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Ljuba Arnautović, geboren 1954 in Kursk (UdSSR), lebt nach wechselnden Aufenthalten in Wien, München und Moskau seit 1987 in Wien. Studium der Sozialpädagogik, Mitarbeit an Projekten des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), Russisch-Übersetzerin, Rundfunkjournalistin. Zahlreiche Radiofeatures, Reportagen, Essays; Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. »Im Verborgenen« ist ihr erster Roman.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung
der Stadt Wien
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Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Sammlung Hubmann/Imagno/picturedesk.com
ISBN 978-3-7117-2059-7
eISBN 978-3-7117-5366-3

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

LJUBA ARNAUTOVIĆ

Im Verborgenen

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

Meinen Kindern Maja und Aljoscha

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Dank

1

Grau und schwer liegt die Donau in ihrem Bett. Grau und schwer liegt die Wolkendecke über der nächtlichen Landschaft. Niemandem käme in den Sinn, jetzt einen Spaziergang zu machen.

Niemand bemerkt die Frau, die sich mit raschen Schritten dem Ufer nähert. Sie geht leicht gebeugt, ihr Alter lässt sich nicht bestimmen. Ihr brauner Wintermantel ist knöchellang, und sie hat sich einen schwarzen Wollschal um Kopf und Hals gewickelt. Wenige Meter vom Fluss entfernt bleibt sie stehen und sieht sich nach allen Seiten um. Entschlossen geht sie auf die Uferböschung zu und beugt sich zu Boden. Gleich richtet sie sich wieder auf und schaut über das Wasser, das sich wie flüssiges Blei in Richtung Stadt schiebt. Im Weggehen knöpft sich die Frau den Mantel zu, vergräbt die Hände in den Taschen und verlässt den Ort fast im Laufschritt. Die Nacht dämmert unmerklich in einen düsteren Tag hinein.

Die beiden Streifenbeamten, Unterwachtmeister und Anwärter, haben das Flussufer täglich abzugehen. Sie sind jung und insgeheim froh, nicht an die Front zu müssen. Sie kämpfen an der Heimatfront, so hat man es ihnen beigebracht. Auch hier würde der Feind auf der Lauer liegen, er wäre nur schwieriger auszumachen als im Feld. Sie werden ihrem Vaterland vermutlich keine richtigen Helden sein, die Uniform tragen sie dennoch mit Stolz.

Donauaufwärts gehen sie, von der Brigittenau in Richtung Nussdorf. Es ist früh am Morgen. Sie haben eine zerstörte Brücke passiert, deren Pfeiler wie lange dürre Finger aus den Fluten ragen. Die Luft ist herbstlich klamm, Nebel hebt sich vom Wasser und will in Krägen und Ärmel kriechen, da bringt nur ein flottes Ausschreiten etwas Wärme in den Leib. In der Welt tobt ein Krieg. Die Stadt ist mit dem Überleben beschäftigt. Hier draußen ist ein Ort der stillen Tode. Der Fluss nimmt alle auf, die des Lebens müde sind oder an einer Verzweiflung ersticken, und er tut das ohne Ansehen von Stand, Alter, Geschlecht oder Religion.

Eine Wasserleiche haben die beiden jungen Polizisten bisher noch nicht zu sehen bekommen – die Strömung trägt die Körper fort bis zum nächsten Hindernis, oder noch weiter. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die armseligen Reste aufzusammeln, die am Ufer zurückbleiben. Dort vorne liegt schon wieder etwas. Wer vermag zu erklären, warum die Kleidungsstücke meistens ordentlich gefaltet und aufeinandergestapelt sind, ja warum man sich überhaupt entkleidet für diesen Zweck? Zuoberst beschwert ein Paar abgenutzter, aber sichtlich gut gepflegter Herrenschuhe das Häufchen, die Sohlen weisen nach oben. Der Brief steckt in der Brusttasche des für die Jahreszeit viel zu dünnen Mantels. Einer, der ins kalte Wasser zu gehen sich entschlossen hat, denkt wohl nicht mehr daran, sich warm anzuziehen, so geht es dem Jüngeren durch den Kopf, und ein Frösteln fährt durch seinen Körper. Der Ältere faltet das Blatt auseinander.

Wien, Freitag, 20. Oktober 1944

Liebste Mutter! Ich wünsche nichts sehnlicher, als Dir diesen Schmerz zu ersparen. Es erreicht mich eine Vorladung zum Morzinplatz, adressiert an Walter ISRAEL Baumgarten. Bitte verzeih mir, wenn ich mich DEM entziehe. Ich danke Dir für all Deine Liebe und Fürsorge. Im festen Vertrauen auf Gott, und im Glauben auf ein Wiedersehen in einem besseren Reich, verbleibe ich als Dein Dich über alles liebender Sohn Walter.

2

Wien erlebt die letzten milden Herbsttage, aber wenn die Sonne nicht scheint, wird es schlagartig kalt und die Menschen denken mit Schrecken an die vergangenen beiden Kriegswinter zurück. Sie haben Angst – vor der Kälte, die demnächst ihre Stadt in den Griff nehmen wird. Vor den Bomben, die immer öfter auch hier fallen. Und vor dem Hunger.

Eiligen Schrittes hat sich die Frau vom Fluss entfernt. Dort, wo der Donaukanal abzweigt, nimmt sie den rechten Uferweg und biegt nach etwa einer Stunde raschen Gehens nach rechts in die Innenstadt ab. Sie schafft es, ganz außer Atem, gerade rechtzeitig an ihre Arbeitsstelle. Zu ihren Aufgaben gehört es, die Kanzlei aufzusperren und die beiden anderen Angestellten, später dann die Besucher einzulassen. Sobald sie das Haus betritt, findet eine Verwandlung statt – die unscheinbar graue, geduckt gehende Gestalt richtet sich auf und wird ein völlig anderer Mensch.

Eva ist eine etwas füllige, nicht sehr große Frau um die vierzig. In ihrem hellhäutigen runden Gesicht verblassen allmählich die Sommersprossen. Über den hellgrünen Augen ziehen sich ihre Brauen leicht nach unten, was ihren Blick etwas melancholisch wirken lässt. Sie trägt stets dunkle, unmoderne Kleider und eine runde Hornbrille mit einem auffallend dicken linken Glas. Das dunkelblonde, zu dünnen Zöpfen geflochtene und zu einem Kranz über der Stirn gesteckte Haar zeigt an den Schläfen erstes Grau. Den Hinterkopf bedeckt eine handgestrickte schwarze Haube, die von einem eingenähten Haarreifen gehalten wird. Um ihren Hals hängen zwei breite schwarze Samtbänder, eines mit einem schweren silbernen Kreuz, das andere mit einer Lupe. Sie hält sich sehr gerade. Ihr Blick ist respekt-, um nicht zu sagen furchteinflößend. Man hat die Korrektheit in Person vor sich und spürt deutlich, dass diese Frau hier das Sagen hat. Von ihrem Schreibtisch aus überblickt Eva – wie von einem Wachturm – durch offen stehende Türen die angrenzenden Räume. In dem einen arbeiten eine Schreibkraft und der Kanzleibote, der andere, geräumigere, ist der Wartebereich gleich beim Eingang. Eine dritte Tür führt zum Zimmer ihres Chefs und ist meistens geschlossen. Niemand kann kommen oder gehen, ohne von der Sekretärin wahrgenommen zu werden. Ihre Arbeitskollegen wissen wenig über sie, mit ihnen spricht sie nur über Dienstliches. Niemals würde jemand wagen, ihr eine Frage zu ihrem Privatleben zu stellen. Gerade so viel glaubt man zu wissen: Sie ist das älteste Kind einer aus Mähren stammenden Familie (was ihre ausgezeichneten Tschechisch-Kenntnisse erklärt). Sie muss eine eifrige Schülerin gewesen sein (was ihre guten Rechtschreib- und Rechenkenntnisse erklärt), und sie muss eine gute Kinderstube gehabt haben (was ihre Umgangsformen und ihr sicheres Auftreten erklärt). Sie gilt als früh verwitwet und kinderlos; außerdem scheint sie tiefgläubig zu sein. Jener Handvoll Menschen, die sie als ihre Glaubensgeschwister anerkennt, gewährt sie die Anrede »Tante Eva«. Davon, wie sie ihr bisheriges Leben verbracht hat, weiß in diesem Umfeld fast niemand.

In Anbetracht der wenigen noch verbliebenen Aufgaben findet an den Wochentagen in der Kanzlei erstaunlich reger Parteienverkehr statt. Evas Aufgabe ist es, dieses Kommen und Gehen zu lenken. Sie weist die Besucher an zu warten und ruft sie zum Chef oder verkündet den Beginn einer Zusammenkunft. Sie geleitet die Teilnehmer in den Gruppenraum, manchmal serviert sie dünnen Tee und hartes Gebäck. In der Mehrzahl sind es Männer, die hier verkehren. Aufmerksamen Beobachtern würde auffallen, dass die Aktentaschen der Besucher, die an den nachmittäglichen oder abendlichen Bibelstunden teilnehmen, beim Weggehen oft praller gefüllt sind als beim Kommen. Als kirchliche Einrichtung ist der Ort unverdächtig. Beide christlichen Glaubensgemeinschaften, Katholiken wie Protestanten, haben sich vorauseilend schnell dem Naziregime angebiedert. Wer sich jetzt noch zu einer Religion bekennt, gilt als weltfremd oder dumm, man nimmt ihn nicht ernst.

In Friedenszeiten hat es hier viel zu tun gegeben. Es wurden die Kirchenbeiträge eingesammelt und an alle möglichen Einrichtungen verteilt. Von hier aus wurden die evangelischen Religionslehrerinnen, die an den Schulen in Wien und Niederösterreich tätig waren, zentral verwaltet. Hier war der Sitz der außerschulischen Jugendarbeit. Und es wurde die Schriftenreihe Der Gemeindebote herausgegeben. Kirchenbeiträge sind abgeschafft; es gibt gerade noch zwei Religionslehrerinnen in der gesamten Region, die jetzt Niederdonau heißt; die Ferienheime dienen verschiedenen Zwecken, nur nicht der Erholung von Kindern und Jugendlichen; und der Gemeindebote ist längst eingestellt, aus Mangel an Papier und an Nachfrage. Die verbliebenen Mitarbeiter der Kanzlei haben mittlerweile bitter erkennen müssen, dass sie dem falschen Messias gefolgt waren. Der Oberkirchenrat und seine Mitarbeiter, enttäuscht und beschämt, simulieren eine Art Normalität. Stillhalten ist die Parole. Einmal muss jeder Krieg enden, und ganz gleich, wie er ausgeht, die Evangelische Kirche möchte wieder eine Rolle spielen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass diese Zeit nahe ist – sollten die Behauptungen der ausländischen Sender stimmen, deren Empfang streng verboten ist.

Eva zieht Mantel und Überschuhe aus und versucht, sich ihre innere Erregung nicht anmerken zu lassen. Sie geht an ihren Schreibtisch, sperrt die Schubladen auf, nimmt die Abdeckung von der Schreibmaschine. Routiniert verteilt sie die Aufgaben des Tages an die beiden Bürokräfte. Ihre Gedanken sind anderswo.

Erst zwei Tage sind vergangen, zählt sie nach und kann kaum glauben, was alles in der Zwischenzeit geschehen ist. An jenem Mittwoch betrat am frühen Vormittag ein Besucher die Kanzlei, und Eva spürte sofort, dass etwas passiert sein musste.

Sie kennt Walter, er kommt mehrmals die Woche, jedoch nie so früh wie heute – es ist noch nicht einmal zehn Uhr. Er ist gelernter Drogist und arbeitet in der Heilmittelstelle im dritten Bezirk. Als jüngster einer langen Geschwisterreihe bewohnt er zusammen mit der alten Mutter eine Mietwohnung. Wegen eines Geburtsfehlers, einer Lippen-Gaumen-Spalte, wurde er als wehrunfähig ausgemustert. Walter ist ein zurückhaltender, fast schüchterner Mensch. Eva empfindet Sympathie für den stillen Mann. Seine Gegenwart ist ihr angenehm. Nicht nur, weil er ihre Autorität niemals infrage stellen würde. Sie, die glaubt, ihr Herz Männern gegenüber längst verschlossen zu haben, empfindet jedes Mal eine kleine Freude, wenn der elegant Gekleidete durch die Eingangstür tritt und dabei seinen Hut abnimmt. Immer klopft er gegen die offen stehende Tür ihres Arbeitszimmers, wartet ihr Nicken ab, dann durchschreitet er den Raum, nimmt ihre Hand und deutet einen Handkuss an. »Meine Verehrung«, murmelt er dabei, und in letzter Zeit »Meine Verehrung, Tante Eva«, obwohl sie um ein paar Jahre jünger ist als er.

An jenem Mittwoch ist alles anders. Entgegen seiner Gewohnheit behält Walter den Hut auf. Sein Blick ist gehetzt, und er stürmt sofort herein, in der Faust ein Kuvert. In der Mitte des Raumes bleibt er abrupt stehen. Eva erhebt sich und geht rasch zu den beiden Türen, um sie zu schließen. Walter ist an ein Aktenregal getreten, lehnt sich mit der Schulter dagegen und atmet schwer. Sein Gesicht ist schweißnass. Erst jetzt zieht er sich den Hut vom Kopf und wischt sich mit einem Taschentuch die Stirn. Das Kuvert hat er auf den Schreibtisch gelegt. Wortlos bedeutet Eva ihm, sich zu setzen. Sie liest.

Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

Gauleitung Wien – Amt für Sippenforschung

Wien 1, Josef-Bürckel-Ring 3, Gauhaus

An Walter Israel Baumgarten, Wien V, Christophg. 4

An die Geheime Staatspolizei, Stapoleitstelle Wien I,

Morzinplatz 4

An den Herrn Polizeipräsidenten in Wien, Abt. II, Dez. 1b

Wien I, Bräunerstr. 5

Unser Zeichen: Sippe WSch/Fi 01260/18

Wien, am 16. Oktober 1944

Betrifft: Prüfungsergebnis

In Ihrer Abstammungssache gelangte ich auf Grund der zur Verfügung gestellten Urkunden, des von meiner Dienststelle beschafften Materials und der durchgeführten Erhebungen zu folgendem

P r ü f u n g s e r g e b n i s

Der Prüfling Walter IsraelB a u m g a r t e n,geboren am 19. Februar 1896 in Wien, wohnhaft in Wien V, Christophgasse 4, Stand: ledig, ist

J U D E

mit vier der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen im Sinne der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 (RGBl. Teil I, Seite 1333).

Gründe: Der Prüfling, wie oben, wurde geboren und ausw. seines Geburts- und Taufscheines am 12.3.1896 röm-kath. getauft, als ehelicher Sohn des Wirts Ludwig Baumgarten und der Eleonore (Lea) geb. Richter (beide Eltern vorverstorben).

Der Vater des Prüflings, wie vorher, geboren am 16.5.1848 in Wien, ist der eheliche Sohn der Juden Leopold (isr. Geburtsname Simon) Baumgarten, geboren am 7.5.1798 in Aschau/Böhmen, Israelitische Kultusgemeinde, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in der Schottenpfarre zu Wien (Sohn des Handelsmannes Herrmann Baumgarten und der Barbara Popper) und der am 16.2.1831 in Neuzedlisch, Israelitische Kultusgemeinde geheirateten Theresia Steinhart, geboren am 1.12.1812 in Neuzedlisch, röm-kath. getauft am 23.7.1846 in Wien (Tochter des Maierbeer Steinhart und der Barbara Abeles). Seine volljüdische Abstammung ist auf Grund der h.a. beschafften Unterlagen eindeutig nachgewiesen.

Die Mutter des Prüflings, wie vorher, geboren am 10.9.1859 in Lemberg, kath., ist als eheliche Tochter des Samuel Richter und Fanny Zuckerberg ebenfalls zweifellos volljüdischer Abstammung.

Der Prüfling verstand es bisher, seine volljüdische Abstammung, die ihm selbst keinesfalls unbekannt geblieben sein kann, zu verschleiern und sich bei allen Dienststellen als Mischling I. (ersten) Grades auszugeben.

Der Prüfling, selbst niemals dem Judentum angehörig, war auf Grund der oben angeführten Beweise als

J u d e

rassisch einzuordnen.

Dem Prüfling wird aufgetragen, sich unverzüglich nach Erhalt dieses Schreibens in der Stapo-Leitstelle Wien I., Morzinplatz 4, Eingang Salztorgasse, einzufinden. Gegenständliches Schreiben ist mitzuführen und gilt gleichzeitig als Passierschein.

3

Die beiden jungen Streifenpolizisten bringen ihren Fund zur Wachstube, machen Meldung an den Vorgesetzten, schreiben ein Protokoll samt Wortlaut des Abschiedsbriefs und einer Liste der aufgefundenen Kleidungsstücke und Gegenstände.

Es ist später Nachmittag, als ein Kriminalbeamter in Zivil an einer Wohnung im zweiten Stock eines Zinshauses im fünften Wiener Bezirk läutet, der Wohnadresse des mutmaßlichen Selbstmörders. Der Beamte hat zu überprüfen, ob es sich nicht um ein Vortäuschen handelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer seinen Tod inszeniert, um sich dem Zugriff der Staatsgewalt zu entziehen. Es wurde keine Leiche gefunden, und dieser Mann hätte jeden Grund gehabt – für ein Abtauchen ebenso wie für einen Selbstmord.

Obwohl die Wohnung klein ist, braucht Aloisia, deren Beine immer etwas steif sind nach längerem Sitzen, eine Zeit lang, bis sie an der Tür ist. Zu lange für den Besucher, der dreht ungeduldig die Klingel. Endlich öffnet sich die Tür. Bevor der Blick der mageren alten Frau das Gesicht des groß gewachsenen Fremden erreicht, wird sie des Kleiderbündels auf seinem Arm gewahr. Der Anblick der Schuhe nimmt ihren Knien die Kraft. Der Beamte reagiert schnell. Mit seinem freien Arm fasst er sie unter der Achsel und schiebt sie zu einem Sessel in der Küche. Das Kleiderbündel legt er auf den Tisch. Wortlos holt er den Abschiedsbrief hervor und streckt ihn der Frau entgegen. Er verlangt das Zimmer ihres Sohnes zu sehen. Sie deutet in eine Richtung, dann überfliegt sie die Zeilen und drückt ihr Gesicht lange in das Papier, wie in ein Taschentuch. Der Polizist rumort herum, öffnet den Kleiderschrank, besieht sich das Gewand, zählt Krawatten, Socken, Unterwäsche, hebt die Matratze an, macht Notizen. Er öffnet Schreibtischschubladen, blättert in Papieren, liest. Danach durchsucht er das Schlafzimmer der alten Frau.

Als er in die Küche zurückkommt, fragt er nach einem Glas Wasser und wie es komme, dass sie einen Volljuden zum Sohn habe. Mit zitternder Hand zeigt Aloisia auf den Wasserkrug. »Walter ist …« Der fremde Klang ihrer Stimme lässt sie gleich wieder verstummen. Sie setzt sich gerade, holt sich mühsam die Luft zum Weitersprechen: »Aber das hab ich doch längst vergessen, dass er gar nicht mein Kind … von klein auf … Ich hab den Buben zu einem guten Christen erzogen … ein braver Sohn. Er sorgt für mich.« Sie sinkt in sich zusammen. Ihr »Was soll denn nur werden« ist kaum zu hören, aber es interessiert den Besucher ohnehin nicht. Der nimmt sich ein Glas aus der Kredenz und inspiziert bei dieser Gelegenheit deren Inhalt, hebt den Deckel der Zuckerdose an, wühlt in der Bestecklade, verlangt dann noch Walters Zahnbürste und Rasierzeug zu sehen. Und wo seine Schuhe seien. Im Vorzimmer stehen die Hausschuhe. Straßenschuhe besitze er nur dieses eine Paar. Aloisia muss daran denken, was ihre abergläubischen Leute in der Waldviertler Heimat immer sagen: Schuhe auf dem Tisch bringen Unheil, ihr Besitzer könnte bald sterben. Schnell greift sie danach und stellt sie zu Boden.

Der Beamte gießt sich ein, trinkt jedoch nicht. »Diese beiden Ausweise und seine Bezugskarte nehme ich mit. Quittieren Sie das. Hier.« Er legt der alten Frau ein Dokument vor und reicht ihr einen Stift. Aloisias Hand bebt so stark, dass sie nicht in der Lage ist, ihren Namen zu schreiben. Ihre Kraft reicht gerade für einen zittrigen Strich quer über die bezeichnete Stelle.

4

Ein Inwohner ist ein Mann ohne Besitz, ohne Land, ohne Haus und ohne Beruf. Der Inwohner Johann Widhalm arbeitet als Knecht für einen Köhler im österreichischen Waldviertel, einem dünn besiedelten, kargen Landstrich, der den Menschen viel abverlangt. Wo sie den Wäldern mühsam ein Stück zum Anbau von Kartoffeln oder Mohn entrissen haben, schieben sich stetig Steine aus der Tiefe nach oben und erschweren ihnen die Arbeit, zerstören so manchen Pflug. Es bedarf oft zweier Männer, um einen dieser Brocken fortzuräumen. An den Feldrainen türmen sich die Steinhaufen. Die Bewohner dieser Gegend müssen sich ständig mit der Natur messen. Unten die widerspenstige, Granit gebärende Erde, oben das raue Klima – der Frost hält das Land bis Mitte Mai in Starre.

Johann Widhalms Lohn schließt die Wohnstatt mit ein: zwei feuchte, rauchdunkle Räume in einem Nebengebäude des Köhlerhofs, die er mit seiner Familie bewohnt. Der Garten, den seine Frau anlegen durfte, liegt eine halbe Fußstunde entfernt, zehn mal zehn Meter auf einem Acker, der dem Bruder des Köhlers gehört.

Als erste Kinder werden dem Johann und seiner Frau Maria im Sommer des Jahres 1859 Zwillinge geboren. Mehrlinge haben in jener Zeit wenig Überlebenschance. Aloisia hingegen, der Erstgeborenen, wie auch ihrem Bruder Jakob ist ein langes Leben beschieden.

Inwohnerkindern wird ihr Platz in der Welt sehr früh und sehr klar zugewiesen. Glanz, Wohlgeruch und Wärme erleben sie nur in der Kirche. Der katholische Pfarrer ist wohlgenährt, er trägt ein goldbesticktes Gewand und kündet von Reichtum, Glück und Belohnung im Paradies. Wenn gerade niemand in der Schlafstube ist, lässt das kleine Mädchen sein Kopftuch offen über die Schulter fallen, breitet Mutters Schürze über einen Schemel, legt Wiesenblumen darauf oder Tannenreisig, träumt sich brennende Kerzen und den herb-süßen Weihrauchduft hinzu und gelobt ein Leben für Gott.

Daraus wird vorerst nichts. Die Kinderschar des Johann und der Maria ist angewachsen, der Raum knapp geworden, erst recht das Geld. So schickt man die dreizehnjährige Aloisia in die Hauptstadt, sie muss sich als Dienstmädchen ihren Unterhalt selbst verdienen. Sie fürchtet sich vor den bis in den Himmel ragenden grauen Gebäuden, den glatten harten Flächen ringsum, den unheimlichen, nicht einmal nachts verstummenden Geräuschen ebenso wie vor der fremden Herrschaft und vor all dem Unbekannten, das jetzt auf sie einstürzen mag. Am tiefsten schmerzt die Trennung vom Bruder. Auch Jakob wird zum Arbeiten fortgeschickt, aber in eine andere Stadt.

Die Familie, in die Aloisia vermittelt wird, ist die des Samuel Richter in der Zieglergasse. Es ist Aloisias erste Herrschaft, und sie wird keine andere haben in ihrem ganzen langen Leben. Der Handelsmann Samuel Richter und seine Frau Rosa planten eine große Familie zu haben, aber es ist ihnen bislang nur eine Tochter vergönnt. Lea und das scheue Mädchen vom Land sind fast gleich alt. Aloisia darf still im Studierzimmer sitzen, wenn die Hauslehrer kommen. Lea Richter ist ein überaus behütetes Kind, sie hat wenig Kontakt zur Welt draußen, keine Geschwister und kaum Spielgefährten, und so sehen ihre Eltern es gern, wenn die Dienstmagd, mit der Lea dauernd Umgang hat, etwas Bildung besitzt. Aloisia lernt von der alten Köchin deren Handwerk, und weil die Familie klein ist, kümmert sie sich später ganz allein um Haus und Küche. Ihr gesamter Alltag ist jetzt mit dieser Familie verknüpft. Ausnahmen bilden der alljährliche Besuch zu Ostern bei den Eltern im Waldviertel, und der sonntägliche Besuch der Heiligen Messe in der nahe gelegenen Stiftskirche.

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Samuel Richter hat bei seinem Vater das Verkaufen erlernt, das Lagerhalten und den richtigen Umgang mit der Kundschaft. Mit neunzehn Jahren besucht er eine einjährige private Handelsschule. Die Verwandtschaft legt zusammen und investiert in den jungen Mann, und so kommt genügend Kapital zusammen, um ein eigenes kleines Geschäft in der Vorstadt eröffnen zu können. Die Onkel und Tanten sollten es nicht bereuen, Samuel macht seine Sache gut und zahlt die Darlehen früher zurück als geplant. Er bringt seinen Laden zum Laufen und kann ihn nach wenigen Jahren schon in einen Innenbezirk verlegen – sichtbarer Beweis dafür, dass einer es geschafft hat.

Als Samuel sein dreißigstes Jahr überschritten hat, befindet die Familie, dass es an der Zeit sei, das fidele Junggesellenleben zu beenden. Sie beginnt nach standesgemäßen jungen Frauen Ausschau zu halten. Man hat es damit nicht sehr eilig. Dafür wird sich gleich die Erste als die Richtige erweisen. Nach nur zwei gemeinsamen Spaziergängen willigt die um fast ein Jahrzehnt jüngere Rosa Zuckerberg ein, sich mit Samuel Richter zu verloben. Sie entstammt – wie ihr Bräutigam – einer zum katholischen Glauben konvertierten jüdischen Familie, die aus Lemberg zugewandert ist. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil dieser Verbindung: Rosa kennt die Branche ihres Zukünftigen. Als Tochter eines Galanteriewarenhändlers hat sie gelernt, wie man Bücher führt und das Magazin verwaltet, sie versteht etwas von Bestellwesen und Lagerhaltung, weiß, wie man Personal und Kundschaft behandelt, und sie kann rechnen.

Samuel Richter betreibt den Branntweinhandel. Weil die Geschäfte gut laufen, ist es selbstverständlich, ja geradezu die Pflicht seines Standes, eine Köchin und eine Haushaltshilfe zu beschäftigen. Zwar erfüllt sich der Wunsch des Paares nach einer großen Kinderschar nicht, aber man führt ein zufriedenes Leben. Berufliche Ziele sind erreicht, neue sind gesteckt, wenn auch einzig aus dem Grund, dass sich das halt so gehört. Der Alltag ist geregelt, mit dem Personal hat man Glück, daheim ebenso wie im Geschäft. Nur um seine Rosa sorgt Samuel sich ein wenig, der Haushalt ist klein, die Nachmittage lang, und Rosa neigt zur Traurigkeit. Er nimmt sie manchmal mit ins Kontor, sie beginnt sich um die Bücher zu kümmern, wie einst in der Firma ihres Vaters. Bald übernimmt sie immer mehr Aufgaben und führt schließlich das Bureau mit den drei Angestellten eigenständig. Ihre Tochter Lea weiß sie bei der bodenständigen Aloisia gut aufgehoben.

Das Mädchen vom Land hält derweil seinem Gott die Treue. »Wenn die Lea heiratet, geh ich ins Kloster«, verspricht sie ihm jeden Sonntag in der Kirche. Sie träumt immer noch von einem Leben als Nonne. Und sie hat Sehnsucht nach ihrem Bruder Jakob. Als er Arbeit in Wien findet, ist Aloisia überglücklich. Gemeinsam besuchen sie sonntags die Messe, und anschließend führt Jakob seine Schwester zum Frühschoppen in ein Gasthaus in der Vorstadt, manchmal auch in den Prater.

Die Mädchen werden erwachsen. Beide sind vierundzwanzig Jahre alt, als Lea Richter im August 1883 heiratet. Ihr Bräutigam Ludwig Baumgarten ist um zehn Jahre älter, auch er stammt aus einer vor Langem katholisch getauften jüdischen Familie. Ludwig ist gutaussehend, ehrgeizig und voller Ideen. Er führt ein gepflegtes Weinhaus mit guter Küche, das einen ausgezeichneten Ruf unter den besser situierten Wienern genießt, und er plant gemeinsam mit einem Kompagnon ein zweites zu eröffnen.

Auch diese Ehe haben die Familien mit sanfter, aber bestimmter Hand arrangiert, schließlich hat man damit bisher beste Erfahrungen gemacht.

Aloisia kommt mit in Leas neuen Hausstand. »Du gehörst zu meiner Aussteuer«, scherzt die Braut. Was den Eltern versagt geblieben ist, scheint das Schicksal an der nächsten Generation wettmachen zu wollen: In dem Jahrzehnt zwischen 1886 und 1896 werden Ludwig und Lea neun Kinder geboren, zwei Töchter und sieben Söhne. Ihren Jüngsten nennen sie Walter. Für Aloisia gibt es viel zu tun.

5

Das Haus in der Schellinggasse 12 ist ein imposantes, vierstöckiges Eckhaus mit hohen, großen Räumen und einer Hausbesorgerwohnung im Parterre. Es steht innerhalb des Rings, der alleeartig angelegten Prachtstraße, die rund um die Wiener Innenstadt führt. In jedem Stockwerk befinden sich zwei Wohnungen, diese sind besonders großzügig angelegt, mit zum Lichthof hin gelegenen Küchen, Speise- und Abstellkammern, Kabinetten und Dienstbotenzimmern. Die Fenster der herrschaftlichen Räume gehen auf die Schelling- und die Fichtegasse hinaus. Eine der besten Adressen für gut situierte Wiener Bürger.

Die Evangelische Kirche hat beide Wohnungen des ersten Stockwerks angemietet und zusammengelegt und verfügt so über mehr als vierhundert Quadratmeter Fläche. Hier befindet sich der Sitz des Oberkirchenrats und einiger Dienststellen der Kirchenverwaltung. Es ist reichlich Platz für mehrere Büros, für Besprechungs- und Vortragsräume, zwei Teeküchen, zwei Bäder, einen Wartebereich und eine Bibliothek. Platz genug auch für eine Einliegerwohnung im hinteren Teil. Vermutlich hatten die Vormieter sie für eine unverheiratete Verwandte eingerichtet, oder für eine besondere Dienerschaft, und mit einer separaten Wohnungstür versehen. Um dorthin zu gelangen, muss man den gesamten linken Flügel durchschreiten. Vom Eingangsbereich geht es zuerst durch einen langen Trakt mit Zimmern zu beiden Seiten. Der Flur mündet in einen Raum, der als Archiv, und dahinter in einen zweiten, der als Abstellraum für Möbel genutzt wird. Sie werden – außer von der Sekretärin auf dem Weg zu ihrer Wohnung und zweimal jährlich von einer Frau, die die Fenster putzt und den Boden reinigt – von niemandem betreten. Die Tür an der Rückseite führt in einen weiteren kleinen Vorraum, und hier endlich liegt der Eingang zu Evas Dienstwohnung.