SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört,
einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,
Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-7530-2 (E-Book)
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Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel
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Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Umschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.biz
Titelbild: Adobe Stock
Autorenfoto: ©unbekannt
Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen
Über den Autor
Top-Secret
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Nachwort
Leseempfehlungen
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
DANIEL KOWALSKY (Jg. 1966) arbeitet als Realschullehrer und engagiert sich im Kinder- und Jugendbereich der FeG Lörrach. Gleichzeitig ist er erfolgreicher Autor der Jugendbuch-Reihe »Joe Hart und die Blauen Tiger«. Mit seiner Frau lebt er im Südschwarzwald.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Niemand weiß, dass es sie gibt. Keiner weiß, was sie vorhaben. Sie agieren schon seit Tausenden von Jahren. Im Geheimen und Verborgenen.
Nur eine kleine Gruppe um Lionel Abraham Daniels, die ihr Hauptquartier momentan in einem Kibbuz in Israel hat, ist dieser mysteriösen und sehr einflussreichen Geheimorganisation auf der Spur und stellt sich den fiesen Plänen der dahinterstehenden Verschwörer mit Mut und Einfallsreichtum entschlossen in den Weg.
Die Mitglieder dieser furchtlosen Gruppe um Lion Daniels sind:
Lionel Abraham Daniels selbst: Ein 18-jähriger Student aus Texas, der meist nur Lion genannt wird. Er ist ein Abenteurer, Draufgänger und über beide Ohren verliebt in Jackie, die er im ersten Band aus den Fängen der Geheimgesellschaft gerettet hat.
Jaqueline Arielle Bordeaux, kurz Jackie: Sie ist 16 Jahre alt, sehr intelligent, leidet unter einer Amnesie, die in einem Labor der Geheimorganisation am Comer See künstlich herbeigeführt wurde. Sie und Lion kennen sich aus ihrer gemeinsamen Schulzeit an einer Privatschule im Schwarzwald.
Ariel Goldberg: Spitzname Ari, ist ein ehemaliger Mossad-Geheimagent, der bestens vernetzt ist und alle Fäden in der Hand hält. Außerdem ist er Lions Onkel, was in dessen Familie bis vor Kurzem noch ein gut gehütetes Geheimnis war.
Yumiko Takahashi: Sie arbeitet schon lange als Computerhackerin mit Ariel zusammen und ist mit ihm verlobt.
Leandro Bugatti: Der 21-jährige, hochintelligente Biochemiker arbeitete – ohne es zu wissen – in einem geheimen Forschungslabor der Organisation. Doch als er dahinterkam, dass seine Arbeit missbraucht wurde, um Menschen manipulieren zu können, stieg er aus, nahm seine gesamten Forschungsergebnisse mit und wird deshalb nun von der geheimen Gesellschaft gejagt.
David Grand: Der 21 Jahre alte gläubige Christ rettete Leandro Bugatti das Leben und gehört seitdem zur Gruppe.
Janina Adams: Die junge Archäologie-Studentin geriet nach der Entdeckung eines geheimen Tempels der Organisation in Ägypten in deren Visier. Doch Lion, David, Leandro, Jackie und Ariel retteten sie; seitdem gehört sie mit zur Widerstandstruppe. Bei der spektakulären Flucht aus Ägypten verliebte sie sich in David und Leandro und entdeckte ihren einstigen Glauben wieder.
Alexandro Novotny: Der Freiburger Archäologie-Professor und Freund von Ari führte die Exkursion und Suche nach dem Tempel in Ägypten an. Er gilt als tot.
Zu den Gegenspielern gehören:
Gilbert Winter: Der fiese Bankier aus der Hochfinanzwelt ist die Schlüsselfigur der Geheimorganisation und der Gruppe um Lion Daniels auf den Fersen.
Jill Aapio: Die eiskalte Finnin ist Winters Topagentin und war vor allem mit der Entführung und Betreuung von Jackie betraut.
Khor: Der Meister und oberste Priester der Geheimgesellschaft hält sich stets im Hintergrund – solange alles läuft.
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Russland, Moskau, Laboratorium Nr. 12 –
20. Februar 1961
Denis Popow steckte den Mikrofilm in einen schmalen Hohlraum seines Gürtels, den er mit einem speziellen Klebstoff verschloss.
Als junger hochbegabter Wissenschaftler im Bereich der Hirnforschung war er vor einigen Jahren vom KGB angeheuert worden, um das Team im Laboratorium Nr. 12 zu unterstützen. Aber was er hier im Laborinstitut des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten gesehen und erlebt hatte, übertraf die schlimmsten Gerüchte, die er zuvor über diese Einrichtung gehört hatte. Während der letzten zwei Jahre hatte er Dinge mitbekommen, die ihn in die tiefsten Täler menschlicher Abgründe geführt hatten. In diesem Labor wurde die Wirkung maßgeschneiderter Gifte getestet, und zwar an sogenannten nutzlosen Gefangenen. Menschenleben zählten in dieser Einrichtung nur sehr wenig.
Und Denis? Er gehörte dazu und hatte genau das getan, was seine Auftraggeber von ihm verlangten. Anfangs hatte er sich noch für das geschämt, was er tat. Doch im Laufe der beiden Jahre war sein Gewissen immer weiter abgestumpft, sodass er nicht mehr über Moral und Ethik nachdachte. Er hatte sogar über seine Aufträge hinaus eigene Forschungen betrieben und immer mehr Gefallen an seiner Arbeit und der damit verbundenen Macht gefunden – auf Kosten vieler Menschenleben.
Im Zuge seiner Forschungen hatte er ganz neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Hirns gewonnen, die alles in den Schatten stellte, was bis dahin herausgefunden worden war. Dieses Wissen schrie jetzt danach, in irgendeiner Weise angewendet zu werden.
Und da lag das Problem. Der KGB war natürlich sehr daran interessiert, die von ihm gewonnenen Erkenntnisse im Bereich der Hirnforschung für seine eigenen Zwecke zu nutzen. Doch das wollte er niemals zulassen. Die Denkweise der KGB-Leute empfand er als viel zu primitiv. Sie dachten nur an das Hier und Jetzt, an den Kalten Krieg und daran, wie sie den imperialistischen Klassenfeind Amerika besiegen konnten. Nein, Denis Popow dachte weiter. Für ihn gab es kein Ost und kein West – nur eine Weltgemeinschaft, die darauf wartete, von einer Elite hochbegabter Menschen angeführt zu werden.
Er selbst gehörte zu dieser Elite – sogar mehr als das: Als oberster Priester eines geheimen Ordens führte er diese Elite an. Vor Kurzem war ihm von seinem Vorgänger die Priesterwürde übertragen worden und damit auch das Geheimwissen längst vergangener Generationen. Als neuer oberster Priester hatte er auch einen neuen Namen bekommen, einen Namen, der nur an geweihten Orten genannt werden durfte.
Denis fuhr mit der Hand über seinen Gürtel, in dessen Inneren sich der Mikrofilm mit seinen Forschungen der letzten Jahre befand. Es war die einzig übrig gebliebene Dokumentation davon. Die Original-Dokumente hatte er zuvor vernichtet.
Nun war es Zeit zu gehen. Draußen wartete ein Agent der Organisation auf ihn, der ihn sicher über den Eisernen Vorhang bringen würde, die schier unüberwindliche Grenze zwischen Ost und West. In Amerika würde er seine Forschungen fortsetzen. Er würde mithilfe der westlichen Technologien etwas erfinden, das die Welt für immer verändern würde – und so die Vision aus dem alten Babylon Wirklichkeit werden lassen.
Er ballte seine Hand zur Faust und flüsterte mit unterdrückter Stimme: »Der uralte Plan wird umgesetzt.«
Denis Popow schaute zur Zimmerdecke, die folgenden Worte nur in Gedanken sprechend: »So wahr ich Khor heiße!«
* * *
In einem Bunker in Ägypten – 22. Juli
Der Freiburger Archäologie-Professor Alexandro Novotny, der einen Anschlag durch ein inszeniertes Täuschungsmanöver überlebt hatte, schaute nach oben zu der verschlossenen Luke des Bunkers. Seit neun Tagen saß er in diesem Bunker fest, weil eine Explosion die Luke verschüttet hatte.
Novotny seufzte, setzte sich an einen Tisch und schaute zum gefühlt tausendsten Mal auf eine Schatulle, die im Flackerlicht der Lampe in Regenbogenfarben schimmerte. Er hatte diese Schatulle in einem geheimnisvollen Tempel gefunden und mitgenommen.
Bei diesem Tempel – oder vielmehr bei dem, was sich darin befand – handelte es sich um das zentrale religiöse Symbol einer der gefährlichsten Geheimorganisationen der Welt. Das wurde auch dadurch deutlich, dass sich die Organisation nach dem mysteriösen dreidimensionalen Stern in der Mitte des Tempels nannte: PENTATRAXON
Nowotny nahm die Schatulle in die Hand und betrachtete sie von allen Seiten. Die Tatsache, dass er sie auf einem Altar direkt unter dem Stern gefunden hatte, sagte ihm, dass ihr Inhalt für diese Geheimgesellschaft von elementarer Bedeutung sein musste. Leider war das Kästchen so fest verschlossen, dass er an den Inhalt nicht herankam. So sehr er sich auch in den vergangenen Tagen bemühte hatte, die Schatulle ließ sich einfach nicht öffnen. Wütend warf er sie mit voller Wucht an die Wand; sie fiel zu Boden.
Verwundert hob er sie wieder auf. Was war das? Etwas an der Oberfläche hatte sich verändert. Ein Stift aus Metall war zu sehen und stand etwa einen Millimeter heraus. Mit seinen spitzen Fingernägeln zog er daran. Es gelang ihm tatsächlich, den Stift vollends herauszuziehen.
Auf einmal hörte er im Inneren des Kästchens ein Scharren. Er hatte einen Mechanismus in Gang gesetzt. Wenige Sekunden später vernahm er ein leises ›Klack‹, und die Schatulle war geöffnet.
Neugierig schaute Novotny hinein und entdeckte eine Rolle. Vorsichtig nahm er sie heraus und legte sie vor sich auf den Tisch. Es war eine Buchrolle, vermutlich aus hochwertigem Büffel-Leder, die mit einem Siegel verschlossen war und sich sehr geschmeidig anfühlte.
Er zerbrach das Siegel, das die Form des dreidimensionalen fünfzackigen Sterns hatte, der sich auch in der unterirdischen Tempelanlage befand, faltete die Buchrolle vorsichtig auseinander und stutzte. Der Text war in sauberen Schriftzeichen verfasst, die nur wenige Jahre alt sein konnten, wie die Buchrolle selbst – als Archäologe sah er das sofort. Sie war sogar in modernem Englisch verfasst.
Neugierig begann Novotny zu lesen:
»Als oberster Priester des PENTATRAXON-Ordens weihe ich dir hiermit unseren Plan, den wir in Kürze umsetzen werden.«
Nachdem er den Abschnitt zu Ende gelesen hatte, runzelte er die Stirn. Bei dem Text handelte es sich um eine Art religiöse Proklamation eines Priesters, der sich mit diesem Schreiben an einen alten ägyptischen Gott zu wenden schien. Deshalb hatte diese Schatulle auf dem Altar direkt unter dem Stern gelegen.
»Khor«, flüsterte Novotny leise. »PENTATRAXON-Priester aus Illinois.«
Mit diesem Namen war die Proklamation unterzeichnet worden.
Professor Novotny las weiter. Der nachfolgende Text war nun nicht mehr religiöser Natur. Nein, es handelte sich stattdessen um einen bis ins Detail beschriebenen Aktionsplan, der schlicht und einfach mit ›Den Visionären von Babylon gewidmet‹ überschrieben war.
Je mehr Novotny davon las, umso mehr verschlug es ihm die Sprache. Was hier stand, war einfach unfassbar. Und dass es nicht einfach nur Fantasien eines wirren Fanatikers waren, verriet ihm sein gesunder Menschenverstand. Einiges von diesem Aktionsplan war ja bereits umgesetzt worden, das wusste Novotny. Aufgeregt las er weiter.
Als er den Text fertiggelesen hatte, war er aschfahl und sein Herz raste wie wild. Mit gläsernen Augen schaute er auf. Dieser Plan, diese Verschwörung musste unbedingt verhindert werden. Er musste hier raus und sich an seinen Freund Ariel Goldberg wenden.
»Babylon-Verschwörung«, flüsterte er leise.
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Israel, in der Nähe des Sees Genezareth –
25. Juli, 10:30 Uhr
Lion Daniels hatte nun bereits zum wiederholten Mal vom Rücksitz aus, wo er zwischen Jackie und Janina saß, durch das Heckfenster des Toyotas auf einen schwarzen BMW X5 Protection geblickt. Nun beugte er sich nach vorne zu Leandro Bugatti, der den Toyota steuerte, und zu David Grand, der auf dem Beifahrersitz saß: »Ist euch eigentlich auch der BMW hinter uns aufgefallen?«
Leandro schaute in den Rückspiegel: »Mal abgesehen davon, dass die Israelis vorzugsweise asiatische Autos fahren, finde ich nichts Ungewöhnliches daran, dass auch mal ein deutsches Fahrzeug dabei ist. Oder was soll die Frage?«
Lion räusperte sich: »Es geht mir nicht um die Marke. Dieser Wagen folgt uns jetzt schon mehr als eine halbe Stunde, und zwar in einem Abstand von zweihundert bis dreihundert Metern. Mir scheint, dass er sich äußerste Mühe gibt, von uns nicht bemerkt zu werden.«
»Vielleicht hat er ja dasselbe Ziel wie wir«, überlegte David.
Lion blieb beharrlich: »Normalerweise würde ich dir recht geben! Aber du weißt selbst, dass wir jetzt schon dreimal die Richtung gewechselt haben.«
»Ja, weil wir uns dreimal verfahren haben«, ergänzte Jackie, die mittlerweile David die Landkarte abgenommen hatte und Leandro zum Ziel navigierte.
»Warum noch mal nehmen wir kein Navi?«, fragte Janina, die während der Fahrt bisher ihren eigenen Gedanken nachgehangen hatte.
Leandro wies entnervt auf Lion, der darauf bestanden hatte, bei ihrer Fahrt auf jegliche elektronische Navigation zu verzichten.
»Keine Technik, keine Überwachung«, antwortete ihr Lion. »So einfach ist das.«
Leandro, David, Janina, Lion und Jackie waren von ›Aris Nest‹, wie sie liebevoll ihr Hauptquartier in einem israelischen Kibbuz nannten, auf dem Weg zu einem Gottesdienst einer messianischen Gemeinde direkt am See Genezareth.
Gerade hatten sie Lions Familie aus den Fängen der mächtigen Geheimorganisation um Gilbert Winter befreit. Lion hatte dabei zum Glauben gefunden und wollte den nun auch möglichst konsequent leben, inklusive Gottesdienstbesuchen. Deshalb hatten sie die Gemeinde rausgesucht. Lions Eltern und seine Schwester Alina, die sonst regelmäßig in die Gottesdienste ihrer Heimatgemeinde in Texas gingen, verbrachten diesen Vormittag jedoch lieber mit Ari, dem bislang geheim gehaltenen Halbbruder von Lions Mutter Amelie.
Auch wenn Lions Familie frei und in dem Kibbuz in Sicherheit war, war sich Lion sicher, dass Gilbert Winter und seine Gefolgsleute sie nicht in Ruhe lassen würden und auf Rache sannen – bis sich ihre Geheimpläne erfüllten. Deshalb achtete er genau auf alles, was ihm verdächtig erschien, was auf diesen BMW durchaus zutraf.
»Machen wir doch die Probe«, schlug Jackie vor. »Wir biegen an der nächsten Kreuzung nach rechts ab, fahren ein wenig in diesem Wohngebiet herum und kehren anschließend zurück auf die Hauptstraße. Wenn der BMW dann immer noch hinter uns ist, gibt es für mich keinen Zweifel, dass Lion recht hat.«
Leandro schaute auf seine Armbanduhr: »Wir sind zwar spät dran, aber meinetwegen.«
Er bog von der Hauptstraße ab und vollzog das von Jackie vorgeschlagene Manöver. Als sie wieder auf die Hauptstraße zurückkehrten, war der BMW verschwunden.
»Entspann dich, Lion – alles gut!«, grinste Leandro, setzte seine Sonnenbrille auf und folgte der Straße unbeirrt weiter.
Lion schwieg und beschloss, weiterhin die Augen offen zu halten.
* * *
Auf dem Beifahrersitz des schwarzen BMW X5 VR6 saß Brioso, meist nur der Hüne genannt, ein Auftragskiller von PENTATRAXON, und ärgerte sich.
»Verdammt! Sie sind weg!«, brüllte er.
Der Fahrer, ein Ire mit roten Haaren, blaugrauen Augen und ungewöhnlich harten Gesichtszügen, wollte etwas sagen, wurde aber vom Klingelton des Smartphones unterbrochen, das am Freisprecher des Fahrzeugs angeschlossen war.
Der Hüne nahm das Gespräch entgegen: »Ja?«
Über die Freisprecheinrichtung war eine vertraute Stimme zu hören: »Wie steht's?«
»Wir haben sie gerade aus den Augen verloren, sind aber ganz nah dr…«, antwortete der Hüne.
Gilbert Winter fuhr ihm ins Wort: »Ihr Vollidioten! Die Sache ist so einfach: Ihr schnappt euch Jackie, dann ein Wumm und der Rest ist kein Problem mehr. Wenn ihr es richtig anstellt, fällt der Verdacht auf die Palästinenser.«
»Genau da liegt das Problem!«, fauchte der Hüne. »Wir hätten das Fahrzeug schon längst in die Luft sprengen können. Aber du willst das Mädchen ja lebend ha…«
Winter unterbrach ihn mit schneidender Stimme ein zweites Mal: »Keine Ausreden! Findet sie, sonst hat das Konsequenzen für euch! So viele Straßen gibt es in dieser Region nicht!«
Der Hüne wollte widersprechen, aber Gilbert Winter hatte das Gespräch bereits beendet.
Der große blonde Mann auf dem Beifahrersitz war auf hundertachtzig und schlug zornig mit der Hand aufs Board des Fahrzeugs.
»Soll ich anhalten?«, fragte der Ire.
Der Hüne brachte seine Emotionen sofort wieder unter Kontrolle: »Nein, fahr weiter.« Es gehörte zu seinen besonderen Qualitätsmerkmalen, dass er sich niemals von Emotionen leiten ließ, immer einen kühlen Kopf bewahrte und auch im größten Stress messerscharf denken konnte. Das war ein Grund dafür, dass PENTATRAXON ihm für jeden Auftrag einen satten Millionenbetrag zahlte. Der oberste Priester des Ordens hatte ihn sogar persönlich auserwählt. Denn er hatte eine Erfolgsquote von fast hundert Prozent. Nur bei einem Auftrag hatte das Zielobjekt überlebt. Er hatte den dümmsten aller Fehler gemacht und das Objekt unterschätzt. Die Tatsache, dass er vor wenigen Wochen Leandro Bugatti hatte entkommen lassen, kratzte noch immer an seinem Selbstbewusstsein.
Doch schon heute würde er das Versäumte nachholen und seine Quote wieder bereinigen. So ein Fehler sollte ihm nicht noch einmal passieren. Ohne unnötige Worte zu verlieren, studierte er eine Karte auf seinem Smartphone-Display. Dann pfiff er durch die Zähne, drehte sich um, schaute durchs Heckfenster und grinste dabei hämisch: »Wie ich’s vermutet habe. Da sind sie wieder. Diesmal fünfhundert Meter hinter uns.«
Der Ire schaute in den Rückspiegel: »Dann machen wir am besten gleich kurzen Prozess mit ihnen!«
Der Hüne schüttelte den Kopf: »Nein, der Zugriff muss heimlich laufen, sonst haben wir sämtliche Sicherheitskräfte der Israelis am Hals. Wir schlagen zu, wenn es keiner sieht.«
* * *
Lion, Jackie, Leandro, David und Janina betraten das Gebäude der messianischen Gemeinde an der Westküste des Sees Genezareth. Der Gottesdienst hatte bereits begonnen, die fünf setzten sich daher in die letzte Reihe des etwa für dreihundert Personen ausgelegten Versammlungssaals, der fast voll war. Sofort erhielten sie Kopfhörer, über die sie den in Hebräisch abgehaltenen Gottesdienst in englischer Sprache verfolgen konnten. Ein typisch israelisches Lied wurde gesungen. Und weil Menschen aus anderen Ländern diesen Gottesdienst besuchten, wurde an der Leinwand auch die englische Übersetzung des hebräischen Textes eingeblendet, der über Jesus, den Messias, sprach.
Während Lion, Jackie, Janina und David sich ganz der Musik und dem Gesang hingaben, ließ Leandro seine Gedanken schweifen. Warum war er überhaupt mitgekommen? Er hätte doch auch stattdessen jetzt am Pool des Kibbuz liegen können! Die anderen hatten so lange auf ihn eingeredet und ihm gesagt, es würde ihm guttun. Bislang merkte er davon jedoch nichts. Stattdessen fühlte er sich unwohl und fehl am Platz. Und überhaupt, was waren das für Israelis, die an Jesus als Messias glaubten? War es nicht so, dass Jesus von den Juden als Messias abgelehnt wurde?
Nein, hier in dieser Gemeinde war das anders. Hier saßen Israelis mit Menschen anderer Nationen gemeinsam in einem Raum und feierten einen Gottesdienst, in dem Jesus Christus im Mittelpunkt stand.
Nach einer längeren Lobpreiszeit stand ein noch recht junger Israeli auf, der einen Bart im Stil eines orthodoxen Juden trug, und begab sich auf die Kanzel. »Liebe Brüder und Schwestern, liebe Gäste, mein Name ist Johannes, und ich freue mich, dass wir heute wieder zusammengekommen sind, um gemeinsam Jesus Christus die Ehre zu geben. Ihm haben wir alles zu verdanken. Er ist der vom Propheten Jesaja angekündigte Retter, der als Lamm Gottes unsere Schuld auf sich genommen hat. Ja, er hat für uns sein Leben geopfert, damit wir Frieden mit Gott haben können.«
Leandro fühlte sich mit einem Mal nicht mehr ganz so fehl am Platz. Auch wenn er sich als einen Glaubens-Skeptiker beschrieb, faszinierte ihn dieser Redner, oder wie er sich nannte, Pastor. Er sprach mit einer Dynamik, einer natürlichen Autorität, oder wie es David sagen würde, einer Vollmacht, die alle im Raum zu überzeugen schien. Auch der Simultanübersetzer schaffte es, diese Liebe und Leidenschaft zu transportieren.
Leandro ließ seine Blicke durch den Raum schweifen. Hier saßen Juden und Araber in völliger Eintracht. Wie war es möglich, dass sie gemeinsam sangen, einen Gottesdienst feierten, sich eins machten? Waren Juden und Araber nicht erbitterte Feinde, die sich gegenseitig bekämpften?
In dieser messianischen Gemeinde galten offensichtlich ganz andere Prinzipien als im Alltagsleben. Hier wurde im Kleinen genau das praktisch gelebt, worum sich Politiker und Friedensvisionäre bisher vergeblich bemüht hatten. Hier herrschte eine Harmonie und Liebe zwischen Menschengruppen, die sich seit Jahrzehnten bekriegten und über deren Konflikt fast täglich in den Medien berichtet wurde.
Wie war das bloß möglich? Oder spielten sich hier alle nur etwas vor? Leandro nahm sich vor, David nach dem Gottesdienst darauf anzusprechen.
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Hawaii, Honolulu – 24. Juli, 22:30 Uhr
Yumiko Takahashi war von Tel Aviv aus über San Francisco nach Honolulu auf Hawaii geflogen, um dort an einem Klassentreffen ihrer Abschlussklasse teilzunehmen. Auch wenn das Klassentreffen ihr viel Spaß machte, wunderte sie sich über sich selbst: Sie hatte tatsächlich gerade einen Flug von knapp 30 Stunden auf sich genommen, nur um auf Hawaii ihre alten Klassenkameraden wiederzusehen. Genauer gesagt, um einen Klassenkameraden wiederzusehen: Martin Webber.
Als sie und Martin vierzehnjährige Schüler der St. Andrews Privatschule waren, waren sie für rund drei Jahre lang ein Paar gewesen. Und während der gesamten Zeit war es für Yumiko keine Frage gewesen, mit Martin den Richtigen gefunden zu haben.
Doch Yumiko hatte Schluss gemacht, kurz nachdem Martin mit seinen Eltern die Insel verlassen hatte, weil sie nicht bereit gewesen war, mit ihm eine Fernbeziehung zu führen. Yumiko hatte ihre Entscheidung noch viele Jahre später bereut. Doch als sie versucht hatte, mit ihm wieder in Kontakt zu treten, hatte sie erfahren, dass Martin in New York eine andere Frau geheiratet hatte. Die Enttäuschung darüber und der Schmerz saßen tief. Irgendwie kam es ihr so vor, als hätte sie für immer ihr Glück verspielt, indem sie den Mann ihres Lebens aus fadenscheinigen Gründen aufgegeben hatte.
Erst als Yumiko Ariel Goldberg kennen- und lieben gelernt hatte, war es ihr gelungen, den Schmerz über den Verlust dieser Beziehung zu überwinden. Sie war glücklich mit Ari und freute sich darauf, eines Tages seine Frau zu sein. Trotzdem tauchte der Mann ihrer Jugend immer wieder in ihren Gedanken auf und brachte verwirrende Gefühle mit sich. Deshalb hatte sie auch, nachdem Mitschüler wegen des Klassentreffens mit ihr Kontakt aufgenommen und sie darum gebeten hatten, doch bei diesem Treffen dabei zu sein, sofort eingewilligt. Hier würde sie Martin Webber wiedersehen, könnte endlich mit ihm und ihrer Vergangenheit abschließen.
Das Wiedersehen mit den Klassenkameraden war auch sehr herzlich, doch zu ihrer Verwunderung fehlte ausgerechnet Martin. Sie konnte ihre Enttäuschung nur schwer unterdrücken – warum war Martin nicht dabei? Wen sie auch nach ihm fragte, niemand wusste, warum Martin trotz seiner Zusage nicht gekommen war. Es blieb Yumiko also nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Und so unterhielt sie sich mit ihren alten Freunden über längst vergangene Zeiten und tanzte zu alten Songs, die in ihrer Schulzeit in den Charts waren.
Um kurz nach elf Uhr klingelte ihr Smartphone in ihrer Handtasche. Yumiko nahm das Gespräch entgegen und lauschte.
»Hi Yumiko! Kennst du mich noch?«
»Martin?«
»Ja, ich bin’s.«
Yumiko unterbrach ihn, bevor er noch mehr sagen konnte: »Moment, ich verstehe dich nicht. Hier ist es zu laut. Warte kurz, ich gehe schnell raus.«
Vor der Tür hielt sie sich das Smartphone wieder ans Ohr: »So, jetzt ist es ruhiger. Bist du noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Martin, warum bist du nicht zur Party gekommen? Ich bin extra deinetwegen nach Hawaii gekommen, und du bist nicht da. Was ist los?«
»Es ist etwas dazwischengekommen«, antwortete er für Yumikos Geschmack etwas zu teilnahmslos.
»Dann komm doch wenigstens jetzt noch; die Party läuft sicherlich noch ein paar Stunden.«
»Nein, mir ist nicht nach Party zumute. Aber wie wär’s, wenn wir uns an unserem Strand treffen?«
Yumiko atmete tief durch: »Das geht leider nicht, Martin. Mein Flieger geht morgen schon wieder nach Hause.«
»Ich meine auch nicht morgen, sondern noch heute Abend.«
Ein eindringlicher Klang lag in Martins Stimme, so als ob für ihn von diesem Treffen sehr viel abhängen würde. »Nun komm schon! Wir treffen uns an unserem Strand kurz vor Mitternacht. Du bist mir noch etwas schuldig.«
Yumiko zögerte: »Das stimmt, aber ich weiß nicht, Martin, ob ich dich dort alleine treffen möchte. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Inzwischen bin ich verlobt.«
»Und ich bin verheiratet«, sagte Martin etwas zu schnell, was nach Yumikos Meinung nicht mehr stimmte. Als eine der besten Hackerinnen Amerikas, die im Netz unter dem ominösen Namen »Unicorn-Fly« in Hackerkreisen sehr bekannt war, hatte sie alles um die Person Martin Webber gründlich recherchiert und von einer Ehefrau hatte sie nichts mehr gefunden. Vermutlich hatte Martin sich also in der Zwischenzeit von seiner Frau getrennt, hatte Yumiko geschlussfolgert.
»Ich habe auch nicht vor, alte Kamellen wieder aufzuwärmen«, fuhr er fort. »Ich will dich einfach nur sehen und – wie gesagt, du bist mir noch etwas schuldig.«
»Wie du weißt, liegt dieser Strand weit ab vom Schuss – in der totalen Wildnis. Es ist mir irgendwie unheimlich, mitten in der Nacht dorthin zu gehen.«
»Seit wann hast du vor etwas Angst, Yumiko? Das kaufe ich dir nicht ab. Außerdem brauchst du mit deinem Leihwagen gerade mal eine knappe halbe Stunde, um dort zu sein. Es hat sich nichts verändert, außer, dass die Straße dorthin mittlerweile geteert ist.«
Yumikos Herz klopfte, als sie daran dachte, dass sich Martin ausgerechnet in der Meeresbucht treffen wollte, die sie während ihrer Beziehung wieder und wieder aufgesucht hatten. »Na gut. Wir sind erwachsen und können, glaube ich, mit so etwas umgehen. Und Angst habe ich auch nicht. Dann treffen wir uns also um Mitternacht an unserem Strand.«
»Ja. Ich werde kurz vorher dort sein.«
Gegen 23:30 Uhr verabschiedete sich Yumiko von ihren Klassenkameraden. Es war nicht allzu weit bis zu der Bucht, in der sie Martin treffen wollte. Vor allem die geteerte Straße verkürzte die Fahrt beträchtlich. Sie stellte ihren Leihwagen an einem nahe gelegenen Parkplatz ab und erreichte nach einem kurzen Fußmarsch die Bucht.
Es war schon etwas leichtsinnig, als Frau mitten in der Nacht einen einsam gelegenen Strand aufzusuchen, um dort einen Mann zu treffen, mit dem sie als Jugendliche zusammen gewesen war und den sie seitdem nicht wieder gesehen hatte. Aber Martin hatte recht, es war nicht Yumikos Art, Angst vor etwas zu haben. Außerdem hatte sie mehrere Selbstverteidigungskurse besucht und meinte zu wissen, wie man sich vor eventuellen Angreifern schützen konnte.
Als sie die Bucht erreichte, stand der Mond hoch am Himmel und erleuchtete den Strand. Sie schlenderte am Wasser entlang bis zu einer Steinmauer, die einen anliegenden Wald vom Strand abtrennte, und begab sich genau an die Stelle, an der sie sich damals von Martin verabschiedet hatte, bevor er mit seinen Eltern die Insel verlassen hatte. Hier hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Yumiko schaute auf die Uhr. Gleich würde sie Martin wiedersehen, ganz allein, und vielleicht endlich Gelegenheit haben, die Vergangenheit zu bereinigen. Ihr Herz klopfte. Alte Gefühle stellten sich ein, als ihr der vertraute Salzgeruch in die Nase stieg. Was wäre wohl aus ihr und aus Martin geworden, wenn sie mit diesem besonderen Menschen, dem Mann ihrer jungen Träume, damals nicht Schluss gemacht hätte?
Dann endlich sah sie ihn. Er kam auf sie zu und grinste, wie er es schon als Jugendlicher immer getan hatte. Nein, nicht ganz. Irgendetwas war anders. Doch Yumiko blockte dieses kurz aufkeimende Gefühl ab und blickte in seine wunderschönen blauen Augen. Sie wollte einfach, dass alles wie früher war, wollte Nähe zu ihm spüren. Und tatsächlich kam ihr die Szene, dieser Mann, wieder so vertraut vor. Sie wollte diesen Zauber am liebsten für immer festhalten.
Doch plötzlich verschwand Martins Grinsen. Seine Miene veränderte sich. Die soeben noch sanften Züge seines Gesichts verhärteten sich. Mit versteinerten Augen schaute er sie an, griff hinter sich in seine rechte Hosentasche und zog einen metallenen Gegenstand heraus.
Yumiko erstarrte. Sie sah, wie Martin eine Handfeuerwaffe auf sie richtete. Sekunden später zog er den Lauf der Pistole durch und feuerte auf sie. Instinktiv machte Yumiko eine Bewegung zur Seite, sodass die Kugel sie verfehlte und ein paar Zentimeter neben ihr einen Ziegel in der Mauer zerfetzte.
Schlagartig erwachte Yumiko aus ihrer romantischen Gedankenwelt. Während ein beißender Geruch von Schießpulver in ihre Nase stieg und ihre Ohren von dem durchdringenden Knall dröhnten, hörte sie sich selbst schreien: »Martin! Was tust du?«
Doch dann schnürte ihr das nackte Grauen die Kehle zu, als ihr schlagartig bewusst wurde, dass Martin, der Mann, zu dem sie sich auf eine eigenartige Weise immer noch hingezogen fühlte, gerade dabei war, sie umzubringen.
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Israel, am See Genezareth – 25. Juli, kurz vor 13:00 Uhr
Der Gottesdienst war inzwischen vorbei und die meisten Besucher hatten das Gemeindehaus verlassen. Doch David, Janina, Lion und Jackie unterhielten sich angeregt mit Johannes, dem Pastor der Gemeinde. Leandro stand etwas abseits und hörte zu, bis ein etwa dreißigjähriger Mann mit schwarzen, lockigen Haaren auf ihn zukam und ihn begrüßte: »Shalom, Herr Bugatti. Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Salomon Stern. Ich gehöre zu dieser Gemeinde. Schön, Sie hier zu treffen.«
»Ganz meinerseits!«, sagte Leandro zögernd und etwas erstaunt. »Woher kennen Sie meinen Namen?«
»Ich bin ein Freund von Ariel Goldberg. Er hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass Sie kommen würden.«
Leandro runzelte die Stirn: »Interessant. Aber warum erzählt Ari Ihnen ausgerechnet von mir? Immerhin sind wir mit fünf Personen gekommen.«
»Das erkläre ich Ihnen gerne. Ich bin mit Ari schon lange im Gespräch über ein Forschungsprojekt.«
»Worum geht’s?«, fragte Leandro, der immer noch misstrauisch war.
»Ich bin Leiter einer Forschungseinrichtung hier in Israel. Um es kurz zu machen – wir sind gerade an einem sensationellen Projekt dran, bei dem Sie uns mit Ihrer Expertise sehr weiterhelfen könnten.«
Leandro war erstaunt: »Sie wissen, woran ich die letzten Jahre gearbeitet habe?«
Salomon sprach nun beinahe im Flüsterton: »Ja. Und wenn das stimmt, was ich in dem Dossier über sie gelesen habe – und dieses war sehr detailliert –, dann sind Sie für uns die Lösung aller Probleme.«
Leandro schaute finster drein und schüttelte den Kopf: »Kein Bedarf! Ich möchte mit dem, woran ich in den letzten Jahren gearbeitet habe, nichts mehr zu tun haben.«
Leandro dachte mit Grauen daran zurück, dass er erst vor Kurzem noch, ohne es zu wissen, für PENTATRAXON in einem unterirdischen Labor an programmierbaren Viren gearbeitet hatte, mit deren Hilfe Gilbert Winter die totale Kontrolle über das menschliche Denken erlangen wollte. Nein, er hatte kein Interesse, seine Arbeit in irgendeiner Weise fortzusetzen, auch nicht für die Israelis.
Salomon Stern schaute Leandro freundlich an: »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Bugatti. Bei unserem Projekt geht es nicht um programmierbare Viren. Nein, ich bin davon überzeugt, dass wir niemals von Gott gesetzte Grenzen überschreiten dürfen, indem wir seine Schöpfung manipulieren. Bei unserem Projekt geht es um etwas, das Leben retten soll. Um ehrlich zu sein – wer das Dossier über Sie gelesen und Ihre eigenen Veröffentlichungen studiert hat, weiß, dass Sie ein Genie im Bereich der Biochemie und der Humanbiologie sind.«
»Na, übertreiben Sie mal nicht.«
Der Mann lächelte: »Nein, ich übertreibe nicht. Ich bin vielmehr fest davon überzeugt, dass Gott Ihnen einen brillanten Verstand gegeben hat. Alles, was Sie anpacken, gelingt Ihnen auch. Noch einmal – wir brauchen Sie dringend, aber ich kann mir auch vorstellen, dass wir Ihnen eine neue Aufgabe, eine neue Perspektive und neue Herausforderungen für Ihren brillanten Geist bieten können. Ich mache Ihnen deshalb einen Vorschlag. Besuchen Sie unsere Einrichtung und schauen Sie sich an, worum es geht. Und dann entscheiden Sie ganz in Ruhe, ob Sie bei uns einsteigen wollen. Hier ist meine Visitenkarte. Rufen Sie mich an. Dann vereinbaren wir einen Termin.«
Leandro nahm das Kärtchen entgegen. »Sie sind echt hartnäckig. Aber so läuft das bei mir nicht. Bevor ich überhaupt bereit bin, Ihre Einrichtung zu besuchen, möchte ich erst einmal genau erfahren, woran Sie arbeiten. Dann können wir weitersehen.«
Es entwickelte sich ein längeres Gespräch zwischen den beiden. Zum Schluss verabschiedete sich Leandro von Salomo und klopfte ihm auf die Schulter: »Also gut. Ich werde kommen und mir die Sache mal vor Ort anschauen. Hört sich für mich sehr interessant an.«
»Das freut mich wirklich, Leandro.«
Salomon Stern verließ den Saal. Leandro gesellte sich zu seinen Freunden, die sich immer noch angeregt mit dem Pastor der Gemeinde unterhielten, und hörte stillschweigend zu.
Nach einiger Zeit schaute Johannes auf seine Armbanduhr: »Ich glaube, es wird Zeit. Meine Frau wartet bestimmt schon ungeduldig mit dem Mittagessen auf mich.«
Doch jetzt schaltete sich Leandro dazwischen, dem eine Frage auf der Seele brannte: »Eine kurze Frage noch. Wie ist es möglich, dass hier in dieser Gemeinde Araber und Juden friedlich beisammen sein können?«
Johannes grinste verschmitzt: »Für mich ist das auch immer wieder ein Wunder. Und diese Frage lässt sich auch so einfach nicht beantworten. Doch eins kann ich schon mal vorwegsagen: Der Grund ist Jesus Christus, der Messias. Seine Liebe verbindet uns. Er schafft dort Frieden, wo es nach menschlichen Maßstäben unmöglich scheint.«
Lion hätte zu gern gehört, was Johannes noch dazu zu sagen hatte, doch ein dringendes Bedürfnis zwang ihn, die Sanitärräume des Gebäudes aufzusuchen.
Als er die Herrentoilette wieder verließ, fiel sein Blick durch das gegenüberliegende Fenster, das einen phänomenalen Blick auf den See Genezareth bot. Er trat näher an das Fenster heran, sah den See, die Uferstraße und das anliegende Gemeindehaus. Das also war der See Genezareth, der immer wieder in den biblischen Geschichten vorgekommen war, die ihm seine Mutter als Kind erzählt und vorgelesen hatte. Wie friedlich er dalag, wie hell die Sonnenstrahlen die Wasseroberfläche zum Glitzern brachten! Er wollte sich gerade wieder vom Fenster abwenden, als er plötzlich stutzte. Was war das? Nicht weit vom Gemeindehaus entfernt stand ein schwarzer BMW. Er schaute genauer hin und erschrak. Es war dasselbe Fahrzeug, das sie auf dem Hinweg verfolgt hatte. Und neben dem Fahrzeug standen zwei Männer. Der eine hatte ein kantiges Gesicht und rote Haare – »Sieht aus wie ein typischer Ire«, dachte Lion. Der andere war ein ungewöhnlich großer Mann mit blonden Haaren. Beide schauten aus einer Deckung heraus in Richtung des Gemeindehauses und beobachteten den Ausgang.
Lion nahm sein Smartphone zur Hand, aktivierte die Kamera, zoomte die beiden Männer so nah heran, dass man ihre Gesichter gut erkennen konnte, und machte ein paar Fotos von ihnen und dem BMW. Endlich hatte er den eindeutigen Beweis, dass er recht gehabt hatte. Jemand verfolgte sie. Während er zu den anderen zurückkehrte, überlegte er, was die Männer von ihnen wollten. Auch wenn er es nicht sicher wusste, die beiden mussten zu PENTATRAXON gehören. Wer sonst sollte ihnen vor einem Gotteshaus auflauern? Doch wie hatte die Geheimorganisation sie aufgespürt?
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Hawaii – in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli
Noch bevor Martin die Waffe erneut auf sie ausrichten konnte, schlüpfte Yumiko durch eine Öffnung in der Mauer hindurch und brachte sich aus dem direkten Schussfeld. Doch sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, dass Martin sie erwischen würde.
Voller Verzweiflung rief sie zu ihm hinüber: »Martin! Was ist in dich gefahren? Warum willst du mich umbringen?«
Doch der Mann, den sie einst geliebt hatte, antwortete nicht. Stattdessen marschierte er auf die Maueröffnung zu, die Waffe im Anschlag, den Finger am Abzug, um einen zweiten, diesmal tödlichen Schuss abzugeben.
Yumiko drehte sich um und rannte um ihr Leben. Sie gelangte zu einem nahe gelegenen exotischen Wald aus Lichtnussbäumen, Brotfruchtbäumen und Kokospalmen. Schon früher hatten sie sich hier versteckt und sich ihre gemeinsame Zukunft ausgemalt.
Martin folgte ihr auf dem Fuß. Dabei schoss er immer wieder. Yumiko lief im Zickzack, um nicht getroffen zu werden. Links und rechts von ihr schlugen die Geschosse ein. Plötzlich spürte sie einen stechenden Schmerz im linken Arm. Yumiko schrie laut auf, fasste sich mit der rechten Hand am Arm und stellte fest, dass sie blutete. Doch es blieb ihr keine Zeit, wenn sie nicht wollte, dass der nächste Treffer nicht nur ein Streifschuss war. Sie rannte weiter, immer tiefer in den Wald hinein, so schnell sie konnte. Martin hatte aufgehört zu schießen, folgte ihr aber unentwegt und holte dabei schnell auf. Yumiko hatte im Internet recherchiert, dass Martin nach wie vor ein sehr guter Sportler war und ihr vermutlich körperlich deutlich überlegen sein würde. Wenn nicht gleich ein Wunder passierte, würde er sie sehr bald eingeholt haben.
Da erinnerte sie sich an eine kleine Höhle in einer Felswand, nicht weit vom Strand entfernt. Vielleicht konnte sie sich darin verstecken. Oder spielte ihr verängstigtes Gehirn ihr gerade einen Streich? Gewährte ihr diese Höhle wirklich Sicherheit? Martin kannte doch diese Höhle genauso gut wie sie. Als Jugendliche hatten sie die Höhle zusammen erkundet, sich dabei Gruselgeschichten erzählt und überlegt, wo man sich am besten verstecken könnte. Martin kannte jeden Winkel, jedes Versteck ebenso wie sie. Vielleicht hatte er sie aber auch vergessen. So wie er vermutlich vieles an Erinnerungen und Erfahrungen hier auf der Insel gelassen hatte, als er damals weggezogen war. Diese Höhle war für Yumiko die einzige Chance, die sie hatte.
Die Hackerin erreichte die Höhle knapp vor ihrem Verfolger und verschwand darin. Sie folgte dem Gang ins Innere, bis sie von völliger Dunkelheit umhüllt wurde. Ein modriger Geruch stieg ihr in die Nase, der vermutlich von Fledermäusen stammte, die sich hier tummelten. Der Geruch war ihr schon als Jugendliche aufgefallen, aber jetzt empfand sie ihn intensiver. Inständig hoffte sie, dass Martin sie in der Dunkelheit nicht finden würde.
Panik stieg in ihr hoch, und sie hatte das Bedürfnis, sich irgendwo festzuklammern. Doch da war nichts, wo sie sich hätte festhalten können. Es gab keinen Halt und keine Hilfe. Sie war auf sich allein gestellt, und niemand würde ihr helfen.
Plötzlich hörte sie sich selbst leise beten – ja, zum ersten Mal in ihrem Leben betete sie, obwohl Gott für sie bisher überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Sie war immer stolz darauf gewesen, kein religiöser Mensch zu sein. Mehr noch – sie liebte ihre Unabhängigkeit, dieses Gefühl, selbst für alles verantwortlich zu sein, das Leben ohne Hilfe von außen anzupacken und zu gestalten, und zwar nach ihren eigenen Regeln.
Waren es die vielen Gespräche und Gebete, die sie von David, Janina, Jackie und auch Lion mitbekommen hatte? Oder war es die Angst, die sie jetzt schwach werden ließ, der Blick ins Angesicht des Todes?
Sie schaute sich um und sah vom Höhleneingang her einen Lichtstrahl, der von Martins Smartphone-Taschenlampe stammen musste. Sie atmete tief durch und tastete sich an der Felswand entlang, immer weiter in die Höhle hinein, bis sie einen Felsvorsprung erreichte, den sie noch von früher kannte.
Hinter diesem Vorsprung gab es einen Spalt, durch den sie sich in einen kleinen Hohlraum hineinzwängte, der gerade mal Platz für eine Person bot. Sie presste sich an die Felswand, hoffte, ihre Silhouette würde mit den Formen der Felsen verschmelzen, und lauschte. Hoffentlich konnte sich Martin nicht mehr an dieses Versteck erinnern!