Jürgen Seidel

Die Rettung einer ganzen Welt

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Jürgen Seidel

Jürgen Seidel, geboren 1948 in Berlin, studierte Germanistik und Anglistik und war lange Jahre als Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf im Bereich »Theorie und Praxis des Schreibens « tätig. Seit 1999 arbeitet er als freier Autor und hat unter anderem mehrere erfolgreiche Jugendbücher veröffentlicht. ›Die Rettung einer ganzen Welt‹ ist sein erster Roman für Erwachsene. Jürgen Seidel lebt mit seiner Familie in der Nähe von Bonn.

Über das Buch

Begonnen hatte es damit, dass die Berliner Familie ihr Wohn- und Geschäftshaus in Mitte von einem auf den anderen Tag hatte verlassen und nach Moabit ziehen müssen. Es war Ende 1939 und der Vater war gezwungen worden, seinen Gemüsegroßhandel »aufzugeben«; einer seiner Kunden hatte das Geschäft »übernommen«. Sie, Bella, verstand nicht, was da eigentlich vor sich ging. Sie war fünfzehn und litt an einer Mittelohrentzündung ...

 

New York City, Ende der 90er-Jahre: Bei einem Familientreffen erinnert sich die Jüdin Bella Servos an ihre Jugend in Berlin, findet aber kaum mehr interessierte Zuhörer. Zeit und Geschichte sind über ihr Leben hinweggerollt, die Töchter längst in einer anderen Welt angekommen. Dabei gäbe es die Familie gar nicht, hätte der arabische Arzt Dr. Fareed während des Zweiten Weltkriegs Bella nicht vor der Deportation durch die Nationalsozialisten gerettet. Vor ihrem inneren Auge entsteht die Welt von damals: die Welt ihrer Eltern, ihrer Schulfreundinnen, ihres selbstlosen Retters und natürlich auch das Bild von Joost, ihrer großen Liebe ...

Impressum

Originalausgabe 2018

© 2018 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Quellenangabe des Zitats auf Seite 5 (der Print-Ausgabe):

© Alexander Kluge. In: Chronik der Gefühle. Band 1

Suhrkamp Verlag, 2000

Umschlaggestaltung: Wildes Blut, Atelier für Gestaltung,

Stephanie Weischer unter Verwendung eines Fotos

von Arcangel Images/ Malgorzata Maj

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43256-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26166-1

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423432566

Menschen hausen in ihren Lebensläufen.

Alexander Kluge

Hätte es damals in Berlin Dr. Fareed nicht gegeben«, sagte Louise für alle hörbar, »dieser kleine Saal wäre jetzt menschenleer.«

Ich hätte es als Erste sagen müssen, dachte Bella. Es ist meine Rolle, ich bin die Mom, die Grannie, die Überlebende!

Es gab Beifall. Bella klatschte halbherzig mit. Ihr fiel auf, dass Chelsey jedes Wort ihrer Mutter lautlos mitgesprochen hatte. Der Satz klang nach. Louise hatte es ganz gut gemacht. Jedenfalls nicht so kühl und mechanisch, wie es bei Grace vorhin geklungen hatte. Bella wiederholte den Wortlaut im Stillen – und sah wieder alles nah und klar vor sich. Mit so vielen Details. Und natürlich fiel ihr Joost ein. Joost Gattermann war tot! Ihr Joost! …

Dass sich Berlin mit allen Einzelheiten ihr in den Sinn zwängte, passierte auch sonst schon mal. Vor Kurzem in der Subway nach Brooklyn, da saß ihr ein Mädchen gegenüber, das aussah wie Sarah. Sofort hatte sie das Lyzeum vor sich gesehen, die Berliner Freundinnen. Irgendwelche Dinge lösten es aus. Bella wurde den Eindruck nicht los, dass es neuerdings öfter passierte als früher. So lange ist das alles her! Wirst du jetzt doch noch sentimental? Es ist das Alter! Es ist immer das verfluchte Alter!

 

Es war Sarahs Idee gewesen, Frau Lachmann »der Papagei« zu nennen. Die Direktorin des Charlottenburger Lyzeums trug einen grau durchwirkten Dutt, zugleich aber vier Ringe an den Händen, weshalb hinter ihrem Rücken damals auch schon mal getuschelt worden war. Die Breite ihrer Nase suggerierte einen ungewöhnlichen Abstand der Augen und gab ihr das Aussehen eines tropischen Vogels, den Bella in ›Brehms Tierleben‹ entdeckt hatte – mit der Folge eben, dass die Schulleiterin bei den Freundinnen irgendwann nur noch »der Papagei« hieß. Das Kinn stets angriffslustig vorgestreckt, war Frau Lachmann dennoch beliebt und jedenfalls freundlicher gewesen als viele ihrer Kolleginnen.

Gemeinsam mit siebzehn Mitschülerinnen (drei allein aus ihrer Klasse) hatte Bella vor Unterrichtsbeginn durch den Pedell die Mitteilung erhalten, sich »umgehend« in Frau Lachmanns Vorzimmer einzufinden.

Die Direktionssekretärin war eine genauso freundliche ältere Dame wie ihre Vorgesetzte. Sie begrüßte die Mädchen und ließ sie im Gänsemarsch an der brusthohen Diensttheke des Vorzimmers entlang das Lachmann’sche Büro betreten, wo man sich wie ein kleiner Chor zweireihig aufstellte. Die Direktorin sei noch unterwegs, werde aber jeden Moment eintreffen. Die Tür blieb offen.

Man hörte das Telefon läuten. Die Dame redete verhalten. Kurz darauf hörte man die Schreibmaschine, und wieder eine Minute später betrat sie den Raum, um eine Unterschriftenmappe auf den Schreibtisch zu legen. Als sie rausging, lächelte sie erneut.

Dann betrat Frau Lachmann das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Bella nahm auf Anhieb eine ebenso auffällige wie ungewohnte Unruhe an ihr wahr. Die Direktorin räusperte sich ein paarmal, stellte sich wie die Leiterin des kleinen Chors vor ihn hin und ließ einen Moment die Stille den Raum ausfüllen. Schließlich hüstelte sie noch einmal und begrüßte die Schülerinnen.

»Ich habe euch etwas mitzuteilen.« Ihre Stimme wollte sich nicht recht finden, sie hüstelte erneut, holte Luft, knetete die Hände. »Ihr dürft mir glauben, dass es mir nicht leichtfällt … Ich kann mich nicht entsinnen, als Pädagogin je zuvor in einer vergleichbaren Lage gewesen zu sein. Auch auf die Gefahr hin, mich selbst zu gefährden, muss ich euch gestehen: Ich schäme mich. Das Risiko meiner Offenheit gibt mir wenigstens das Gefühl, meine Menschlichkeit und Fairness so teuer zu verkaufen, wie es nur geht. Ich weiß einfach nicht, wie ich diese … Zumutung von euch abwenden soll.«

Sie blickte zu Boden. Ihre Worte, da war Bella sicher, hatten jedes der Mädchen angerührt, ja das eine oder andere mochte eine Spur Mitgefühl empfunden haben – was im Nachhinein verrückt, grotesk wirkte, wenn sie jetzt darüber nachdachte. Aber es war so. Da war für alle so etwas wie die flimmernde Ahnung einer Schicksalhaftigkeit spürbar gewesen, die Aura eines unabwendbaren, unausweichlichen Unglücks, das wie ein Blitzschlag auf sie alle niederfuhr, ohne dass die Natur, nicht einmal der Zorn eines Gottes, auch nur das Geringste damit zu tun gehabt hätten. Allein, dass die Direktorin den Chor geduzt hatte, war von Bedeutung. Im Unterricht wurden die Mädchen üblicherweise gesiezt.

»Ich will es kurz machen, Mädel: Ihr werdet der Schule verwiesen …«

Die letzten Worte waren von ihr hervorgezwungen worden.

»Ihr werdet morgen das letzte Mal meine Schülerinnen sein …«

Ihr Blick flüchtete irgendwohin, kehrte zurück, funkelte unsicher.

»Nein, anders: Ich muss euch von der Schule werfen … Wieder falsch: Ich werfe euch raus … Ich habe als Direktorin die Anweisung erhalten, alle jüdischen Schülerinnen vom Unterricht auszuschließen. Ihr werdet ab übermorgen eine andere Schule besuchen müssen. Nähere Angaben hierzu findet ihr auf einer amtlichen Mitteilung im Gitterkästchen unseres Foyers.«

Wieder versagte ihr die Stimme. Sie schaute abermals zur Seite, nach oben, auf die Bücherwand im Rücken der Schülerinnen, zur Deckenlampe, auf den Papierkorb neben ihr am Boden. Die Lippen waren dünn und grau.

»Ich weiß nicht, was für eine Zeit das ist, in der wir leben, und wie lange ich noch auf meiner Position werde bleiben können. Es tut mir unendlich leid …« Ihre Stimme löste sich auf. Mit einem Ruck wandte sie sich zur Tür, rief »Bitte verzeiht mir!« und eilte nach draußen.

Als Bella und die andern Mädchen nach einigem Zögern das Büro verließen, war das Vorzimmer verwaist. Aus der Schreibmaschine lugte ein begonnener Brief hervor. Leo, der betagte Dackel des »Papageis«, hob flüchtig den Blick und legte seinen Kopf auf die alte Wolldecke zurück.

Im Klassenzimmer kam Bella das soeben Erlebte unwirklich vor. Noch verrückter war, dass sie und die andern jetzt, wo sie doch eigentlich schon relegiert waren, immer noch am Unterricht teilnehmen mussten. Während die Geografielehrerin die Nebenflüsse der Oder hersagen ließ, grübelte Bella über Frau Lachmanns Mitteilung.

Der Aushang im Foyer verwies auf eine »jüdische Schule«, die ziemlich entfernt lag und wo man vermutlich niemanden kannte. Dass sie, Bella, übermorgen den Weg dorthin würde finden müssen und morgen hier ihr letzter Tag zusammen mit Leni, Sarah, Britt und den andern sein sollte, wollte ihr nicht in den Kopf. Das Lyzeum war so etwas wie ein Stück Zuhause, die Klasse eine Art Geheimbund – vielleicht nicht unter Einbeziehung aller, aber der meisten Mädchen. Man verteidigte einander gegen »Nichtklässler«, man kritisierte oder tadelte sich auch, natürlich, aber stets unter dem unausgesprochenen Vorbehalt der Freundschaft. Wohin sollte das alles mit einem Mal verschwunden sein?

Von den wenigen, die nie richtig hatten dabei sein wollen, fing Waltraut Vogt als Erste an, sich während der Stunde immer wieder nach Bella umzudrehen, mit einem Ausdruck, als sehe sie eine Fremde. Es folgten Astrid Stroh, Elke Niemeyer und ein Mädchen namens Juttchen, das erst kürzlich in die Klasse gekommen war und seither alle Freundschaftsangebote ausgeschlagen hatte.

»Beachte sie einfach nicht!«, flüsterte Leni, die es mitbekam.

Bis zum Ende der Stunde waren dann weitere zwei Mädchen hinzugekommen, die dauernd herschielten, auch nach den andren drei. Es störte, aber niemand sagte etwas, bis Sarah die Geduld verlor. Statt einen der Nebenflüsse zu nennen, sagte sie: »Wir sitzen hier zusammen wie immer, und mit einem Mal starren ein paar von uns ein paar andere an, als hätten die sich irgendwie verkleidet.«

»Schön, dass du dieses Bild wählst«, erwiderte die Lehrerin. »Ich denke, Bella und die anderen drei Mädel waren durchaus nicht die, die wir zu kennen glaubten. Jetzt haben sie ihre Verkleidung, wie du richtig sagst, abgelegt, und wir wissen, woran wir sind. Du scheinst darüber erstaunt zu sein, Sarah. Vielleicht möchtest du uns deine Verblüffung vorne an der Tafel einmal erklären. Ich meine, wir wissen doch alle, was es mit den Juden auf sich hat. Du könntest uns helfen, deine merkwürdige Verwunderung zu verstehen. Bitte sehr!«

Sarah wurde feuerrot und schwieg.

»Willst du nicht? Gut, dann möchte ich dich bitten, meinen Unterricht nicht länger zu stören. Ich denke, wir sind alle in der Lage, noch zwei Tage mit den betreffenden Mädchen auszuhalten, ohne sie unentwegt anzustarren, meine Damen …« Damit nahm sie ohne Verzug ihren Stoff wieder auf, von dem sie abgelenkt worden war.

Bella erinnerte sich schmerzhaft, dass sie bis zum Unterrichtsschluss kein einziges Wort mehr hatte hervorbringen können. Eine vernünftige Fortführung der Stunde war nicht mehr möglich gewesen. Immer wieder funkten die Störerinnen dazwischen, machten Bemerkungen, ignorierten die Ermahnungen der Lehrerin. Bis Juttchen plötzlich heulend aufsprang und forderte, dass »die Jüdinnen« unverzüglich das Zimmer verlassen sollten, sonst würde sie es selbst tun und zu Hause ihren Eltern genauestens Bericht erstatten.

Trude Jakobson stand als Erste auf. Sie packte ihre Sachen und ging mit gesenktem Blick zur Tür. Die beiden anderen folgten ihr. Bella blieb. Mit wild pochendem Herzen. Unfähig aufzustehen, sich überhaupt zu regen …

Oh ja, sie wurde also sentimental. Und es war das Alter! So, jetzt bist du dran mit dem Satz!, ermahnte Bella sich im Stillen. Mit jenem Satz, den mit Bedacht auszusprechen bei den Familientreffen zum Ritual geworden war. Sie wurde abgelenkt, sah sich im Raum um und zählte nach: die beiden Töchter Grace und Louise, die Schwiegersöhne Patrick und Nigel und deren Kinder – dazu der Besuch aus Dublin, also Pats Brüder Ian und Mike plus Anhang. Sie waren fünfzehn Menschen. Fünfzehn!

Dieses Jahr fand das Familientreffen im »McInnes« statt, einem der alten, soliden Hotels am Ostrand von Tribeca. Eigentlich hatte man sich schon im Juni treffen wollen, aber Patrick war in der Firma seines Vaters in Dublin wieder mal »hängen geblieben« und erst Ende Juli wieder aufgetaucht. Jetzt hatte schon der August begonnen. Immerhin war die hoffentlich letzte der alljährlichen New Yorker Hitzewellen durch.

Bella konzentrierte sich.

»Hätte es Dr. Fareed damals nicht gegeben«, rief sie (mit zu wenig Luft), »und hätte er nicht getan, was er tat, wäre dieser Raum jetzt menschenleer!«

Oz hätte das Sagen des Satzes mit Kopfschütteln quittiert, es wäre ihm zu theatralisch vorgekommen. Aber er hätte mitgemacht, da war sie sicher. Das zehnte Treffen lag zwei Jahre zurück. Dieses war das elfte. Das elfte Mal schon! Wo bleibt bloß die Zeit?

Damit angefangen hatten sie nach Oz’ Tod, 1969. Er starb zwei Tage vor der Mondlandung, weshalb sich seither, sobald sie die berühmten Bilder sah, ein Gefühl der Trauer einstellte – auch wenn ihr der Name Armstrong irgendwo begegnete; zuweilen genügte der Klang einer Trompete. So einfach funktioniert das Gedächtnis! Manchmal.

Eigentlich war es die Idee der beiden Mädchen gewesen: diese Familientreffen. Halbwaisen von einem Tag auf den andern. Sie gingen damals auf die Highschool, drüben in Brooklyn. Im Frühjahr ’70 hatte man sich das erste Mal zusammengesetzt, bei »Ricardo’s« in der 21st Street. Osterferien. Alle heulten.

Dass es mal fünf Enkel geben würde, hätte sie damals niemandem geglaubt. Tochter Louise, die ältere und strengere, heiratete im März ’80 den bis heute etwas undurchsichtigen Nigel Jespersen, Grace wenig später ihren Patrick O’Duffy aus Dublin – von wo sie nämlich nach einer Europatour schwanger nach Hause gekommen war. Von da an waren in biologisch ordentlichen Abständen bei Grace und Patrick die Kinder June, Eve und Clint zur Welt gekommen, und Louise hatte Milli und später Chelsey geboren. Merry Gloom Chelsey. Bei jedem der Familientreffen hatte ein neues Kind in Bellas Armen gelegen. Die andern waren jedes Mal ein Stück gewachsen und machten jede Menge Lärm. Jetzt hatte Clint Pickel im Gesicht und zwei der Mädchen Brackets auf den Zähnen, und wenn sie was erzählten, knibbelten sie an den Fingern und guckten verlegen in der Gegend umher. Sogar Chelsey, die Jüngste von allen, redete mittlerweile einigermaßen verständlich, auf jeden Fall mehr als früher.

Die ältesten Enkel waren jetzt also etwa so alt wie die beiden Töchter damals, als Oz starb und sie die »Treffen zur Festigung des Familienzusammenhalts« erfanden. Mit selbstgemalten Einladungskärtchen und allem Tamtam. Aus Angst und Trauer, was sonst? Man kleidete sich gut, hatte schicke Frisuren und trug teure Schuhe, bewegte sich ein wenig steif und legte insgesamt Wert darauf, feierlich zu wirken. – Wenn sie selbst morgen früh mausetot in ihrem Bett liegen würde, überlegte Bella, wie Oz damals (nur in einem für alle akzeptablen Alter bitte sehr) – was würde die neue Generation als Ritual erfinden, um die Familie zusammenzuhalten? Würden die Enkel überhaupt auf eine solche Idee kommen wie die Töchter damals? Manchmal hatte sie den Eindruck, dass alle längst auf eigenen Planeten lebten.

Als Oz starb, hatten noch die potenziellen Urgroßeltern der Enkel gelebt, also Grace’ und Louises Großeltern – Bellas Eltern, mit denen sie nach Kriegsende aus Berlin hierher in die Staaten gekommen war. Beim ersten Treffen 1970 hatte es drei Überlebende und zwei Kinder gegeben, fünf Menschen, die den Tisch in Ricardos kleinem Restaurant gefüllt hatten – der nämlich leer gewesen wäre, wenn Dr. Fareed in Berlin damals nicht … Und nun waren aus fünf fünfzehn geworden und die Welt hatte sich sehr verändert!

Bella blickte durch die großen Fenster über die famose Stadt in südwestliche Richtung. Die Fernsicht war ausgezeichnet. Der Blick führte ins Wirrwarr der vertikalen, grau gestuften Fassaden, vorbei an den Twins, bis auf den unteren Hudson. Ferne, glitzernde Wasserstreifen. Die beiden kantigen Türme waren damals noch zwei unfertige Baustellenklötze gewesen. Jetzt, dreißig Jahre später, schwebten sie makellos, matt glänzend, beinah schwerelos über der City, über der Welt – ein bisschen wie dieser geheimnisvolle schwarze Dominostein in Kubricks Weltraumfilm. Weit hinten sah man ein Stück Ellis Island, das bei ihrer Ankunft nach dem Krieg noch kein Museum gewesen war, sondern raue Verwaltungsrealität. Die Stadt war dreckig gewesen, dafür aber noch übersichtlich, jedenfalls hatte man sich das einbilden können. Heute nicht mehr. Hier unten, dachte Bella – also Bowery, Lower East Side, Chinatown –, hier würde sie heute nicht mehr allein durch die Straßen laufen wollen. Die Welt war anders als früher. Womöglich war sie es gar nicht, aber sie fühlte sich entschieden anders an.

»Wann fliegt Nigel denn nach Washington?«, fragte sie über den Tisch in Louises Richtung. Auch, um sich selbst abzulenken von dem »anders«, das sich partout nicht mehr aus ihrem Leben entfernen lassen wollte. Alles ist anders als früher. Es ärgerte sie, dauernd darüber nachdenken zu müssen, bloß weil sie alt war. Wieso konnte man sich nicht darauf konzentrieren, dass die Welt einfach nur anders war als früher, weil es eben so war? Dass sie sich änderte, nicht weil man als Mensch alterte, sondern weil die Zeit verging. Die verdammte Zeit verging nun mal, die Zeiger drehten und drehten sich, das ist eben so! Die Wochen und Schabbatot wippten vorbei wie früher die Telefondrähte draußen hinter dem Waggonfenster der Eisenbahn, als sie ein Kind war und mit den Eltern von Berlin-Mitte zum Müggelsee rausfuhr. Es hat nichts mit mir zu tun, dachte sie wütend, merkte aber gleich, dass die Grübelei sie bloß noch zorniger machte.

»Er fliegt am Mittwoch«, antwortete Louise. »Ich bin vier Tage allein. Wenn du willst, kannst du kommen und bei uns bleiben. Wir kochen was Schönes.«

Bella schüttelte den Kopf – und ärgerte sich, noch während sie das Angebot ablehnte. Vier Tage mit den Kindern drüben in Flemington wären doch fein, wieso eigentlich nicht? Natürlich würde sie am Ende enerviert und froh sein, wieder hierher nach Hause fahren zu können. Spaß hätte es trotzdem gemacht.

»Am Donnerstag hab ich Theater und am Samstag ist Lesegruppe.«

Louise verzog bedauernd den Mund, sagte aber nichts. Bella fragte sich, ob sie wirklich erwarten durfte, dass die Tochter sie jetzt überredete? So was wie: Theater und Lesekreis können ruhig mal warten, Mom! – Ja, insgeheim wünschte sie sich das wohl: dass man sie wirklich dort haben wollte. Und es sollte bitte nicht so was dahinterstecken wie: Ach, die arme Bella, immer allein in der großen Stadt …

Louise hatte sich schon Ehemann Nigel zugewandt, der neben ihr saß und an seiner Armbanduhr spielte. Sie sah bleich aus. Bella konnte sich nicht erinnern, ob Louise auch als Kind schon dermaßen wenig Farbe gehabt hatte. Sie hatte jedenfalls nicht Grace’ mediterranen Teint. Den hatte Oz ihr geschenkt. Louise war eher der durchsichtige Milch-und-Blut-Typus; sie hätte Patrick O’Duffy heiraten sollen, den irischen Rotschopf und Vielredner, der auch im Winter im T-Shirt herumlief wie die meisten dieser rätselhaften Kelten. Louise hätte gut zu ihm gepasst und wäre vielleicht ein bisschen von ihm aufgescheucht worden.

Besser als zu Nigel!, stellte Bella noch einmal bissig fest. Mütter sollten so was nicht denken. Sie dachte es trotzdem. Als Nigel und Louise heirateten, war dessen krauses Drahthaar noch voll gewesen. Jetzt zierte seinen Kopf ein hoher Kranz angegrauten Gestrüpps, das etwas von dem Seetang hatte, der gestern Abend im »Chinese Dragon« auf den Tellern lag und scheußlich schmeckte. Bella lachte eine Sekunde in sich hinein. Nigel sah es und hob die gewölbten Brauen, als hätte er bemerkt, dass sie ihn am Wickel hatte. Sein Blick wurde fragend, nicht unfreundlich. Sie schüttelte flink den Kopf und schaute weg. Bloß das nicht! Nigel war eitel, ehrgeizig, und wenn er wüsste … Dabei hatte er immer noch diese glatte Haut. Vielleicht von seinem schwarzen GI-Vater in Ramstein oder Heidelberg oder wo immer der damals stationiert gewesen war. Für den er sich schämte, obwohl er es abstritt. Sergeant Jasper Jespersen. Die urdeutsche Mutter war eine blonde Schönheit gewesen, die aber diese peinliche Familie hatte. Vom Schlage einer Marlene Dietrich. Schwarz und weiß – und weit und breit kein Jude, »arisch« eben, das Nazi-Gegenteil! Folglich glaubte Nigel, ein Freak zu sein, ein Missfit, ein überflüssiger Liebesunfall. Louise hatte es Bella irgendwann verraten. »Am liebsten würde er es wie Michael Jackson machen. Dabei sieht er doch immer noch toll aus, oder? Er ist auch sonst ein wertvoller Mensch, glaub mir, auch wenn er manchmal garstig zu dir ist.«

Louise hatte recht, auf besonders gutem Fuße stand Bella mit Nigel wirklich nicht – was gute Gründe hatte. Sie zog ihre Teetasse zu sich.

Die Tische in dem kleinen Saal waren mit Margeritensträußchen geschmückt. Das »McInnes« hatte Stil, es war teuer, aber gut. Nicht wie diese anderen neuen Hotels, wo alles aus Holzmehl bestand, mit Plastik überzogen. Sogar das Personal bestand hier noch nicht aus Polen und Filipinos, sondern Leuten aus Harlem oder der Bronx, deren Väter in den Fünfzigern und Sechzigern die sechs oder mehr Meilen bis in die City zur Arbeit noch zu Fuß gelaufen waren, um das Geld für die Subway zu sparen. Nicht, dass Bella so was je toll gefunden hätte. Sie verklärte nichts. Aber die Schwarzen in den guten Häusern hatten einen ehrlichen Blick, und wenn sie einen weißen Gast ansahen, wusste der hoffentlich, woran er war, und konnte ja mal drüber nachdenken. Aber bitte nicht diese neuere Einwanderermixtur aus eingeübt-sichtbarer Frustration und schmieriger Höflichkeit. Sie war selbst eingewandert und kannte all die Gefühle und Ängste und die alte, stinkende Halle auf Ellis Island; sie war damals auch nicht freiwillig hergekommen …

»Bella, du träumst!«, rief Grace von der Seite. Sie hockte mit Ian zusammen, Patricks jüngerem Bruder, der zwar schweigsamer war als die andern, aber letztlich denselben verdächtigen Humor hatte wie der Rest dieser irischen Familie, in die Grace so tapfer hineingeheiratet hatte. Geheuer war das nicht. Diese irischen Juden hatten sich halb totgelacht, als Rebbe Hecht einmal vor der kleinen Chelsey gehockt und sich seinen Kopf-Tefillin auf die Wange heruntergezogen und damit Späße gemacht hatte. Chelsey quiekte vor Vergnügen. Bella war nicht gläubig. Trotzdem hatte es sie geärgert; sie fand solche Dinge nicht komisch, sie gehörten sich nicht, und Schluss! »Das ist diese irisch-katholische Kartoffelerde«, hatte sie Grace damals halb ernst gewarnt. »Sieh dich vor – ehe du dich versiehst, bist du getauft. Ist dein Patrick eigentlich richtig beschnitten? Gibt’s da in Irland überhaupt ordentliche Mohalim …?«

Ian O’Duffy kam ihr noch gottloser vor als der Rest dieser keltischen Meute. Trotzdem war er ihr sympathischer als der halb deutsche, halb schwarze Nigel. Nigel Jespersen! Es gibt Menschen, die sind wie Muscheln. Man weiß nicht, wie sie aussehen, welche Farbe sie haben oder ob sie schmecken oder giftig sind. Ein wichtiger Unterschied zu den Iren war auch, dass sie diese Einstellung zu Nigel vor Louise lieber geheim hielt. Grace gegenüber musste sie keine Rücksicht nehmen, Irland hin, Irland her. Sie hörte immer noch, wie es geklungen hatte, als Grace damals aus Dublin nach Hause gekommen war. In voller Reisemontur hatte sie im Wohnungsflur gewartet, bis Louise und die Mutter mit großen Augen dastanden und ihnen beiden klar geworden war, dass da jetzt irgendwas kommen musste. »Ich bin schwanger! Ich bekomme ein Kind von ihm! Die Welt geht weiter!« Es war so was wie der schönste Augenblick im ganzen Leben gewesen. Doch. Schöner sogar als die vielen Male in Berlin, wenn es wieder mal so schlimm gewesen war, dass sie, Bella, und ihre Eltern hatten denken müssen, jetzt ist alles vorbei, jetzt endgültig – und dann gab es doch einen Ausweg.

»Kommst du mit nach Dublin?«, fragte Grace. »Die drei Brüder laden uns im Oktober zum Firmenjubiläum ein. Du musst mitkommen, es wird dir gefallen.«

Bella grinste schief, es war Flucht vor der Antwort. Sie traute sich nicht, geradeheraus Nein zu sagen. Dublin! Jeder weiß, dass es dort nur Schafe und Regen gibt, in diesem Land der Tränen. Man vermengt sich nicht mit einem Volk, dessen Geschichte nur aus Hunger, Besatzung und christlichen Legenden besteht. Vor allem dann nicht, wenn der Vorname des jüdischen Ehemanns und Schwiegersohns ausgerechnet den eines erzkatholischen Bischofs und Nationalheiligen trägt.

»Ich vertrage keinen Whiskey.«

Der Bruder des Nationalheiligen konterte sofort mit seinem grundehrlichen, entwaffnenden Lachen. Allein deshalb musst du dich schämen, die Einladung nicht ohne Zögern angenommen zu haben!, tadelte sich Bella im Stillen.

»Ich überleg’s mir.«

Die Notlüge glättete ihr Gewissen immerhin ein bisschen. Der heilige Patrick hatte alles mitgehört. Er stand von seinem Stuhl auf und kam zu ihr. Bella war nicht überrascht. Pat würde ihr ein Nein nicht durchgehen lassen. Das war auch so was Irisches. Diese Leute hatten so viel Not und Leid erlebt in all den Jahrhunderten, dass sie nie etwas akzeptieren oder auf sich beruhen lassen konnten. Irgendwie glaubten sie immer, dass es einen Weg geben musste, ihren Dickschädel durchzusetzen. – Das hat euch der Hunger in die Gene gepresst!, dachte Bella grimmig, als Pat sich federnd neben sie setzte.

»Bella, du kommst natürlich mit.«

Da hatte man es wieder! Sie war wirklich nicht überrascht. Aber dass manche Dinge so gar nicht vom Erwartbaren abweichen wollten, erschien ein bisschen beunruhigend. Kannte dieser Patrick O’Duffy auch schon ihr Todesdatum, die Uhrzeit, die Art und Weise, wie sie sterben würde? Ließ er sich nachts von seinem katholischen Namensvetter zutiefst nicht-koschere Informationen zuflüstern?

»Du weißt alles über mich, kann das sein?«

»Klar!«

»Hör zu, ich bin eine alte Frau! Die Frage ist, ob ich im Oktober überhaupt noch lebe.«

»Ach ja? In Irland stirbt’s sich wunderbar, Bella. Glaub mir. Wir sind auf alles vorbereitet. Aber es passiert nichts. Sogar die Juden kommen mit dem Regen klar, weißt du? Natürlich sind schon welche ertrunken, das kommt vor. Aber wenn wir dich überall in die Mitte nehmen, bist du sicher.«

»Ich sterbe nicht am Regen. Am Alter, mein Junge.«

»Wie bitte?« Er grinste breit. »Gibt’s bei uns nicht, muss ich dich enttäuschen, hab ich noch nie gehört …«

Grace’ Sohn Clint rief im Vorübergehen: »Wir fliegen nach Irland, Grannie. Alle!«

»Ich weiß nicht, ob ich mitkommen kann«, sagte Bella ahnungsvoll.

»Du musst können, Grannie.« Der Junge ging weiter, ohne abzuwarten, ob es eine neue Antwort gab. Am anderen Tischende wurden Karten gemischt. Bis auf Chelsey versammelten sich dort die Kids.

»Ich bin von Auguren und Hellsehern umgeben«, sagte sie zu Pat. »Jeder kennt mich besser als ich mich selbst … Es gibt einen Punkt im Leben, vor dem ich dich warnen möchte, lieber Schwiegersohn. So jung bist du auch nicht mehr. Die Zeit vergeht, und irgendwann bist du so alt, dass du nur noch halb existierst. Egal, was du dann tust oder sagst, die andern nehmen nur noch die Hälfte vom Ganzen wahr – manchmal weniger. Ich frage mich, ob der Tod vielleicht nur darin besteht, dass man am Ende von den andern überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Irgendwann werdet ihr denken, dass ich gar nicht mehr lebendig sein kann, und dann beerdigt ihr mich und ich kann nichts dagegen tun.«

Chelsey stand plötzlich mitten in dem großen, hellen Raum. Sie wartete wohl, dass alle zu ihr hinsahen. Ein paar schauten, andere redeten weiter oder gossen sich frischen Tee in ihre Tassen, begutachteten die Reste des lobenswerten Gebäcks. Die andern Kinder spielten und schwatzten laut, Louise saß versunken da. Dabei stand doch ihre jüngste Tochter konzentriert und mit ernstem Gesicht in der Mitte von allem. Es wirkte, als überlegte das Kind, welche Maßnahmen es ergreifen musste, um nicht auch noch in einer Stunde unbeachtet so dazustehen. Chelsey sah aus wie alle Kinder diesen Alters, wenn man allmählich kapiert, dass man sich in ein paar Jahren auf den Wechsel in die Highschool vorzubereiten hat. Es war nichts zu sehen von dem behinderten Mädchen, das hoffentlich demnächst an vier Tagen in der Woche das Institut des Doktor Schedel besuchen würde, bei dessen Stiftung man sich um einen Platz für Chelsey beworben hatte, weil die dortigen sonderpädagogischen Methoden neuerdings in aller Munde waren. Das Institut lag nur eine Autostunde von Flemington, New Jersey, entfernt, dem Wohnort von Louise, Nigel und den Enkeln. Es wäre einfach perfekt.

»Louise! … Louise!«, zischte Bella über den Tisch. Chelsey drehte sich zur Seite – und die Illusion war futsch. Das Down-Kind grinste, stemmte die Arme in die Hüften und rief so klar und deutlich, dass sofort alle verwundert hochguckten: »Wär in Berlin nicht der Doktor da … da wär jetzt alles leer hier, leer … hier wär doch keiner … oder nicht? …«

Bella fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Es war ihr unangenehm, sie hasste Sentimentales. Chelsey heimste die allseitige Beachtung und den Beifall ein und grinste weiter ihr entwaffnendes Grinsen. Louise rannte zu ihr hin, hob sie hoch und wirbelte sie herum. Dieses Kind hat das Gesicht eines eigenen kleinen Volkes, dachte Bella, eines zweiten, das kein Land, keine Regierung, keine Geschichte hat außer der von Ausgrenzung, Ablehnung, Erniedrigung, Verfolgung und Ausrottung. Das Gesicht eines jüdischen Down-Menschen, dachte sie, gehört einem doppelt Geschlagenen. Heulte sie jetzt, weil ihr Herz schneller war als ihr Kopf? Chelsey war ein ordentlicher Schreck gewesen, kurz nach der Geburt, als es klar war. Aber Nigel und Louise hießen weder Hiob noch Singer und spielten nicht in der wunderbaren Joseph Roth-Erzählung mit. In der Wirklichkeit sind behinderte Kinder nicht plötzlich gesund, wenn man ihnen nach einer Ewigkeit wiederbegegnet. Bella ließ die Tränen laufen.

»Warum weinst du, Grannie?«, fragte Enkelin Eve.

»Ich freue mich über Chelsey.«

»Ist ein Wunder passiert?«

Bella war nicht sicher, wie ernst die Dreizehnjährige es meinte, und antwortete erst mal Ja. Schließlich war sie, die Davongekommene, seit ihrer Jugend kompetent, was Wunder betraf. Sofort kroch ihr Berlin ins Gedächtnis. Mit so vielen Details! Wie neulich in der Subway nach South Ferry. Auf dem Weg zu ihrer Lesegruppe, in der meist länger über alles Mögliche geschwatzt wurde als über die Lektüre. Vielleicht traf man sich überhaupt nur deshalb noch. In der Subway neulich hatte sie so was wie erlebt … ja, so was wie erlebt, dass sie schlagartig wieder vierzehn war, auf dem Lyzeum, mit ihren beiden besten Freundinnen. Und dann sechzehn, als sie das erste Mal ihren Joost getroffen hatte. In Dr. Fareeds Praxis. Der Sterilisationsapparat war kaputtgegangen und hatte repariert werden müssen. Dabei gab es keine Ersatzteile, weil der Krieg alles wegfraß, Draht, elektrische Sicherungen, Schalter, alles. Joost schaffte es trotz allem damals. Und nun lebte er nicht mehr. Ihr Joost!

Begonnen hatte es damit, dass die Berliner Familie ihr Wohn- und Geschäftshaus in Mitte von einem auf den andern Tag hatte verlassen und nach Moabit ziehen müssen. Wenn sie es so für sich sagte, klang es beinah harmlos. Aber es war Ende 1939, und der Vater war gezwungen worden, seinen Gemüsegroßhandel »aufzugeben«; einer seiner Kunden hatte das Geschäft »übernommen«. Sie, Bella, verstand nicht, was da eigentlich vor sich ging. Sie war fünfzehn und litt an einer Mittelohrentzündung. Der jüdische Hausarzt hatte seine Praxis schließen müssen, wo also hin in der neuen, fremden Umgebung?

Bella war immer wieder verblüfft, wie scharf umrissen manche Erinnerungen waren. Nicht alle. Es gab Scherenschnitte ohne Inhalt, Details wie schwimmende Wrackteile, von denen sie nicht wusste, wohin sie gehörten. Szenen, denen der Zusammenhang fehlte. Das meiste aber war schmerzhaft deutlich.

Ihre Oma, die Mutter und sie hatten ein winziges Zimmer in einem sogenannten Judenhaus bezogen. Der Vater war woanders untergekommen. In dem Zimmer gab es eine Kochnische und im Treppenhaus eine Toilette, die eine Zeit lang niemand Fremdes im Haus zu benutzen schien. Daheim in Mitte hatte sie es gehasst, auf die eine oder andere Weise die ihr unbekannten Vorbenutzer wahrnehmen zu können. Das Privileg in der neuen Unterkunft verlor sich jedoch schnell. Das Leben stand kopf und eigentlich hatte sie das alles während der ersten Wochen damals überhaupt nicht glauben und begreifen können. Die Angst vor so etwas hatte schon lange bestanden, aber irgendwie hatte sie die Kunst beherrscht, die Gedanken nicht zu nah an sich heranzulassen, hatte es geschafft, den täglichen Terror als etwas zu sehen, das stets nur nebenan, gegenüber, jedenfalls woanders passierte. Es gab Nachrichten, Gerüchte, Vermutungen, Hörensagen – ihr, der Oberschülerin Bella, aus einem ganz normalen bürgerlichen Haushalt kommend, war all das irgendwie entfernt erschienen.

Der erzwungene Umzug war mit ihrem Rauswurf aus dem Lyzeum zusammengefallen. Bis dahin auch so eine Undenkbarkeit, ein Schlag, der immer nur die anderen getroffen hatte. Die jüdische Schule lag entfernt, sodass sie von Moabit aus mehr als eine Stunde brauchte, um pünktlich dort zu sein. Im Lyzeum hatten die meisten der Klassenkameradinnen bedauert, dass sie wegmusste, ihre beiden besten Freundinnen Leni und Sarah hatten geweint. Einige der Lehrerinnen hatten ihr nicht mal die Hand gegeben, als sie sich voller Ernst von ihnen verabschieden wollte. Die Kränkung wirkte lange nach. Wie naiv und gutgläubig sie bis zu diesem Zeitpunkt noch gewesen war! Wieso hatte sie Umzug und Rauswurf nicht sofort als das gesehen, was sie waren: die rücksichtslose Vertreibung der Familie aus dem angestammten Viertel, in welchem sie selbst, ihre Eltern und deren Vorfahren geboren worden waren? Stattdessen hatte sie gehofft, dass es so etwas wie ein Irrtum wäre.

Die Mutter kannte einen Schneider, der im Westfälischen Viertel sein Atelier hatte, und erkundigte sich bei ihm nach einem Arzt in der Nähe. Der Mann hörte sich um und hatte ihr nach ein paar Tagen die Anschrift eines Arabers gegeben – einer der letzten von vielen Tausenden Söhnen aus wohlhabenden nordafrikanischen Familien, die in den Zwanzigerjahren in Berlin studiert und gearbeitet hatten. Nach ’33 hatten es die meisten vorgezogen, das Land zu verlassen. Dr. Kamal Fareed war in Berlin geblieben. Er hatte sich verliebt; das war eine eigene Geschichte. Erika, seine Verlobte, die er zwar hatte erobern können, nicht aber heiraten dürfen, war zauberhaft. Nicht einmal schlafen durfte er mit ihr. Nazi-offiziell. Bella sollte sie bald näher kennenlernen.

Die Oma, die Mutter, sie selbst – alle waren irritiert.

»Warum um alles in der Welt ein Araber?«, fragte Oma empört.

Der Vater schüttelte den Kopf. »Ein Muselman …!«

Bellas Ohrenschmerzen jedoch zeigten eine entschieden völkerversöhnende Wirkung. Sie gingen zu ihm hin, er behandelte Bella, und nach ein paar Tagen hatte sie nachts wieder durchschlafen können.

Dr. Fareed also! Bella sah ihn vor sich. Für die Nazis war er ein »Hamit«, ein Nachfahre Noahs gewesen oder so etwas, kein »Arier« jedenfalls.

Sein Verbleiben in Nazi-Deutschland brachte ihm bald Ärger ein. Weil Ägypten als Protektorat der Briten galt – also gleichsam Feindesland war –, wurde er zu Beginn des Krieges zusammen mit ein paar Dutzend Landsleuten interniert. Frei kam er nur, weil er in Haft erkrankt war und sich die diplomatische Vertretung Ägyptens für seine Entlassung unter Auflagen starkgemacht hatte. So musste er sich zweimal täglich bei der Polizei melden – »um zu beweisen, dass ich existiere«, wie er selbst später einmal schmunzelnd sagte.

An der allgemeinen Gefährdung änderte sich nicht einmal viel, als sich der Großmufti von Jerusalem, Amin Al-Husseini, Hitler andiente, vermutlich als Spion, jedenfalls als feurigster Verehrer, wofür man ihn als Ehrengast behandelte und bis Kriegsende in Berlin wohnen ließ.

Kamal Fareed war ein großer, schlanker, sehr freundlicher, für Bella bereits älterer Herr aus der Generation ihres Vaters. Er trug den exaktesten, geradesten Oberlippenbart, den sie je gesehen hatte; ansonsten war er glatt rasiert. Morgen für Morgen musste er ihrer Vorstellung nach viele Minuten damit verbringen, das Bärtchen mit einer winzigen Nagelschere zu trimmen. Er besaß Klavierspielerhände mit manikürten Bilderbuchnägeln, auch das eines der ersten Dinge, die ihr damals an ihm aufgefallen waren. Als er das erste Mal ihr Ohr untersuchte, fühlte sie seine Fingerknöchel an ihrer Wange. Sie berührten die Härchen ihrer Haut und jedes Mal schien ein Funke überzuspringen. Er bewegte ihren Kopf behutsam hin und her und trug an seiner Stirn einen dieser runden Spiegel, in deren Mitte sich ein Guckloch befindet. Damit lenkte er das Licht der großen Behandlungslampe in die Ohrmuschel. Die Luft in dem Zimmer roch nach Kreuzkümmel, Kardamom und Minze. Trotz alledem hatte Bella eine leise summende Angst in sich wahrgenommen, die sie erst nach und nach in seiner Gegenwart überwand. Nie zuvor hatte sie aus solch unmittelbarer Nähe einen leibhaftigen Araber gesehen und erlebt …

Dr. Fareeds Wohnzimmer hatte ihm damals, nach Schließung seiner eigenen Praxis durch die Behörden, als Behandlungszimmer gedient. Unter dem Fenster stand ein Aquarium, darin lebten kleine, unglaublich bunte Fische. Bella konnte seine Stimme hören, nach all den Jahren – wie er damals, bei ihrer ersten Begegnung, jene sonderbaren Namen rief, durchs Glas ins Wasser, und wie er ohne Zögern so tat, als hörten ihn die Fische. Jeder einzelne. Ihr war sonnenklar, dass er nur sehen wollte, wie sie auf diese Albernheit reagierte. Auch merkte sie, dass er bei Nennung eines Namens mal auf den einen, dann auf einen anderen Fisch deutete. Und schließlich blieb ihr nicht verborgen, dass er selbst bemerkt hatte, dass sie ihn durchschaute. Er redete weiter, als sei nichts, und erklärte, dass es sich um nichts weniger als Pharaonen handele. »Das da ist Sethos. Hier vorne regiert Ramses. Dort haben wir Thutmosis und links hinter ihm schwimmt Amenophis, der leuchtende dort …«

Bei einer späteren Behandlung – Bella konsultierte den Arzt wegen einer fiebrigen Erkältung erneut – schwamm einer der Fische auf der Seite und bewegte sich nicht mehr. Dr. Fareed nahm ihn aus dem Wasser und legte ihn vorsichtig in eine silberne Nierenschale. Er umwickelte ihn kunstvoll mit schmalen Streifen Mullbinde und bestattete die Mumie in einem Blumentopf auf dem Balkon. Er sang dabei ein sehr orientalisch klingendes Lied, das Bella gefiel.

Seine nächste Patientin aus dem Kreis der Familie wurde Oma. Weil sie nicht mehr gut sah, hatte Bella sich bereit erklärt, sie hinzubegleiten. Bella setzte sich während der Behandlung in die Küche der Wohnung. Durch den Flur hörte sie leise die Stimmen. Die Zeit wurde ihr lang, also schaute sie sich um.

Es gab Dinge, die ihr verrieten, dass es sich nicht um eine normale Küche handeln konnte. Das Mikroskop zum Beispiel. Es gefiel ihr auf den ersten Blick. Sie hatte noch nie durch ein solches Instrument geschaut, kannte es aber aus dem Biologiesaal des Lyzeums und wusste, was man damit sehen konnte: Wasserflöhe, Pflanzenzellen, Trompeten- und Pantoffeltierchen, die so winzig waren, dass sie das bloße Auge nicht erkennen konnte. Ein umgekehrtes Fernrohr, hatte eine Lehrerin erklärt. Bella stellte sich vor, dass die Leere des Nachthimmels, die ja nur eine vermeintliche war, eine Entsprechung im Kleinsten und Unsichtbaren hatte. Was sie ohne Mikroskop zum Beispiel in Dr. Fareeds Aquarium sehen konnte, war nur ein Bruchteil dessen, was darin lebte. In nur einem einzigen Wassertropfen schwammen wahrscheinlich weit mehr winzige Tiere als bunte »Pharaonen« in dem ganzen großen Glaskasten. Sie nahm sich vor, den Arzt zu fragen, ob er ihr bei Gelegenheit einmal gestatten würde, sich einen Tropfen des Wassers unter dem Mikroskop anzuschauen.

»Den Teufel wird er tun«, erklärte die Mutter, als Bella später daheim ihren Plan verriet. »Ein Araber …!«

Neben dem Mikroskop und einer Reihe anderer Instrumente, die bestimmt nicht in eine Küche gehörten, hatte es einen gasbetriebenen Sterilisationsapparat gegeben; es sollte nur kurze Zeit dauern, bis sie erfuhr, dass der Apparat so bezeichnet wurde und wozu er diente. Überhaupt hatte sie bei diesem Besuch nicht ahnen können, wie sehr ihr Leben bald noch einmal auf den Kopf gestellt werden würde – noch einschneidender als nach dem erzwungenen Verkauf des Gemüsegroßhandels der Eltern an einen Geschirrwarenhändler aus Wilmersdorf für einen lachhaften Preis und nach dem anschließenden »Umzug« nach Moabit.

Bella sah sich wieder in Dr. Fareeds Küche sitzen. Fünfzehn Jahre alt – vor bald sechs Jahrzehnten. Die Wohn- und Sprechzimmertür des Arztes öffnete sich und ihre Oma trat in den Flur. Hinter ihr folgte Dr. Fareed in seinem langen, weißen, hochgeschlossenen Kittel, der seiner ohnehin würdevollen Erscheinung zusätzlich Autorität verlieh. Er überragte die Großmutter um deutlich mehr als einen Kopf, lächelte Bella an und machte eine Miene, als hätte er bemerkt, dass sie sich für das seltsame Küchenlabor interessierte. Die Oma fragte erst mal, wieso sie, Bella, die Küche überhaupt betreten hätte. Bella wollte selbst antworten, aber Dr. Fareed kam ihr zuvor. »Sie interessiert sich eben … Viele Mädchen und Frauen haben eine Menge Verständnis für Technik.«

»Ich wundere mich, dass ausgerechnet Sie das sagen, Herr Doktor.« Die Oma sah ihn erstaunt an.

»Weil ich Araber bin? Es gibt solche und solche …«

Bella verließ die Küche und blickte auf die Instrumente zurück.

»Bei Ihrem nächsten Besuch, Fräulein Bella, wünsche ich mir, dass Sie mir die Frage stellen, die Ihnen auf dem Herzen liegt, oder? Was es mit dieser Küche auf sich hat … Einverstanden?«

 

Wie sehr behütet sie aufgewachsen war, hatte sich erst erwiesen, als die Welt schon kopfstand. Erst da war ihr auch klar geworden, wie verletzlich sie war, wie empfindlich. Bella die Mimose! In der Welt herrschte Krieg und aus den Gesprächen der Erwachsenen hörte sie heraus, wie düster die Zukunft aussähe, vermochte aber lange nicht, es zu glauben. Es konnte nicht wahr sein. Der Horror der Novemberpogrome hatte einen kaum zu erklärenden Bogen um die Familie gemacht. Auch die Schreckensmeldungen der Folgezeit, ja des ganzen vergangenen Jahres 1941 erreichten sie nicht so schnell wie die meisten anderen. Krieg war erst mal nur ein Wort gewesen, so etwas wie ein plötzlicher Kälteeinbruch, aber eben kein Winter. Man redete darüber, aber Bella erlebte ihn nicht. »Wenn er schnell zu Ende geht«, klagte die Oma, »wird Hitler uns loswerden wollen, dauert er länger, droht uns dasselbe.«

Täglich überschlugen sich die Nachrichten und Gerüchte. Man nahm Juden die Häuser weg, die Essensrationen wurden kleiner und dürftiger, immer wieder fehlten auf den zugewiesenen Brotkarten Abschnitte oder waren von den Behörden durchkreuzt worden, das Bargeld von Juden wurde eingezogen und, und, und … Einmal war im Moabiter Zimmer ein Mann erschienen, der sich das Leben nehmen wollte. Bella kannte ihn nicht, wohl ein früherer Angestellter ihres Vaters. Man hatte ihn aus seiner Wohnung gejagt, sämtliche Bücher und Möbel gestohlen. »Mir ist ein einziger Koffer geblieben«, sagte er. »Damit lässt sich kein Leben bewerkstelligen. Was ist die Konsequenz?«

»Die Konsequenz ist«, hatte die Oma geantwortet, »dass wir es trotzdem versuchen müssen.« Eigentlich war sie diejenige, die am häufigsten weinte und kaum mehr Hoffnung hatte.

»Mit einem einzigen Koffer?«

»Wenn nötig, mit einem einzigen leeren …«

Bella hatte die Szene nie vergessen. Es war auch das erste Mal, dass sie einen Mann hatte weinen sehen.

Ein andermal trommelte ein Polizist gegen die Tür und verlangte Unterschriften, dass man das Ausgehverbot für Juden nach acht Uhr abends zur Kenntnis genommen habe.

»Aber Sie kennen mich doch, Herr Messner«, sagte die Mutter.

»Dienstlich nicht.«

»Wo hört der Dienst denn auf und wo fängt der Mensch an?«

Der Polizist wurde rot wie eine Tomate. Man unterschrieb. Mit der Zeit festigte sich in Bella eine formlose Angst, die umso bedrohlicher wurde, als nur die Erwachsenen die wahre Tiefe und Schwere und die Ursachen dieser Angst zu kennen schienen. Die Angst hockte wie ein Gespenst in der Ecke des Zimmers und atmete. Als eines Tages die jüdische Schule für ein paar Wochen geschlossen worden war, war Bella froh, nicht länger am Morgen und Mittag mit der Tram fahren zu müssen. Dort saß die Angst auf jedem freien Platz und drohte mit merkwürdigen Zeichen. Die Blicke und Bewegungen der anderen, aber auch das eigene Wegschauen und Umdrehen in Momenten, die es gar nicht verlangten. Auf irgendeine Mauer hatte man mit Kreide geschrieben: Tod dem jüdischen Leben! Bella hatte nie ein »jüdisches Leben« geführt, sie wusste gar nicht, was damit gemeint war.

 

Nach dem Münchener Attentat auf Hitler war das Leben noch schwieriger geworden. Man hungerte nicht. Aber die Wege zu Ämtern und Stellen oder zum jüdischen Gemeindehaus füllten den Großteil des Tages. Neue Brotkarten waren abzuholen oder eine Nachfrage wegen einer nicht erfolgten Zahlung zu stellen – stets waren große Entfernungen zurückzulegen, die sich zu dem Weg addierten, den die Mutter ohnehin hatte gehen müssen, wenn sie mit dem Vater sprechen wollte, der bei Freunden in der Kantstraße untergekommen war. Weil es in dem Zimmer in Moabit kein Telefon gab, war es der Mutter zwar erspart geblieben, im Telefonbuch hinter dem Namen den Zusatz »Israel« eintragen zu lassen, doch auch das zog Lauferei nach sich.

Wenn ihre Mutter zurückkam, hatte sie verweinte Augen. Entweder hatte es neue Gerüchte und Drohungen von Wohnungsdurchsuchungen gegeben oder der Vater hatte ihr gesagt, dass die kommende Erhöhung der »Judensteuer« in absehbarer Zeit alle Ersparnisse aufzehren werde. Nie war sie mit einer guten Nachricht zurückgekehrt, und Bella erinnerte sich, dass sie sich oft am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

Schon vor Kriegsbeginn war man gezwungen worden, die Lebensmittelkarten zu bestimmten Läden in der Stadt zu tragen. Wohin man kam, war man das Ende einer schweigenden Schlange, dann ihre Mitte, schließlich reichte man die Karten über den Tisch und trat den Rückweg mit kaum mehr als einem Pfund Kartoffeln oder einem halben Laib Brot an. In den Fenstern der Geschäfte, in die man bislang gegangen war, blickte man statt auf Pyramiden aus Fischbüchsen oder Seifenstücken auf Porträts des »Führers«.

Nach Schließung der jüdischen Schule wurde die Aufgabe des Einkaufens an Bella übertragen. Sie entwickelte ein gewisses Geschick darin, in der Warteschlange stehend frühzeitig abzuschätzen, ob sich ihre Geduld lohnte oder ob die Frau oder der Mann vor ihr gerade das letzte Stück einer Lieferung Büchsenmilch oder Kunsthonig entgegennehmen würde. Die Aufgabe veränderte sie, nagte an ihrer Kindlichkeit. Die Mimose verblühte. Vor allem, weil klar wurde, dass sie nicht auffallen durfte. Bis man den Juden im September 1941 den Stern aufzwang, übte Bella (fürs tägliche Leben sozusagen) Blicke und Gesten, eine veränderte Körperhaltung, wenngleich ihre Kleidung nicht dazu passte. Sie spielte Brigitte Nölte aus ihrer Lyzeumsklasse. Britts Vater war ein bekannter Anwalt und besaß in Südfrankreich ein Ferienhaus mit Schwimmbecken und einem eigenen Apfelsinenhain. Sie hatte nach den Ferien Farbfotos herumgehen lassen und an warmen Tagen absichtlich bunte Blusen mit auffälligen Motiven getragen: bauchige Rotweinflaschen, Knoblauchzehen, Korkenzieher. Die Lehrerinnen hatten die Nase gerümpft. Britts Miene blieb in solchen Augenblicken bewundernswert ungerührt, als wartete sie darauf, dass eine Bemerkung fiele, die sie mit einer extrapatzigen Erwiderung parieren konnte. Selbst die Direktorin hatte lange nicht gewagt, sie zu tadeln.

Es war vorgekommen, dass Bella ein Geschäft betrat und nach ihr eine Dame hereinkam und tat, als sei Bella Luft. Sie überwand das Angstgespenst (zu der Zeit hatte es sich noch vertreiben lassen), fasste allen Mut zusammen, blickte die Frau an und »spielte Britt Nölte«. Britt gegenüber hätte die Frau schon beim Hereinkommen erkannt, dass sie sich würde gedulden müssen wie alle anderen. Bella sprang niemandem ins Auge, der dunkle, jungenhafte Pagenkopf machte sie gleichsam unsichtbar. Brigitte Nölte trug richtige Frisuren. Alle beneideten sie. Kurz bevor Bella die Schule verließ, hatte sich Britt den Plan ausgedacht, Frau Dr. Gümerlich (Geschichte und Erdkunde) eines Morgens mit dunkelrotem Lippenstift einen solchen Schock zu verpassen, dass ein Anruf der Direktorin bei ihrem Vater gleichsam unvermeidlich gewesen wäre. Alle hatten sich darauf gefreut, Zeugen dieser Szene zu werden.