Cover

Märchen sind zum Träumen da.

Märchen sind da, um sich in ihnen zu verlieren, um jenen

Pragmatismus über Bord zu werfen, der uns im Alltag fesselt. Sie sind da, um sich ganz auf das Unmögliche einzulassen. Denn das, was uns hoffen lässt, was uns kämpfen und wieder aufstehen lässt, sind die unmöglichen Dinge.

Wahre Liebe, die von einem einzigen Blick entfesselt wird, der Sieg des Guten über das Böse und der Glaube, dass alles im Leben einen Sinn ergibt.

Dieses Buch ist den Träumern gewidmet.

Es ist für diejenigen unter euch geschrieben, die an all die Dinge glauben wollen, von denen uns die raue Wirklichkeit weismachen will, dass es sie nicht geben kann.

VignetteDie SchattenVignette

Im Schatten liegt verborgen,
Was wir im Licht nicht sehen.
Also warte nicht auf Morgen,
Denn die Schatten werden gehen.

Ohne ihre Schwester wäre Snow verloren gewesen. Es lag nunmehr ein Jahr zurück, dass ihre Mutter gestorben war. An ihren Vater konnte sie sich nicht mehr erinnern und so waren ihre große Schwester Rose und die Mutter alles gewesen, was sie hatte.

Das kleine Gasthaus am Waldesrand alleine zu führen, dazu wäre Snow nicht in der Lage gewesen. Rose hingegen war voll in ihrem Element. Sie war eine hochgewachsene, junge Frau mit feurigem Haar und ebenso feurigem Blick. Sie wickelte die Männer scharenweise um den Finger, brachte sie dazu, ihre Tageslöhne zu versaufen und die Kassen damit zu füllen. Sie war voller Tatendrang, hatte immer tausende Ideen und war schon bei der nächsten, wenn die erste noch nicht umgesetzt war.

Snow war ein wenig zu schüchtern, um des Nachts betrunkene Männer zu bedienen. So geschah es nicht selten, dass einer von ihnen ihr an den Hintern packte und sie – ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester – keinen Spruch parat hatte, um den Trunkenbold in die Schranken zu weisen. Nein, wenn ihr das geschah, quiekte sie erschrocken auf. Jedes Mal. Und jedes Mal kam Rose und rettete sie.

Es war ihr Glück, dass sie eine eher unscheinbare Person war. Snow hatte blondes Haar, blassbaue Augen und eine Haut so weiß wie Schnee. Die heißesten Sommer konnten daran nichts ändern.

So eine unscheinbare Gestalt erlaubte es einem, schnell und unbemerkt zwischen den Tischen umherzuflitzen, die Bestellungen zu servieren und wieder zu verschwinden, ehe der Gast wirklich bemerkt hatte, was gerade geschehen war. Schnell war sie dabei allemal und geschickt obendrein.

Alles in allem waren Rose und sie ein unschlagbares Gespann und so mussten sie sich auch keine Sorgen machen, mal nichts zu essen auf den Tisch zu bekommen. Ihr Gasthaus lag an der einzigen Zugangsstraße zum Königsschloss von Farrendale, direkt hinter den verwunschenen Wäldern. An Reisenden mangelte es nicht – auch wenn ein paar von ihnen ihr Ziel wohl nie erreichen würden. Schließlich wusste jeder, dass die Wälder gefährlich waren und eine falsche Tat dafür sorgen konnte, dass man sie nie wieder verlassen würde. Mit Waldgeistern und Feen durfte man sich nun mal nicht anlegen.

Snow seufzte bei diesem Gedanken. Ihr taten die Männer leid, die am Abend noch feierten und mit ihren Freunden scherzten und am nächsten Tag schon als Birke oder Eichhörnchen endeten. Sie und ihre Schwester wussten, wie gefährlich die Wälder waren, welche Blumen man pflücken durfte und welche nicht. Sie sammelten Kräuter und Brennholz im Wald und ignorierten die Stimmen, die sie tiefer hineinlocken wollten. Sie achteten stets darauf, den Pfad zurück nicht zu verlieren. Doch wer fremd hier war, unterschätzte die Gefahren oft, die in den Schatten lauerten.

»Träumst du wieder?«, fragte Rose neckisch und stieß Snow in die Seite.

Snow riss sich von dem Anblick des Waldes los, den sie durch das trübe Buntglasfenster ihrer Wirtsstube sehen konnte, und lächelte verlegen.

»Immer«, antwortete sie.

Rose grinste breit und drückte ihr vier Humpen in die Hände.

»Für den Tisch am Kamin. Und kannst du danach in die Scheune gehen? Wir haben kaum noch Rüben.«

»Rüben?«, fragte sie. »Die lassen sie doch sowieso alle stehen. Die Männer essen nur die Hammelkeule und tunken die Soße mit dem Brot auf. Die gekochten Rüben sind Hundefutter.«

Rose hob die Brauen und sah ihre Schwester abschätzend an.

»Und? Willst du, dass die Hunde verhungern?«

Das wollte Snow nun wirklich nicht. Es ließ sich hier draußen zwar gut leben und sie beide hatten alles, was man sich wünschen konnte, doch spät in der Nacht, wenn die Wirtsstube leer war und die Betten des Gasthauses nicht belegt, wenn man die Wölfe hören konnte, wie sie ihre Klagelieder heulten, und die Lieder der Waldnymphen im Rauschen der Blätter erklangen, war Snow doch froh, dass auf dem Hof die Hunde Wache hielten. Schließlich kamen die Wachmänner aus Banton, dem nächstgelegenen Dorf, nur einmal pro Woche vorbei, um nach dem Rechten zu sehen.

»Mir wäre es lieber, die Hunde würden den Hammel bekommen und die Männer die Möhren«, meinte sie schmunzelnd.

Sie ließ ihre lachende Schwester an der Theke zurück und servierte das Bier. Die grölenden Männer bemerkten erst, dass ihre leeren Krüge gegen volle ausgetauscht worden waren, als sie danach griffen, und so war Snow beinahe schon wieder an der Theke angelangt, als sie ihr hinterherriefen und -pfiffen.

Rose, die noch immer lachte und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, nickte in Richtung der Gesellschaft am Kamin.

»Du weißt schon, dass du ihnen allen den Kopf verdrehst, oder?«, fragte sie.

Snow legte die Stirn in Falten.

»Das bist wohl eher du«, meinte sie.

Rose presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen und lächelte ihre Schwester wehmütig an.

»Mit mir scherzen sie und malen sich verruchte Dinge aus, wenn sie abends in ihren Betten liegen, aber dich, kleines Schwesterchen, dich wollen sie heiraten. Du bist jetzt sechzehn Jahre alt und kein kleines Kind mehr. Aus dir ist eine Frau geworden, die sich jeder anständige Mann als Ehefrau wünschen würde.« Sie strich Snow über die Wange und ihr Lächeln wurde ein Stück breiter. »Du kannst nicht dein ganzes Leben mit mir hier im Wald verbringen. Irgendwann wird sich die Tür öffnen und der Mann deiner Träume betritt den Raum.«

Snow lachte.

»Ich bleibe lieber ein Leben lang mit dir hier am Waldrand, als mich auf einen dieser Abenteurer einzulassen, die hier ein und aus gehen.«

»Das wirst du ganz anders sehen, wenn es so weit ist«, meinte Rose zwinkernd.

Snow hatte ganz sicher nicht vor, sich so schnell zu verlieben, zu heiraten und Kinder zu kriegen. Es war nicht so, dass sie nicht schon davon geträumt hätte, in einem schönen weiß gestrichenen Haus in Baton zu leben, lachende Kinder um sich zu haben und einen kleinen Garten zu pflegen und zu hegen. Doch sie hatte Rose und das Gasthaus. Sie würde ihre Schwester niemals alleine lassen, auch wenn sie hier im Schatten des Waldes lebten, wo in den Gärten nichts anderes wuchs als die Rosen ihrer Mutter.

Weiße und rote waren es, die auch im Winter Blüten trugen und sie stets daran erinnerten, wie lieb sie ihre Mutter doch gehabt hatte und wie wichtig ihr dieses kleine, beschauliche Gasthaus gewesen war.

Snow schlang ihren Umhang enger um den Körper, als sie nach draußen trat und ihr der kalte Herbstwind an den Haaren zupfte. Es war eine sternklare Nacht. Ihr Atem zeichnete sich neblig in der klirrenden Kälte ab. Als sie auf den gefrorenen Boden trat und ihren Blick nach oben richtete, sah sie die ersten zarten Schneeflocken am Himmel tanzen – die Vorboten eines langen, harten Winters.

Eilig lief sie über den Hof und schlüpfte durch das Tor in die Scheune. Stockfinster war es hier, doch Snow brauchte kein Licht. Sie wusste, wo die Rüben lagen, und hätte auch keine Hand frei gehabt, um die Laterne mit sich zu tragen, wenn sie erst einmal den schweren Sack zu schleppen hatte.

Sie wandte sich dem dunklen Raum zu und hatte noch keinen Schritt getan, da packte sie jemand von hinten und zerrte sie hinter die Tür. Sie hätte geschrien, doch der Fremde presste ihr seine Hand auf den Mund.

Panik stieg in ihr auf. Die düstersten Gesellen trieben sich manchmal in ihrer Wirtsstube herum. Es bestand kein Zweifel, dass es die Hände eines Mannes waren, die sie hielten. Er roch nach süßlichem Schweiß, Wald und nassem Fell, aber nicht nach Bier und Wein. Das machte ihr am meisten Angst und trieb ihr die Tränen in die Augen. Wer auch immer sie festhielt, war kein betrunkener Gast, der ungeschickt und übermutig gewesen wäre. Der Mann wusste genau, was er tat, und war um ein Vielfaches stärker als sie.

»Keinen Ton«, zischte er ihr ins Ohr.

Erst jetzt bemerkte Snow, dass sie ihm die ganze Zeit in die Hand geschrien hatte. Ihr Atem ging noch immer schnell, doch sie tat, was er verlangte, und schwieg.

Würde er sie loslassen, wenn sie ihm gehorchte? Und würde Rose sie hören können, wenn sie dann schrie? Tatsächlich lockerte der Mann seinen Griff. Sofort warf Snow sich nach vorne, doch sie war nicht schnell genug. Er zog sie wieder an sich heran, stolperte dabei rückwärts und sie beide schlugen gegen die Wand.

Hatte er geschwankt? Er war vielleicht doch betrunken und sie hätte eine Chance, ihn zu überwältigen. Doch das war es nicht. Der Mann stöhnte bei dem Aufprall, als habe er Schmerzen. Er war verletzt. Das musste es sein.

Snow versuchte etwas zu sagen. Wenn er Hilfe brauchte, musste er doch nur darum bitten. Er musste sie nicht bedrohen.

»Ich lasse dich jetzt los«, sagte er in langsamen, eindringlichen Worten. Seine Stimme klang sanft, freundlich. Gar nicht wie die eines Mannes, der unschuldigen Frauen in dunklen Scheunen auflauerte. »Aber du musst mir versprechen still zu bleiben.«

Snow nickte eifrig.

»Gut«, sagte er und löste die Hand von ihrem Mund.

Sofort wirbelte Snow herum, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können, doch da waren nur Schatten.

Er hielt sie weiter am Arm fest und würde sicher nicht so schnell lockerlassen. Ihr Blick huschte zur Tür, die nur wenige Schritte entfernt lag und um einen Spalt geöffnet war.

»Seid Ihr verletzt?«, fragte sie den Mann.

Er schwieg.

»Braucht Ihr Hilfe, ist es das?«, hakte Snow nach.

»Es darf niemand erfahren«, antwortete er mit brüchiger Stimme.

»Was?«, fragte sie. »Was darf niemand erfahren?«

Er schwankte ein weiteres Mal. Nun spürte sie auch, dass seine Hand zitterte. Wäre sie nicht eben noch in seiner Gewalt gewesen, hätte sie ihn gestützt, als er zu stürzen drohte. Doch so war sie nur froh, als sein Griff sich lockerte und sie endlich von ihm loskam. Er fiel wie ein Sack Rüben zu Boden und blieb liegen.

Zögernd stand Snow einen Moment da, dann lief sie zur Tür. Die Wirtsstube war voller Männer, die sich darum reißen würden, ihr behilflich zu sein den Fremden zu fesseln und nach Banton zu schleppen. Doch was, wenn er ernsthaft verletzt war? Vielleicht sollte sie nur Rose Bescheid geben, damit sie sich um seine Wunden kümmerte, bevor eine Horde übereifriger, betrunkener Männer sich auf ihn stürzte.

Sie hatte das Scheunentor schon in der Hand und konnte den Lichtkegel sehen, den die Laterne am Hintereingang des Gasthauses auf den Hof warf, als sie sich entschied, nichts dergleichen zu tun.

Sie kehrte um und sank neben dem Mann auf die Knie. Niemals hätte sie es sich verzeihen können, wenn er verbluten würde, während sie Rose von den Geschehnissen berichtete. Er war ohnehin keine Gefahr mehr für sie.

Snow packte den Fremden an der Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Er war ein junger Mann mit feinen Zügen, die unter einem dichten Bart und struppigem, langem Haar kaum zu erkennen waren. Der Geruch nach nassem Tier stammte von dem Fell an seinem Kragen. Er trug solide Kleidung, die zerschlissen, aber von guter Qualität war. Vielleicht war er einer der wenigen Abenteurer, die sich mit den Feen eingelassen und es lebend wieder aus dem Wald geschafft hatten. Vielleicht war er aber auch nur ein Jägersmann, der bei dem Zusammenstoß mit einem Eber den Kürzeren gezogen hatte.

So oder so war Snows Angst mit einem Mal verflogen. Er war verletzt und egal wer er war, er brauchte Hilfe.

Sie tastete seinen Körper ab und griff gleich mehrere Male in Blut. Die Zeit, jemanden herbeizurufen, blieb ihr nicht. Sie wagte es nicht einmal, zurückzulaufen, um die Laterne zu holen. Stattdessen schob sie das Tor weiter auf, sodass der Körper des bewusstlosen Mannes in den bläulichen Schein des Mondes getaucht wurde.

Rose und Snow waren hier draußen auf sich allein gestellt. Wunden zu versorgen gehörte ebenso zu ihrem Alltag wie das Ausbessern des Daches und das Erschlagen von Ratten. Wie oft waren schon stolze Männer in Rüstung in ihr Gasthaus gekommen und hatten sich tags darauf von den Schwestern ihre zahllosen Wunden versorgen lassen? Es waren nicht nur die Feen und Waldgeister, die den verwunschenen Wald gefährlich machten. Auch Wölfe und Bären gab es dort, die mit ihren seidigen Fellen die Jäger anlockten und sie mit Zähnen und Krallen in die Flucht schlugen.

Flink knöpfte sie dem Mann das Hemd auf und untersuchte die Schürfwunden an seinem Oberkörper. Er stöhnte, als sie eine tiefere Verletzung betastete und ihre Finger über seine Rippen wandern ließ.

»Ihr hättet in die Stube kommen sollen«, murmelte sie. »Niemand muss sich schämen um Hilfe zu bitten, auch wenn Ihr gestern vielleicht noch vor euren Freunden groß getönt habt, dass ihr Heldentaten vollbringen würdet, und heute geschlagen heimkehrt. Es ist mannhafter, einzugestehen, verloren zu haben, als eine Frau im Dunkeln zu überfallen.«

Der Fremde antwortete natürlich nicht. Er war längst nicht mehr bei Bewusstsein.

Snow verband ihm die Wunden notdürftig mit den Fetzten seines Hemdes. Die Blutungen konnte sie stoppen, doch für mehr brauchte sie Wasser, Salbe und saubere Tücher.

Es war bitterkalt hier draußen, sodass sie den Mann in ihren Umhang hüllte, bevor sie ging. Er hatte viel Blut verloren und fühlte sich bereits so kalt wie der Tod selbst an. Nachdem er es bis hierhergeschafft und überlebt hatte, so dumm gewesen war, sich in die Scheune zu schleichen, statt in die gut besuchte Stube zu treten, und das Glück gehabt hatte, auf sie zu treffen und nicht auf einen der Männer, die wohl kurzen Prozess mit ihm gemacht hätten, durfte es nicht sein, dass er am Ende erfror und Snows Bemühungen umsonst gewesen wären.

Zitternd vor Kälte lief sie zurück zum Gasthaus und war froh, endlich wieder im Warmen sein zu können.

»Wo warst du so lange?«, begrüßte ihre Schwester sie. »Und wo ist dein Umhang? Viel wichtiger: Wo sind die Rüben?«

Snow schüttelte den Kopf.

»Keine Rüben. Ich erkläre es dir morgen.«

Rose sah sie skeptisch an, bekam aber keine weitere Erklärung von ihrer jüngeren Schwester. Wenn sie jetzt berichtete, dass in der Scheune ein Mann lag, würde Rose für einen Aufruhr sorgen, der böse enden konnte.

»Wie du meinst«, seufzte Rose resigniert und machte sich wieder an die Arbeit.

Auch Snow schüttelte die Geschehnisse der letzten Stunde ab und versuchte, nicht mehr an den Mann zu denken, der ohnmächtig in der Scheune lag. Sie schmeckte noch immer seinen Schweiß auf ihren Lippen, doch auch das versuchte sie zu verdrängen. Natürlich gelang ihr das nicht. Wie könnte es auch? Ein Fremder hatte sie überfallen, ihr Todesangst eingejagt, und alles in ihr drängte darauf, es ihrer Schwester zu erzählen, der sie sonst immer alles erzählte.

Es war ihr, als würde die Zeit stillstehen und sie für den Rest der Ewigkeit dazu verdammt sein, Humpen zu schleppen und deftige Mahlzeiten zu servieren.

Rose war viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt, um zu bemerken, dass Snow nicht ganz bei der Sache war. Sie wirbelte hinter der Theke wie Laub im Sturm, machte drei Handgriffe zeitgleich, zapfte Bier, spülte Gläser, wischte die Theke und fand irgendwo noch die Zeit, die Teller mit Fleisch, Brot und Käse zu füllen.

Snow kam es an Abenden wie diesen, an denen die Schenke brechend voll war, vor, als würde ihre Schwester keinen Atemzug tun, bis der Mond endlich hoch am Himmel stand, die Männer aus Banton zu ihren Frauen heimkehrten und die Reisenden ihre Zimmer im oberen Stockwerk aufsuchten. Dann endlich atmete Rose tief durch und erledigte die letzten Handgriffe in aller Ruhe und mit einem Lächeln auf den Lippen.

»Die wollten heute gar nicht mehr gehen, was?«, fragte sie an Snow gerichtet.

»Was?«, fragte sie, obwohl sie die Frage eigentlich verstanden hatte. Snow war in Gedanken bei dem Mann in der Scheune und überlegte schon eine geraume Zeit, wie sie ihrer Schwester davon berichten könnte, ohne sie wütend zu machen.

»Du stehst schon den ganzen Abend neben dir«, stellte Rose fest. »Stimmt etwas nicht? Hat einer der Männer dich angepackt?«

»Nein, nein!«, wehrte Snow vehement ab, trug aber wohl zu dick auf, denn Rose straffte sofort ihre Haltung und fixierte ihre jüngere Schwester durch schmale Augen.

»Wenn einer von ihnen auch nur ein abfälliges Wort über dich verloren hat …«, zischte sie mit erhobenem Putzlappen. »Wehe dem, der meiner Schwester zu nahetritt!«

»Das ist es wirklich nicht«, beteuerte Snow.

Sie traute Rose durchaus zu, einen Gast nach dem anderen aus seinem Bett zu zerren und zu verhören. Wenn es um Snow ging, konnte Rose ganz schnell zur Furie werden. Deswegen hatte sie ihr auch kein Wort über den Mann in der Scheune gesagt. Sie wäre ausgerastet und hätte keine Rücksicht auf Verluste genommen.

Auch jetzt, nachdem Ruhe eingekehrt war und Snow den ganzen Abend schon darauf gewartet hatte, ihr zu berichten, konnte sie den Gedanken nicht abschütteln, dass es vielleicht besser wäre, Rose nichts zu sagen. Es bestand immerhin die Möglichkeit, dass der Mann sich bis zum Morgen erholte, sich bedankte und abreiste, sodass Rose nie erfahren müsste, dass er ihre kleine Schwester bedroht hatte. Doch diese Chance war mehr als gering. Er war ganz übel zugerichtet worden und so befürchtete Snow eher, dass er am nächsten Tag nicht mehr am Leben war. Es blieb ihr nichts anderes, als ihrer Schwester davon zu erzählen.

Sie seufzte schwer und kam zur Theke, wo Rose noch immer auf eine Erklärung wartete.

»Als ich vorhin Rüben holen wollte, bin ich jemandem begegnet«, begann sie.

»Einem Mann? Hat er dir aufgelauert?«, fragte Rose bestürzt und zornig zugleich. »Er hat dich doch nicht etwa angefasst?«

Snow konnte durchaus verstehen, dass Rose immer nur das eine befürchtete. Wenn man es tagtäglich mit betrunkenen Männern zu tun hat, sieht man nur deren Schattenseiten, und bald kann man nichts anderes mehr sehen. Dann nutzte es auch nicht, dass der Bäcker aus dem Dorf freundlich lächelte und von seinen lieben Kindern erzählte, wenn er tags zuvor lallend unter dem Tisch gelegen, von dem prallen Busen der Pfarrerstochter geschwärmt und sich in seinem eigenen Erbrochenen gewälzt hatte. Nein, da nutzten keine lieben Worte, um so etwas vergessen zu machen, und nichts Gutes blieb, das man von den Männern halten könnte, wenn ein jeder von ihnen schon einmal ähnliche Ausfälle gehabt hatte.

Snow aber glaubte an das Gute in den Menschen.

Es war das Bier, das die Schattenseiten zum Vorschein brachte, und nicht jeder frönte ihm. Auch wenn es unter den Männern im Dorf vielleicht keine Ausnahme gab, so hatte sie auch oft schon Gäste gehabt, die auf dem Weg zum Königspalast von Farrendale waren, die gesittet blieben, kaum einen Becher Wein leerten und neben reichlich Trinkgeld auch freundliche Worte und ein Lächeln daließen.

»Mich hat niemand angefasst«, behauptete Snow, obwohl es ja anders gewesen war. Der Mann in der Scheune hatte aber so eine vertrauensvolle Stimme gehabt, dass sie nicht daran glauben konnte, dass sein Übergriff ihm nicht leidtäte, wenn er wieder bei Sinnen war. »Als ich in der Scheune war, war dort ein Mann. Er ist verletzt und …«

»Warum sagst du das nicht gleich?«, unterbrach Rose sie und warf ihren Putzlappen weg. »Ist er noch dort? Sind die Wunden tief?«

»Er blutet stark und ist nicht bei Bewusstsein«, erklärte Snow.

»Ach, Snow, du hättest etwas sagen müssen«, warf Rose ihr vor. »Dort draußen erfriert er ja und jetzt ist das Feuer fast niedergebrannt.« Sie deutete auf den Kamin.

»Ich hatte Angst, dass die Männer unüberlegt handeln würden und wir ihm nicht mehr hätten helfen können.«

Rose war bereits in der Küche verschwunden und kam mit dem Verbandskoffer wieder.

»Wie kommst du denn auf den Gedanken? Sie hätten uns helfen können ihn in die Stube zu bringen.«

Snow konnte ihr ja schlecht sagen, dass sie gelogen hatte und der Mann handgreiflich geworden war. Hätte sie das einige Stunden zuvor berichtet, wäre die Hölle ausgebrochen.

»Er sieht ziemlich heruntergekommen aus. Vielleicht ist er auf der Flucht und muss sich verstecken. Er hatte sicher einen Grund, die Scheune aufzusuchen und nicht gleich ins Haus zu kommen«, meinte sie.

Rose hielt inne.

»Du meinst also, du hast nichts gesagt, weil du vermutest, dass er ein Verbrecher ist? Und deswegen willst du ihn versteckt halten? Einen Dieb oder gar Mörder? In unserer Scheune?«

So wie Rose das sagte, hörte es sich wirklich nicht nach einer guten Idee an.

»Ja, so ungefähr«, gab sie verlegen lächelnd zu.

Rose warf den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass Snow befürchtete, sie würde die Gäste im Obergeschoss aus den Betten holen.

»Du bist zu süß, kleines Schwesterchen«, sagte sie noch immer lachend. »Du würdest noch die Wunden eines Bären versorgen, der dir zuvor das Bein abgerissen hat.«

»Das vielleicht nicht gerade«, wehrte Snow ab.

»O doch, genau das«, entgegnete Rose schief grinsend. »Und jetzt komm, wir wollen uns deinen Bären genauer ansehen.«

Snow nahm die Laterne vom Haken und führte ihre Schwester über den Hof. Auf dem Weg dorthin überkam sie die Angst, dass der Mann verschwunden sein könnte. Dabei wäre das doch das Allerbeste gewesen. Ihre Sorgen wären sie damit mit einem Schlag los. Doch sie wollte nicht, dass er verletzt und auf sich alleine gestellt durch den verwunschenen Wald irrte oder zu später Stunde nach Banton ging, wo Gauner und Halunken an jeder Ecke lungerten.

Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als der Mann noch genauso dalag, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Schnell mischte sich aber die Angst dazu, er könne die letzten Stunden trotz Druckverbänden und wärmendem Schurwollumhang nicht überstanden haben.

»Das ist er?«, fragte Rose.

»Was denkst du, wie viele Männer hier in der Scheune liegen?«, fragte Snow kichernd. Rose stimmte mit ein.

»Du hast als Kind auch immer gleich mehrere verletzte Eichhörnchen, Vögel und Kaninchen in Kisten in deinem Zimmer sitzen gehabt, da ist die Vermutung, dass du hier ein halbes Dutzend Männer untergebracht hast, die du alle gesund pflegen möchtest, gar nicht mal so abwegig«, neckte Rose ihre Schwester.

Sie lief zu dem Mann und stellte den Verbandskasten neben ihm ab. Snow kam nur zögerlich näher. Zum einen hatte sie noch immer die Befürchtung, er könne tot sein, zum anderen aber auch die, dass das Gute in seinen Zügen, von dem sie sicher gewesen war es gesehen zu haben, verschwunden war.

»Komm schon näher, ich brauche Licht«, forderte Rose sie auf.

Sie hielt dem Mann ihre Hand über den Mund, um festzustellen, ob er noch atmete. Als Rose erleichtert nickte und sich dem Verbandskasten widmete, war Snow beruhigt. Sie ging neben ihrer Schwester in die Hocke und stellte die Laterne ab.

»Du hast recht gehabt«, meinte Rose, während sie die Tinktur zur Wundversorgung auf eine Mullbinde träufelte. »Er sieht wirklich aus wie ein Herumtreiber. Sicher hatte er seine Gründe, nicht in die Stube zu kommen.«

»Du denkst, er ist ein Verbrecher?«, fragte Snow.

»Ich denke, das muss er uns selbst beantworten, wenn er wieder bei Bewusstsein ist.«

Snow betrachtete das Gesicht des schlafenden Mannes. Er sah friedlich aus, blass und mitgenommen, aber geirrt hatte sie sich nicht. Er hatte etwas an sich, das einem Vertrauen einflößte.

Rose kümmerte sich um die Verletzungen, reinigte die Wunden und kündigte schließlich an, heißes Wasser holen zu müssen. Snow nickte das ab und strich dem Mann das schweißnasse Haar von der Stirn.

»Er hat Fieber«, stellte sie besorgt fest, doch Rose war bereits gegangen.

Auch wenn die Blutungen gestoppt waren, war das noch längst kein Garant dafür, dass er überlebte. Sie würden ihr Bestes geben, aber oft war das nicht gut genug. Fieber war ein erstes Anzeichen für Wundbrand und wer erst einmal darunter litt, verlor mit etwas Glück nur ein oder zwei Gliedmaßen, doch oft sein Leben.

Plötzlich schlug der Mann die Augen auf. Es war, als habe er bemerkt, wie lange Snow ihn betrachtet hatte, und nun erwiderte er den Blick. Snow war wie erstarrt.

Unter all dem Dreck, dem filzigen Bart und wirren Haar verbarg sich ein junger Mann, der verwirrt schien, Schmerzen hatte und dessen tiefblaue Augen sie nun direkt ansahen.

Genau solche Augen waren es, wegen denen Snow auch einen Bären versorgt hätte, wenn er auch zuvor noch ein gefährliches Monster gewesen wäre. Denn ein Bär war auch nur ein Tier, das nichts Böses im Sinne hatte, das nur kämpfte, um zu überleben. Der Mann hatte dieselben Augen wie ein unschuldiges Tier. Vielleicht war er ein Verbrecher, doch wenn er etwas Unrechtes getan hatte, dann glaubte Snow nicht daran, dass es aus bösem Willen geschehen war. Heutzutage reichte es doch schon aus, einen Laib Brot zu stehlen, um verurteilt zu werden und als Dieb zu gelten. Der Mann hatte ja vielleicht nur Hunger gelitten oder seine Familie versorgen wollen.

»Es wird alles wieder gut«, versprach sie. »Ihr seid hier sicher und Eure Wunden werden versorgt.«

Der Mann öffnete den Mund, sagte aber nichts. Stattdessen hob er die Hand und ergriff die ihre. Dann schloss er die Augen wieder.

»Er hat Fieber«, rief Snow überstürzt, als ihre Schwester wiederkam.

»Das war zu erwarten«, meinte Rose und stellte die Schüssel warmen Wassers neben dem Verbandskasten ab. Sie bemerkte die Hand, die Snow noch immer hielt, und ein Lächeln huschte ihr über die Lippen. »Aber keine Sorge, wir kriegen dein Vögelchen schon wieder fit.«

Den Mann mit einem Vogel zu vergleichen, dessen gebrochener Flügel versorgt werden musste, passte ganz gut, wenn man bedachte, dass er wahrscheinlich vogelfrei war. Snow hoffte nur, dass sie sich keinen Ärger einhandelten, wenn sie ihm halfen.

Seit dem Tod ihrer Mutter kreisten die Geier ohnehin schon über ihren Köpfen. Das Wirtshaus war lukrativ und so mancher Dorfbewohnter hoffte darauf, dass die beiden jungen Schwestern bald überfordert wären und das Haus für wenig Geld an den nächstbesten Interessenten verkauften. Wenn es sich nun herausstellen würde, dass sie einem Verbrecher Unterschlupf gewährten, wäre das ein gefundenes Fressen für die Leichenfledderer, die es auf den Traum ihrer Mutter abgesehen hatten.

VignetteEin LächelnVignette

Es ist egal, was gestern war,
Was morgen kommt, ist einerlei.
Das, was zählte, als ich dich sah,
War nur, wie ehrlich dein Lächeln sei.

Snow lag wach in ihrem Bett. Sie konnte einfach nicht schlafen, solange sie nicht wusste, wie es dem Mann in der Scheune ging.

Sie hatten ihm ein Bett aus Stroh bereitet, ihm warme Decken gebracht und Rose hatte seine Wunden versorgt. Doch sein Fieber war immer noch hoch gewesen. Es standen Wasser und Brot für ihn bereit, sollte er zu sich kommen, und die Scheune war verriegelt, sodass ihn niemand zufällig finden konnte.

Snow konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie bei ihm hätte bleiben sollen. Was, wenn das Fieber stieg? Wenn er aufwachte und nicht wusste, wo er war?

Sie zwang sich dazu, liegen zu bleiben, versuchte die Augen zu schließen und zumindest eine Stunde zu schlafen. Als dann die ersten Gäste zu hören waren, hielt sie es nicht mehr aus und stand auf.

Rose war bereits im Wirtszimmer, als Snow nach unten ging. Sie erkannte wohl sofort, dass ihre kleine Schwester unbedingt nach draußen wollte, um nach dem Mann zu sehen, und drückte ihr eine Servierplatte in die Hand, bevor sie auf dumme Gedanken kommen konnte.

»Wir haben das Haus voller Leute«, flüsterte sie in scharfem Ton. »Erst wird das Frühstück serviert, dann versorgen wir die Tiere.«

Letzteres sagte sie auf eine Weise, die keinen Zweifel daran ließ, von wem die Rede war. Auch wenn es Snow schwerfiel, sah sie ein, dass ihre Schwester recht hatte, und ging ihren Pflichten nach.

Selten blieb mal ein Reisender länger als eine Nacht. Das kleine Gasthaus am Rande des Waldes war die letzte Einkehrmöglichkeit vor dem Königsschloss, zu dem die meisten von ihnen unterwegs waren. In wenigen Stunden wäre die Stube leer und erst am Abend kämen die Männer aus dem Dorf, um sich zu betrinken und zu feiern.

Snow erledigte, was sie jeden Morgen zu tun hatte, servierte das Frühstück, fegte die Zimmer und zog die Betten neu auf. Die Wäsche warf sie auf einen Haufen, um den sie sich später kümmern würde.

Rose brachte die Küche auf Vordermann und sammelte alle Essensreste in einem Eimer für die Hunde.

»Dann gehe ich jetzt die Tiere füttern?«, fragte Snow ungeduldig.

Rose sah sich um. Das Gasthaus war beinahe leer. Nur ein älterer Mann mit seinen zwei Töchtern saß noch an einem Tisch in der Ecke.

Sie nickte.

»Ja, aber beeil dich«, sagte sie.

Das ließ sich Snow nicht zweimal sagen. Sie schnappte sich den Eimer und ihren Umhang und verließ die Stube durch den Hinterausgang.

Die Hunde wussten bereits, was sie erwartete, und kamen freudig wedelnd auf sie zu gerannt. Sie bellten und sprangen aufgeregt vor ihr hoch, sodass Snow alle Mühe hatte voranzukommen.

»Nicht so stürmisch«, mahnte sie die Rasselbande und kämpfte sich mit gerafftem Rock und hochgehobenem Eimer bis zur Scheune vor, wo sie die Essensreste in den Schweinetrog kippte.

Während die Hunde sich gierig über ihre Mahlzeit hermachten, sah Snow sich noch einmal um. Es war niemand zu sehen, sodass sie unbehelligt den Riegel aufschieben und in der Scheune verschwinden konnte.

»Hallo?«, flüsterte sie, bekam aber keine Antwort.

Als sie um den alten Karren gelaufen war, hinter dem sie das Lager aus Stroh und Decken bereitet hatten, fand sie den Mann noch immer schlafend vor. Das Essen hatte er nicht angerührt.

Sie war erleichtert und betrübt zugleich. Zu gerne hätte sie Antworten von ihm erhalten. Zumindest seinen Namen wollte sie unbedingt erfahren. Sie ließ sich neben ihm nieder, fühlte seine Stirn und tauchte den Lappen in die Schüssel mit Wasser, um ihn damit zu kühlen.

Viel Zeit durfte sie sich nicht lassen. Noch immer waren Gäste im Haus und bis zum Abend gab es noch viel zu erledigen.

»Ihr seid jung und stark, Ihr werdet das Fieber besiegen«, versprach sie dem Mann. Sie tupfte ihm die Stirn ab, wusch ihm den Dreck aus dem Gesicht und die Tränen aus den Augenwinkeln. Seine Lippen waren spröde und rissig. Er musste endlich zu sich kommen und etwas trinken, damit er wieder zu Kräften kommen konnte, doch er regte sich nicht.

»Ich komme bald wieder«, versprach Snow und versicherte sich, dass die Decken fest um seinen Körper geschlungen waren, bevor sie sich erhob.

***

Snow stürzte sich an diesem Tag in die Arbeit. Sie war schon immer fleißig gewesen, doch heute war sie besonders bemüht ihre Finger zu beschäftigen. Sie wusch die Laken, flickte sie, wo sie Löcher hatten, putzte die Fenster und setzte das Gemüse für den Eintopf auf.

»Ich gehe ins Dorf, besorge Brot und Kerzen. Brauchst du noch etwas?«, fragte Rose. Sie hatte ihren Umhang bereits angezogen und trug einen großen Flechtkorb auf den Schultern.

»Nein, geh nur, ich komme zurecht«, versicherte Snow.

Sie begleitete ihre Schwester zur Tür und konnte nicht umhin, einen Blick auf die Scheune zu werfen, als sie ins Freie trat.

»Es gibt noch genug zu tun«, ermahnte Rose sie.

»Ich weiß«, seufzte Snow, dachte aber nicht daran, wieder ins Haus zu gehen. Rose sah ihr das wohl an der Nasenspitze an, denn sie schüttelte nur seufzend den Kopf und ging.

Wenn Rose nicht selbst gesehen hätte, dass der Fremde schwer verletzt und geschwächt war, hätte sie Snow wohl kaum mit ihm alleine gelassen. Rose wusste ja auch nicht, dass er sie bedroht hatte. Snow schrieb diesen Vorfall aber ganz seiner Angst und den Schmerzen zu. Sie glaubte nicht daran, dass er ihr ernsthaft etwas getan hätte.

Kaum dass Rose außer Sicht war, lief sie wieder zur Scheune und sah nach dem Rechten. Der Mann schien noch immer nicht zu Bewusstsein gekommen zu sein und so langsam machte Snow sich ernsthaft Sorgen.

Wieder ließ sie sich neben ihm nieder und wusch den Lappen im kalten Wasser aus, da drehte er ihr den Kopf zu und sah sie direkt an.

»Ihr seid wach!«, stellte Snow erleichtert fest.

Der Mann öffnete den Mund, doch kein Ton kam über seine Lippen.

»Ihr müsst etwas trinken«, gebot sie ihm und nahm den Becher zur Hand.

Der Mann nickte schwerfällig, war aber wohl zu schwach, um sich aufzurichten, also legte Snow ihm das Tongefäß an die Lippen und half ihm, den Kopf anzuheben.

Er trank gierig. Das Wasser lief ihm über die Mundwinkel und ließ ihn husten. Snow tupfte ihm den Bart trocken und schenkte ihm ein Lächeln.

»Ihr werdet Euch schnell wieder erholen. Wie ist Euer Name?«, fragte sie.

Der Mann sagte etwas mit rauer Stimme. Es war kaum mehr als ein Flüstern und unmöglich zu verstehen. Dann schloss er wieder die Augen. Es ging ihm wirklich nicht gut und Snow musste sich fragen, was ihm wohl widerfahren war. Seine Wunden deuteten auf einen Kampf hin. Sie wusste nicht, ob Feen und Kobolde mit Pfeilen und Schwertern kämpften – wohl eher mit Flüchen und Verwünschungen.

Sie hätte sich wirklich gewünscht, er wäre einer jener Männer, die tollkühn in den Wald zogen, um Abenteuer zu erleben. Wenn seine Verletzungen aber von Menschen stammten, könnten ebenjene Männer bald schon vor ihrer Türe stehen.

»Mein Name ist Snow«, erklärte sie. »Wie der Schnee, weil ich so blass bin und meine Haare so hell und auch meine Augen, seht Ihr?«

Sie deutete auf ihre blassblauen Augen. Dass sie nur Blödsinn von sich gab, wusste sie, aber ihr fiel nichts Besseres ein, was sie hätte sagen können, und zu schweigen wollte ihr einfach nicht gelingen.

Der Mann öffnete die Augen wieder und ein Lächeln huschte ihm über die Lippen. Snow war erleichtert, dass er ihr ihren Redeschwall nicht übel nahm.

»Mein Name …«, begann er mit brüchiger, fast tonloser Stimme, hielt dann aber die Luft an.

Rose hatte gesagt, er habe mehrere gebrochene Rippen. Tief einzuatmen, zu reden oder gar zu lachen musste ihm Schmerzen bereiten. Es wäre vielleicht klüger gewesen, ihn sich ausruhen zu lassen. Er brauchte Schlaf und Zeit, um sich zu erholen. Doch sicher war er auch einsam. Snow jedenfalls hätte sich an seiner Stelle einsam gefühlt und gewünscht, mit jemandem reden zu können.

»Ihr braucht sicher Ruhe«, meinte sie, nachdem er nicht mehr weitersprach. »Ich sollte besser gehen.«

»Nein!«, widersprach er energischer, als es ihm wohl lieb war, denn gleich darauf biss er sich auf die Lippen und entschuldigte sich. »Chris ist mein Name.«

»Chris«, widerholte sie lächelnd, schürzte dann aber die Lippen. »Ihr habt mich hinterrücks überfallen. Das nehme ich Euch noch immer übel. Aber meine Schwester und ich gehören nicht zu den Menschen, die jemanden, der Hilfe braucht, abweisen. Ihr könnt also gerne bleiben, bis Ihr Euch erholt habt.«

»Danke«, sagte er schlicht und sah sie noch eine Weile durchdringend an, bevor er den Kopf zum Scheunengebälk drehte und sein Blick sich in der Dunkelheit verlor.

»Wollt Ihr Euch nicht entschuldigen?«, fragte Snow. »Oder erklären, wer Ihr seid?«

Er atmete tief durch und wie es sich Snow gedacht hatte, bereitete ihm das wohl Schmerzen. Er biss sich auf die Lippe und schloss die Augen.

»Ich weiß nicht« sagte er.

»Ihr wisst nicht, ob Ihr Euch entschuldigen wollt, oder wisst Ihr nicht, wer Ihr seid?«, hakte Snow nach.

»Ich kann mich nicht erinnern«, erklärte er, hob die Hand und fuhr sich durchs Gesicht. Sein Bart schien ihn zu irritieren. Selbst seine eigene Hand schien ihm fremd zu sein.

Seine Worte hatten ihre Frage nicht wirklich beantwortet. Hatte er den gestrigen Tag vergessen oder alles, was davor geschehen war? Zumindest seinen Namen wusste er. Da war es sicher nur eine Frage der Zeit, bis auch die anderen Erinnerungen zurückkehrten.

»Ihr solltet Euch jetzt wirklich ausruhen, damit Ihr bald wieder zu Kräften kommt«, meinte Snow.

»Erzähl mir mehr von deinem Namen«, bat er sie.

Snow schüttelte verwundert den Kopf.

»Da gibt es nicht mehr zu erzählen«, erklärte sie. »Was wollt Ihr denn wissen?«