Der sparsame Fürst knauserte auch im eigenen Haushalt. Es gab nur so viel Dienstpersonal, wie unbedingt notwendig war. Hatte die Fürstin einen Wunsch, musste sie am Klingelband ziehen und einen der Bediensteten zu sich rufen, die sich meist in der Küche im Souterrain aufhielten.
»Guten Tag, Frau Mutter«, grüßte Sophie artig.
Die Fürstin blickte mit einem Anflug herablassenden Spotts auf ihre Tochter herab. Johanna war eine schöne Frau. Sie unterstrich ihre Schönheit mit exzellenter Garderobe. Die häusliche Sparsamkeit, an die alle gehalten waren, galt nicht für sie. Mit ihrer schmalen Nase, den geschwungenen Augenbrauen und einem sinnlichen, nach den Genüssen des Lebens schmachtenden Mund war sie das komplette Gegenteil ihres soldatisch strengen, gefühlskargen und wenig gebildeten Gatten. Da auch sie aus keinem begüterten Hause stammte, lebte die Familie bescheiden. Das schien jedoch dem Eheglück des Paares nicht zu schaden.
Christian August weilte ohnehin wenig im Stettiner Schloss. Er nahm seine Aufgabe als Statthalter des Königs sehr ernst. Diese Pflichttreue empfand Sophie als vorbildlich, und sie liebte ihren Vater dafür. Sie konnte jedoch nicht auf Gegenliebe hoffen und erwartete sie auch gar nicht.
Anders verhielt es sich mit Fürstin Johanna. Sie war die Enkelin König Friedrichs III. von Dänemark, eine ausgezeichnete Partie. Allerdings besaß sie kaum private Einnahmen, sodass sie außer ihrer vornehmen Herkunft nicht viel zum Familienbudget beitragen konnte. Sie war sich bewusst, mit ihrem Gatten, dem ansehnlichen, vertrauenswürdigen und pflichtbewussten General des Königs von Preußen die bestmögliche Partie gemacht zu haben. Wahrscheinlich trauerte sie insgeheim dem Leben am Hof zu Braunschweig nach, wo sie aufgewachsen war. Dieser Fürstenhof war der größte in ganz Deutschland, prächtiger und anspruchsvoller als der Hof zu Berlin, wo der geizige Preußenkönig Friedrich Wilhelm regierte. Doch als vierte Tochter ihrer Eltern war sie eben nur die arme Verwandte, die man so zeitig wie möglich unter die Haube bringen musste. Sie war erst sechzehn Jahre alt gewesen, als sie die Frau des unbedeutenden Fürsten Christian August wurde, eine standesgemäße Verbindung, das war wichtig. Die lebenslustige, oberflächliche und temperamentvolle Prinzessin wusste sich dem wortkargen und puritanischen Soldatenfürsten anzupassen, ohne sich selbst zu ändern.
Fürstin Johanna pflegte ihre wertvollen verwandtschaftlichen Beziehungen durch Korrespondenzen und Besuche.
Auch Sophie kam in den Genuss der Reisen an den Braunschweiger Hof. Mit einer gewissen Wehmut dachte das Mädchen daran zurück, nahm sie doch jeden neuen Eindruck wie ein Schwamm in sich auf. Ihre Wissbegierde war groß, manchmal zu groß.
»Da bist du ja, du kleines Ungeheuer«, stellte ihre Mutter sarkastisch fest. »Ich möchte mal einen Tag erleben, wo es keine Klagen über dich gibt. Pastor Wagner hat deinen Widerspruchsgeist gerügt. Glaub mir, es war mir einfach nur peinlich. Ich habe ihm aufgetragen, mehr Strenge in deiner Erziehung zu zeigen. Achtung vor Sitte und Religion, das ist es, was wir von dir erwarten. Übe dich in Demut und Bescheidenheit, das steht dir an, denn du bist ein Mädchen. Wer soll dich einmal heiraten, wo du nicht einmal hübsch bist? Ein aufsässiges Wesen schreckt jeden Freier ab.«
Sophie, die den Blick gesenkt hielt, holte tief Luft. »Verehrte Frau Mutter, so ist es
nicht. Ich habe doch nur …«
»Schweig«, herrschte die Fürstin sie an. »Du hast nur zu sprechen, wenn ich dich dazu auffordere. Und ich habe dich nicht dazu aufgefordert. Du bestätigst mir nur, worüber sich der arme Wagner beklagt hat: deine Aufsässigkeit. Er soll dir diesen Stolz austreiben.«
Sophie verknotete die Finger ineinander, bis die Gelenke knackten. Es hatte keinen Sinn, ihrer Mutter zu widersprechen. Die Fürstin würde für sie niemals Verständnis aufbringen, von ihr konnte sie auch keine Hilfe erwarten. Sophie hielt es einfach für klüger, den Erwartungen ihrer Mutter zu entsprechen.
»Jawohl, Frau Mutter«, erwiderte sie und senkte wieder den Blick.
»Damit du dich in Folgsamkeit üben kannst, wirst du heute Abend zugegen sein, wenn ich einige angesehene Damen aus der Stadt zu einer Spielrunde empfange. Du wirst sie mit mir begrüßen und ihnen den Rocksaum küssen. Sie wollen sehen, was für ein wohlerzogenes Kind ich habe.« Mit keinem Wort erwähnte sie Willi, der den Damen nicht den Rocksaum zu küssen brauchte und der ganz sicher auch nicht …
»Ach ja, und dann wirst du ihnen etwas Hübsches vortragen, ein Gedicht oder eine Fabel, auf Französisch natürlich. Gnade dir Gott, wenn du dich dabei verhaspelst! Ich will mich nicht schon wieder für dich schämen müssen.«
Die alltägliche Audienz war damit beendet und Sophie erleichtert, sich wieder entfernen zu dürfen. Vor den Gemächern der Fürstin streifte sie ihre devote Haltung wie einen Mantel ab. Sie atmete befreit auf, dann rannte sie wie um ihr Leben zur Treppe, trippelte bis in die große Eingangshalle hinunter, um dann in einem Lauf bis ins oberste Stockwerk zu eilen. Ihre Wangen röteten sich dabei, ihr Herz schlug schnell, und sie geriet außer Atem. Doch sie fühlte sich danach wunderbar leicht und frisch.
Den unerquicklichen Abend hatte Sophie schnell wieder vergessen. Folgsam hatte sie den eingeladenen Damen ihre schmutzigen Rocksäume geküsst, fehlerfrei zwei französische Gedichte von besonderer Länge aufgesagt und sich dann unauffällig entfernt. Sie hatte getan, was man von ihr erwartete, nicht mehr und nicht weniger.
Babette hatte sie getröstet und ihr versprochen, am nächsten Tag mit ihr in den Stadtpark zu gehen. Die Freude darauf verdrängte das Ärgernis dieses Tages schnell.
Babette Cardel schaffte es mit ihrem ausgeglichenen und ausgleichenden Wesen immer wieder, Sophie aus ihren Kümmernissen zu reißen. Obwohl sie einem vornehmen Geschlecht entstammte, hatte sie sich damit abgefunden, nun in einer dienenden Stellung zu leben. Ihre Vorfahren, französische Hugenotten, hatten sie zum Flüchtling werden lassen. Doch sie haderte nicht mit ihrem Schicksal, sondern packte das Leben mit bemerkenswerter Courage an. Sophie lernte von Babette nicht nur die französische Sprache, sondern auch, Würde und Heiterkeit zu bewahren.
»Tapferkeit, ma chérie, ist eine sehr wertvolle Eigenschaft, die einem hilft, über manche Hürde des Lebens zu springen«, pflegte sie zu sagen.
Sophie wollte tapfer sein und die grässlichen Hindernisse, die ihr das Leben in Stettin und auch sonst in den Weg stellte, wie ein mutiger Reiter überspringen.
Im Stadtpark nutzte Babette die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes und machte es sich auf einer Bank bequem. Aus ihrem Beutel zog sie ein Buch, um zu lesen, während Sophie ausgelassen über die Wiese lief, auf der das erste bunte Herbstlaub raschelte.
Sie waren nicht allein im Park. Hier, und nur hier, bekam Sophie die Gelegenheit, mit anderen Kindern zu spielen. Am liebsten spielte sie mit Jungs. Die Spiele der Knaben imponierten ihr. Sie ritten auf Steckenpferden, versuchten mit einer Steinschleuder einen Baumstamm zu treffen oder liefen zwischen aufgesteckten Gerten im Zickzack um die Wette. Das war nach Sophies Geschmack. Hier konnte sie sich endlich bewegen, rennen, bis ihre Lunge zu bersten drohte, ihr Haar wild vom Kopf abstand und sich ihre Wangen rosenrot färbten.
Geflissentlich sah Babette über das unstandesgemäße Gebaren der kleinen Prinzessin hinweg, frisierte und putzte sie Sophie doch hinterher stets so sorgfältig, dass die Fürstin nichts von diesen Spielen bemerkte. Auch wenn sie sich kaum um ihre Tochter kümmerte, würde sie damit wohl nicht einverstanden sein.
Babette entging nicht, dass Sophie, die sonst um Gehorsam und Demut bemüht war, sich zum Wortführer aufschwang. Die Knaben gehorchten und ließen sich von ihr herumkommandieren.
Am liebsten schwang sich Sophie auf ein Steckenpferd und schickte die Knaben als Soldaten in die Schlacht. Sie ahmte das Wiehern des Pferdes so treffend nach, dass Babette erschrocken aufschaute, ob nicht ein durchgegangenes Ross über die Wiesen galoppierte.
»Ma chérie, nicht so wild«, mahnte sie, dann versenkte sie sich wieder in ihre Lektüre. In einer ruhigen Minute würde sie das Buch Sophie zum Lesen geben. Molière hatte so amüsant über unfähige Ärzte und eingebildete Kranke geschrieben, dass es das Gemüt erheiterte. Und eine Aufheiterung konnte die arme Prinzessin immer gebrauchen.
Die Schlacht war gewonnen, die Krieger müde. Sophie gab schweren Herzens das Steckenpferd ab und kam zu Babette. Schnaufend ließ sie sich neben ihr auf die Bank fallen.
»Müssen wir wirklich schon nach Hause gehen?«
Babette klappte das Buch zu und verstaute es im Beutel. »Jawohl, und zwar hurtig. Wir wollen die Fürstin doch nicht verärgern.«
»Pah, die will mich doch gar nicht sehen. Außerdem ist sie damit beschäftigt, Willis Sachen packen zu lassen. Er fährt morgen nach Karlsbad zur Kur.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Babette theatralisch. »Möge Gott ihn wieder gesunden lassen.«
»Es wäre wirklich ein Wunder, wenn er gesund würde.« Sophie nickte nachdenklich. »Bis jetzt hat keine einzige Kur geholfen. Ich glaube, es ist nur vergeudetes Geld. Sein Bein wird nicht länger. Ich finde sogar, es wird immer kürzer.«
»Der arme Junge.« Babette befeuchtete ein Taschentuch mit Spucke und wischte damit die Schmutzspuren aus Sophies Gesicht. »Er wächst und wächst und dieses Bein wächst nicht mit. Aber Heilwasser soll Wunder wirken.«
Sophie wollte kein Wunder, vor allem nicht für Willi. Es drehte sich sowieso alles nur um ihn, vor allem die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Vielleicht sollte sie auch krank werden, um deren Aufmerksamkeit zu erlangen?
Sie sah die Fürstin mit sorgenvollem Gesicht vor ihrem Bett stehen und die Hände ringen. Und Willi stand hinten an der Wand und wurde nicht beachtet. Sophie stellte es sich wunderbar vor, im Mittelpunkt zu stehen. Aber es war einfach nur ein Traum, eine dumme Vorstellung. Sie besaß kein kurzes Bein, und außerdem war sie ein Mädchen. Das war unveränderlich. Da konnte sie noch so oft davon träumen, ein Mann und König zu sein.
Die Fürstin hatte beschlossen, ihren kranken Sohn auf der langen Fahrt ins Kurbad zu begleiten. Das entband Sophie von den täglichen Besuchen bei ihrer Mutter. Andererseits fehlte ihr der schnelle Lauf durch das Schloss. Babette achtete darauf, dass Sophie sich im Schloss unauffällig und langsam bewegte.
»Gehen wir heute wieder in den Stadtpark spazieren?«, wollte Sophie am Morgen wissen, nachdem sie die Fürstin und Willi verabschiedet hatten. »Oder an den Hafen? Vielleicht sind neue Schiffe angekommen.«
»Und der Unterricht? Für den Vormittag ist eine Unterweisung in Geschichte bei Pastor Wagner vorgesehen und am Nachmittag Musikunterricht.«
Sophie zog die Nase kraus. »Musikunterricht mag ich nicht«, murrte sie. »Und Geschichte auch nicht.«
»Du magst Pastor Wagner nicht«, erwiderte Babette. »Das ist kein Grund, sich nicht mit Geschichte zu befassen. Die antiken Römer haben viele kluge Gelehrte hervorgebracht. Solltest du nicht Seneca lesen?«
»Habe ich gemacht. Ich habe mehr als zehn Seiten aus dem Lateinischen übersetzt. Aber der Wagner wird mich bestimmt wieder tadeln, weil er das Lateinische immer anders übersetzt als ich. Ich weiß nur nicht, warum.«
Babette schmunzelte, während sie Sophies Kleid richtete. »Als Lehrer muss er natürlich immer recht behalten.«
»Das glaube ich aber nicht«, ereiferte sich Sophie. »Er hat behauptet, dass Tacitus und Marc Aurel jetzt in der Hölle schmoren, weil sie noch nichts von Christus, dem Erlöser, wussten. Aber wenn es doch solche klugen Männer waren …«
»Das ist nun mal die Meinung der Kirche, die wir respektieren sollten.« Babette neigte den Kopf und betrachtete Sophies Kleidung kritisch. Das Kleid war abgetragen und schon mehrfach geflickt. Eigentlich war es eine Schande, das Kind derart ärmlich herumlaufen zu lassen. Aber Sophie war eben nicht Willi, und Babette stand es nicht zu, die Fürstenfamilie deshalb zu kritisieren.
»Gib dir einfach Mühe, ma chérie, dann habe ich heute auch eine kleine Belohnung für dich.«
Sophies Augen leuchteten auf. »Oh, was ist es denn?«
»Das wird nicht verraten. Neugier ist eine Untugend, liebes Kind. Contenance, bis die Zeit dafür da ist.«
Sophie seufzte ergeben. Babette hatte auch ihre Grundsätze, doch sie setzte diese niemals streng und dogmatisch durch. Sie appellierte einfach an Sophies Vernunft, mit Sanftheit und Überzeugungskraft, sodass sich Sophie schnell geschlagen gab.
Doch plötzlich verzog sie das Gesicht. »Der Herr Pastor macht mir Angst. Ich mag nicht zu ihm gehen.«
»Wo ist dein Mut, wo ist dein Gehorsam?« Babette stemmte die Hände in ihre füllige Taille. »Darüber haben wir doch schon oft genug diskutiert. Bildung ist ein zu wichtiges Gut, als dass man es vernachlässigen darf. Was du nicht als Mann bewirken kannst, musst du mit deinem Geist bewirken.«
Sophie senkte den Kopf. Das sah sie ja ein, aber … »Können wir nicht bewirken, dass der Herr Pastor hierher ins Schloss zum Unterricht kommt? Dieses düstere Zimmer im Pfarrhaus ist schauderhaft. Außerdem ist es schmutzig.«
»So, so.« Babette überlegte. »Leider hat die Fürstin keine entsprechenden Anweisungen hinterlassen. Und Seine Exzellenz, der Fürst, ist auch nicht zugegen.«
Sophie hob bittend den Blick. »Können Sie nicht … Mademoiselle Cardel?«
»Ich? Nein, das steht mir nicht zu. Ich werde selbstverständlich nicht lügen. Obwohl …« Sie überlegte nur kurz, dann warf sie sich den Mantel über. »Ich werde mit Pastor Wagner sprechen.«
Sophie atmete erleichtert aus. Wahrheitsliebe gehörte auch zu ihren Prinzipien, und natürlich hätte sie Babette nie zu einer Lüge anstiften wollen. Es war einfach nur eine Bitte.
Babette konnte sehr resolut sein. Das musste auch Pastor Wagner erfahren. »Es ist notwendig, dass der Unterricht im Schloss stattfindet«, sagte sie zu dem überraschten Geistlichen.
»Darf ich den Grund erfahren?«, fragte er mit säuerlichem Gesicht. Er ließ sich nur ungern von Frauen Vorschriften machen, vor allem, wenn sie nicht der Obrigkeit angehörten.
»Da die Exzellenzen nicht im Schloss weilen, verstößt es gegen die Etikette, dass die Prinzessin allein hierher zum Unterricht kommt. Außerdem sind die Gegebenheiten im Schloss etwas angenehmer als hier.« Sie ließ ihren kritischen Blick durch den Raum schweifen.
»Angenehmer?« Pastor Wagner starrte sie verblüfft an. Das waren ja ganz neue Sitten! »Lehre und Erziehung sind nichts Angenehmes, Mademoiselle.«
»Was Sie nicht sagen, Herr Pastor. Allerdings müssen Sie verstehen, eine hochgeborene Prinzessin, gewissermaßen eine junge Dame, und ein Mann hier allein …«
Der Geistliche schnappte empört nach Luft. »Wollen Sie mir unterstellen, hier geschehe etwas Unsittliches? Mademoiselle, ich bin ein Mann der Kirche!«
»Eben, Herr Pastor, eben. Es ist für Sie eine kleine Mühe, hinüber ins Schloss zu kommen und die Unterrichtung der Prinzessin in einem der Lesezimmer vorzunehmen. Ich bin sicher, Sie lassen Vernunft und Würde walten.«
Sie erntete einen misstrauischen Blick des Pastors, dann raffte er seine Papiere zusammen. »Meinetwegen«, knurrte er. »Gleich wo wir uns aufhalten, die ganze Welt taugt nicht viel wegen der Erbsünde.«
Das war auf die Frauen gemünzt, denen Wagner keine große Sympathie entgegenbrachte. Schließlich fand er es ohnehin unter seiner Würde, ein aufsässiges, rechthaberisches Mädchen zu unterrichten, statt den Soldaten im Feld die Gnade Gottes nahezubringen.