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Manfred Gailus

Gläubige Zeiten

Religiosität im Dritten Reich

 

 

 

 

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlagmotiv: Gedenkgottesdienst für SA-Führer Hermann Voß

in der Neuen Garnisonkirche Berlin-Kreuzberg (1934)

Bildnachweis: © SZ Photo / Scherl / Bridgeman Images

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

 

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timișoara

 

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82495-1

ISBN E-Book (E-PDF): 978-3-451-82482-1

ISBN Print: 978-3-451-03339-1

Inhalt

Vorwort

Begriffe, Fragen und Probleme

I. Christliche Konfessionen und Nationalsozialismus

1933 als religiöses Erlebnis

Die Protestanten – ein vielstimmiger, dissonanter Chor

Ein vergleichender Blick auf die Katholiken

II. Neue Glaubensbewegungen im „Dritten Reich“

Völkische Glaubensbewegungen

Gottgläubige

Parteiglaube und religiöse Fraktionen in der NSDAP

Zwischenbilanz: Religiöse Vielfalt und interkonfessionelles Dilemma

III. Juden, Antisemitismus und „Kristallnacht“

Juden, Judentum, Antisemitismus

Christen in der „Kristallnacht“

IV. Krieg, Christen und Holocaust

Die protestantischen Deutschen und der Krieg

Die katholischen Deutschen und der Krieg

Nationalsozialistische Gottgläubigkeit im Krieg

Protestanten, Katholiken und Holocaust

Ausblick auf das 20. Jahrhundert

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Über den Autor

Bildnachweis

 

 

I.
Christliche Konfessionen und Nationalsozialismus

 

 

II.
Neue Glaubensbewegungen im „Dritten Reich“

 

 

III.
Juden, Antisemitismus und „Kristallnacht“

 

 

IV.
Krieg, Christen und Holocaust

 

 

Anhang

Vorwort

Das vorliegende Buch ist zum größeren Teil während der Coronapandemie im Jahr 2020 geschrieben worden. Die allgemeine Stilllegung des öffentlichen Lebens hatte auch manche Vorteile: mehr Ruhe, mehr Zeit, mehr Besinnung. Ich habe daher versucht, meine Forschungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte über Religion, Konfessionen, Kirchen und Nationalsozialismus auf sehr knappem Raum zusammenzufassen. Das Ganze sollte eine gewisse Länge nicht überschreiten. Vieles, was zu diesem Thema auch noch zu sagen wäre, musste deshalb abgekürzt oder ganz herausgelassen werden. Ich hoffe dennoch, das schmale Bändchen wird lebhafte Diskussionen anstoßen und die Erkenntnis historischer Sachverhalte zum Themenkomplex Religiosität im „Dritten Reich“ voranbringen.

Für Hinweise, Anregungen und Kritik möchte ich danken: Prof. Dr. Horst Junginger (Leipzig), Dr. Antonia Leugers (München und Erfurt), Armin Nolzen, MA (Warburg) und Prof. Dr. Kevin P. Spicer (Stonehill College/USA).

 

Berlin, im Mai 2021

Begriffe, Fragen und Probleme

Woran glaubten die Deutschen zur Hitlerzeit? Diese Frage ist auch nach Jahrzehnten intensiver Forschungen zum Nationalsozialismus nicht leicht zu beantworten. „Glaube“ und „glauben“ sollen hier in ihrer religiösen Bedeutung verstanden werden, als elementare Dispositionen von Menschen gegenüber letzten Sinnfragen nach Leben und Tod. Es geht folglich um Glaube an Gott, um Empfindung, Erlebnis und Erfahrung von Transzendenz, um Sterblichkeit, um Endlichkeit und Fortleben nach dem Tod. Es geht um die Suche nach Sinn und gläubige Antworten auf die großen Fragen menschlichen Lebens: den Umgang mit Leiden, um Erfahrung und Bewältigung von Schicksalsschlägen, kurz: Es geht um den Umgang mit den Kontingenzerfahrungen menschlichen Lebens schlechthin. Historisch konkreter wird in diesem Buch danach gefragt, wie religiös die Deutschen der Hitlerzeit waren und welche Rolle das Religiöse, vor allem das Christentum in Gestalt der beiden großen christlichen Konfessionen, in Politik, Kultur und Gesellschaft dieser Epoche spielten?[1]

War zu wenig religiöser Glaube zwischen 1933 und 1945 vorhanden und geschah deshalb die schlimme Entgleisung der Deutschen auf dem Weg in die Moderne? Oder haben die Deutschen womöglich zu viel geglaubt und geschah ihr Abgleiten in die verheerenden Katastrophen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust aufgrund eines Zuviel an Glauben, infolge eines Überschusses an Gläubigkeit und Religion? Oder handelte es sich bei der NS-Epoche eher um eine weithin areligiöse, säkulare Zeit, eine Epoche forcierter „Gottlosigkeit“, in der womöglich Glaube, Bekenntnis, Religiosität für den allgemeinen Gang der Ereignisse in Politik, Kultur und Gesellschaft überhaupt keine wesentliche Rolle spielten?

Historische Epochen tragen Namen – sie führen Bezeichnungen, die sie charakterisieren sollen. Man spricht vom deutschen Kaiserreich oder der Wilhelminischen Epoche, von Weimarer Republik und für die Epoche von 1933 bis 1945 heute vorwiegend vom Nationalsozialismus. „Nationalsozialismus“ war eine Selbstbezeichnung der NS-Bewegung, die 1933 die Macht erlangte. Wahlweise ist auch vom „Dritten Reich“ die Rede – teils mit, teils ohne Anführungszeichen. Auch das war eine Selbstbezeichnung der NS-Bewegung und ihrer seit 1933 allein und diktatorisch herrschenden Partei. Häufig werden historische Epochen mit den Namen sie prägender Persönlichkeiten versehen. Insofern wird hier wahlweise auch von Hitlerzeit gesprochen. Darf man das überhaupt? Ist das legitim? Oder erwiese man damit einem offenkundigen politischen Hasardeur und Verbrecher zu viel Anerkennung? Historikerinnen und Historiker sprechen von Lutherzeit, von der friderizianischen Epoche, von Goethezeit, von Bismarckzeit oder von der Adenauerära und nun bald auch von der Merkelzeit. Es scheint mir insofern angebracht, für die in Rede stehende Epoche auch von Hitlerzeit zu sprechen. Denn es gab und gibt keine andere Epoche deutscher Geschichte, die so sehr und ausschließlich von einer Person geprägt war wie die Zeitspanne von 1933 bis 1945.[2]

Folgt man den präzisen Zahlen der Religionsstatistik, dann war das Deutsche Reich der Hitlerzeit ein christliches Land: Um 95 Prozent der Bevölkerung gehörten den beiden großen christlichen Konfessionen an – zwei Drittel von 65 Millionen Deutschen waren Protestanten, ein Drittel war katholisch.[3] Zu gleicher Zeit gab es Millionen von Männern und Frauen, die seit 1930 in wachsender Zahl begannen, die Hitlerpartei zu wählen. Aus Wählerinnen und Wählern wurden bald Parteigenossinnen und Parteigenossen, die sich seit 1933 in großer Zahl der NSDAP anschlossen und sie zu einer Massenpartei von schließlich rund neun Millionen Mitgliedern machten. Viele von ihnen verehrten „den Führer“ als einen Retter aus höchster Not, als Erlöser oder neuen deutschen Messias.[4]

Aus dieser doppelten Zugehörigkeit zu christlichen Konfessionen einerseits und zur totalitär herrschenden politischen Partei andererseits resultierte bei vielen Zeitgenossen die uns heute seltsam anmutende Haltung einer doppelten Gläubigkeit, die kaum zu verstehen ist: Viele Deutsche blieben ihrer christlichen Herkunftsprägung mehr oder minder verhaftet, sie blieben Mitglied einer christlichen Konfession, und gleichzeitig begeisterten sie sich mit einer gläubig zu nennenden Emphase für den Führer der NS-Bewegung, für deren weltanschauliche Zielsetzungen und für viele außen- wie innenpolitische Maßnahmen des NS-Regimes.

Dieses Buch handelt von traditionellen christlichen Ausprägungen, von ihren aktuellen Umprägungen und von partiellen Neuprägungen des Religiösen im „Dritten Reich“. Besondere Beachtung finden dabei die erstaunlichen Mischungsverhältnisse individueller Gläubigkeiten der Hitlerzeit. Nationalsozialistische Bekenntnisse und christliche Tradition verschränkten sich in zeittypischen religiösen Gemengelagen. Dieses geistig-kulturelle Grundphänomen der NS-Epoche wird in neueren Untersuchungen mit Begriffen wie religiöser Doppelglaube, multiple Gläubigkeit oder hybride Doppelgläubigkeit gedeutet. Ein prägendes Epochenphänomen war folglich nicht allein der Gegensatz von Christentum und NS-Weltanschauung, den es zweifellos gab und der eine gewichtige Rolle spielte, sondern zugleich die ebenso religiöse wie politische Kompatibilität beider Glaubenspositionen bei vielen Zeitgenossen. Es ist vor allem dieses Phänomen, das bei einer kultur- und religionsgeschichtlichen Neudeutung der Epoche in das Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken hat.[5]

Um ein Bild zu gebrauchen: In dieser Studie wird der Versuch unternommen, aus großer Höhe, wie aus der Flugzeugperspektive, auf die religiösen Akteure der Hitlerzeit zu schauen. Aus dieser Perspektive zeichnen sich Strukturen und Wandlungen einer Religionslandschaft ab, die für die zeitgenössischen Akteure zumeist nicht überschaubar waren. Ihre diversen und häufig in Konkurrenz stehenden Bekenntnisse sowie ihre religiöse Performance, ihre Allianzen wie ihre heftigen Zusammenstöße mit rivalisierenden Akteursgruppen sollen mit Bemühen um Äquidistanz und daher im Stil so sachlich und nüchtern wie nur möglich beschrieben werden.

Schaut man in dieser Weise, gewissermaßen aus der Vogelperspektive, auf die religiösen Expressionen, Kämpfe und Leiden der Epoche, so entsteht nicht der Eindruck, es habe sich bei der Hitlerzeit um eine religionsarme oder gar religionslose Epoche, um eine „gottlose“ Zeit gehandelt. Tatsächlich ist von „gläubigen Zeiten“ zu sprechen. Glaube in vielerlei Schattierungen hatte hohe Konjunktur. Von „Gott“ (wahlweise auch vom „Herrgott“, vom „Allmächtigen“, vom „Schöpfer“ oder von der „Vorsehung“) und von „Glaube“ oder von „Bekenntnis“ war ungewöhnlich häufig die Rede. Viele Zeitgenossen, Männer wie Frauen, meinten plötzlich, sich „bekennen“ zu sollen oder zu müssen. Daher springt die Fülle von unerhört vielen religiösen Glaubensbekundungen, schriftlichen Bekenntnissen, religiös motivierten kollektiven Handlungen sowie heftigen Glaubenskonflikten sofort ins Auge. Eine solche massive Präsenz oder Wiederkehr des Religiösen im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts veranlasst den Autor, der aus dem größeren Zeitabstand des 21. Jahrhunderts zurückschaut, zu Schlussfolgerungen über den historischen Ort des Religiösen während der Hitlerzeit, die vermutlich noch heute heftigen Widerspruch hervorrufen werden. Die Grundthese dieses Buches von der Wiederkehr des Religiösen oder „gläubigen Zeiten“ widerspricht jahrzehntelang eingeübten, erinnerungspolitischen Sehgewohnheiten der Nachkriegszeit.

1933 als religiöses Erlebnis

Als Hitler zur Macht gelangte, hatten Glaube und religiöses Bekenntnis Hochkonjunktur. Denn viele Zeitgenossen erfuhren das Umbruchjahr 1933 nicht allein als politische Zäsur, sondern zugleich als Auftakt eines religious revival, als wundergleiche Erfüllung lang gehegter Erwartungen. Als pars pro toto für die gehobene Stimmungslage dieses religiösen Aufbruchs kann der reichsweit gefeierte „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933 gelten. An diesem zugleich national-konservativ wie religiös geprägten Jubeltag verabschiedete eine knappe Majorität der Deutschen die ungeliebte Weimarer Republik mit Dankgottesdiensten, Glockengeläut, Militärparaden und nächtlichen Freudenfeuern. Das geschah nicht allein in Potsdam, sondern in landesweit zelebrierten Feiern und Zeremonien. Nicht zufällig fand die maßgebliche staatspolitische Symbolhandlung dieses Tages mit kirchlichem Segen in der traditionsreichsten preußischen Militärkirche in Potsdam statt.[1]

Tonangebend von kirchlicher Seite wirkte an diesem Festtag Otto Dibelius mit. Der einflussreiche preußische Generalsuperintendent der Kurmark predigte vor Reichspräsident Paul von Hindenburg sowie einem Großteil der soeben neu gewählten protestantischen Reichstagsabgeordneten von Nationalsozialisten und Deutschnationalen in der Potsdamer Nikolaikirche. „Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“ – so lautete nach Römer 8, Vers 31, das Predigtmotiv des prominenten preußischen Kirchenführers. Es war exakt jener Text, über den am 4. August 1914 Hofprediger Ernst von Dryander in Berlin zum Auftakt des Ersten Weltkriegs gepredigt hatte. Dibelius’ Textwahl war gewiss eine Reverenz an die hochpatriotische Gott ist mit uns-Stimmung vom August 1914, die viele Protestanten während des Umbruchjahres 1933 aufs Neue empfanden. Auch jetzt riefen Dibelius und mit ihm Reichspräsident Hindenburg sowie das vereinte nationale Lager auf der politischen Rechten Gott als ihren Alliierten im „nationalen Aufbruch“ von 1933 an. Wenngleich Dibelius’ Predigt auch leicht kritische Untertöne gegenüber der nicht zu übersehenden Gewaltpraxis der neuen Machthaber enthielt, so erlag er doch im Ganzen der euphorischen Aufbruchsstimmung der Bürgerlichen und Konservativen, der Nationalen und Völkischen sowie der kräftig anschwellenden NS-Bewegung. Die Kirche dürfe, so meinte Dibelius unter Verweis auf Luther, der „rechtmäßigen staatlichen Gewalt“ nicht in den Arm fallen, wenn sie das tue, wozu sie berufen sei. Wenn der Staat gegen die Feinde der staatlichen Ordnung vorgehe, dann möge er in Gottes Namen seines Amtes walten. Sollte „die Ordnung“ wiederhergestellt sein, meinte der Prediger an diesem strahlenden Frühlingstag des März 1933, dann müsse wieder Gerechtigkeit und Liebe walten. In Oranienburg unweit von Berlin wurde am selben Tag das Konzentrationslager für die Hauptstadtregion eröffnet.[2]

Der anschließende Staatsakt in der Garnisonkirche begann mit dem Choral „Nun lob, mein Seel, den Herren“ des Königsberger Pfarrers Johann Gramann (Text um 1540). Nach kurzer Ansprache Hindenburgs gab Hitler eine Art Regierungserklärung, sehr vage und im Ton moderat. Es war – soweit bisher bekannt – die einzige Rede, die Hitler jemals in einer Kirche hielt. Der Reichskanzler dankte dem Reichspräsidenten für seinen Entschluss, am 30. Januar das „junge Deutschland“ mit der Staatsführung zu betrauen. Was während dieser gleichermaßen politischen wie kirchlichen Zeremonie in der Garnisonkirche vor sich ging, bezeichnete der Reichskanzler als „die Vermählung […] zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft“. Preußen und Hitlerbewegung reichten sich die Hand. Nach Aufzählung allgemein gehaltener Zielsetzungen des von Deutschnationalen und Nationalsozialisten gebildeten neuen Kabinetts der „nationalen Konzentration“ wandte sich Hitler erneut mit Dank an den greisen Reichspräsidenten: „Heute, Herr Generalfeldmarschall, lässt Sie die Vorsehung Schirmherr sein über die neue Erhebung unseres Volkes. Dieses Ihr wundersames Leben ist für uns alle ein Symbol der unzerstörbaren Lebenskraft der deutschen Nation. So dankt Ihnen heute des deutschen Volkes Jugend, und wir alle mit, die wir Ihre Zustimmung zum Werk der deutschen Erhebung als Segnung empfinden.“[3]

Otto Dibelius hatte während dieser Zeremonie als hoher preußischer Kirchenvertreter in der ersten Reihe gesessen. Wenige Tage später schilderte er die Szene im kirchlichen Sonntagsblatt: Würdig, ernst und eindrucksvoll seien Hitlers Worte gewesen. „Zum Schluss der Rede die Kundgebung an den Reichspräsidenten. Alles erhebt sich. Als das letzte Wort gesprochen ist, tritt Hitler von dem Pult zurück. Der Reichspräsident tut einen Schritt nach vorn und streckt ihm die Hand entgegen. Hitler ergreift sie und beugt sich tief, wie zum Kuss, über die Hand des greisen Feldmarschalls. Es ist eine Huldigung in Dank und Liebe, die jeden ergriffen hat, der sie mit ansah.“[4]

 

*

 

Protestanten wie Katholiken feierten im Umbruchjahr 1933 das Ende der Weimarer Republik, die Protestanten mit deutlich mehr Emphase und Euphorie als die emotional weniger bewegten Katholiken. Die demokratische Republik, vielfach wegen der religionsneutralen Haltung des Weimarer Staates in kirchlichen Polemiken auch als „Gottlosenrepublik“ geschmäht, war ihnen zum Sinnbild für die verhasste Säkularisierung schlechthin geworden. Man hatte, das war offenkundig, unter wachsender Entkirchlichung und Entchristlichung gelitten. Liberale und Freidenker, Sozialisten und Kommunisten propagierten den Kirchenaustritt, etliche unter den „Gottlosen“ die Feuerbestattung und weltliche Schulen mit moderner reformpädagogischer Orientierung, Koedukation und ohne Religionsunterricht. Auch von einer angeblich ins Unerträgliche gewachsenen ‚Verjudung‘ in Staat, Kultur und Gesellschaft war bei Protestanten und Katholiken hier und da die Rede.[5]

Und nun dagegen das Erlebnis 1933: Die Kirchenaustritte hörten plötzlich auf. In protestantischen Großstädten und Industrieregionen hatten sie bis 1933 ein bedrohlich erscheinendes Ausmaß angenommen. So verließen in Berlin in den letzten Jahren der Weimarer Republik jährlich Zehntausende die evangelische Kirche. In der protestantischen Großstadt Hamburg sah es kaum besser aus. Daher freuten sich besonders die evangelischen Kirchen seit dem Wendejahr 1933 über eine Welle von Wiedereintritten. Ein kollektives Gefühl von Umkehr, von anhebender Rechristianisierung griff um sich. „Volksmission“ lautete nun das kirchliche Gebot der Stunde.[6]

Symptomatisch war eine Episode in Berlin: Zwei vom Nationalsozialismus begeisterte evangelische Pfarrer besetzten mit einem Trupp SA im März 1933 die Berliner Zentrale der Freidenkerbewegung und eröffneten dort ein Büro zum Wiedereintritt in die Kirche.[7] In der nun anbrechenden neuen Zeit musste man Konfession haben. Wer konfessionslos war im „Dritten Reich“, der geriet rasch in den Geruch einer marxistisch kontaminierten „Gottlosigkeit“ aus vergangenen Klassenkampfzeiten. Organisationen von Freidenkern, Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Kommunisten, die allesamt nicht kirchenfreundlich waren, wurden sofort verboten. An den pädagogisch modernen, konfessionsneutralen Reformschulen aus der Republikzeit wurde umgehend der christliche Religionsunterricht wieder eingeführt und schon bald kam das neue Schulfach „Rassenkunde“ hinzu. Liberale, konfessionslose und politisch linksorientierte Pädagoginnen und Pädagogen, darunter vor allem Schulleiter und Lehrer jüdischer Herkunft, wurden entlassen.[8]

Am 10. Mai 1933 brannten im Verlauf einer von nationalen Studenten reichsweit inspirierten Kampagne „Wider den undeutschen Geist“ die Schriften modern-liberaler, marxistischer, teilweise auch jüdischer Autoren auf dem Berliner Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz. Bücher von Karl Marx und Karl Kautsky, Heinrich Mann und Sigmund Freud, Erich Maria Remarque, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky landeten unter martialischen „Feuersprüchen“ in den Flammen. Hier wurde in symbolischer Aktion der angeblich „marxistische“ und „liberalistische“ Geist der Weimarer Republik dem Feuer übergeben. Erich Kästner, dessen eigene Schriften ebenfalls ein Raub der Flammen wurden, hat als Augenzeuge die barbarischen Szenen des Berliner Autodafés geschildert.[9] In Frankfurt am Main tat sich ein evangelischer Pfarrer hervor, der am 10. Mai auf dem Römerberg die Brandrede hielt. Er rief die Versammelten zu einem „Bekenntnis zum deutschen Wesen“ auf und ermahnte die Jubelmenge, sich für immer von jenen „undeutschen“ und „zersetzenden“ Schriften zu befreien.[10]

Zu gleicher Zeit schossen religiöse Bekenntnisse, Grundsätze und Thesen in Form von Artikeln, Flugschriften, Heftchen und Büchern wie Pilze aus dem Boden. Diese Publikationsflut war Bestandteil einer geistig-weltanschaulichen Gegenoffensive. Sie repräsentiert so etwas wie die völkisch-religiöse Antithese zum säkularen Geist der verbrannten Bücher. Einige einschlägige Statements aus dem protestantischen Kirchenbereich seien namentlich genannt: Da gab es ein Osnabrücker Bekenntnis, ein Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren, das umfangreiche und grundsätzliche Tecklenburger Bekenntnis ostwestfälischer Pfarrer, das Loccumer Manifest zur Vorbereitung einer evangelischen Reichskirche, das Güstrower Bekenntnis, die Rengsdorfer Thesen, schließlich die explizit völkisch-antisemitischen Richtlinien einer Glaubensbewegung Deutsche Christen und die radikalen Thüringer Richtlinien der Kirchenbewegung Deutsche Christen.[11]

Auch an einschlägig sprechenden Buchtiteln fehlte es nicht. Meistens handelte es sich bei diesen Publikationen um rasch hingeworfene Bekenntniszeilen, entstanden unter dem Eindruck des „nationalen Aufbruchs“, Expressionen einer überschießenden nationalen Begeisterung. Kaum ein Theologe wollte angesichts einer Hochkonjunktur nationaler und völkischer, kirchlicher wie theologischer Wortmeldungen zurückbleiben. Wir fahren mit im neuen Zug der Zeit und wir missionieren – so lautete nun die Devise. Einige Beispiele: Paul Althaus, Die deutsche Stunde der Kirche, Göttingen 1933; Walter Grundmann, Totale Kirche im totalen Staat, Dresden 1934; Emanuel Hirsch, Deutsches Volkstum und evangelischer Glaube, Hamburg 1934; Gerhard Kittel, Die Judenfrage, Stuttgart 1933; Walter Künneth/Helmuth Schreiner (Hg.), Die Nation vor Gott. Zur Botschaft der Kirche im Dritten Reich, Berlin 1933; Hans Preuß, Luther und Hitler, Neuendettelsau 1933; Wilhelm Stapel, Die Kirche Christi und der Staat Hitlers, Hamburg 1933; Erich Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, Tübingen 1933; Hermann Werdermann, Martin Luther und Adolf Hitler, Gnadenfrei (Schlesien) 1936; Friedrich Wieneke, Deutsche Theologie im Umriss, Soldin 1933.[12]

Und jenseits christlicher Aufrufe sprudelten genuin völkische Glaubensbekenntnisse in großer Zahl in der religiös erregten Öffentlichkeit von 1933: Da gab es eine Confessio Germanica des Leipziger Philosophen Ernst Bergmann; ein Glaubensbekenntnis der Deutschen Volkskirche des völkischen Schriftstellers Artur Dinter; der Kieler evangelische Theologe Hermann Mandel meldete sich mit Thesen Deutscher Reformation zu Wort; die soeben entstandene Deutsche Glaubensbewegung publizierte 1934 ihre Scharzfelder Richtlinien; ein Nordisches Artbekenntnis und geistesverwandte völkische Glaubensbekenntnisse überschwemmten das Land.[13]

Dankenswerterweise beobachtete der Zeitgenosse Kurt Dietrich Schmidt, ein junger Theologe an der Universität Kiel, die exorbitante Bekenntnisflut der ersten Regimejahre aufmerksam und dokumentierte sie in drei umfangreichen Bänden auf insgesamt 730 Druckseiten mit knapp 300 Einzelstücken. Schon in seiner Einleitung zum ersten Band (für 1933) betont er: „Wir stehen vor der erstaunlichen Tatsache, dass eine 14 Jahre dauernde, mehr oder minder offene, zum Teil leidenschaftliche Bekämpfung des Christentums kaum ein Bekenntnis gezeitigt hat, ein einziges Jahr nationalsozialistischer Regierung dagegen eine Hochflut.“ Da die NS-Bewegung den Anspruch auf Totalität erhebe, seien die christlichen Kirchen gezwungen, den „Totalanspruch Gottes“ dem Totalanspruch des nationalsozialistischen Staates gegenüberzustellen. Man sei vom Rassenglauben mit einer „Wendung ins Religiöse“ dazu übergegangen, einen „neuen Deutschen Glauben“ zu konzipieren.[14] Die umfangreiche Quellenedition mit Belegen für die Jahre 1933 bis 1935 liefert eine eindrückliche Bestätigung der hier vertretenen These vom religious revival der Hitlerzeit mit besonderer Betonung der Anfangsjahre. Sie hat bislang viel zu wenig Beachtung in der Forschung gefunden.[15]

Während der Sommermonate 1933 breiteten sich in protestantischen Großstädten kirchliche Massentrauungen und Sammeltaufen aus. Zumeist von nationalsozialistisch begeisterten Pfarrern initiiert, kam es dabei zu spektakulären öffentlichen Straßenumzügen. Von der Zwölf-Apostel-Gemeinde in Berlin-Schöneberg wurde beispielsweise im August 1933 berichtet: „Es war ein herrliches Bild, als am letzten Sonntagnachmittag 54 SA-Hochzeitspaare unter Vorantritt der Fahnen der Ortsgruppe ‚Schill‘ und unter Klängen des Präludiums ‚Großer Gott, wir loben Dich‘ die Zwölf-Apostel-Kirche betraten.“ Allein in dieser Gemeinde fanden im Verlauf des Jahres 1933 vier Sammeltrauungen statt, durch die kirchenferne evangelische Ehepaare aus dem SA-Milieu einer nachholenden kirchlichen Trauung zugeführt wurden. Bei einer der größten Berliner Massentrauungen im September 1933 erhielten 94 Paare aus SA- und NSDAP-Kreisen in der Tempelhofer Glaubenskirche den kirchlichen Segen.[16]

Komplementär breiteten sich Sammeltaufen ungetaufter Schulkinder aus kirchenfernen Familien in proletarisch geprägten ‚roten Stadtvierteln‘ aus. Angeführt von Lehrern und begleitet von Posaunenklängen war am dritten Advent 1933 im vormals „roten Wedding“ ein feierlicher Zug von Schulkindern zu sehen, der sich zur Osterkirche begab. In der voll besetzten Kirche habe der Vorbeimarsch der Kinder am Taufbecken (inklusive Taufakt) etwa eine Stunde gedauert. In seiner Taufpredigt betonte der deutschchristliche Pfarrer Dr. Johannes Hülle: Auch heute noch könne Christus der deutschen Frömmigkeit als Führer der deutschen Seele zu Gott dienen. Im Jahr 1935 fasste der von Deutschen Christen beherrschte Gemeindekirchenrat dieser Gemeinde den Beschluss, künftig keine „Nichtarier“ mehr zu taufen.[17]

 

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Massentrauung von 37 Brautpaaren in der Lazaruskirche (Berlin-Friedrichshain, 2. Juli 1933). Die Brautpaare auf dem Weg zur Kirche

 

Wiedereintritte in die Kirche, nachholende kirchliche Sammeltrauungen, Massentaufen ungetaufter Schulkinder aus „gottlosen“ Arbeiterfamilien und ganz generell die mobilisierende Parole von der „Volksmission“ – das waren Stichworte, die nicht nur Anhänger der völkischen Deutschen Christen im Protestantismus bewegten. Sie stehen für die religionsgeschichtliche Wende von 1933, die von hochfliegenden Hoffnungen auf generelle Rechristianisierung mitgeprägt war. Es war schließlich die Parteiführung der NSDAP, die einen solchen christlichen Missionierungseifer nationalsozialistischer Pfarrer schon bald ausbremsen sollte und öffentliche Umzüge und Kundgebungen der geschilderten Art untersagte. Vor dem Hintergrund eigener religionspolitischer Zielsetzungen duldeten die neuen Machthaber diese Art christlicher Konkurrenz in der nun immer schärfer kontrollierten Öffentlichkeit des „Dritten Reiches“ nicht.[18]

Im Vergleich mit den Protestanten waren die deutschen Katholiken zweifellos weniger bewegt durch das Erlebnis 1933. Dabei entstammten etliche Führungspersonen des neuen Regimes wie Adolf Hitler, Joseph Goebbels oder Heinrich Himmler frommen katholischen Elternhäusern und blieben teils bis Kriegsende 1945 Mitglieder ihrer katholischen Kirche. Franz von Papen, der erheblichen Anteil am Machtwechsel 1933 hatte, war bekennender Katholik. Grund zur Freude hatten viele katholische Deutsche insoweit, als nun durch Liquidierung der Linksparteien und der zugehörigen Vereine und Verbände die angeblich drohende „bolschewistische Gefahr“ gebannt schien. Katholiken erlebten 1933 vor allem durch Abschluss des Konkordats zwischen der Reichsregierung und dem Vatikan (20. Juli 1933) ihr bewegendes Momentum, das in Dankgottesdiensten und öffentlichen Kundgebungen gefeiert wurde. Was die generelle Haltung zum neuen Regime betraf, so meinten die meisten Bischöfe und Majoritäten in Klerus und Kirchenvolk, man dürfe nun im Wettbewerb um die Gunst „des Führers“ nicht hinter den Protestanten zurückbleiben. „Mitmachen“ und „Anschmiegen“ lautete hier das Gebot der Stunde. Wie die Volksabstimmung (Austritt aus dem Völkerbund) und die nicht mehr demokratische Reichstagswahl vom November 1933 zeigten, hatte in rein katholischen Regionen die bisherige Zurückhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus nachgelassen. Das katholische Wahlverhalten glich sich demjenigen in protestantischen Gebieten an.[19]

Viele weitere einschlägige Massenereignisse, Gruppenerlebnisse und andere Symptome eines generellen religious revival lassen sich aufzählen bis zum Jahresende 1933. Hervorgehoben sei hier die vor einem großen öffentlichen Publikum inszenierte Kür eines evangelischen Reichsbischofs im September 1933 in der Lutherstadt Wittenberg anlässlich der ersten Nationalsynode der neu gegründeten Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). Ein weiterer Höhepunkt waren die ausgedehnten Lutherfeiern aus Anlass des 450. Geburtstags des Reformators, die seit August insbesondere an den historischen Luther-Stätten mit großem Aufwand inszeniert wurden: beispielsweise in Eisleben vom 19. bis 27. August, in Wittenberg vom 9. bis 13. September, in der Wartburgstadt Eisenach vom 7. bis 15. Oktober und in Berlin am 19. November. Alle diese Manifestationen nährten die Erwartung einer durch das Wendejahr 1933 inspirierten religiösen Erneuerung, und nicht wenige Zeitgenossen wähnten sich bereits mitten darin.[20]

Zur Jahreswende 1933/34 resümierte ein gemäßigter Pfarrer der Glaubensbewegung Deutsche Christen in einer Bilanz zum Jahreswechsel: „Ein Jahr der Größe“ gehe nun zu Ende. Und es sei gerade „diese Größe“ gewesen, die den Deutschen während der elenden Weimarer Nachkriegszeit gefehlt habe. Das Jahr 1933 habe, so meinte der Theologe, uns Deutschen wieder „Heldentum“ und „Größe“ gebracht. Nach außen sei Deutschland wieder zu einer geachteten Nation aufgestiegen. Und im Innern sei an die Stelle eines „selbstmörderischen Treibens des Klassenkampfes“ das Wunder neu errungener Volkseinheit getreten. Das Wertvollste für ihn als Pfarrer sei schließlich jenes wunderbare Neue und Große, was sich im „innersten Erleben“ der Deutschen, im Religiösen, ankündige.[21]

 

Viele der freudig-religiös gestimmten Zeitgenossen von 1933 fühlten sich inmitten einer großen geistig-moralischen Umkehr, einer geschichtlichen Kehrtwende. Sie interpretierten das Geschehen als Umkehr des europäischen Säkularisierungstrends seit 1789, als Absage an die europäischen Revolutionen von 1848/49 und die russische Revolution von 1917, als Liquidierung des angeblich undeutschen Geistes der verhassten demokratischen Revolution von 1918/19, als Wiederanknüpfen an den heroisch-frommen, preußisch-deutschen Geist der Kriegsjahre 1914–18. Um die These eines generellen religious revival für das „Dritte Reich“ zu belegen, wird man – über die Performance der beiden großen christlichen Konfessionen hinaus – das gesamte religiöse Feld der 1930er Jahre mit seinen diversen Akteuren, deren Glaubensbekenntnissen und Aktionen, ihren Rivalitäten und Konfrontationen mit religiösen Konkurrenten und Widersachern inspizieren müssen. Es gab – das ist wichtig und wird vielfach übersehen – ein beträchtliches Maß an freigesetzten religiösen Energien, an Kreativität und Bewegung jenseits der christlichen Kirchen. Auch dort ereignete sich „Glaube“, auch dort manifestierte sich religiöses Bekennen. Der Historiker Thomas Nipperdey hat dieses Phänomen bereits für das Kaiserreich als „vagierende Religiosität“ beschrieben.[22] Einen Glaube, ein Bekenntnis, eine Religion zu haben war längst kein Monopol mehr des traditionellen Christentums, repräsentiert von den beiden großen christlichen Konfessionen. Der Umstand, dass während dieser in Glaubensdingen so aufgewühlten Zeit um 1933 unter den religiösen Akteuren auch viel für wahren oder rechten ebenso wie gegen vermeintlich falschen oder irrenden Glauben und über Bekenntnis- und Weltanschauungsfragen gestritten wurde – alles dies spricht nicht gegen die These einer religiösen Intensivierung, sondern im Gegenteil eher für sie.

Die Protestanten – ein
vielstimmiger, dissonanter Chor

Es empfiehlt sich, zuerst auf die Protestanten zu schauen. Sie umfassten zwei Drittel der Deutschen und waren deshalb in gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht von besonders hohem Gewicht. Hauptereignis in der christlichen Mehrheitskonfession war im Umbruchjahr 1933 der Angriff der völkisch-antisemitischen Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) und namensverwandter Gruppen auf die Bastionen der „alten Kirche“. Ebenso wie die Nationalsozialisten im Begriff standen, den Staat zu erobern, schickten sich die Deutschen Christen an, die Institutionen der überlieferten Kirche zu besetzen und nach ihren Vorstellungen umzuwandeln. Unter Parolen wie „Ein Volk – ein Reich – ein Glaube“ verfolgte diese innerkirchliche Parallelbewegung zur NSDAP das Projekt einer Vereinigung der 28 evangelischen Landeskirchen zu einer zentralisierten Reichskirche. Diese sollte von Berlin aus durch einen straff nach dem „Führerprinzip“ regierenden Reichsbischof repräsentiert werden. Der Vormarsch von Nationalsozialisten und deutschchristlichen Kirchenbewegungen übte mächtige Impulse auf die Kirchen aus und schüttelte deren verkrustete Strukturen kräftig durch, auch wenn das deutschchristliche Reichskirchenprojekt nach knapp zwei Jahren im Herbst 1934 scheiterte. In vielen Landeskirchen eroberten Deutsche Christen indessen die Vorherrschaft. In der großen preußischen Landeskirche okkupierten sie die Führungspositionen. In anderen Regionen drangen sie lediglich halbwegs durch. Selbst in den drei „intakten“ lutherischen Landeskirchen Hannover, Bayern und Württemberg übten sie beträchtlichen kirchenpolitischen Einfluss aus.[1]

Es waren professionelle Theologen, Hochschullehrer und vor allem Pfarrer, die den Geist dieser christlich-völkischen Kirchenbewegung mit radikalen Reformzielen bestimmten. Teils schon vorher und vermehrt seit 1933 verkündeten sie in exaltierten Bekenntnissen ihren neuartigen, christlich-nationalsozialistischen Doppelglauben. So schilderte bereits 1932 der aus Pommern stammende Pfarrerssohn Siegfried Nobiling seinen Weg zur NSDAP. Als er 1928 nach Berlin kam, habe er die Publikationen der Hitlerpartei mit Interesse gelesen, Parteiveranstaltungen besucht und sei schließlich im Mai 1929 eingetreten. „Zusammenfassend kann ich nur aus ehrlichstem Herzen gestehen“, so bekannte er, „dass der Nationalsozialismus für mich Schicksal und Erlebnis war. Rein stehe ich da vor meinem Gott, vor meiner Kirche und vor meinen Parteigenossen und kann nur sagen: Ich konnte nicht anders!“ Die nationalsozialistische Bewegung erschien ihm als ein neues, mächtiges „Wir-Erlebnis“. Dieses neue Gemeinschaftserlebnis war für Pfarrer Nobiling dreifach bestimmt: Erlebnis einer neuen „Volksgemeinschaft“, einer „Rassengemeinschaft“ und einer „Schicksalsgemeinschaft“. Allein durch das nationalsozialistische Erlebnis der „Volksgemeinschaft“ könne, so meinte er einschränkend, das „selbstische Ich“ nicht vollkommen überwunden werden. Es bedürfe daher des Christentums, um der „volksgemeinschaftlichen Erhebung der deutschen Seele zum Siege zu verhelfen“. Nobiling bekannte sich ohne Umschweife auch zu einem „Rassenerlebnis“. Nicht nur die Seele, auch der Leib sei eine Schöpfung Gottes, ein Heiligtum, das nicht ohne schweren Schaden „verunreinigt“ werden dürfe. Die Belange der Rasse hätten ihre Geltung, soweit dies dem Volksganzen nützlich sei. Damit folgten wir, so der Theologe, lediglich den „Spuren des Schöpfergottes“. Im Judentum erblickte der Pfarrer die „geistleibliche Vergiftung unserer Rasse“. Durch Pflege einer „artgemäßen Kultur“ werde schließlich die „Hochzüchtung der nordischen Rasse“ ganz von selbst kommen. Eine so verstandene „Rassenkultur“ stünde den Belangen des Christentums niemals entgegen. Das Schicksal des deutschen Volkes könne nur anders werden, wenn der Fremdkörper des Judentums aus dem deutschen Staatswesen ausgeschlossen werde.[2]

 

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Pfarrer Joachim Hossenfelder (Mitte) und der zukünftige Reichsbischof Ludwig Müller (links) am Rande einer Veranstaltung 1933

 

Pfarrer Nobilings Bekenntnisse waren kein Einzelfall. Das um 1932 formulierte Credo „Unser Kampf“ von Joachim Hossenfelder – ein aus Schlesien stammender junger Pfarrer an der Berliner Christuskirche und zugleich seit 1932 erster Reichsleiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen – liest sich komplementär. Durch Hitler habe Gott wieder „Volk“ werden lassen. Volk sei Rasse und, so wusste der junge Theologe genau: „Gott will Rasse“. Nun sei eine große Zeitenkehre angebrochen, das Zeitalter des „Bürgers“ gehe zu Ende. „Wir wollen uns selbst und unser Volkstum mit gesammeltem Willen und mit heiligem Blut. Wir ziehen gegen Schmarotzer und Bastarde in den Kampf, als in einen heiligen Krieg, den Gottes heiliger Wille fordert. Die objektive Macht der Rasse bricht durch, wir wissen etwas davon, und wir stellen uns in ihr Licht und in ihren Dienst, wir kämpfen für sie unter dem Zeichen des Hakenkreuzes. Damit bekommt der Glaube eine neue Sinngebung.“[3]

Auch an renommierten, hochgelehrten Theologieprofessoren fehlte es nicht, die in diesen vielstimmigen deutschchristlichen Chor einstimmten. Verwiesen sei hier nur auf den Karl-Holl-Schüler Emanuel Hirsch in Göttingen und auf Walter Grundmann, Schüler des einflussreichen Tübinger Neutestamentlers Gerhard Kittel. Grundmann lehrte seit 1936 in Jena Neues Testament und „Völkische Theologie“ und inspirierte maßgeblich das 1939 in Eisenach gegründete kirchliche „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“. Auch Kittel selbst, spürbar ergriffen vom protestantischen Erlebnis 1933, schloss sich der Hitlerpartei an und wirkte bis Jahresende 1933 bei den Deutschen Christen mit.[4]

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