Agnes Maxsein

ALTERAS

Die Spur des Torwächters

Agnes Maxsein

ALTERAS

Die Spur des Torwächters

Dieses Buch widme ich meiner

chaotischen

unzähmbaren

irrsinnigen

Klasse! Ihr wart genau richtig, denn so habe ich Alteras gefunden,

dank euch, für euch, mit euch!

PROLOG

Das Licht einer Taschenlampe streifte das Fenster.

Der alte Mann duckte sich, wartete angespannt, bis das blaue Flackern weiterzog. Ihm blieben nur wenige Minuten. Gleich würde er sie im Flur hören. Wenn er sich nicht beeilte…

Aber noch war er nicht fertig. Er stopfte Pinsel und Farben in seinen schäbigen Lederrucksack. Bloß keine Spuren hinterlassen. Dann griff er wieder zum Bohrer. Er war nie ein großer Handwerker gewesen, aber hierfür würde es reichen. Er rieb sich die müden Augen. Die Arbeit im Dunkeln strengte ihn an, doch Licht einschalten kam nicht in Frage, zu riskant. Die Bohrmaschine schnurrte und die letzte Schraube saß. Ein wenig wackelig schien es schon, aber solange niemand hinaufkletterte, würde das Wandregal halten. Hanna würde lachen über seine Konstruktion, was in diesem Fall ein Vorteil war – so würde sie wenigstens sofort sehen, dass er es gebaut hatte. Es musste ja auch nicht lange stehen bleiben, nur so lange, wie Hanna brauchte, das Rätsel zu lösen und seinen Spuren zu folgen, sobald sie seinen Brief las.

Der Brief! Erschrocken tastete er alle seine Taschen ab. Wo war der Brief? Er wischte sich die Schweißperlen über den Augenbrauen ab, Folge seiner Angst und der körperlichen Anstrengung. Da, unter seinen anderen Papieren, ertastete er das Kuvert. Einen Moment hielt er den Umschlag in den zittrigen Fingern. Dann zuckte er so heftig zusammen, dass ihm der Brief beinahe entglitt. Im Stockwerk unter ihm schlug eine Tür zu. Sie waren da. Und er musste weg!

Eilig verstaute er den Bohrer in einem Schrank und warf sich den Rucksack über die Schultern. Er spähte links und rechts den Flur hinunter, bevor er die Klassentür sorgfältig abschloss und zur nächsten Treppe huschte. Es war seltsam gespenstisch in dem Schulgebäude, das sonst erfüllt war von Stimmen, Lärm und dem Gewusel von tausend Schülern. Jedes kleine Geräusch hallte ungewohnt durch das breite Treppenhaus. Im Dunkeln verfehlte er die erste Stufe, rutschte ab und krallte sich mit schweißnassen Händen ans Geländer. Schwer atmend spitzte er die Ohren. Unten hörte er jemanden. Wie viele Verfolger mochte Vikram geschickt haben? Unmöglich festzustellen, ohne entdeckt zu werden; sie schienen bedrohlich nah. Er kehrte um und lief den gelben Flur entlang, quälend langsam, wie es ihm vorkam. Aber er geriet schon jetzt außer Atem und lautes Rennen würde ihn sofort verraten.

Am anderen Ende des Flures führte wieder eine Treppe hinunter. Hier war alles still. Trotzdem trat er noch behutsamer auf. Alle paar Stufen blieb er stehen und lauschte angestrengt. Da, gedämpfte Stimmen! Sie kamen jetzt von oben, aus dem Flur, den er eben erst verlassen hatte. Er rannte los, nahm die letzten Stufen im Sprung und landete ungeschickt auf dem Knöchel. Einen Schmerzensschrei unterdrückte er so eben, doch dass sein Gepolter durchs Treppenhaus hallte, konnte er nicht verhindern. Oben wurde es still. Er hörte sein Herz heftig pochen. Dann erklangen schnelle Schritte und jemand rief etwas.

Er rappelte sich auf und humpelte zum Ausgang.

Der Schulhof lag verlassen da, eine Straßenlaterne flackerte an der Ecke. Er versuchte nicht länger, leise zu sein. Er wusste, dass sie ihn aus einem der vielen Fenster über den Hof rennen sahen. Er wusste, dass sie ihm dicht auf den Fersen waren. Jetzt kam es nur darauf an, das Versteck zu erreichen, den Brief zu übergeben, schneller zu sein…

Schneller – mit den steifen, alten Beinen! Er hätte gelacht, wenn ihn das Rennen nicht so anstrengte.

Er ließ den Schulhof hinter sich, hastete am Schwimmbad vorbei und überquerte die Bahngleise. Bahnhof und Straßen waren wie ausgestorben. Es musste schon weit nach Mitternacht sein. Er brauchte eine Pause, doch er durfte nicht anhalten, auf keinen Fall. Das Schmerzen in seinem Knöchel und das Poltern seiner Herzschläge ignorierend, stolperte er weiter. Wenn er es rechtzeitig ins Versteck schaffte, wenn er nur den Brief weitergeben könnte…

Nein. Er hielt inne. Nicht aus Erschöpfung, sondern weil ihm klar wurde, dass er einen Fehler machte. Er würde sie nicht abhängen können. Sie würden ihm folgen und sie würden ihn einholen, sie würden den Brief entdecken und es wäre alles umsonst gewesen. Es gab nur einen Weg.

Er atmete tief durch. Dann lief er wieder los und hielt nur noch einmal an der Bushaltestelle kurz an. Neben einem der Wartehäuschen stand eine große Linde. Ein Bild aus längst vergangenen Tagen flackerte in ihm auf, als Hanna klein war und sie einen verletzten Vogel in dem hohlen Stamm des Baumes gefunden hatten. Es war gewagt, sich auf diese alte Geschichte zu verlassen, aber auf die Schnelle war es das Beste, das ihm blieb. Hanna war clever, sie würde darauf kommen! Kurzerhand stopfte er den Rucksack hinein und hoffte inständig, dass der Baum nicht allzu bald gefällt würde.

Und jetzt konnte er nur noch rennen, bis die alten Füße nicht mehr wollten. Er rannte am Kreisverkehr vorbei und über das holperige Kopfsteinpflaster in die Fußgängerzone. Schweiß rann ihm die Stirn und den Nacken hinunter. Seine Schritte wurden langsamer und schleppender. Er atmete keuchend und seine Hände zitterten schlimmer denn je.

An der alten Stadtmauer hatten sie ihn eingeholt. Fast war er froh, dass es vorbei war.

„Horkus!“, rief einer der Verfolger. Er hatte eine Waffe auf ihn gerichtet.

„Warte, wir brauchen ihn lebend!“, rief ein anderer.

Horkus kannte sie beide nicht. Aber den Dritten, der hinzutrat, den kannte er. Er richtete sich so grade auf, wie er konnte. „Vikram“, krächzte er.

Vikram lächelte dünn. Wie gut Horkus sich an dieses Lächeln erinnerte. Es hatte ihn so lange verfolgt…

„Wo ist der Schlüssel?“, fragte Vikram.

Horkus seufzte. Jetzt kam der wirklich anstrengende Teil. „Ich habe ihn nicht bei mir. Und ich werde euch auch nicht sagen, wo er ist.“

„Nach all den Jahren…Es muss so nicht laufen, weißt du?“, sagte Vikram und lächelte ein wenig breiter. Sollte das ermutigend sein?

„Doch“, sagte Horkus müde. „Das muss es wohl.“

Vikram winkte den andern knapp. „Mitnehmen.“

Als Letztes sah Horkus, wie einer der beiden einen kleinen Gegenstand mit spitzer Nadel aus der Tasche zog. Ein kurzer Stich in den Hals – dann wurde alles schwarz.

KAPITEL 1

Die Einschulung

Morgensonne fiel auf die großen Fensterscheiben und hob unzählige Schlieren und fettige Fingerabdrücke hervor. Es war noch nicht einmal halb zehn und bereits jetzt war es hier unerträglich heiß.

Hier – das war die Mensa der Gesamtschule Schöneburg. Warum der kleine Ort am Rhein ausgerechnet Schöneburg hieß, wusste niemand. Es gab weit und breit keine Burgen, weder schöne noch hässliche. Was es gab, war ein großes Schulgelände mit vielen länglichen Betonklötzen. Und in dem neuesten Klotz befand sich eben jene heiße und verschmierte Mensa. Genau genommen war es allerdings eher ein Klötzchen: Für eine Schule von über tausend Schülern wäre der Raum nämlich nur dann annähernd groß genug, wenn sich alle Mensabesucher wie Stapelchips übereinanderlegten.

Irgendwie war es trotzdem gelungen, an die hundert Kinder mit ihren Eltern hinein zu quetschen. Manche Familien rutschten schwer atmend auf den verschwitzten Stühlen hin und her. Andere benutzten zerknitterte Liedzettel als Fächer. Aus der Küche heraus brummte ein Generator, mal leiser, dann wieder lauter und zwischendurch kreischend. Es klang nach einer überforderten Klimaanlage am Ende ihrer Kräfte. Ihr gequältes Arbeitslied vermischte sich mit den Begrüßungsworten des Schulleiters zu einem unverständlichen Geräuschmischmasch.

Herzlich willkommen an der Gesamtschule Schöneburg

…stand handgeschrieben auf einem Banner, das schief an der vorderen Wand pappte. Es war der einzige Farbklecks in dem ansonsten grauen Raum; selbst Tische und Stühle waren aus grauem Plastik.

Der Schulleiter hatte offenbar seine Rede beendet, denn er trat vom Rednerpult zurück. Er musste auf einem Podest gestanden haben, denn jetzt war der kleine, untersetzte Mann von den hinteren Reihen aus nicht mehr zu sehen. Stattdessen schlurften ältere Schüler nach vorn und hielten Schilder mit den Buchstaben A bis F in die Höhe.

Daniel streckte sich. Sitzen, warten, zuhören, warten, so war bislang der gesamte Morgen verlaufen, erst in der Kirche und jetzt hier. Er gähnte ungeniert. Rings herum begann ein allgemeines Stühlerücken und Übereinanderklettern. Jeder wollte so schnell wie möglich dem stickigen Treibhaus entkommen. An der Tür staute sich eine Traube von Menschen, die alle durcheinanderriefen, sich anrempelten und sämtliche Ordnungsversuche der anwesenden Lehrer übertönten. Großartig. Wenn die Schüler so ähnlich drauf waren wie ihre Eltern… Nur allmählich fanden sich die Gruppen, die zusammengehörten. Schließlich folgte die neue 5a ihrem Schild auf den Hof hinaus, während ihre Eltern sich zum Parkplatz aufmachten. Daniel legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Ein paar Kabel ragten aus dem Metallgitter, durch das man die Lüftungsschächte und Rohre sehen konnte. Hässlicher gings nicht. Wie war er bloß hier gelandet?

Vorne sammelte sich inzwischen die neue 5b und verließ die Mensa ebenfalls. Daniel sah sich genauer um: Roher Beton wohin man schaute, und Fenster, an denen noch Fetzen der blauen Schutzfolie klebten. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie sauber abzuziehen.

„Wie lange denn noch?!“

Neben Daniel saß Didi. Sie kannten sich aus der Grundschule und wohnten nur zwei Straßen auseinander. Didi war klein und ein wenig pummelig, und mit seinen blonden Locken sah er für Daniel immer ein bisschen aus wie ein Hobbit. Sein Gesicht war knallrot, und er hing völlig lustlos und etwas weinerlich auf seinem Stuhl. Seine Mutter zog ihn unzufrieden am Kragen. „Setz dich doch mal richtig hin.“

Didi sackte ganz auf den Boden und stöhnte.

Die dritte Klasse marschierte im Gänsemarsch hinaus.

„Komm, wir sind dran“, sagte Daniel mit einem Anflug von Aufregung. Didi rappelte sich vom Boden auf. Sie winkten ihren Eltern und folgten endlich dem Schüler mit dem Schild „5d“ nach draußen.

Daniel atmete tief ein. Die frische Luft war eine Wohltat.

Der Schulhof war es nicht: Sie überquerten einen harten Acker, der nicht einmal mehr einen Gedanken an Grün zuließ. Dahinter sperrte ein Bauzaun einen ganzen Gebäudeteil ab. Sie hielten sich rechts davon und betraten eine Pausenhalle. Etliche gesplitterte Fensterscheiben sprangen Daniel ins Auge, Stockflecken wucherten auf den Wänden wie eine fortschreitende Krankheit. Die Mensa schien das einzig neue Stück auf dem gesamten Schulgelände zu sein. Vielleicht hatte man sie so roh und unfertig gelassen, damit sie äußerlich besser zum verfallenden Rest der Schule passte…

Daniel sah sich unter seinen neuen Mitschülern um. Besonders glücklich wirkte niemand. Vor allem von den Mädchen blickten einige eingeschüchtert auf ältere Schüler oder auf obszöne Graffitis voller Beleidigungen. Ich will hier nicht hin, dachte Daniel. Warum war es ein Naturgesetz, dass Schulen meist nicht viel ansprechender waren als der nächstbeste Knast? Der Militärstacheldraht auf dem Fahrradkäfig wirkte da schon wie die passende Deko. Auf dem Vordach der Pausenhalle ragten 15 Zentimeter lange Metallspitzen in die Höhe. Sollten damit Menschen oder Tiere abgehalten werden? So etwas gehörte doch nicht in eine Schule. Fehlte ja nur noch das Blut daran…

Daniel riss seinen Blick los. Immerhin hatte er eine neue Klasse, 26 potenzielle Freunde. Oder Feinde. Er unterschied beim ersten Scannen der Gesichter zwei Typen: Diejenigen, die enttäuscht waren, weil sie, wie Didi neben ihm, bis zuletzt gehofft hatten, doch einen Brief aus Hogwarts zu erhalten. Und dann all jene, die gleichgültig hinnahmen, was sie sahen, weil sie nie etwas anderes erwartet hatten.

Und er selbst? Daniel schob seine langen blonden Haarsträhnen hinters Ohr. Zwar hatte sein Bruder, der in die siebte Klasse ging, schon dafür gesorgt, dass er ohne große Erwartungen hier antrat. Aber abfinden konnte er sich nicht so einfach damit. Am liebsten hätte er an Ort und Stelle einen Vorschlaghammer genommen und die maroden Mauern eigenhändig eingerissen. Zu einem dramatischen Soundtrack wie „Duel of the Fates“ aus Star Wars würde er durch die Türe treten und erst aufhören, auf die heruntergekommene Einrichtung einzudreschen, wenn kein Stein mehr auf dem anderen stand.

Er grinste in sich hinein.

„Was ist so lustig?“, fragte Didi.

„Gar nichts.“

Sie erreichten ihren Klassenraum und verteilten sich auf die Plätze. Daniel saß wieder neben Didi. Mit dem besten Freund an der Seite waren die vielen neuen Gesichter und die öde Umgebung etwas besser zu verkraften. Er war wirklich froh, nicht völlig allein zu sein. Viele seiner neuen Mitschüler liefen suchend durch die Klasse, stritten sich um Sitzplätze oder beäugten einander misstrauisch. Es dauerte eine ganze Weile, bis Ruhe einkehrte. Schließlich aber hatten alle einen Stuhl und sahen erwartungsvoll zur Lehrerin.

„Herzlich willkommen. Ich bin Frau Strick, eure neue Klassenlehrerin…“

Frau Strick war groß und trug die Haare seltsam asymmetrisch: links Dauerwelle, rechts modischer Kurzhaarschnitt. „Ich bin neu an der Schule, genau wie ihr, also gucken wir jetzt mal gemeinsam, was so auf uns zukommt. Ich freu mich jedenfalls, dass wir hier zusammen starten in unser, ähm, Abenteuer Lernen…“

Sie sprach nicht unfreundlich, aber mit einer hohen, nervigen Mädchenstimme. Und sie war irgendwie farblos; wenn er woanders hinschaute, hatte er sofort vergessen, wie sie aussah. Bis auf die Frisur, die schwebte dann in seiner Vorstellung auf einem gesichtslosen Kopf durch die Luft…

„Vielleicht fangen wir mit ein paar Spielen an, damit wir die Namen lernen…“

Daniel kannte außer Didi noch zwei Leute aus der Grundschule, ein Mädchen namens Jeanette und einen Jungen namens Rocko. Von beiden hatte er sehr gehofft, dass sich ihre Wege trennen würden. Jeanette hatte regelmäßig ihre Mitschüler beklaut und beschimpft, Rocko hatte am liebsten in der Pause die Erstklässler verprügelt.

„Hi, ich bin Didi“, begann Didi die Vorstellungsrunde.

Frau Strick runzelte die Stirn und überflog eine Liste. „Du stehst hier gar nicht…“

„Versuchen Sie’s mit Dietrich“, sagte Didi, der sich immer nur mit seinem Spitznamen vorstellte und auf seinen vollständigen Namen so gut wie nicht reagierte.

„Ah ja…“ Frau Strick winkte zum Zeichen, dass sie fortfahren sollten.

Ein blasser Junge mit braunen, ungekämmten Haaren war als Nächstes dran. „Hallo, ich bin Matte…“, er verschluckte sich und setzte erneut an „Matteo…“, doch es war bereits zu spät.

„Matte!“, rief Rocko feixend. „Matte mit ner Matte auf dem Kopf!“ Ein paar lachten. Daniel runzelte die Stirn. Der Junge sah schon ein wenig ungepflegt aus, und seine Haare waren auf ihre Weise sehr viel schlimmer als die von Frau Strick. Trotzdem…

Matteo lief knallrot an und öffnete den Mund, doch seine Erwiderung ging unter in dem kreischenden Alarm, der unversehens aus den Durchsagelautsprechern schepperte.

„Feuer!“, grölte Jeanette, packte ihre Tasche und rannte nach draußen.

Der Rest der Klasse schaltete nicht so schnell wie sie. Daniel sah nur Didi an, der sich die Ohren zuhielt. Plötzlich, wie auf Befehl, sprangen sie alle gleichzeitig auf und folgten Jeanette in völligem Durcheinander. Frau Strick schrie gegen die lärmenden Schüler und die plärrende Alarmsirene an, aber niemand hörte auf sie. An den Ausgängen gab es einiges Gerangel, Kanten von Schultornistern wurden versehentlich in ängstliche Gesichter gerammt und mehrere Leute stolperten über fremde Füße. Irgendwie gelang es trotzdem, dass sie alle unter demselben vertrockneten Baum auf dem Hof ankamen.

Frau Strick hielt ihre Liste umklammert und versuchte immer wieder, die Klasse zu zählen.

„Zwölf, nein dreizehn, bleibt doch mal stehen, jetzt muss ich von vorne anfangen!“

„Wo brennt es denn jetzt?“, fragten einige, während andere die Hälse reckten, um Rauch oder Flammen zu entdecken.

„Vermutlich hat jemand die Schule angezündet“, sagte Daniel und konnte die Hoffnung in seiner Stimme nicht unterdrücken.

„Vielleicht ist auch die Klimaanlage in der Mensa durchgeschmort“, vermutete Didi.

„Oder dieses komische Glasdach in der Aula ist zum Brennglas geworden. Ihr wisst schon, dieses gewölbte Dach, was aussieht wie ein Treibhaus“, überlegte ein Junge, der neben ihnen am Baum lehnte. „Hi, ich bin übrigens Milan.“

Milan hatte fast so lange Haare wie Daniel und einen durchdringenden Blick. Wie der Sohn eines genialen, aber irren Wissenschaftlers, dachte Daniel.

„Wenn alles abfackelt, müssen sie erstmal eine neue Schule bauen, und wir haben frei…“

„Quatsch, dann müssen wir monatelang in Turnhallen Unterricht machen und auf dem Boden sitzen.“

„Ey, das ist so typisch, ich schwör, das war so klar…“

Daniel, Didi und Milan drehten sich um. Ein großes, blondes Mädchen hatte gesprochen. Sie verschränkte die Arme und funkelte wütend in Richtung Schulgebäude.

„…war so klar. Ey hundert pro sind das Terroristen, die haben hier letztens schon was angezündet und letztes Jahr sind hier Schüler verschwunden und so…“

Milan tippte dem Mädchen auf die Schulter. Sie sah ihn an, als sei er persönlich für alles verantwortlich und auf jeden Fall ein Terrorist.

„Was?!“, fauchte sie.

„Wie heißt du?“, wollte Milan wissen.

„Jule.“

„Hi. Äh, redest du immer so einen Haufen Scheiße?“

Daniel fühlte eine plötzliche Sympathie für Milan in sich aufsteigen.

„Hä, was willst du?“

„Das stimmt wirklich“, mischte sich ein dickes Mädchen mit Brille ein. „Das mit den Schülern. Hier sind letztes Jahr welche verschwunden.“

Daniel erinnerte sich dunkel, dass sein Bruder etwas in der Richtung erzählt hatte, die Einzelheiten waren ihm aber entfallen. Außerdem verhinderte Jule, dass er richtig nachdenken konnte:

„Ich hab keinen Bock zu verbrennen oder explodiert zu werden, ich wollte eh nicht auf diese Scheißschule…“ Jule sprach so laut, dass die gesamte Klasse mittlerweile zuhörte.

„Ooh, war da jemand nicht schlau genug fürs Gymnasium?“, fragte Milan mit gespieltem Mitleid.

„Aber du!“, schnappte Jule.

„Klar“, sagte Milan und lehnte sich betont lässig gegen den Baum. „Aber wozu sich da anstrengen, wenn ich hier neben `nem Haufen von Idioten alles ganz easy kriege?“

Daniels Sympathie für Milan schwand wieder. Das klang etwas zu arrogant, um lustig zu sein.

In diesem Moment verstummte der Feueralarm und die Pausenglocke setzte ein. Frau Strick atmete erleichtert auf und die Klassen bewegten sich zurück in ihre Räume.

„War bestimmt nur falscher Alarm…“

„Vielleicht auch ein Streich…“

Wieder in ihrem Klassenzimmer, setzten sie ihre begonnene Vorstellungsrunde fort. Es folgten unendlich viele Organisationshäppchen: Bücher, Hausaufgabenplaner, Regeln, Stundenplan, Dienste, und all das zog sich quälend in die Länge, weil bei jeder Gelegenheit irgendjemand dazwischenrief, aufstand, etwas fallen ließ, zerbrach oder einen Streit anfing.

Am Ende des Tages wusste Daniel zwei Dinge mit völliger Gewissheit: Seine Klasse war der absolute Inbegriff von Chaos. Und Frau Strick war nicht im Geringsten in der Lage, daran irgendetwas zu ändern.

Didi und er schoben ihre Räder auf dem Heimweg. Sie unterhielten sich wenig, beide hingen müden Gedanken nach. Vor Didis Haus wollte Daniel sich verabschieden.

„Ach warte mal“, sagte Didi. „Ich wollte da noch was nachgucken. Komm mal mit.“

In seinem Zimmer angekommen, zog Didi eine große Kiste aus dem Schrank hervor. Sie war vollgestopft mit Zeitungen.

„Machst du das immer noch?“, fragte Daniel. Ihm hatte noch nie eingeleuchtet, weshalb Didi einen Haufen Altpapier in seinem Schrank aufbewahrte.

„Klar, meine Sammlung wächst.“

„Aber warum? Ist doch alles online.“

„Ja, aber so behalt ich den Überblick.“

„Mhm“, machte Daniel und beobachtete seinen Freund, wie er sich durch zerfledderte Zeitungsseiten wühlte. Didi war ein schlauer Kopf, wenn auch oft etwas träge und weinerlich, passend zu seiner näselnden Sprechweise. Egal wie unsinnig Didis Verhalten also wirken mochte, Daniel vertraute darauf, dass er einen guten Grund dafür hatte.

„Was suchst du überhaupt?“, fragte er dennoch nach ein paar Minuten.

Didi antwortete nicht, sein Lockenkopf war halb in der Kiste verschwunden.

„Da, wusste ich doch“, rief er und ließ sich auf den Rücken fallen, einen Artikel zwischen den Fingern.

Daniel schnappte ihn sich und las:

Mysteriöses Verschwinden an der Gesamtschule

Am Dienstagmorgen gegen 10: 15 verschwanden drei Teenager bislang ohne jede Spur. Sie besuchten die Gesamtschule Schöneburg, in deren Räumlichkeiten sie sich zur genannten Zeit aufhielten. Mitschüler berichten, die drei Schüler der Oberstufe um kurz nach 10 Uhr noch gesehen zu haben. Eine Augenzeugin schildert ein helles Licht, das aus dem Raum gekommen sein soll. Die Spurensicherung konnte später allerdings keinerlei Hinweise auf einen besonderen Vorfall sicherstellen. Eine Lehrkraft meldete anschließend die Abwesenheit der Schüler. Mittlerweile liegt der Polizei eine Vermisstenmeldung vor. Die Beamten schließen sowohl einen Unfall als auch ein Verbrechen nicht aus. Denn nicht nur der Verbleib der Schüler, auch das Wie und Warum sind noch völlig unklar. Einzige Konsequenz der Schule ist die einstweilige Schließung des betroffenen Gebäudetrakts. Die Raumnot der baufälligen Schule wird dadurch noch vergrößert. (Siehe Reportage S. 12).

Daniel kamen der Bauzaun und der geschlossene Gebäudetrakt dahinter wieder in den Sinn. Sie waren heute Morgen daran vorbeigelaufen. Er hatte nichts Ungewöhnliches bemerkt. Was konnte dort geschehen sein? Ein helles Licht, das die Schülerin gesehen hatte…

„Denkst du, es war eine Art Explosion?“, fragte er Didi.

„Keine Ahnung. Dann hätten die doch was gefunden. Die Spurensicherung, meine ich.“ Didi lag noch immer auf dem Rücken, alle Viere von sich gestreckt.

„Also was dann? Aliens, oder was?“

„Würde auf jeden Fall erklären, wieso die Schüler spurlos verschwunden sind.“

Daniel las den Artikel erneut. Ein helles Licht, drei Teenager verschwinden und keiner konnte sagen, wie und wohin…

„Dann waren es vielleicht irgendwelche Geräte, die das Licht verursacht haben? Die Schüler haben sie benutzt und hinterher wurden sie gestohlen… oder so?“

Daniel fand seine eigenen Überlegungen nicht sehr wahrscheinlich. Das Rätsel gab aber auch zu wenig Anhaltspunkte. Vielleicht waren die Schüler bloß abgehauen und das Licht…das Licht hatte es womöglich nie gegeben? Die Schülerin hatte sich bestimmt nur etwas eingebildet oder ausgedacht. Das war doch meistens so, dass eine ganz einfache Erklärung hinter den Dingen steckte. Aber nicht IMMER, beharrte eine Stimme in ihm. Manchmal gab es seltsame Vorkommnisse, verrückte Geschichten, die nie geklärt werden konnten.

„Ich glaub nicht, dass in dieser Schule irgendwas rumstand, was irgendjemand stehlen würde“, überlegte Didi und rollte sich auf die Seite. „Mein Opa sagt außerdem immer, wenn die Hälfte von dem stimmt, was in den Medien steht, dann ist das viel. Wahrscheinlich stimmt nur das mit den zu wenigen Räumen.“

Daniel lachte. Damit hatte Didi vermutlich recht. Stacheldraht hin oder her, die ganze Schule machte nicht den Eindruck, als gäbe es auch nur ein einziges Teil, das irgendwie wertvoll war, geschweige denn eine lohnende Beute, egal für wen …

Das Rätsel jedoch nagte weiter an ihm: Verbarg sich in seiner neuen Schule am Ende mehr, als der bröckelnde Putz und die obszönen Graffitis vermuten ließen?

KAPITEL 2

Heimweg mit Hindernissen

Milena stand mit überkreuzten Beinen an der Bushaltestelle. Sie kreuzte die Füße immer, wenn sie nervös war. Und mit jeder Minute wuchs ihre Nervosität. Sie hatte ihren ersten Schultag an der neuen Schule überstanden, und jetzt war ihre erste Busfahrt dran. In ihrem Dorf gab es genau eine Haltestelle und es fuhr auch nur ein Bus – zweimal am Tag. Entsprechend zuversichtlich hatte sie sich von der Schülermenge mittragen lassen und war am zentralen Busbahnhof gelandet: Nicht wissend, dass es zwei weitere große Haltestellen gab, nicht wissend, dass alle Linien unterschiedliche Routen fuhren, nicht wissend, wieso sich ab dem Schellen der Schulglocke die Schüler erbitterte Wettrennen in alle Richtungen lieferten.

Aber jetzt dämmerten ihr all diese Dinge. Ein Bus nach dem anderen war in die Bucht eingefahren und vollbesetzt wieder abgefahren. Ältere Schüler prügelten sich, wenn nötig, nach vorne, um die begehrten Sitzplätze zu belegen. Der Rest drängte sich im Gang und gegen die Türen gepresst.

Milenas Bus war nicht vorgefahren. Hatte sie ihn im Gewühle übersehen? Sie lief die einzelnen Wartehäuschen ab und kontrollierte die Fahrpläne. Nicht alle waren lesbar, manche waren beschmiert oder herausgerissen. Ihre Linie war nicht dabei.

Ob sie eine andere Haltestelle aufsuchen sollte? Aber welche? Und, stellte sie mit wachsender Panik fest, so gut kannte sie sich in der Stadt gar nicht aus. Und vermutlich war der Bus ohnehin längst weg. Sie spürte, wie ein Kloß ihr gegen die Kehle drückte, ein Kloß, der ihr außerdem ein Brennen in die Augen trieb. Sie schluckte ein paar Mal kräftig. Weinend an der Straße zu stehen, brachte ja auch nichts. Wie konnte es sein, dass alle anderen genau wussten, was sie machen mussten? Wieso stand sie als einzige verloren und vergessen auf dem heißen Bordstein? Das war ein fürchterlicher erster Schultag. Zuerst diese wüste Klasse und jetzt… Wenn sie wenigstens nicht als einzige die Sache mit dem Bus falsch gemacht hätte. Wenn es noch andere Schüler gäbe, die suchend und ratlos hier umherirrten, dann hätten sie vielleicht gemeinsam eine Lösung gefunden.

Aber außer ihr war inzwischen kaum noch jemand da. Ein paar ältere Schüler saßen in einer Ecke und sahen überhaupt nicht aus, als warteten sie auf einen Bus. Dann war da noch ein Junge, der auf der Bordsteinkante hockte und mit einem Stein über das Pflaster ritzte. Milena erkannte ihn wieder. Es war der ungekämmte Junge aus ihrer neuen Klasse, den sie „Matte“ getauft hatten.

Sie bewegte sich ein paar Schritte auf ihn zu.

„Du bist doch auch in meiner Klasse“, sagte sie vorsichtig.

Matteo sah kurz auf, nickte und schaute wieder auf seinen Stein. Milena fand, dass er unglaublich traurige Augen hatte.

„Wartest du auch noch auf den Bus?“

Matteo schüttelte den Kopf, seine Haare sträubten sich noch mehr. Milena setzte sich neben ihn. Eine Weile sagte niemand etwas, nur das Kratzen von Stein auf Stein war zu hören. Milena versuchte zu lesen, was Matteo da ritzte, doch soweit sie sehen konnte, war es nur irgendwelches Gekritzel.

Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen, überlegte Milena. Sie hatte Schicht im Krankenhaus bis abends, aber danach könnte sie sie abholen. Falls sie überhaupt erreichbar war. Wenn sie im OP gebraucht wurde, konnte es Stunden dauern, bevor sie wieder auf ihr Handy sah. Bis dahin sollte sie vielleicht besser in die Schule zurückgehen. Ob die so spät geöffnet blieb? Oder sie könnte laufen. Wie lange würde sie wohl brauchen? Und wenn sie den Weg nicht fand?

Sie verharrte stattdessen neben ihrem neuen Mitschüler und fragte: „Wo wohnst du?“

„Beekfeld“, sagte Matteo. „Da bei den Baumärkten“, fügte er hinzu.

Milena hatte nur eine ganz ungefähre Ahnung, wo das war, aber sie fragte nicht weiter. Wieder schwiegen sie eine Zeit lang. Matteo war nicht gerade eine aufmunternde Gesellschaft, aber besser als niemand. Er griff nach seiner Schultasche und kramte ein wenig darin herum. Milena sah einen zerfransten Collegeblock und die Bücher, die sie heute bekommen hatten. Doch Matteo suchte nicht nach Schulsachen, sondern zog eine Schachtel Zigaretten heraus.

„Die soll ich ein paar älteren geben“, erklärte er. „Keine Ahnung, wo die bleiben…“

„Woher hast du die?“, fragte Milena. Sie hatte noch nie Mitschüler mit Zigaretten getroffen.

„Von zu Hause.“

„Von deinen Eltern?“

„Sind nicht meine richtigen Eltern“, sagte Matteo, als sei damit alles erklärt.

„Merken sie nicht, wenn die weg sind?“ Milena zeigte auf die Schachtel mit dem gruseligen Foto schwarzer und schleimiger Organe.

Matteo zuckte die Schultern. „Manchmal.“

Die Schüler in der Ecke schulterten ihre Rucksäcke und verließen die Haltestelle. Milena sah ihnen nach, sie verschwanden auf der anderen Straßenseite in einem Pizza-Imbiss. Matteo und sie waren nun die Einzigen in der Haltebucht. Am liebsten wäre sie auch gegangen.

„Wenn die nicht kommen, soll ich die Schachtel in dem Baum da verstecken“, sagte Matteo. Er zeigte auf eine alte Linde am Straßenrand. Unter einem dicken Ast, etwa auf Augenhöhe, hatte er ein großes Loch und war dahinter ausgehöhlt.

„Und wenn du das nicht machst?“, schlug Milena vor.

„Wenn ich keine mitbringe, verprügeln sie mich.“ Er sagte es leichthin, als bedeutete es nichts. Dann nahm er den Stein wieder auf und kratzte dicke, weiße Linien.

Milena sah ihn lange an, doch Matteo starrte stur auf sein Gekritzel.

„Hast du es deinen Eltern gesagt?“, fragte sie irgendwann. Sie fühlte sich zunehmend unwohl in seiner Gegenwart. Seine ganze Art bedrückte sie, und das mischte sich mit ihren eigenen Sorgen, nicht nach Hause zu kommen.

„Geht ja nicht“, sagte Matteo und kratzte so fest über den Asphalt, dass es schrill knirschte. „Dann müsste ich ja meinen Pflegeeltern sagen, dass ich ihnen Kippen klaue…“

Die aufgeheizten Steine drückten Milena schmerzhaft durch ihre dünne Hose. Sie stand auf. Von der anderen Straßenseite näherte sich ein blondes Mädchen mit einem Hund. Es war eine riesige graue Dogge, die dem Mädchen bis zur Brust reichte. Milena erkannte das Mädchen wieder, sie war bei dem falschen Feueralarm heute als erste rausgestürmt. Aber sie hatte ihren Namen vergessen. Mädchen und Hund trotteten herüber und bauten sich vor ihnen auf.

„Ey, Matte!“, sagte das Mädchen. Etwas Aufforderndes lag in ihrem Blick.

„Hey, Jeanette“, erwiderte Matteo, ohne aufzusehen. Die Dogge schnüffelte an seinem Rucksack und sabberte ausgiebig darüber.

Jeanette schob die Tasche mit dem Fuß aus der Reichweite der Hundeschnauze. „Was ist mit den Kippen?“, fragte sie fordernd. Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme für ihr Alter, was sie selbstbewusster erscheinen ließ. Milena kreuzte wieder die Beine. Jeanette beachtete sie mit keinem Blick, aber Milena war nicht böse darum.

„Die geb‘ ich nachher Erik und so“, nuschelte Matteo vor sich hin.

„Die sind am Sportplatz, ich bring die vorbei“, sagte Jeanette und hielt die Hand auf.

„Nein, ich tu die gleich in den Baum“, sagte Matteo trotzig und kratzte noch etwas rigoroser.

„Ich komm da eh vorbei…“

Die beiden fingen an, sich lautstark zu zanken. Die Dogge knurrte leise und Milena wich ein paar Schritte zurück. In diesem Moment fuhr ein großes blaues Auto in die Haltebucht und hielt ein Stück neben Milena. Alle Fenster auf ihrer Seite wurden heruntergekurbelt und drei Köpfe sahen heraus.

„Sollen wir dich mitnehmen?“

Zwei Köpfe gehörten Mädchen aus Milenas neuer Klasse. Aus dem vorderen Fenster schaute eine lächelnde Frau, vermutlich die Mutter von einem der Mädchen.

Milena kam zögerlich näher.

„Ihr seid doch in derselben Klasse, oder?“, fragte die Frau. „Melina, richtig?“

„Milena“, piepste Milena.

„Die Busse sind alle weg, wo musst du denn hin?“

Milena trat ganz ans Auto heran. „Nach Kleinfeld. Aber…“

„Das liegt am Weg, wir wohnen nur einen Ort weiter.“

Milena sah sich zu Matteo um. Er war aufgestanden und beäugte die Dogge unsicher, während Jeanette wüst auf ihn einredete. Dann nahm sie ihm die Schachtel ab und steckte sie ein.

Milena traf ihre Entscheidung schnell: „Danke“, sagte sie und setzte sich zu den anderen beiden auf die Rückbank. Eine gewaltige Erleichterung überkam sie – weg von Jeanette und ihrer Dogge, weg von Matte und seinen Zigaretten und vor allem weg von der heißen Bushaltestelle… Sie kramte in der Tasche nach ihrem Haustürschlüssel. Als sie ihn fand, steckte sie ihn tief in ihre Hosentasche.

„Ihr kennt euch ja schon, aber vermutlich nur flüchtig, was?“ Die Frau sah sie über den Rückspiegel an.

„Annika…“

Das Mädchen neben Milena begrüßte sie.

„…und meine Tochter, Michelle…“

„Hi“, sagte Michelle.

Milena hätte sie glatt für Geschwister gehalten. Beide hatten lange braune Haare, dunkler als Milenas. Annika war ein wenig kräftiger als Michelle, sie hatte runde Wangen und eine schon etwas weiblichere Figur als die meisten in ihrem Alter. Milena selbst war ebenfalls recht groß, aber dünn und drahtig.

„…auf jeden Fall waren die alle total laut und respektlos!“, sagte Annika. Sie steckten offenbar mitten in einer lebhaften Beschreibung des Vormittags.

„Am schlimmsten war der Dicke“, fand Michelle.

„Wie hieß der, Rocko?“

„Nee, dieser Mats war schlimmer…“

„Ja, der ist nur rumgerannt, einfach die ganze Zeit, wie so ein irres Eichhörnchen!“

Alle lachten. Milena lehnte den Kopf an die Scheibe. Der kühle Fahrtwind war angenehm. Sie fuhren jetzt aus der Stadt heraus und eine Landstraße entlang. Die Felder und Wiesen waren gelb und strohig, in einiger Entfernung funkelte das Flusswasser verlockend. Vielleicht würde die Klasse sich ja beruhigen, wenn erst einmal alle richtig angekommen waren, wenn sich Freunde gefunden hatten…

„Und diese Jule hat einfach nur alle angezickt und Jeanette hat rumgebrüllt und dann ihren Apfelsaft auf dem Teppichboden ausgekippt.“

„Ist denn wenigstens eure Klassenlehrerin nett?“

Sofort stürzten sich die Mädchen wieder in ihre Erzählungen.

„Geht so, sie sieht aus wie eine halb rasierte Kuh.“

„Sie ist irgendwie überfordert…“

„Außerdem hat sie…“, begann Michelle, doch sie stoppte mitten im Satz. Einen Moment lang wunderte sich Milena nur, wieso sie nicht weitersprach, dann sah sie, dass Michelle die Augen nach innen verdrehte und unkontrolliert am ganzen Körper zuckte.

Das Auto kam mit knirschenden Bremsen zum Stehen, zwei Reifen auf dem trockenen Randstreifen. Michelles Mutter sprang vom Sitz, riss die hintere Tür auf und drückte ihrer Tochter den Kopf in den Nacken. Mit Annikas Hilfe legte sie Michelle ausgestreckt auf die Rückbank, während das Mädchen weiterhin wild zitterte und zuckte. Milena stand wie angewurzelt neben dem Auto und wusste nicht, was sie tun oder lassen sollte.

Nach einigen Minuten ließen die Zuckungen nach. Michelle hatte die Augen geschlossen, aber sie atmete ruhiger. Ihre Mutter seufzte.

„Zum Glück nur ein kurzer Anfall“, sagte Annika. Sie schien weder erschrocken noch überrascht.

„Michelle hat Epilepsie“, erklärte Michelles Mutter und tupfte ihr mit einem Taschentuch das Gesicht ab. „Sie bekommt manchmal solche Anfälle, ist eine Art Störung im Gehirn. Meistens gehen sie schnell wieder vorbei. Wenn sie mal länger dauern, müsst ihr einen Krankenwagen rufen…“

Milena nickte stumm. Sie war sich nicht sicher, ob sie überhaupt handeln könnte, wenn sich der Vorfall wiederholen sollte – wenn Michelle so mir nichts, dir nichts, mitten im Satz …

„Deshalb möchte ich nicht, dass sie mit den überfüllten Bussen fährt“, erklärte Michelles Mutter weiter. „Wenn du möchtest, können wir dich also öfters mitnehmen.“

„Danke“, sagte Milena leise. Sie hatte tausend Fragen, traute sich aber nicht recht, sie zu stellen. Michelle richtete sich langsam wieder auf. Sie drückte die Hand gegen die Stirn und sah erschöpft aus.

„Das nervt“, sagte sie irgendwann. „Naja, besser jetzt als in der Klasse. Können wir weiterfahren?“

Bevor jemand antworten konnte, wurden sie abgelenkt: Ein schwarzes Auto kam die Straße herauf, der Lack blitzte in der Sonne. Alle vier beobachteten, wie der Wagen langsamer wurde und dann fast lautlos neben ihnen stehen blieb. Eine getönte Scheibe wurde heruntergelassen und ein blasser Mann mit spitzem Gesicht lehnte sich ein Stück heraus. Er war grauhaarig und trug einen dunklen Anzug.

Er lächelte sie an, doch irgendetwas an ihm gab Milena ein seltsames Unbehagen. Auch Annika und Michelle schienen so zu empfinden, wobei Michelles bleiche Farbe ihrem Anfall geschuldet sein mochte.

„Braucht ihr Hilfe?“, fragte der Mann, konstant lächelnd. Michelle schüttelte stumm den Kopf. Fahr weiter, dachte Milena, fahr einfach weiter. Sein ununterbrochenes Lächeln irritierte sie, wer verhielt sich denn so?

„Ihr seid bestimmt von der Gesamtschule?“, sagte er zu Annika.

Annika nickte kaum merklich.

„Wir müssen nach Hause“, schaltete sich Michelles Mutter ein und schob sie alle zurück in den Wagen.

„Wir werden uns dann sicherlich bald sehen“, sagte der Mann, lächelte noch ein wenig breiter und ließ die Scheibe wieder hochfahren. Milena war froh, als sein Gesicht hinter dem getönten Glas verschwand, doch hatte sie das sichere Gefühl, dass er sie weiter beobachtete, bevor er schließlich langsam davonfuhr.

„Komischer Kauz“, murmelte Michelles Mutter, während sie ihrerseits die schwarze Limousine im Rückspiegel fixierte.

„Was meinte er damit, dass wir ihn dann bald sehen?“, fragte Milena beunruhigt.

„Vielleicht ist er ein Lehrer…“

„Oh, bloß nicht“, riefen die Mädchen gleichzeitig.

Nicht lange danach bogen sie in Milenas Straße ein. Erst als sie auf den Türstufen vor ihrem Haus stand und zum Abschied winkte, merkte sie, wie müde sie war. Sie konnte nur hoffen, dass, wenn schon die Klasse ein ungezähmter Haufen war, wenigstens die Heimwege in Zukunft ruhiger verlaufen würden.