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Zum Buch

Steigern Sie Ihr Wohlbefinden mit der altbewährten Heilkunst aus den Bergen. Kräuter, Wasseranwendungen, aber auch Bewegung, Ernährung und soziale Kontakte tragen zu einem gesunden Leben bei.

Apotheker Arnold Achmüller beschäftigt sich seit Jahren mit der traditionellen Alpenmedizin und überträgt sie in das Heute - damit dieses Heilwissen nicht verloren geht.

- Welche alpinen Hausmittel helfen wirklich?

- Wie können Worte und Rituale heilen?

- Wie gesund sind Beeren, Wurzeln und Rüben?

- Warum tut Höhenluft so gut?

Mehr als 60 Rezepte für Salben, Badezusätze, Wickel und mehr

Der Autor

Arnold Achmüller, geboren 1982 in Südtirol, ist Apotheker in Wien und erfolgreicher Buchautor. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Heilkräutern und alten medizinischen Anwendungen im Kontext der wissenschaftlichen Forschung. Sein besonderes Interesse gilt der traditionellen europäischen Medizin, insbesondere jener des Alpenraums. Er hält Vorträge zum Thema, organisiert Workshops und Kräuterwanderungen. Zusammen mit Astrid Felderer betreibt er den Blog „Kraut und Wurzel“ (www.krautundwurzel.com).

Bei Edition Raetia erschienen:

„Teufelskraut, Bauchwehblüml, Wurmtod. – Das Kräuterwissen Südtirols. Mythologie, Volksmedizin und wissenschaftliche Erkenntnisse“ (2012)

„Wickel, Salben und Tinkturen. Das Kräuterwissen der Bauerndoktoren in den Alpen“ (2015)

„Kraut und Wurzel“-Reihe:

Band 1: „Verdauung und Entschlackung“ (2018)

Band 2: „Haut und Haare“ (2018)

Band 3: „Husten und Schnupfen“ (2018)

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Alpenmedizin

Arnold Achmüller

Impressum

Gedruckt mit Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung

Deutsche Kultur

1. Auflage

© Edition Raetia, Bozen 2018

Projektleitung: Magdalena Grüner

Korrektur: Helene Dorner, Maria Vieider

Foto Umschlag: Shutterstock / natalia bulatova

Foto Umschlagrückseite: Caroline Renzler, www.silbersalz.photo

Umschlag und Layout: Philipp Putzer, www.farbfabrik.it

Satz: Alessandra Stefanut, www.cursiva.it

ISBN 978-88-7283-654-5

ISBN E-Book 978-88-7283-671-2

Unseren Gesamtkatalog finden Sie unter www.raetia.com.

Bei Fragen und Anregungen wenden Sie sich bitte an info@raetia.com.

Die Angaben zu den Kräutern in diesem Buch wurden sorgfältig geprüft. Autor und Verlag lehnen jedoch jegliche Haftung für allfällige Schäden, die sich aus dem Gebrauch oder Missbrauch der hier vorgestellten Informationen ergeben, ab. Die Behandlungsmöglichkeiten in diesem Buch ersetzen nicht eine ärztliche Therapie.

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Moderne Alpenmedizin – Rückbesinnung auf eine ganzheitliche Heilkunde

Von Paracelsus bis Sebastian Kneipp

Die Zutaten für ein gesundes Leben

Innere und äußere Rhythmen

Der äußere Rhythmus: der Jahreskreis

Der circadiane Rhythmus: die innere Uhr

Reizmethoden und Reiztherapie

Schmerzen mit Schmerzen kurieren: die klassische Reiztherapie

Alpine Reizstoffe

Wassertherapie nach Kneipp

Sauna und Winterbäder

Moderates Höhentraining

Bewegung

Soziale Kontakte

Alpine Ernährung

Tipps für eine gesunde Ernährung

Übergewicht und Gewichtsreduktion

Nahrungsmittel als Heilmittel

Die Magie in der Medizin

Wenn Worte und Rituale heilen

Placebo- und Noceboeffekte

Die Heilmittel des Alpenraumes

Husten und Erkältung

Stärkung des Immunsystems

Halsschmerzen und Heiserkeit

Schnupfen und Erkältung

Husten

Haut

Pickel und Akne

Trockene Haut und Ekzeme

Psoriasis und Neurodermitis

Venenprobleme

Hämorrhoiden

Magen und Darm

Sodbrennen und Magenschmerzen

Blähungen und Völlegefühl

Erbrechen

Durchfall

Verstopfung

Kopfschmerzen, Nervosität und Schlafstörungen

Kopfschmerzen

Schlafstörungen

Unruhe und Angst

Konzentrationsschwäche und Müdigkeit

Herz und Kreislauf

Stärkung des Kreislaufs

Bluthochdruck

Mund- und Rachenraum

Aphthen und Druckstellen

Zahnfleischentzündung

Muskeln und Gelenke

Sportverletzungen und Muskelkater

Rheuma und chronische Gelenkschmerzen

Rückenschmerzen

Blase und Prostata

Harnwegsinfekte

Prostatabeschwerden

Menstruation und Wechseljahre

Menstruationsbeschwerden

Wechseljahre

Ganzheitlich gesund – Tipps für ein besseres Leben

Quellen

Weiterführende Literatur

Bildquellen

Anhang

Empfohlene Tagesdosierungen

Neben- und Wechselwirkungen

Sammelzeitpunkte und Bezugsmöglichkeiten

Verzeichnis der Heilmittel

Verzeichnis der Rezepte und Anwendungen

Moderne Alpenmedizin – Rückbesinnung auf eine ganzheitliche Heilkunde

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Einem jeglichen Lande wächst seine Krankheit selbst, seine Arznei selbst, sein Arzt selbst. Sie wollen Arzneien aus überseeischen Ländern, und im Garten vor ihrem Haus wächst Besseres.

Paracelsus, 16. Jahrhundert

Der Alpenraum, der sich von den französisch-italienischen Küsten in einem Bogen über Mitteleuropa bis in das Pannonische Becken Niederösterreichs bzw. bis nach Slowenien zieht, ist ein ganz besonderes Gebiet. Menschen stellen sich hier seit Jahrtausenden den widrigen Umweltbedingungen und entwickelten in ihrem jahrhundertelangen Ringen um Kulturlandschaft eine tiefe Naturverbundenheit und einen ausgeprägten Sinn für Tradition. Genau das sind die idealen Voraussetzungen für das Entstehen einer eigenen, auf Althergebrachtem beruhenden und den regionalen Gegebenheiten angepassten Heilkunde: der traditionellen Alpenmedizin.

Das Heilwissen im Alpenraum ist reich an Tradition, Geschichten, Ritualen und geprägt von einer Vielfältigkeit, die man heutzutage nur mehr selten findet. Lange Zeit wurden diese Überlieferungen nicht wahrgenommen, dann belächelt, bis man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endlich den Wert dieses teilweise bis heute verborgenen Wissens erkannte. Denn mit der systematischen Erforschung der heimischen Heilpflanzen, die noch lange nicht abgeschlossen ist, entdeckte man auch, dass zahlreiche Anwendungen durchaus ein therapeutisches Potenzial entfalten.

Jede Kultur hat ihre eigene Heilkunde, die auf jahrhundertelang gewachsenen Glaubensvorstellungen, regional verfügbaren Pflanzen und soziokulturellen Einflüssen gründet. Viele dieser regionalen Heilströmungen gingen allerdings im Laufe der Zeit mit dem Verschmelzen kultureller Eigenheiten und letztlich mit der Globalisierung in einem einheitlichen Kontext auf und verschwanden. Wissen und Glaubensvorstellungen, die sich früher oft regional und kleinräumig unterschieden, wurden also zunehmend vereinheitlicht. Gerade in leicht zugänglichen, städtisch geprägten Gegenden gingen dabei große Teile regionalen Heilwissens verloren. Alte Heilmethoden und volksmedizinische Kenntnisse, wie sie ursprünglich auch lange Zeit außerhalb des Alpenraumes zu finden waren, bewahrten sich aber in den entlegenen Tälern des Alpenraumes. Grund hierfür war die vielfach unwegsame Landschaft, die spärliche Mobilität und der daraus folgende Zwang zu einer gewissen Eigenständigkeit in Gesundheitsfragen. So spielen in vielen Tälern bis heute Heilpflanzen, Rituale und magisch anmutende Handlungsweisen erwiesenermaßen eine ähnliche Rolle wie bereits in der Antike. Im Grunde handelt es sich dabei um einen ganzheitlichen Ansatz, wie wir ihn auch in anderen indigenen Kulturen wiederfinden. Gesten und Sprüche gehören hierbei oft neben den verabreichten Mitteln zum Heilungsprozess. Dass auch sie in der Heilung nützlich sein können, zeigen neuere Forschungen und medizinische Disziplinen. Sie belegen, dass Psyche und Körper eine Einheit bilden und dass Rituale und Scheinbehandlungen tatsächliche körperliche und geistige Reaktionen hervorrufen können. Die alpine Heilkunde bietet somit eine Möglichkeit der Rückbesinnung auf einen ganzheitlichen Blick in der Medizin.

Gleichzeitig existiert in der alpinen Volksmedizin noch das Grundverständnis für anderswo bereits fast vergessene Heilverfahren. So bietet die klassische Reiztherapie ebenso wie andere Verfahren, etwa die Wassertherapie nach Kneipp, Möglichkeiten zur präventiven Stärkung und zur Behandlung.

Dies alles findet in einem Raum statt, dessen Natur noch weitgehend intakt geblieben ist. Außerhalb der städtischen Siedlungsgebiete findet man meist sehr rasch unberührte Natur und saubere Luft. Diese Faktoren und eine abwechslungsreiche Landschaft mit großen Höhenunterschieden erlauben es den Alpenbewohnern und ihren Besuchern grundsätzlich, ein gesundes und aktives Leben zu führen.

Von Paracelsus bis Sebastian Kneipp

Die Heilkunde im Alpenraum gründet auf der bis heute vielerorts lebendigen und immer wieder erweiterten Volksmedizin. Das Wissen um mögliche Heilmittel wurde über Jahrhunderte gesammelt und veränderte sich immer wieder. An wirksamen Methoden und heilkräftigen Mitteln hielt man fest und man fand optimale Einsatzgebiete und Verarbeitungsmethoden. So bildete sich ein medizinisches Konzept, das neben der Kräuterkunde auch Ratschläge für eine optimale Lebensführung und Ernährung sowie Möglichkeiten zur allgemeinen Stärkung und Gesunderhaltung von Körper und Psyche umfasste.

Da die vorchristlichen Bewohner des Alpenraumes bezüglich der Heilkunde nichts Schriftliches hinterlassen hatten, liegt der Ursprung vieler Heilmittel und eines medizinischen Grundverständnisses allerdings bis heute im Dunkeln. Es waren die Schriftsteller der Antike, wie z. B. Plinius, die erstmals über Heilmittel und -rituale aus dem Alpenraum berichteten. Sie lebten allerdings im Mittelmeerraum, weit entfernt von den Alpen, und schrieben nur über jene Praktiken, die den Weg bis in ihre Heimat gefunden hatten. So nennt uns Plinius den Enzian und den Keltischen Baldrian, die bereits in der Antike aus dem Alpenraum in das Römische Reich gelangt waren. Mit Letzterem soll sogar der römische Kaiser Marc Aurel sein nervöses Magenleiden kuriert haben.

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Paracelsus (ca. 1493–1541) hat nicht nur die Volks-, sondern auch die Schulmedizin geprägt.

Die frühesten ausführlicheren schriftlichen Überlieferungen zu Anwendungen von Heil- und Hausmitteln im Alpenraum, die diesen Namen auch verdienen, stammen aus dem Spätmittelalter. Geistliche und Adelige verfassten Kräuterbücher, vielfach kopierten sie die Texte antiker Vorgänger und ergänzten sie um die heimischen alpinen Pflanzen. So geben diese auch immer wieder Teile einer sehr ursprünglichen Volksmedizin preis. Eines der ersten Kräuterbücher aus dem Alpenraum ist der „Codex Bellunensis“ aus der Kartause von Vedana bei Belluno. Dieser entstand im 15. Jahrhundert und enthält die illustrierten Beschreibungen von etwa 200 Heilpflanzen, eine Vielzahl davon stammt aus den Alpen. Ein besonders wertvolles Kräuterbuch ist in diesem Kontext auch jenes von Pietro Andrea Mattioli aus dem 16. Jahrhundert. Mattioli war ein Arzt, der unter anderem in Trient und Görz lebte und viele alpine Heilpflanzen erstmals erwähnte.

Mit Paracelsus erscheint am Beginn der Neuzeit eine Person auf der Bildfläche, die nicht nur die Volksmedizin im Alpenraum, sondern auch die Schulmedizin in erheblichem Maße mitprägen sollte. Er ging in seinen Schriften nicht nur auf zahlreiche Heilmittel ein, sondern sah den Menschen und seine Gesundheit eingebettet in die Natur und einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt.

Paracelsus wurde als Philippus Theophrastus Bombast von Hohenheim vermutlich 1493 im schweizerischen Einsiedeln als Sohn eines Arztes geboren. Sein Vater zog mit ihm 1502 nach Villach, wohin er auch in späteren Jahren wiederholt zurückkehrte. In seiner naturkundlichen Ausbildung und seiner späteren Tätigkeit als Arzt interessierten ihn im Besonderen die Metallscheidekunst und die Alchemie. Er sah in der „Alchemia medica“ eine Möglichkeit, Heilmittel in reiner Form zu produzieren. Dabei versuchte er sich auch in der Extraktion von wirksamen Bestandteilen der einzelnen Heilpflanzen. Um diese Fertigkeiten zu erlernen, reiste er in die Bergbaugebiete, die damals auch im Alpenraum zahlreich waren. Denn dort fand er die Laboratorien, die er für seine Arbeiten brauchte. Seine Wanderungen führten ihn daher unter anderem nach Basel, Salzburg, Schwaz, Hall, Sterzing, Meran, Siebenbürgen, Böhmen, ja sogar bis nach Moskau.

Paracelsus lebte in einer Zeit weitreichender politischer und sozialer Umbrüche – und auch er war jemand, der Neues wagte und Althergebrachtes hinterfragte. So lehnte er beispielsweise die bis dahin propagierte Säftelehre ab. Stattdessen plädierte er für eine auf Beobachtung und Erfahrung fußende Lehre und betrachtete die alten Lehrmeister der Medizin wie Galen, Dioskurides und mittelalterliche Kräuterbuchautoren als überholt. Er lehnte die Säftelehre auch deshalb ab, weil er erkannt hatte, dass viele Krankheiten durch äußere Umwelteinflüsse entstehen, die Säftelehre Erkrankungen aber vor allem auf innere Ursachen, das heißt ein schlechtes Mischverhältnis der Körpersäfte, zurückführte. Dementsprechend kontrovers, meist ablehnend wurde er in vielen Fachkreisen behandelt.

Die gründliche Erprobung und die Erfahrenheit sind nach Paracelsus die wichtigsten Tugenden eines Heilers. Sein Denken war für seine Zeit sehr modern. Eine auf Erfahrung basierende und über wissenschaftliche Experimente errungene Meinung war damals noch nicht etabliert. Auch sein Drang, das Wissen von kräuterkundigen Laien zu erforschen, wirkt aus heutiger Sicht geradezu fortschrittlich. Paracelsus sah auch in der Prophylaxe und einer richtigen Ernährung eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben.

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Eine gute Erfahrung ist notwendig, nicht Hörensagen, sondern eigenes Wissen und Können.

Paracelsus

Paracelsus versuchte eine neue Medizin und Weltanschauung zu postulieren, in der Oberes und Unteres, Inneres und Äußeres stets in Harmonie zueinander standen. Aus dieser innigen Verbundenheit des gesamten Kosmos leitete er auch die Signaturenlehre ab, nach der die äußere Beschaffenheit eines Heilmittels, beispielsweise einer Heilpflanze, auf die Wirkeigenschaft schließen lässt.

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Die Natur zeichnet ein jegliches Gewächs, das von ihr ausgeht, zu dem, dazu es gut ist. Darum, wenn man erfahren will, was die Natur gezeichnet hat, so muss man es an dem Zeichen erkennen, was Tugenden in ihm sind.

Paracelsus

Diese Vorstellung ist sehr alt und weit verbreitet, wir finden diese Denkweise beispielsweise auch in indigenen Kulturen, aber Paracelsus hat sie für Europa erstmals konkret postuliert. Die Volksmedizin ist bis heute voll mit Vorstellungen zur Signaturenlehre. Paradebeispiele hierfür wäre die Verwendung des Leberblümchens, das in seiner Form der menschlichen Leber ähnelt, bei Leberleiden und des Lungenkrautes, dessen weiß gefleckte Blätter einer Lunge gleichen, bei Lungenbeschwerden. Auch der Einsatz von Augentrost bei Augenleiden, der Distel gegen Schmerzen, des gelben Saftes des Schöllkrauts gegen Leberbeschwerden, des Johanniskrauts wegen der gepunkteten Blätter gegen Stichwunden und von Mannstreu, dessen hochragende Blüte Standhaftigkeit symbolisiert, bei Potenzproblemen.

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Das Lösen von Substanzen im Wasserbad in einem Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert

So gesehen prägte Paracelsus die Volksmedizin im Alpenraum wie kaum ein anderer und gehört zu den ganz großen Heilern, die diese Region hervorgebracht hat. Paracelsus starb 1541 in Salzburg.

In den darauffolgenden Jahrhunderten sind es vor allem Rezeptbüchlein, verfasst von Bauerndoktoren, die uns einen Einblick in das alpine Heilwissen geben. In dieser Zeit wurden erstmals auf breitem Raum schriftliche Werke von heimischen Heilern hinterlassen. Bauerndoktoren waren Laienmediziner, deren Wissen meist tief in der alpinen Heilkunde verwurzelt war und die hauptsächlich heimische und leicht verfügbare Heilmittel gebrauchten. Somit waren sie die Experten der Volksmedizin und ideale Vermittler dieses jahrhundertealten Wissens.

Ein Laienmediziner war auch der bis heute berühmte Sebastian Kneipp. Er ist neben Paracelsus die wohl einflussreichste Person in der alpinen Volksmedizin. Seit mehr als einem Jahrhundert prägen seine Wasser- und Kräutertherapie als äußerst populäre Anwendungen die Volksmedizin im Alpenraum maßgeblich.

Sebastian Kneipp wurde 1821 im bayerischen Allgäu geboren und stammte aus einfachen Verhältnissen. Während seines Theologiestudiums erkrankte er an Tuberkulose. Diese schwächte ihn so sehr, dass seine Ärzte jede Hoffnung aufgaben. Dann stieß er auf ein „Wasserbüchlein“ von Johann Siegmund Hahn, das ihn fesselte und ihm Hoffnung gab. Mitten im Winter begann er, die beschriebenen Vorschläge umzusetzen, und badete in der eiskalten Donau bei Dillingen. Seine Krankheit verschwand innerhalb weniger Monate. Bald darauf schloss er sein Theologiestudium ab und wurde zum Priester geweiht. Seine Erfahrungen ließen ihn aber nicht mehr los und so widmete er sich neben dem seelischen Wohl immer stärker auch dem körperlichen Wohl seiner Schützlinge. Neben den Wasseranwendungen beschäftigte er sich auch mit der Pflanzenheilkunde und der Prävention. Er entwickelte ein ganzheitliches Heilkonzept, das im Wesentlichen auf fünf Säulen beruhte: die Wasserkur, eine geordnete Lebensführung, Heilkräuter, ausreichend Bewegung und eine ausgewogene Ernährung. Sein Therapiekonzept umfasste dabei physische, psychische und soziale Aspekte und sah den Menschen im Mittelpunkt dieser Einflussgrößen. Aus heutiger Sicht ist dieser ganzheitliche Ansatz geradezu sensationell und aktuell, gehen doch gerade die Bemühungen der biopsychosozialen Medizin, die den Menschen in seiner Gesamtheit betrachtet, in dieselbe Richtung.

Kneipps Ratschläge sind größtenteils alltagstauglich, sehr einfach umzusetzen und leicht verständlich. Dies ist ein wesentlicher Faktor, weshalb er viele Menschen bis heute begeistert. Kaum ein anderer Heilkundiger hat die Schul- und Volksmedizin im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert derart stark geprägt wie Sebastian Kneipp.

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Sebastian Kneipp (1821–1897): Bekannt ist der Bayer heute vor allem für seine Wasseranwendungen.

Die Zutaten für ein gesundes Leben

Volksmedizinische Sammlungen wirken auf den ersten Blick oft chaotisch und die Ratschläge willkürlich zusammengewürfelt. Das hat damit zu tun, dass es keine Moderation, keine Lenkung in diesem Wissen gibt. Stattdessen finden sich bis heute darin beispielsweise Vorstellungen der Säftelehre, Ratschläge von Kneipp neben jenen der Signaturenlehre und viele populäre Heilmittel aus verschiedenen Jahrhunderten wieder.

Betrachtet man das verfügbare gesammelte Wissen in seiner Gesamtheit, sieht man aber sehr schnell, dass bei den einzelnen Krankheits- oder Beschwerdebildern immer wieder dieselben Heilmittel genannt werden. Außerdem beinhaltet die Volksmedizin noch viel mehr: Neben Heilpflanzen bietet sie ein Sammelsurium von Ratschlägen für ein gesundes Leben, das Krankheiten erst gar nicht entstehen lassen sollte. Die Prophylaxe ist deshalb neben der Therapie ein wichtiges Fundament der alpinen Heilkunde. Interessant erscheint dabei, dass viele Erkenntnisse auch von der modernen Wissenschaft als sinnvoll und gesundheitsfördernd bestätigt werden. Jene jahrhundertealten Ratschläge, die für einen regelmäßigen Tagesablauf mit entsprechenden Schlafzeiten und eine regelmäßige Bewegung plädieren, lassen sich vielfach eins zu eins auf eine moderne Gesundheitsvorsorge übertragen.

Ähnlich wie Sebastian Kneipp die Gesundheit des Menschen in seinem umfassenden Heilkonzept auf fünf Säulen stellte, kann man dies für die gesamte alpine Heilkunde definieren. Allerdings muss man diese fünf Säulen zum einen wegen weiterer Einflussfaktoren in der Volksmedizin, zum anderen im Hinblick auf die moderne Wissenschaft um mindestens zwei Punkte erweitern:

So spielen im Alpenraum seit jeher – früher noch viel mehr als heute – rituelle Handlungen der Volksmagie eine bedeutende Rolle. Bis ins 20. Jahrhundert waren diese weit verbreitet und integrale Bestandteile vieler Heilrituale. Vor allem bei der Warzenentfernung findet man magisch anmutende Handlungen bis heute in Form von Warzenbesprechungen und symbolischen Übertragungen (beispielsweise werden so viele Knöpfe in einen Faden gemacht, wie Warzen zu entfernen sind, siehe dazu S. 54ff).

Daneben spielten und spielen bis heute soziale Kontakte eine zentrale Rolle für die Gesundheit des Menschen. Früher waren diese – auch weil man einander viel stärker im Alltag brauchte – selbstverständlicher als heute. In der typischen bäuerlichen Großfamilie war man zudem selten allein. Die soziale Isolation ist ein gesundheitliches Risiko, das heutzutage in weiten Teilen des Gesundheitssystems unterschätzt wird. Denn auch hier haben neue medizinische Fachrichtungen, wie z. B. die biopsychosoziale Medizin, wertvolle Erkenntnisse gewonnen: Eine psychische Belastung oder Probleme im sozialen Umfeld wirken sich negativ auf den menschlichen Körper aus.

Im Sinne einer optimalen Prophylaxe und einer ganzheitlich modernen Therapie muss also auch diesen Aspekten Beachtung geschenkt werden.

Innere und äußere Rhythmen

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Weil Unordnung einen gesunden Leib verdirbt, wie viel mehr einen kranken … Darum soll in allen Dingen eine Ordnung gehalten werden, die zur Gesundheit diene.

Paracelsus

Viele der berühmten europäischen Heiler wie Paracelsus und Kneipp sahen Gesundheit nicht nur auf den menschlichen Körper beschränkt. Sie sahen vielmehr auch das menschliche Umfeld, Umwelteinflüsse und soziale Kontakte als maßgebliche Gesundheitsstifter. In dieser ganzheitlichen Sichtweise ist Gesundheit auch abhängig von einem geregelten, harmonischen, geordneten und natürlichen Umfeld.

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Alles zu seiner Zeit und im rechten Maße … Im Maße liegt die Ordnung. Jedes zu viel oder zu wenig setzt an Stelle von Gesundheit die Krankheit.

Sebastian Kneipp

Im natürlichen Umfeld des Menschen haben die Jahreszeiten und die damit in Verbindung stehenden Bräuche große Auswirkungen: Die Jahreszeiten sind im Alpenraum ein wesentlicher Taktgeber für das menschliche Leben und die Natur unterliegt durch sie einem stetigen Wandel. Daneben gibt es aber auch innere Rhythmen und eine im wahrsten Sinn „innere Uhr“, die den Ablauf zahlreicher menschlicher Funktionen regelt und uns bewusst oder unbewusst maßgeblich beeinflusst.

Der äußere Rhythmus: der Jahreskreis

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Wenn die Natur geordnet ist, geschieht alles, wie es geschehen soll.

Paracelsus

Im Sinne eines ganzheitlichen Gesundheitsverständnisses muss der Mensch auch als Teil der rhythmischen Abläufe in Natur und Kosmos gesehen werden. Eine Möglichkeit, sich diesen natürlichen Rhythmen zu nähern, sind jahrhundertelang gewachsene und im Ursprung jahrtausendealte Bräuche.

Gelebtes Brauchtum bietet hierbei die Möglichkeit zur Achtsamkeit und Naturverbundenheit. Der Mensch ist Teil des jahreszeitlichen Ablaufes und feiert diesen mit Ritualen. Dieses Bestreben ist tief in unserer Kultur verwurzelt. Bereits unsere vorchristlichen Vorfahren feierten verschiedene Feste, die wichtige jahreszeitliche Ereignisse markierten. Die Rituale haben sich über Jahrhunderte immer wieder verändert, die Zeitpunkte sind aber bis heute weitgehend dieselben geblieben.

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Umdeutungen im Zuge der Christianisierung haben dazu geführt, dass christliche Feiertage oft mit „heidnischen“ zusammentreffen: Der Johannistag korreliert mit der Sommersonnenwende. Im Bild Feierlichkeiten am Johannistag in St. Michael im Lungau (Salzburg)

Der Jahreskreis war bereits bei unseren keltischen und germanischen Vorfahren von verschiedenen Festtagen geprägt. Dabei richteten sich diese gemäß dem Bedarf der bäuerlichen Gesellschaften am Sonnenstand aus. Die Feste waren damit neben dem rituell-religiösen Grundgedanken wichtige Bezugspunkte für Aussaat und Ernte. Im Zuge der Christianisierung wurden diese Feste umgedeutet und umbenannt, auch um den Übertritt ins Christentum zu erleichtern. Dadurch orientieren sich viele der christlichen Feiertage bis heute zeitlich am Sonnenstand und betten sich dadurch harmonisch in den jahreszeitlichen Ablauf der Natur ein. So ist es kein Zufall, dass der Johannistag (24. Juni) mit der Sommersonnenwende (21. Juni) oder das Weihnachtsfest mit der Wintersonnenwende (21. Dezember) und dem germanischen Julfest zusammenfällt.

Mit den Festen wurden auch die vorchristlichen Bräuche auf den neuen christlichen Glauben übertragen und so entstand im Laufe der Jahrhunderte eine Vielzahl an religiös aufgeladenen Ritualen, die im Ursprung aber auf vorchristlichen Traditionen beruhen. Palmsonntag, Ostern und Fronleichnam erinnern beispielsweise bis heute mit ihrem Bezug zu immergrünen Pflanzen wie Ölzweigen, Buchsbaum, Wacholder an einst weitverbreitete Fruchtbarkeitsriten des Frühlings.

Bräuche geben dem Jahr durch ständig wiederkehrende Rituale eine Struktur, dementsprechend sind sie ein Teil des natürlichen Bestrebens des Menschen nach Ordnung und Regelmäßigkeit. Echtes gelebtes Brauchtum verwurzelt, verbindet und vermittelt durch die Einbettung in jahreszeitliche Rhythmen ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Die Religion unterstützt dieses Bedürfnis nach der inneren Ordnung und Orientierung. Auch das Konzept der Salutogenese des israelisch-amerikanischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923–1994) unterstützt diese Theorie. Antonovsky beobachtete bei seinen Patienten, dass das sogenannte Kohärenzgefühl für die menschliche Gesundheit eine immense Rolle spielt. Schicksalsschläge und erdrückende Lebensereignisse mündeten bei Menschen mit einem ausgeprägten Kohärenzgefühl – im Gegensatz zu Menschen, denen dieses fehlte – weniger oft in Krankheit. Sie waren also widerstandsfähiger, gesünder und lebten länger. Das Kohärenzgefühl definiert sich aus drei Punkten: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Erstere ist die Fähigkeit, Zusammenhänge im Leben zu verstehen, die Handhabbarkeit ist die tiefe innere Überzeugung, selbst das Leben gestalten zu können, und die Sinnhaftigkeit meint den Glauben an einen Sinn im Leben.1

Das gelebte Brauchtum und das bewusste Leben in jahreszeitlichen Rhythmen, das nicht nur als Kulisse oder als Touristenattraktion ausgeübt wird, berühren alle drei Aspekte. Denn die in den Jahreslauf eingebetteten Bräuche helfen, mit ihren rituellen Handlungen und dazugehörigen Geschichten die Zusammenhänge des Lebens zu begreifen. Gleichzeitig werden aber auch die Handhabbarkeit und die Sinnhaftigkeit berührt. Der jahreszeitliche Ablauf beginnt im Frühling mit seinen Fruchtbarkeitskulten (Ostern, Fronleichnam, Johannisfest), geht im Sommer und Herbst mit der Erntedankkultur (Mariä Himmelfahrt, Erntedank) weiter bis in den Herbst und Winter hinein, wenn Ruhe einkehrt, der Toten gedacht wird (Allerheiligen bzw. Halloween am Abend zuvor) und man sich mit den Lichtfesten (Weihnachten, Mariä Lichtmess) auf das neue beginnende Vegetationsjahr freut. Sieht man sich als Teil dieses Ablaufs, so wird man gleichzeitig Teil der Schöpfung und der umgebenden Natur. Das kann helfen, das Leben als gestaltbar und sinnvoll zu erleben.

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Keltischer Jahreskreis mit den entsprechenden christlichen Festen

Der circadiane Rhythmus: die innere Uhr

Es gibt aber nicht nur einen äußeren Rhythmus, sondern auch einen inneren: Viele biologische Funktionen in unserem Körper zeigen ein periodisches Verhalten. Die meisten Funktionen haben einen charakteristischen Verlauf, der in einem definierten Zeitraum mindestens ein Maximum und ein Minimum an Aktivität erreicht. Dementsprechend besitzt jeder Mensch tatsächlich eine innere Uhr. Maßgeblicher Taktgeber für diese ist auch hier die Sonne, genauer gesagt das Sonnenlicht.

Der menschliche Körper ist keine Maschine, sondern ein auf Regelkreisläufen und Rückkopplungsmechanismen basierender Organismus. Dabei wird der Mensch körperlich wie psychisch maßgeblich von biologischen Rhythmen beeinflusst. Die Zeitspannen reichen dabei von wenigen Sekunden (z. B. Atmung) über den Tagesrhythmus (circadianer Rhythmus, z. B. Schlaf-Wach-Rhythmus) bis hin zu Monats- (z. B. Menstruation) oder Jahresrhythmen. Einer der augenscheinlichsten ist der Tagesrhythmus, der circadiane Rhythmus.

Der circadiane Tagesrhythmus ist ein uns allen angeborener und für das menschliche Leben und den Ablauf menschlicher Funktionen wesentlicher Faktor. Der körperlich geregelte Tagesrhythmus entwickelt sich beim Kleinkind ab der 15. Lebenswoche. Es ist jene Zeit, in der das Kind sich einen Schlaf-Wach-Rhythmus angewöhnt, der sowohl auf inneren Taktgebern (innere Uhr) als auch auf äußeren Einflüssen wie der Sonne beruht. Hell und Dunkel gehören auch im Erwachsenenalter neben der Nahrungsaufnahme oder auch dem sozialen Umfeld zu den wichtigsten Taktgebern unserer inneren Uhr, die täglich synchronisiert und gegebenenfalls auch täglich angepasst wird.

Zahlreiche Körperfunktionen unterliegen dem Tagesrhythmus, ohne dass wir das immer bemerken würden. Jeder kennt das mittägliche Tief, das viele zu einem Mittagsschlaf drängt, aber auch die Körpertemperatur, Hormonausschüttungen und sogar Krankheitssymptome wie Schmerz durchlaufen jeden Tag mindestens einen Höhe- und einen Tiefpunkt. Das Schmerzempfinden hat beispielsweise zwischen 0 und 3 Uhr nachts seinen Höhepunkt, während man zwischen 12 und 18 Uhr am schmerzunempfindlichsten ist. Gleichzeitig wirken Schmerzmittel in den Nachtstunden weniger als während des Tages, es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich Zahn- oder auch Ohrenschmerzen vor allem nachts verstärken oder bemerkbar machen.

Auch der Ausbruch einiger körperlicher Beschwerden tritt in bestimmten Zeiträumen verstärkt in Erscheinung. Herzinfarkt tritt beispielsweise häufiger in den frühen Vormittagsstunden (9 Uhr) auf und die Schlaganfallrate erreicht in den Nachtstunden (Höhepunkt 3 Uhr) ihr Maximum. Auch Gallensteine machen sich meist in den Nachtstunden bemerkbar.

Besonders stark sind auch die Hormone von circadianen Veränderungen betroffen. Nachts verringert sich beispielsweise die Konzentration des Glückshormons Serotonin, wodurch wir psychisch in einen sehr melancholischen Zustand rutschen und uns Probleme und Lebensumstände während der Nachtstunden viel düsterer als tagsüber erscheinen. Wir durchleben sozusagen jede Nacht eine kleine Depression.

Diesen rhythmischen Veränderungen können wir uns nicht entziehen. Für die Gesundheit und das Wohl des Menschen ist es aber unabdingbar, in einer Harmonie mit diesen rhythmischen Veränderungen zu leben. So zeigen Studien, dass Schichtarbeiter, deren Schlafzeitpunkt häufig wechselt und damit von ihrem natürlichen Schlaf-Wach-Rhythmus abweicht, nicht nur häufiger unter Schlafstörungen leiden, sondern dass sie auch ein deutlich erhöhtes Risiko für Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben.2

Den circadianen Rhythmus kann man auch therapeutisch nutzen. So kann man Schlafproblemen, die oftmals auch durch einen chaotischen Tagesrhythmus bedingt sind, mit gezielten morgendlichen Spaziergängen an der frischen Luft (mind. 20 Minuten) begegnen. Studien zeigen zudem, dass auch ein Campingwochenende einen gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus positiv beeinflussen kann.3 Das Tageslicht synchronisiert dabei wiederum eine aus dem Ruder gelaufene innere Uhr.

Reizmethoden und Reiztherapie

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Die Weisheit hat keinen Feind, nur den, der sie nicht versteht.

Paracelsus

Meine Großmutter schlug sich immer, wenn sich ihre rheumatische Erkrankung bemerkbar machte, frische Brennnesseln auf ihre Gelenke. Sie war fest davon überzeugt, dass sie dadurch ihre Erkrankung im Griff hatte, denn ihren Aussagen zufolge verschwand der rheumatische Schmerz mit dieser Methode immer wieder für längere Zeit.

Das Aufschlagen von Brennnesseln bei Gelenkbeschwerden ist kein Geheimtipp, denn bis ins 20. Jahrhundert wurde dies auch in medizinischen Lehrbüchern als Therapieoption bei rheumatischen Erkrankungen beschrieben. Dabei ist diese Art der Therapie ein typisches Beispiel für eine Reizmethode, wie wir sie im Ursprung schon bei den antiken Lehrmeistern finden.

Die klassische Reiztherapie ist bis heute im Alpenraum und darüber hinaus eine der zentralen Säulen der Volksmedizin. Auch die Schulmedizin bediente sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts dieser Therapieform. Dabei gibt es sowohl in der Prophylaxe als auch in der Therapie verschiedene Anwendungsmöglichkeiten. Die Reiztherapie war ein Ausleitungsverfahren und hatte in der Säftelehre, die in Europa fast 2.000 Jahre lang auch Teil der gelehrten Medizin war, ihren festen Platz. Die Ausleitungsverfahren der Säftelehre entstammen der Vorstellung eines idealen Mischverhältnisses der vier menschlichen Säfte Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle. Bei Krankheit geraten diese Säfte – dieser Sichtweise zufolge – aus dem Gleichgewicht. Mit den Ausleitungsverfahren sollte ebendieses Gleichgewicht wiederhergestellt werden. Neben dem absichtlichen Hervorrufen von Wunden gehören dazu auch Aderlass, Schwitzkuren, Abführ- und Brechmittel.

Neue medizinische Konzepte wie das biopsychosoziale Modell belegen: Der menschliche Organismus funktioniert maßgeblich über Selbstregulationsmechanismen und Rückkopplungseffekte. Krankheit findet statt, wenn die natürlichen Regulationsmechanismen überfordert sind und deshalb Reparaturen und ein Übergang in den normalen Zustand für den Organismus nicht mehr möglich sind. Diese Erkenntnis der biopsychosozialen Medizin ist für die Reiztherapie wesentlich. Denn in diesem Kontext scheint es verständlich, weshalb Reizmethoden zumindest seit den Anfängen der antiken Medizin zum Grundverständnis von Heilung dazugehörten.

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Das Aufschlagen von Brennnesseln ist in der alpinen Volksmedizin eine bis heute gebräuchliche Form der Therapie bei Rheuma.

Das bewusste Hervorrufen von Wunden, um letztlich Schmerzen zu kurieren, die Kneipp’sche Wasserkur, aber auch das Saunieren oder das von Sportlern betriebene Trainieren in großer Höhe haben eines gemeinsam: Sie sind Reizverfahren, die die selbstregulativen Systeme des Körpers herausfordern und aktivieren. Der menschliche Organismus versucht sich diesen Reizen zu stellen und Schutzmaßnahmen aufzubauen. Dadurch kann ein festgefahrenes Krankheitsgeschehen durchbrochen und neu reguliert beziehungsweise können Abwehrmechanismen wie das Immunsystem gestärkt werden.

Die Regulations-Anpassungstheorie oder Amelung-Hildebrandt-Regel – benannt nach dem Arzt Walther Amelung und dem Physiologen Gunter Hildebrandt, die sich mit dem Einfluss von Bädern und Heilquellen sowie des Klimas auf die Gesundheit beschäftigt haben – erklärt dies folgendermaßen: Ein Organismus besitzt einen Grundzustand. Schwache Reize verhindern ein Abfallen der Ausgangslage. Stärkere Reize fordern die Grundeinstellung heraus, fördern Anpassungsmaßnahmen und verstärken dadurch die Ausgangslage. Stärkste Reize überfordern die Anpassungskapazität der Ausgangslage und führen zu Erschöpfung und Erkrankung. Übertragen auf die Wassertherapie wäre ein schwacher Reiz ein etwas kälterer Wasserstrahl beim Duschen. Braust man sich am Ende der Dusche noch kalt ab, wäre das ein stärkerer Reiz. Ein zu starker Reiz wäre es aber beispielsweise, sich ungeübt in einen eiskalten Bach zu stürzen. Ein solcher Reiz würde uns nicht stärken, sondern wohl zu einer Erkältung führen.

Wissenschaftlich erklärbar ist dieses Phänomen vor allem im Hinblick auf das Immunsystem. Werden Reize auf das Immunsystem ausgelöst (z. B. Wechselduschen, Ausdauersport oder eine Klimaveränderung), so regt dies das Immunund Endokrinsystem an, zu reagieren: Fresszellen und T-Lymphozyten werden aktiver – sie sind unter anderem für die Erkennung und Bekämpfung von Krankheitserregern zuständig – und der Lymphabfluss wird angeregt. Diese Effekte halten dann auch etwas länger an. Das belegen beispielsweise Untersuchungen zum Einfluss von leichtem Ausdauersport auf das Immunsystem.4

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Alle Dinge sind Gift und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.

Paracelsus

Dieses Zitat von Paracelsus kann auch für die Erklärung der positiven Auswirkungen der Reiztherapie verwendet werden. Denn ähnlich wie bei verabreichten Medikamenten synthetischer oder pflanzlicher Natur entscheidet auch in der Reiztherapie die Dosis bzw. die Intensität der Applikation über Nutzen oder Schaden. Leichte Reize können den Körper kräftigen oder wieder in geordnete Bahnen bringen, während zu starke Reize diesen oftmals schädigen.

Damit sich ein Reiz positiv auf den Organismus auswirken kann, muss er also ein leichter bis mittelstarker Reiz bleiben. Werden die körpereigenen Anpassungsstrategien überstrapaziert, bleibt nicht nur der gesundheitliche Effekt aus, sondern die negativen Effekte überwiegen bzw. das Krankheitsgeschehen wird sogar noch verstärkt.

Schmerzen mit Schmerzen kurieren: die klassische Reiztherapie

Bei der klassischen Reiztherapie handelt es sich um die Kauterisation, also dem absichtlichen Hervorrufen von Wunden. Dies ist eine sehr alte Methode der Medizingeschichte. Schon Hippokrates bezeichnete die Kauterisation im 5./4. Jahrhundert v. Chr. neben dem Aderlass, der Schwitzkur, dem Abführmittel und dem Brechmittel als eine der fünf Kardinalmethoden der Entgiftung.

Die zur Reiztherapie zählende klassische Kauterisation ist ein typisches Ausleitungsverfahren, mit welchem in der ursprünglichen Vorstellung „die schlechten kranken Säfte“ abfließen sollten. Dabei sollte speziell das Lymphsystem gereinigt werden. Denn im Gegensatz zum blutigen Schröpfen oder dem Aderlass, bei dem das Blut ausgeleitet wird, steht bei der Kauterisation das Lymphsystem im Zentrum vermeintlicher Reinigungsprozesse.

Auch wenn dieses im Gegensatz zum Aderlass mildere Verfahren nie ganz verschwand, so erlebte es durch den Wiener Arzt Bernhard Aschner (1883–1960) Ende der 1920er-Jahre eine regelrechte Renaissance. Aschner, der unter anderem auch das Gesamtwerk von Paracelsus ins Deutsche übersetzt hatte, sah in der Kauterisation eine Möglichkeit, körperliche Beschwerden effektiv zu lindern. Er wandte sie vor allem bei entzündlichen Erkrankungen und rheumatischen Schmerzen an.

Hierzu trug man in unmittelbarer Nähe des schmerzenden Gelenkes Senfpulver oder Cantharis (pulverisierte Spanische Fliege) auf die Haut auf und fixierte diese mit einem Pflaster für 10 bis 24 Stunden. Dadurch entstanden Blasen, aus denen das vermeintlich schädliche Körpersekret abfließen sollte. Die Therapie war schmerzhaft und beim anschließenden Öffnen der Blase war hygienisches Arbeiten eine Grundvoraussetzung. Neben Gelenkerkrankungen wurde die Therapie auch bei Tinnitus, Schwindel, Nerven- und Kopfschmerzen verwendet. Die Applikationsstelle des Pflasters richtete sich nach dem betroffenen Areal. So wurde das Pflaster beispielsweise bei Schwindel und Kopfschmerzen im Genick und bei Gelenkschmerzen in der Nähe des schmerzenden Gelenkes angebracht.5

Auch Bauerndoktoren wie die Ragginer in Südtirol, die im Lüsental bei Brixen über drei Generationen medizinisch wirkten, verwendeten die Kauterisation. Das ist nicht verwunderlich, denn gerade in der Volksmedizin waren die Vorstellungen der Säftelehre bis ins 20. Jahrhundert stark verbreitet. Dies lag auch daran, dass wichtige Bezugspersonen volksmedizinischer Weisheiten, wie z. B. der Kräuterpfarrer Sebastian Kneipp, noch Ende des 19. Jahrhunderts Verfechter der Säftelehre und somit auch von gewissen Ausleitungsverfahren waren.

Da die Reiztherapie anfangs auch in der Schulmedizin anerkannt war, wurden pharmazeutische Produkte wie Weißhaar’sche Rheumatismus-Pflaster oder gebrauchsfertige Cantharidenpflaster hergestellt, die die Anwendung vereinfachten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden sogar technische Geräte entwickelt, die die Ausleitung schlechter Säfte durch die Reiztherapie erleichtern sollten. Besonders populär wurde auch im Alpenraum der von Carl Baunscheidt (1809–1873) entwickelte „Lebenswecker“. Mit dieser Vorrichtung wurden Stempel mit kleinen Nadeln in die Haut gestochen. Zuerst stach man in die Nähe der zu behandelnden Stelle ein, dann rieb man sie mit einem reizenden Stoff, meist Croton- oder Senföl, ein. An der behandelten Stelle entstanden so Bläschen, aus denen das Sekret abfließen konnte, sobald sie sich öffneten. Nach der Vorstellung der Reiztherapie sollten sich dadurch die zugrunde liegende Entzündung oder die Schmerzen bessern. Das sogenannte „Baunscheidtieren“ ist im Bereich der Naturheilverfahren – durchgeführt von Heilpraktikern – bis heute in Gebrauch. Allerdings wird heutzutage auf Crotonöl verzichtet, da es im Verdacht steht, krebserregend zu wirken. Sowohl beim Baunscheidtieren als auch bei der klassischen Kauterisation handelte es sich aber um schmerzhafte Behandlungen, und das Provozieren von Wunden wurde zunehmend als „Rosskur“ angesehen. Darum verabschiedete sich die Schulmedizin im Laufe des 20. Jahrhunderts weitgehend von diesen Therapiemöglichkeiten.

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Mit dem „Baunscheidt’schen Lebenswecker“ stach man an der zu behandelnden Stelle in die Haut, um sie danach mit Croton- und Senföl einzureiben – ein sehr schmerzhaftes Ausleitungsverfahren.

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