o
365
Wenn die Masken fallen
Roman
Isabel Kritzer
o
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet - herzsprung-verlag.de
© 2021 – Herszprung-Verlag
Mühlstraße 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten.
2. Auflage 2021
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Erstauflage erschienen 2016 in Papierfresserchens MTM-Verlag
Lektorat: Melanie Wittmann
Herstellung: CAT creativ - www.cat-creativ.at
Illustration: © Isabel Kritzer
Umschlagdesign: © Bianca Wagner
ISBN: 978-3-98627-004-9 – Taschenbuch
ISBN: 978-3-98627-005-6 – E-Book
Kapitel 2: © Disco Pogo - Die Atzen, Frauenarzt, Manny Marc / © Happy - Pharell Williams; Kapitel 3: © Entscheidungstheorie Teil 4, Prof. Dr. Antje Mahayni, Mercator School of Management, Department of Accounting and Finances; Kapitel 5: © 99 Luftballons - Nena; Kapitel 9: © Lovers on the sun - David Guetta; Kapitel 10: © Black and Yellow - Wiz Khalifa; Kapitel 12: © Black Widow - Iggy Azalea / © All of Me - John Legend; Kapitel 17: © Auf uns - Andreas Bourani; Kapitel 18: © Die Kunst glücklich zu leben - Josef Kirschner
*
Prolog
Ich
I - Das Angebot
2 - Disco Pogo
3 - Charity Gala
4 - Spanischkurs
5 - Die Überraschung
6 - Von Diamanten
7 - Oktober
8 - St. Moritz
9 - Silvester
10 - Vollgas
11 - Schwarzes Loch
12 - Betrugsfall
13 - Weißes Gold
14 - Das Geheimnis
15 - Willkommen
16 - Über Lügen
17 - Familie
18 - Wahrheiten
19 - Die Hamptons
20 - Rückkehr
Epilog - 365
Danksagung
Die Autorin
Buchtipp
*
Ich widme dieses Buch all den Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die meine Liebe zur Literatur geweckt haben und deretwegen ich mir die ein oder andere Nacht um die Ohren geschlagen habe. Und ich widme dieses Buch all den wunderbaren Menschen, die mich Tag für Tag zum Lachen bringen.
Isabel Kritzer
September 2016
*
Life is like a box of
chocolates. You never know what you're gonna get.
Forrest Gump
*
Mit sechs Monaten London, mit zwölf Monaten Moskau, im Verlauf der nächsten zweiundzwanzig Jahre folgte nach und nach die Bereisung der sieben bewohnten Kontinente dieser Welt. Ja, ich habe wirklich alle Arten von Hotelzimmern gesehen.
Englisch: fließend.
Französisch: nun, diese eine Liedzeile, die wir alle kennen.
Spanisch: un poco.
Naturwissenschaften: Ehrlich gesagt, ich habe viele andere Talente.
Kreativität: Gut, das ist keines davon.
Sportlichkeit: Jawohl ... zumindest habe ich Spaß daran und den nötigen Willen.
Anpassungs- und Kontaktfähigkeit: gut.
Organisationstalent: ausgeprägt.
Ordnungssinn: sehr ausgeprägt.
Zukunftsziel: ein Bachelor der Betriebswirtschaft in naher Zukunft. Etwas weiter gefasst: beruflicher Erfolg, durchaus in Verbindung mit Ring am Finger, weiß gestrichenem Lattenzaun und kleinen Quälgeistern. Demnach der ganz normale Reihenhaus(alb)traum.
So oder so ähnlich könnte ein Steckbrief von mir, Charlotte Clark, lauten. Der Thematik, wer ich bin, sind wir jetzt ein Stück näher gekommen. Doch was macht mich wirklich aus? Wie bin ich zu gerade ebenjener Person geworden?
Eine seltsame Frage mit zweiundzwanzig?
Nein!
Heutzutage wird Selbstreflexion sehr gerne als Glanzstück bei einem Vorstellungsgespräch verlangt, ist sozusagen ein MUSS. Stärken- und Schwächenanalyse, welches Verkehrsschild oder Tier wäre man am liebsten? Das Übliche eben.
Aus eigenem Antrieb wird diese Frage entweder im Zenit eines erfüllten Lebens interessant, also nach dem Sammeln einiger Lebenserfahrung, die man bei der ersten Midlife-Crisis, die aber hoffentlich erst bei mehr als vierzig Kerzen auf dem Kuchen mit dem Zaunpfahl winkt, reflektieren und zerlegen kann, oder eben bei vielen Erlebnissen in früheren Jahren.
Überlegungen, die abwägen, vergleichen, in gewisser Weise auch abrechnen, sind, so denke ich, von bestimmten Lebensmomenten oder Abschnitten geprägt. Manche suchen das eigene Ich in der spirituellen Erforschung der Seele, andere kommen mit Wissenschaft und Religion, Forschung und Psychoanalytikern wie Freud.
Ich hingegen möchte mir einfach ein möglichst realitätsnahes Bild von mir selbst verschaffen, sozusagen eine Ausgangslage. Und in einem Jahr bin ich auf den Vergleich gespannt: Hat sich viel verändert oder bin ich noch immer die alte Charly?
Das klingt ein bisschen wie ein skurriles Wissenschaftsprojekt, trotzdem verspreche ich mir tatsächlich etwas davon. Aber was vermag ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren schon konkret über mich zu sagen?
Zumindest kann ich kurz die Geschichte meines bisherigen Lebens durchgehen, die Ereignisse, die mich geprägt haben.
Auf einem der frühesten Bilder meiner Kindheit, das mir spontan einfällt, stehe ich fröhlich am weißen Sandstrand. In einem blauen Badeanzug mit neongelben Sonnen. Wie habe ich ihn geliebt.
Ich lutsche ein Eis mit Vanillefüllung und harter Schokolade außen, die sich durch die Hitze schnell tropfend auf meinen Armen verteilt, und ich bin anscheinend glücklich, irgendwo weit weg von zu Hause.
So ist es schon immer gewesen. Heute würde mir vermutlich ohne regelmäßige Ortswechsel irgendwann die Decke auf den Kopf fallen. Einfach, weil ich es so gewohnt bin, immer interessiert an Neuem.
Ich war schon früh wissbegierig, wie meine ehemalige Nanny Anett, unsere jetzige Haushälterin, nicht müde wird, mir zu erzählen. Ich wäre manchmal sehr anstrengend gewesen. Aber im Vergleich zu meiner Schwester Sarah ein richtiger Engel. Sie war der Schreihals von uns beiden.
„Wie ein Wecker ohne Austaste“, pflegt meine Mutter Susann bei diesem Thema seufzend hinzuzufügen.
Daran kann selbst ich mich noch erinnern, und das soll etwas heißen.
Heute bin ich eine bodenständige, erwachsene und eher durchschnittliche junge Frau. Aber wer wünscht sich nicht ein bisschen mehr Pep, eine Prise Erfolg? Nun gut, es liegt an mir, die Zukunft zu etwas Besonderem zu machen.
Eigentlich liegt es meistens an einem selbst, und das bringt mich zur nächsten Momentaufnahme in meinem Kopf. Diese zeigt mich auf einem Baum vor meiner Grundschule, ich bin ungefähr in der zweiten Klasse. Nach Unterrichtsende kletterten wir immer in den Ästen herum. Es war eine Art Wettstreit: Wer zuerst oben ankam, hatte die Achtung der anderen gewonnen.
Meist saß ich mit frei baumelnden Füßen als Letzte noch da und wartete, bis ich endlich abgeholt wurde. Ziemlich langweilig. Und so vertrieb ich mir die Zeit mit Balancieren, Hangeln und Tritte-Finden. Das Ganze hatte einen gewaltigen Vorteil, ich musste zwar warten, konnte aber am besten klettern.
Worauf ich hinauswill: Ich lernte schon früh, dass Nachteile durchaus Vorteile bedingen können oder umgekehrt, dass Kompromisse für beide Parteien erstrebenswert sind, denn Selbstständigkeit kann der Schlüssel zum Erfolg sein. Allerdings verständigten sich meine Mutter und meine Nanny bald darauf, dass Letztere mich von da an abholte. Manche Probleme erledigen sich auch von allein.
Damals wurde mir bewusst, wie viel man mit Engagement, Aufpassen und Zuschauen, mit bloßem Lernen erreichen kann. Vielleicht gehe ich deshalb das Studium nicht so locker an wie meine beste Freundin Vanessa.
Das Lernen an sich fiel mir schon immer leicht und bedingt durch mein akademisches Umfeld beschloss ich ganz aktiv, etwas daraus zu machen, dem beruflichen Vorbild meiner erfolgreichen Eltern nachzueifern. Die zeitlichen Konsequenzen der Prioritätensetzung meiner Mutter wie meines Vaters waren übrigens eine ganz andere Frage, bezüglich derer sowohl meine Schwester Sarah als auch ich amüsante und weniger amüsante Geschichten erzählen können. Die Erinnerung an die unweigerlich folgende Scheidung am Ende meiner Grundschulzeit ist, wie sollte es anders sein, weniger schön.
Mein erster Schultag an der weiterführenden Schule haftet mir daher noch heute im Gedächtnis. Mit der Hälfte der Familie gerade umgezogen, war ich DIE Neue unter all den Neuen. Und in einem Schulhaus, in dem es Wegweiser geben sollte, war erneut Selbstständigkeit gefragt.
Doch weiter auf der Reise zu meiner Persönlichkeit: Sport treiben bedeutete schon immer eine Art Ausgleich für mich. Tanzen ist gleichzusetzen mit der Freiheit, einfach loszulassen, und eine Form der Bewegung, die ich schon in allen Facetten kennengelernt habe. Am liebsten war mir aber immer das Laufen, während dessen man so wunderbar seine Gedanken ordnen, sie fortführen, beiseiteschieben oder weiterspinnen kann. Das bedeutendste Sporterlebnis fand allerdings in einem der seltenen richtigen Urlaube statt.
Mein Vater Roger fährt schon immer gerne Ski, und sobald die Saison begonnen hat, tut er dies auch häufig. Als er es für mein Alter angebracht hielt, lud er mich ein, ihn zu begleiten, um es ebenfalls auszuprobieren. Meine Schwester war damals noch zu klein. Es kam, wie es kommen musste: Ich verhedderte meine Ski ineinander, fiel mehrmals auf mein Hinterteil und war schließlich den Tränen nahe. Mitten auf der Piste. Für meinen Vater musste es wahrlich komisch ausgesehen haben. Aber ich gab nicht auf, um keinen Preis.
In der folgenden Saison buchte er einen Skikurs für mich. Es war ein unglaubliches Gefühl, meinen Vater zumindest auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Und er schien wirklich an einen noch nicht ersichtlichen Triumph über die zwei Bretter unter meinen Füßen zu glauben.
Mein Fazit: Gib nie auf, denn auf schwierige Situationen folgen häufig einfachere. So lautet meine Devise bis heute und bisher bin ich damit ganz gut gefahren.
Beim Trainieren muss man die Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Im Grunde genommen ist nichts schöner, als am Ende erschöpft über die wachsenden Muskeln oder die hoffentlich reduzierten Kilos zu jubilieren.
Nun zu meiner zweiten Leidenschaft: Wenn mich Anett einmal suchte, gab es eigentlich nur einen Ort, an dem ich vorzufinden war, mit einem Buch in meinem Zimmer. Alles andere wäre unwahrscheinlich gewesen.
Ich war noch nie wirklich musikalischen Gemüts. Dieses Gen hat Sarah geerbt. Ihr Talent für das Instrument ihrer Wahl, die Gitarre, ist beachtlich! Bei mir hingegen wuchs, als ich älter wurde, geradezu über Nacht eine ganze Bibliothek aus dem Boden, die ich auch heute immer wieder erweitere. Wie die Zeit es eben zulässt.
Das ist meine Geschichte – bis jetzt. Diese Erinnerungen sind die wichtigsten Eckpfeiler meines Charakters, alles, was es sonst noch zu sagen gäbe, würde das Bild abrunden.
Aber wie Anett es manchmal ausdrückt: „Auch die kleinen Dinge zählen.“
Also los ...
Ich möchte von mir behaupten, witzig zu sein, zumindest interpretiere ich das manchmal anhand der Reaktionen meines Gegenübers. Gleichwohl, so meine ich, bin ich es eher auf eine ironische Art und Weise.
Außerdem bescheinigen mir Zeugnisse und andere geduldige Papiere eine gewisse Intelligenz. Jedoch sollte man auf diese nicht zu sehr vertrauen. Im Endeffekt, so ist meine Erfahrung, bringt einen gesunder Menschenverstand äußerst weit und hilft oft mehr. Zudem tappt jeder, vernunftbegabt hin oder her, in das eine oder andere Fettnäpfchen.
Daher finde ich Werte wie Fairness und Taktgefühl wichtig. Vielleicht auch aufgrund einer etwas ausgeprägteren offenen Weltsicht durch die Reisen, auf die unsere Familie meinen vielbeschäftigten Vater zu allen möglichen Geschäftsterminen seiner Firma, der Clark Group, begleitete, soweit diese mit dem Terminkalender meiner korrekten Mutter vereinbar waren. Nach der Scheidung ließ zur Freude meiner Schwester das Pensum nur noch eines Workaholics sogar ein paar Vergnügungsreisen zu.
Nun zur stichhaltigen Ausgangslage: Ich habe von blond zu braun nachgedunkelte, mittellange Haare, eine stolze Körpergröße von normalem Mittelmaß und grüne, ziemlich auffällige Augen. Eine schlanke Figur und eher kleine Hände. Das bin ICH. Je nach Stimmung sind meine Nägel in der passenden Farbe lackiert oder auch nicht. Mein Kleidungsstil ist modern und richtet sich häufig nach der Zeit, die mir zwischen Aufstehen und einem ausführlichen Frühstück bleibt, bevor ich aus dem Haus gehe.
Ich bin nicht vergeben, aber momentan durchaus interessiert. Nämlich an einem gewissen auffällig gekleideten Er mit dunklem Kurzhaarschnitt, der zufällig seit einiger Zeit ähnliche Kaffeepausen einlegt wie meine beste Freundin und ich. Die Unicafeteria ist, was dergleichen betrifft, sehr übersichtlich.
Der Drang, etwas zu erreichen, wurde mir vermutlich bei der Geburt überantwortet und ich brenne darauf, Außergewöhnliches zu erleben. Woran sicher meine beste Freundin Vanessa nicht unschuldig ist, die mir ständig mit ihrem Credo „Wir müssen jetzt leben!“ im Nacken sitzt. Oder die Tatsache, dass ich die ruhigere, vernünftige Schwester bin und mich nicht wie Sarah auf Weltreise befinde.
Es durchzuckt mich freudige Erregung bei dem Gedanken an all die unbeschriebenen Tage, die vor mir liegen. Natürlich sind es genau genommen etliche Jahre! Ein jedes voller Möglichkeiten und hoffentlich voller Abwechslung und Aufregung. Aber wer wird denn gleich mit dem Blick in die Ferne schweifen, wenn es noch so viel in unmittelbarer Nähe zu entdecken gibt?
Objektiv gesehen: Wie viel kann in den nächsten dreihundertfünfundsechzig Tagen passieren? Ich werde es herausfinden!
*
*
Schwungvoll fuhr der puderblaue Fiat 500 die breite Auffahrt hoch. Hin zu einem Herrenhaus, das seinesgleichen in den glorreichen, längst vergangenen Tagen der Südstaaten zu suchen schien. Was damals an Dekadenz erinnert hatte, wurde hier durch moderne Elemente wettgemacht. Schlichtes Weiß bildete einen Kontrast zu dunklen Holzschnitzereien, großen Fenstern und kleinen Giebeln. Die Luft war von spätsommerlicher Wärme erfüllt. Erst vor ein paar Tagen hatte der August Einzug gehalten.
Kies spritzte auf, als der Wagen am Fuß der Vortreppe zum Stehen kam. Aus dem Inneren des Autos drangen Musik und vergnügtes Pfeifen. Obgleich Charly wie immer ein seltsames Gefühl beschlich, wenn sie ihr altes Zuhause besuchte, wollte sie doch die seltenen Treffen mit ihrem Vater nicht missen.
Manchmal mischten sich Wehmut oder Bedauern in ihre Vorfreude. Heute jedoch war Freitag. Eine lange Woche voller nicht enden wollender Vorlesungen lag hinter ihr und eine hoffentlich feuchtfröhliche Nacht würde sie erwarten.
„Wir werden alt und langweilig“, hatte ihre beste Freundin Vanessa in der Unicafeteria zwischen zwei Schlucken ihres mittäglichen Bechers Automatenkaffee gebrummt.
„Ach was, wir sind nur beschäftigt“, war Charlys Versuch gewesen, den gleichförmigen Alltag der letzten Wochen und Monate zu erklären.
„Wir sind Studenten. Wenn wir jetzt schon spießig um elf ins Bett gehen, wie wird das dann erst, wenn wir arbeiten?“ Das Grauen vor diesem Szenario war Vanessa wahrlich anzusehen gewesen. Ihre hellen Augen hatten sich erregt geweitet. „Mal ehrlich, die Leute erwarten geradezu, dass man tanzt, bis einem die Sohlen glühen, und lebt, als gäbe es kein Morgen. Hat dich das nie gereizt? Die Vorstellung deines wilden Studentenlebens? Die viele Freizeit, die Freiheit, die Ungebundenheit?“
Charly hatte gelacht. „Mensch, du tust so, als würden wir nicht leben. Als wären wir schon morgen alt und grau.“ Belustigt hatte sie die Stirn gerunzelt. „Ich glaube, die Epoche der Romantik wäre Euch durchaus dienlicher gewesen, edle Mistress.“
„Haha“, hatte ihre Freundin gemurmelt und die schwarzen Locken geschüttelt.
„Dir war doch klar, dass sich das Studium nicht von alleine regeln würde. Zuerst die Quälerei bis zum Schulabschluss, warum sollten sie dir jetzt etwas schenken?“, war Charlys Frage gewesen.
„Du hast recht, Vanessa Steier befindet sich hiermit wieder in der Realität. Satellit erfolgreich geerdet.“ Nachdenklich hatte sie vor sich hin gestiert. „Wie lange waren wir schon nicht mehr aus, Charly? Ich meine so richtig.“
„Mhm, also ... ehrlich gesagt ...“ Charly war nachdenklich geworden.
„Genau, viel zu lange!“ Triumphierend hatte die Freundin mit den Armen eine weit ausholende Geste vollführt und binnen der nächsten fünf Minuten war die abendliche Verabredung ausgemacht.
Mit einem Grinsen im Gesicht und einem Seufzer auf den Lippen öffnete Charly die Tür ihres geliebten Kleinen, wie sie ihr Auto im Geiste getauft hatte. Ihre Gedanken hingen noch immer der Erinnerung nach.
Pläne über Pläne hatte Vanessa in den nächsten zwei Vorlesungsstunden geschmiedet. Betreffend vor allem Location, Uhrzeit, Kleidung, Frisur und Make-up. Charly hatte sich währenddessen bemüßigt gefühlt, den Ausführungen des werten Herrn Professor für Steuerrecht zu folgen. Kein leichtes Unterfangen, da diese ihren Ursprung gefühlt einmal mehr bei den Römern gehabt hatten. Sie wähnte sich allerdings recht sicher, war sie doch bereits in der Schule mit Bilanzen und Steuervorschriften in Berührung gekommen.
Lächelnd ging Charly um den Fiat herum und holte ihre braune Umhängetasche mit den dekorativen Fransen aus dem Fußraum des Beifahrersitzes. Ein ungewollt hartes Bremsmanöver an der vorletzten Ampel hatte diese von ihrem gewohnten Platz auf dem Sitz herunterrutschen lassen.
Mit langsamen Schritten ging sie die letzten paar Meter, bis sie die erste breite Stufe der Vortreppe erreichte. Genau acht Stufen waren es, als Kind hatte sie diese oft gezählt.
Oben angekommen ließ sie ihren Blick neugierig schweifen. Wie mit dem Lineal gezeichnet, erstreckten sich Rosenbeete und akkurat gemähte Rasenflächen entlang der Auffahrt. Nirgendwo war Personal zu sehen. Allerdings standen die Garagen am rechten Rand des Anwesens offen.
Bereits auf halbem Weg, den ihre Hand gerade zum silbernen, löwenkopfförmigen Türklopfer nahm, öffnete sich das breite, hölzerne Eingangsportal ein Stück.
„Charlotte? Wir haben Sie schon erwartet“, vernahm sie eine wohlbekannte Stimme.
Die Tür schwang nun ganz auf und Charly sah die lieb gewonnenen geröteten Backen, gütigen Augen und den immer weiter zurückweichenden Haaransatz des kräftigen Wirtschafters ihres Vaters. Tom war für alles zuständig und schien, so war es ihr immer vorgekommen, über sämtliche Vorkommnisse im Haus unterrichtet zu sein. Das Wort Butler konnte er nicht ausstehen, weshalb er gern betonte, er habe Pflichten, aber gleichwohl eine eigene Meinung. Woran dank seiner direkten Natur auch niemand zweifelte.
„Hallo Tom. Freut mich sehr, dich zu sehen. Das letzte Mal ist nun schon ... wie lange her? Einen Monat?“
„Drei Wochen auf den Tag“, entgegnete der Angestellte beflissen. „Ihr Vater lässt Sie ins Speisezimmer bitten. Er ist heute etwas ungeduldig“, fügte er hinzu.
Charly rollte innerlich mit den Augen, während sie Tom ins Hausinnere folgte. Gab es je einen Tag im Leben ihres Vaters, an dem nicht jede Minute von einer seiner fleißigen Sekretärinnen verplant war? Dennoch freute sie sich auf das bevorstehende Wiedersehen.
„Was steht denn auf dem Speiseplan?“, fragte Charly neugierig.
„Ihr Vater ist derzeit auf Diät. Der Arzt meint, bei so wenig Zeit für Sport sollte zumindest die Ernährung ausgewogen sein.“
Sie hatten die elegante, aber schlicht gehaltene weiße Eingangshalle durchquert und steuerten nun auf den Gang zum linken Flügel des Hauses zu.
„Das heißt, statt Bertas Schweinshaxe gibt es jetzt Obst, Gemüse und Salat“, fasste Charly trocken zusammen. „Oder gar Tofu?“ Der Gedanke bereitete ihr Unbehagen. So richtig konnte sie sich das bei ihrem fleischliebenden Vater nicht vorstellen.
„Ausgewogen bedeutet nicht einseitig.“ Sie meinte, bei diesen Worten ein Zucken um Toms Mundwinkel wahrgenommen zu haben.
Zwischenzeitlich waren sie an ihrem Ziel angekommen und ihr Begleiter klopfte. Ohne abzuwarten, öffnete er mit einem eleganten Schwung die Tür, während seine andere Hand Charly ins Zimmer schob.
„Das Essen wird in Kürze serviert.“ Und weg war er.
Charlys Vater sah von der Zeitschrift auf, in die er bis eben vertieft gewesen war. Roger Clark und sein Imperium, las sich die Überschrift des aufgeschlagenen Artikels.
„Hallo Charlotte. Schön, dass du da bist.“ Er erhob sich und kam ihr mit ausgestreckten Armen entgegen.
„Dad, schön, dich zu sehen. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.“
Sie umarmten sich.
„Ich hatte viel zu tun“, gab Roger widerwillig zu und führte seine Tochter zum Tisch, auf dem gefüllte Wassergläser standen. Wie alles im Raum war auch dieses Möbelstück aus Massivholz und von ausgesuchter Qualität. Eckig, nicht rund. Davon hielt ihr Vater nichts.
„Es kann nur einen geben, der am Kopfende sitzt“, hatte er in ihrer Kindheit einmal gesagt. Charlys Mutter war von dem Satz nicht allzu angetan gewesen.
Neugierig lugte sie in Richtung des Magazins. Sie hatte ihren Vater noch nie ein Interview geben sehen. Bisher war er immer der Ansicht gewesen, dass wahre Macht nicht durch Publicity gepusht werden müsste. Durch und durch alte Schule eben.
„Ah!“, machte er, ihrem Blick folgend. „Meine neue Assistentin hat mich davon überzeugt, dass es nicht mehr zeitgemäß ist, sich vor den Medien zu verstecken.“ Irritation ließ seine Stirn Falten schlagen. „Selbstverständlich habe ich mich nicht versteckt. Dennoch kann ich mich wohl nicht länger den neuen Kommunikationskanälen entziehen. Transparenz und Sympathien scheinen durch die fortschreitende Globalisierung eine immer größere Rolle einzunehmen und jetzt spiele ich eben notgedrungen mit. Meine Marketingabteilung rät mir seit Jahren dazu.“ Er reichte ihr den Artikel. „Wenn du möchtest, kannst du ihn mitnehmen.“
Charly steckte das Heft in ihre Tasche und dachte bei sich, dass seine neue Assistentin die Instinkte eines Piranhas haben musste, um die festzementierte Meinung ihres Vaters zu ändern. Scheinbar hatte er jemanden gefunden, der es mit ihm aufnehmen konnte.
„Wie geht es deiner Mutter und deiner Schwester?“, riss er sie aus ihren Gedanken.
„Gut so weit. Mum arbeitet viel und Sarah ist noch für die nächsten zwei Monate in den Staaten. Das letzte Mal, als ich mit ihr telefoniert habe, hatten sie gerade einen Platten und versuchten, das Auto wieder fahrtüchtig zu bekommen. Bis nach San Francisco soll es noch gehen, von dort nimmt sie den Rückflug.“
Roger nickte. „Sehr gut. Sie hat mir kürzlich eine Karte geschickt, trotzdem mache ich mir Sorgen. Du weißt doch aus erster Hand, wie viele Aussteiger den Anschluss ans Studium nicht schaffen.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar.
„Sie schien glücklich, aber ihre Begeisterung für das Essen dort hielt sich stark in Grenzen.“ Charly grinste. „Und wir wissen beide, wie gerne Sarah isst.“ Trotzdem war ihre Schwester eine gertenschlanke Schönheit.
Die aufgehende Tür unterbrach das Gespräch. Berta, Rogers Köchin, kam herein. Sie trug ein beladenes Tablett vor sich her und hatte eine ihrer unzähligen weißen Schürzen an.
„Die Biokost wird geliefert“, amüsierte sich Charly stillschweigend, als Salat und Gemüseschälchen vor ihnen aufgebaut wurden.
„Guten Appetit, die Herrschaften“, wünschte ihnen Berta, bevor sie unauffällig wieder verschwand.
Eine klare Brühe als Vorspeise und Putenstreifen ergänzten das gesunde Mahl. So ganz konnte ihr Vater wohl doch nicht ohne Fleisch. Wie vermutet.
„Tom hat mir von deiner Ernährungsumstellung erzählt“, nahm Charly die Unterhaltung wieder auf.
„Ja, die liebe Gesundheit. Allerdings kann ich mich nicht recht mit dem geschmacklosen Grün anfreunden“, gestand ihr Vater. Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. „Als neu erkorene Medienikone muss ich ab jetzt auf mein Äußeres achten. Deshalb ist Schluss mit saftigen Steaks, ein Jammer.“
Charly schmunzelte. Mit seinen dunklen Haaren, der drahtigen Figur und dem allgegenwärtigen schwarzen Anzug hatte er das eigentlich gar nicht nötig. Das einzige Zugeständnis an sein Alter stellte eine rahmenlose Brille dar, die sogar seine vitale Ausstrahlung noch hervorhob. Ihr Vater konnte durchaus als attraktiv gelten. Bisher hatte sie keine Freundin kennengelernt, aber Roger lebte wohl kaum zölibatär.
Schnell verbot sich Charly, die Überlegung weiterzuführen. Überrascht stellte sie daraufhin fest, dass das Essen ihr sehr gut schmeckte. Alles war frisch zubereitet, anders als die Kleinigkeiten in der Unicafeteria, nach deren Genuss sie eher abnahm. Und Berta hatte wirklich ein Händchen dafür, allem eine besondere Note zu verleihen.
Sie aßen in einvernehmlichem Schweigen, bis Roger seine Serviette beiseitelegte. Tadelloses Benehmen war zweifellos eine seiner Tugenden.
„Ich habe nachgedacht, Charlotte“, begann er.
Charly hob die linke Augenbraue und sah ihn fragend an. Roger war bekannt dafür, Entscheidungen schnell zu fällen, ohne großes Zögern. Was würde nun kommen?
„Ich denke, es ist an der Zeit, dass du und die Firma auf eine Art Kennenlerndate zusammentrefft“, verkündete er und zwinkerte.
Das musste erst mal sacken. In Charlys Leben hatte es seit der Scheidung ihrer Eltern eine klare Trennung gegeben. Ihr Vater und sein Unternehmen existierten zwar, waren aber nicht Teil ihres Alltags und damit weit entfernt. Ein Essen wie dieses führte die zwei Welten in der Realität zusammen. Das kam allerdings selten vor.
Roger fuhr fort: „Dein Ururgroßvater gründete die Firma 1890 als klassischen Einmannbetrieb. Ein freischaffender Handwerker, der später Mitarbeiter anstellte. Dein Urgroßvater vergrößerte die nun ins Handelsregister eingetragene Clark GmbH. Damals war diese Gesellschaftsform sehr fortschrittlich und verbreitete sich von Deutschland aus schnell in andere Länder. Er setzte auf talentiertes Personal und den technischen Fortschritt. Zu der Zeit, als ich das Unternehmen von meinem Vater übernahm, war es ein mittelständischer Betrieb, ausgelegt auf das Programmieren von Software. Wir hatten rund zweihundert Angestellte an einem Standort. Die Lage am Arbeitsmarkt war eine ganz andere als heute. Händeringend suchte man qualifiziertes Fachpersonal, vor allem in der Elektrotechnik. Das Vertriebsgebiet war weniger umkämpft und zugleich in überschaubarer Entfernung.“
Charly hörte interessiert zu, sie hatte ihren Vater noch nie von den Anfängen der Firma erzählen hören.
„Eine der besten Entscheidungen, die wir getroffen haben, war, frühzeitig der Globalisierungsbewegung zu folgen. Den ersten Schritt dafür stellte die Umwandlung des Unternehmens in eine zeitgemäße Aktiengesellschaft mit Wachstumspotenzial dar.“
Roger trank einen Schluck Wasser. „Das frische Kapital verschaffte uns die Möglichkeit, in andere Branchen zu investieren. Diversifikation würdet ihr Betriebswirtschaftsstudenten das heute nennen. Damals war es einfach kluge Voraussicht. Natürlich spielte auch das Risiko des Börsengangs eine Rolle, doch diese Hürde nahm die Clark AG mit Bravour.“ Charly lächelte ob der Begeisterung, die ihr Vater bei seinem Bericht an den Tag legte.
„Wir wuchsen beständig und fächerten unsere Ressourcen auf. Mehrere Standbeine sind immer vorteilhaft. Das Ergebnis ist das breite Portfolio, das die Clark Group heute vorzuweisen hat.“ Er nickte stolz. „Wie du weißt, halte ich bis heute die Mehrheit der Aktien, die es einmal zu erben gilt.“ Roger sah sie vielsagend an. Ihre Mutter erwähnte er nicht. Das war aussagekräftig genug.
Charly seufzte tonlos. Es war nicht immer einfach, mit der völligen Ignoranz umzugehen, die beide Elternteile dem jeweils anderen entgegenzubringen schienen. Vielleicht war es besser als hässliche Streitereien, in jedem Fall war es stiller. Manchmal fragte sie sich, wo die einstige Liebe geblieben war.
Ihr Vater schien nichts von ihren Gedanken zu ahnen, denn er näherte sich langsam, aber bestimmt seinem Anliegen.
„Im Gegensatz zu anderen vielbeschäftigten Männern kann ich mich rühmen, dass meine Töchter auf einem guten Weg sind, ihr Leben nicht auf Kosten ihrer Familie zu führen. Deshalb möchte ich dir ein Angebot machen.“
Er sah seine älteste Tochter direkt an. „Du kannst dir sicher denken, dass es mich mit Freude erfüllen würde, solltest du einmal meine Position einnehmen. Ein jeder Unternehmer hofft, dass sein Lebenswerk fortgeführt wird, ich bilde darin keine Ausnahme. Wenn ich mich eines Tages zurückziehe, möchte ich die Führung der Firma in guten Händen wissen. Die Clark Group hat zwei Weltkriege überdauert, sie sollte nicht in friedlichen Zeiten zerfallen. Ich habe zu viel erreicht, um alles dahinschwinden zu sehen.“ Ihr Vater verstummte kurz, bevor er fortfuhr.
„Dieser Zeitpunkt liegt noch in weiter Ferne, denn ich bin ein ziemlich zäher Bursche“, witzelte er. „Und ich will dich zu nichts zwingen, aber es wäre mir ein Anliegen, dass du dich meiner Welt, der Welt der Clark Group, annäherst.“
Charly blickte ihn unverwandt an und ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Ihr Verstand suchte nach Hintertürchen oder Untertönen, fand jedoch für den Moment keine.
Spürte ihr alter Herr seine Sterblichkeit so dringlich, dass er Pläne für seinen Rücktritt schmiedete? Steckte mehr hinter dem Salat, als es den Anschein hatte? Sie konnte es nicht sagen.
„Geht es dir gut, Dad?“, platzte es sodann aus ihr heraus.
Amüsiert schaute er sie an, stand auf, streckte die Arme zur Seite und drehte sich theatralisch einmal im Kreis, bevor er sich wieder setzte.
„Hervorragend, seit die fleischlose Ernährung in Bertas Küche eingezogen ist, wenn ich Doktor Schuberts Interpretation meiner Blutwerte Glauben schenken darf.“ Er zwinkerte ihr erneut zu.
Charly stieg verlegene Röte in die Wangen.
Doktor Schubert betreute die ganze Familie Clark schon, seit sie denken konnte. Der breite, ältere Herr mit brauner Kordhose und weißem Kittel war ihr genauso vertraut wie jeder andere Angestellte. Er war eines der Bindeglieder, die auch nach der Scheidung von Susann und Roger erhalten geblieben waren. Und ein hervorragender Allgemeinmediziner war er obendrein.
„Warum ich?“, fragte Charly, als sie sich wieder gefasst hatte.
„Nun, zum einen, weil du meine Tochter bist.“
Sie sah ihn kopfschüttelnd an. Mit verbalen Streicheleinheiten für ihr Ego kam er bei ihr nicht weit.
„Und zum anderen, weil du scheinbar einige meiner Talente geerbt hast. Einfühlungsvermögen, Beherrschtheit gepaart mit Sachverstand und gesellschaftliche Reife. Das alles bringt dich voran. Rückschläge dürfen keine Schwäche hinterlassen.“ Er blickte ihr ernst in die Augen.
Damit schied die lebenslustige, hüftschwingende, aber wankelmütige Sarah mit ihrer aufsehenerregenden blonden Mähne klar als Nachfolgerin aus.
Bisher hatte Charly sich selbst immer als normal, vielleicht sogar als einen Hauch langweilig angesehen. Sie versuchte, ihren Vater einzuschätzen. Es konnte kein Zufall sein, dass er gerade heute, relativ kurze Zeit nach ihrem letzten Treffen, dieses Angebot aufs Tapet brachte. Was wollte er? Oder besser: Auf was ließ sie sich ein, wenn sie ihm die Bitte erfüllte? Roger war schon immer nur nebenberuflich Vater gewesen. Das durfte sie nicht vergessen. Hauptberuflich war er Vorstand und in erster Linie mit seiner Firma verheiratet.
Am Anfang hatten ihr die Reisen, die ihre Familie gemeinsam unternommen hatte, Spaß gemacht. Oft hatte sie ausgelassen mit der Nanny an irgendwelchen Stränden herumgetollt. Später, als sie ständig aus der Schule gerissen wurde, war die Begeisterung schnell geschwunden. Von ihren Klassenkameraden getrennt und häufig alleine in immer gleichen Hotelsuiten untergebracht, hatte sie nur ihre kleine Schwester als Spielkameradin gehabt. Sarah, die nun erwachsen und ungezähmt durch die USA tourte.
Aber hatte Charly sich nicht insgeheim eine einzigartige Chance gewünscht? Diese bot sich ihr nun, und was für eine!
„Gut, ich sehe mich schon fast als eingestellt an“, hörte sie plötzlich ihre eigene Stimme sagen.
„Sehr schön!“ Ihr Vater rieb sich freudig die Hände. „Allerdings dachte ich, wir fangen ganz unverfänglich an, indem du mich auf ein paar Veranstaltungen begleitest. Nichts allzu Steifes. Dabei hast du die Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, und die Leute können dich kennenlernen, sich an dich gewöhnen. Ich würde vorschlagen, dass du parallel in die einzelnen Sparten und Abteilungen der Clark Group Einblick gewinnst. So wie du es eben mit deinem Studium zeitlich vereinbaren kannst. Wenn du den Bachelor abgeschlossen hast, können wir über eine kontinuierliche Einbindung neben dem Master sprechen.“ Er sah mit sich zufrieden aus.
Charly hingegen kam es vor, als läge der Fünfjahresplan auf dem Tisch. Wozu hatte sie da bloß Ja gesagt? Sie würde es sehen.
Veranstaltungen besuchen also. Sollte es dort wenigstens Champagner und ein paar leckere Horsd’œuvre geben, war sie nicht abgeneigt. Irgendeine dritte Gattin, einen netten Assistenten oder zur Not die Partyplanerin würde sie in ein anregendes Gespräch verwickeln können.
„Ich lasse dir die jeweilige Einladung zukommen“, sagte Roger und erhob sich. „Wenn du mich jetzt entschuldigst, es freut mich sehr, dass wir uns in nächster Zeit öfter sehen werden, aber nun habe ich leider einen Termin.“
Charly konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis sie diesen Standardsatz und die dazugehörigen Meetings nicht mehr persönlich genommen hatte. Irgendwann war ihr klar geworden, dass er der Gejagte seines eigenen Kalenders blieb.
„Kein Problem, Dad, ich habe auch eine Verabredung.“ Sie umarmte ihn zum Abschied und machte sich mit einem Luftküsschen auf den Weg zur Tür. Selten war eine Einladung zum Essen derart interessant gewesen.
In der Eingangshalle traf sie auf Tom. „Richtest du Berta bitte meine Ehrerbietung aus?“ Charly zwinkerte. „Egal, was sie serviert, es schmeckt immer großartig!“
„Natürlich, sie wird sich freuen, dass es gemundet hat.“ Er nickte, um seine Worte zu unterstreichen.
„Bis bald, Tom. Es war schön, wieder hier zu sein.“
„Gute Heimfahrt, Charlotte“, wünschte ihr der Wirtschafter. „Fahren Sie vorsichtig.“
Als sie wenig später in ihrem Fiat saß, nahm sie sich die Zeit, einen Moment innezuhalten. Was für eine unvorhersehbare, undurchsichtige Wendung, die sich soeben ergeben hatte. Dass gerade sie ihrem Vater ins Auge gefallen war, schmeichelte ihrem Stolz. Es war eine Ehre. Und das Privileg, ihn in Zukunft öfter zu sehen, war ebenfalls nicht zu verachten. Sicher hatte er an jeder Hand beliebig viele Begleiterinnen zur Auswahl, wenn er es darauf anlegte. Nicht, dass sie sonst hinter verschlossenen Türen miteinander interagierten, aber es hatte sich nie ergeben, öffentlich zu dinieren oder Ähnliches.
Ihre Mutter würde sich allerdings vehement gegen das neuerwachte Interesse ihres Exmannes an ihrer Tochter aussprechen. Seit der Scheidung kommunizierten die beiden zwar zivilisiert, aber nur noch über ihre Anwälte miteinander, soweit Charly wusste. Thematisiert wurde das nicht. Die Clarks hatten sich damals friedlich und schnell außergerichtlich geeinigt. Die Mädchen waren bei ihrer Mutter aufgewachsen, Roger hatte sich herausgehalten. Finanziell waren nie Unstimmigkeiten aufgetreten.
Gleichgültig, was passieren würde, Charly freute sich auf die neue Perspektive. Auf die Zeit mit ihrem Vater. Sie war mehr als gewillt, etwas anderes als die Universität zu sehen und ihre berufliche Karriere bereits jetzt voranzutreiben. Schließlich hatte sie den Traum, etwas Außergewöhnliches im Leben zu erreichen. Charly brannte darauf, sich zu beweisen. Gleichzeitig hoffte sie, ihr Vater würde sie nicht wie schon so häufig enttäuschen.
Die tiefschürfenden Gedanken beiseiteschiebend, drehte sie die Lautstärke des Radios hoch und trommelte im Takt der dröhnenden Beats aufs Lenkrad. Schnell hatte sie den ersten Gang eingelegt und brauste die Auffahrt hinunter.
Beschwingt malte Charly sich dabei den kommenden Abend aus. Jetzt gab es tatsächlich einen Anlass zu feiern!
*