3Ingeborg Maus
Justiz als
gesellschaftliches Über-Ich
Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie
Suhrkamp
Zur Erinnerung an Duško
In despotischen Staaten gibt es keine Gesetze: der Richter ist sich selbst Gesetz.
Unter der republikanischen Regierungsform entspricht es dem Wesen der Verfassung, daß die Richter sich an den Buchstaben des Gesetzes halten.
Montesquieu
Als »Herzkammern« unserer Demokratie wurden die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts anläßlich des 60. Jahrestages des Beginns seiner Entscheidungen bezeichnet – nicht zuletzt, weil durch ihre Judikatur »scheinbar feste Verfassungstexte […] bei immer erneuter Aktualisierung neue Gehalte gewinnen« können.[1] Was hier formuliert wird, ist aus gleichem Anlaß als Entgrenzung des Gerichts kritisiert: »Alle seine Aussprüche erzeugen Verfassungsrecht und können den demokratischen Gesetzgeber binden« – genau dadurch »entsteht ein Legitimationsproblem« hinsichtlich demokratischer Partizipation.[2] Während das Grundgesetz in der Präambel sich auf die »verfassungsgebende […] Gewalt« des Volkes bezieht und in Artikel 38 die Gesetzgebung des Bundestags allein durch allgemeine Wahlen legitimiert, sich also auf Volkssouveränität beruft, muß das Bundesverfassungsgericht aufgrund seiner Praxis als Kontrahent der Volkssouveränität bezeichnet werden.
Angesichts der dennoch quasi religiösen Verehrung des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung, die bereitwillig das Prinzip der Volkssouveränität an das höchste Gericht delegiert, ist es angebracht, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit psychischen Mechanismen dieses Vorgangs zu korrelieren. – Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Justiz trat nur in wenigen Phasen öffentlicher Proteste zutage. Vor allem in den 1970er Jahren, als die sozial-liberale Koalition eine Reihe von Reformgesetzen beschloss, wies das Bundesverfassungsgericht alle diese Gesetze entweder ganz oder teilweise zurück oder unterwarf (wie im Mitbestimmungsgesetz für große Unternehmen) die Entscheidung des Gesetzgebers dem Vorbehalt einer Korrektur für den Fall einer zukünftigen Auswirkung des Gesetzes, die die »Funktionsfähigkeit der Unternehmen« und der »Gesamtwirtschaft« beeinträchtigen könnte.[3] – Die harsche Kritik am Bundesverfassungsgericht 12ist auf dessen Rechtsprechung in den 1970er Jahren fokussiert. Spätere (weniger kritikbedürftige) Phasen sind nicht berücksichtigt (Beitrag I).
Die Untersuchungen zur Position der Justiz im politischen System beziehen sich nicht nur auf das Bundesverfassungsgericht im Kontext demokratischer Strukturen, sondern auch auf die Gerichtsbarkeit im Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der juristischen Methodologie, deren ungebrochene Kontinuität nach 1945 analysiert wird (Beiträge III und IV).
Diese Kontinuität besteht auch auf europäischer Ebene. Hier wird nicht nur die demokratische Gesetzgebung eliminiert, sondern auch die Rechtsprechung aufgrund der Kompetenzkonflikte der Gerichte im Mehrebenensystem und der Unterschiede zwischen den jeweiligen Rechtsgrundlagen auf extrem »weiches« Recht umgepolt. Dieser Vorgang verbindet sich mit der Reduktion des Prinzips demokratischer Gewaltenteilung, das unter anderem von Locke und Kant entwickelt wurde, auf das Modell des noch feudalständisch imprägnierten Gewaltensystems Montesquieus (der andererseits eine strikte Gesetzesbindung der Justiz forderte). Ausgerechnet Montesquieus Modell der »Gewaltenteilung«, das gegenwärtig als das einzig mögliche verstanden wird, beabsichtigt keine Teilung der Gewalten, sondern eine Souveränitätsteilung – während die demokratischen Modelle eine Gewaltenteilung gerade durch die Unteilbarkeit der Volkssouveränität hinsichtlich der gesetzgebenden »Gewalt« und deren strikte Trennung von der Exekutive erreichen. Bei Montesquieu hingegen besteht eine Koexistenz von Legislative und Exekutive in der Gesetzgebung aufgrund des Vetorechts des Königs. Abgesehen von Montesquieus Forderung, eine separate legislative Kammer des Erbadels zum Schutz seiner Privilegien und als Zwischengewalt zu installieren, enthält seine Version die konstitutiven Prinzipien des heutigen hegemonialen Präsidialsystems. Wie man weiß, tritt hinsichtlich des Vetorechts gegen Gesetze der Präsident an die Stelle des Königs. Das parlamentarische System, das Volkssouveränität immerhin mittelbar organisiert, gerät seit längerem in die Defensive. Der früheste Angriff auf seine Prinzipien formierte sich in der Ratifizierungsdebatte um die US-amerikanische Verfassung, und bis zur Gegenwart bestehen in der US-amerikanischen Literatur Mißverständnisse hinsichtlich parlamentarischer Strukturen und des Volkssouveränitätsprinzips.
13Was die richterliche Entscheidung im jeweiligen Gewaltenteilungssystem angeht, so stimmen die gegensätzlichen Protagonisten überein. Sowohl Montesquieu als auch die Kontraktualisten – Locke, Kant, Rousseau und sogar Hobbes – fordern eine strenge Gesetzesbindung der Justiz. Dagegen führen die seit Beginn des 20. Jahrhunderts vordringenden juristischen Methodenlehren zu einer Entformalisierung des Rechts und entlassen nicht nur die Gerichte aus jeder Bindung an die Gesetze, sondern zerstören auch das System der demokratischen Gewaltenteilung (Beitrag II).
Was die Entwicklung der juristischen Methodologie in der Bundesrepublik angeht, so ist der Methodenstreit zwischen verschiedenen Schulen ein auffälliges Phänomen. Es kann gezeigt werden, daß vor allem privatrechtliche Positionen einerseits und verfassungs- sowie strafrechtliche Positionen andererseits aufeinanderprallen, wobei jede Partei ihren spezifischen methodologischen Ansatz generalisiert. Die hierbei herrschende Dominanz zivilrechtlicher Methoden, die auf eine wachsende Beschleunigung gesellschaftlicher Veränderungen mit der Flexibilisierung des Rechts reagieren, würden in verfassungs- und strafrechtlichen Kontexten in letzter Konsequenz ein demokratisches politisches System in ein autoritäres verwandeln. Aus diesem Grund ist eine rechtsgebietsspezifische Methodologie dringend zu empfehlen (Beitrag V).
Einen Gegenpol zu den rechtsauflösenden Methodiken findet sich in der hochkomplexen Theorie Friedrich Müllers. Sie hat (als juristische Methodenlehre, Verfassungs- und Rechtstheorie) das Verdienst, die rechtsstaatlichen und demokratischen Defizite der herrschenden juristischen Methodologie gekennzeichnet zu haben, die seine eigene juristische Methodik vermeidet. Diese führt allerdings nicht zur klassischen rechtspositivistischen Interpretationslehre zurück, sondern besteht auf einer nachpositivistischen Konzeption, die das Ausmaß an Rationalität verbürgt, das der Rechtspositivismus bereits erreicht hatte. Müllers Rationalitäts- und Rechtsstaatspostulat fordert von der Justiz Methodenklarheit im Sinne der tatsächlichen Berechenbarkeit von Rechtsentscheidungen und dient zugleich der Analyse jener faktischen Abläufe richterlicher Entscheidungsfindung, die der Rechtspositivismus unbeachtet ließ. Müllers »strukturierende« Methodik entwirft eine Rangordnung der Konkretisierungselemente für das richterliche Arbeiten, die ein erhebliches Maß an Rationalität und Kon14trollierbarkeit gerichtlicher Entscheidungen verspricht. Sie wird allerdings von der Rechtsnormtheorie konterkariert: Diese hält die Unterscheidung von Normprogramm und Normbereich aus rechtsstaatlichen Gründen für unverzichtbar, unterstellt aber, daß im Wortlaut einer Norm deren Normprogramm so unvollkommen enthalten ist, daß es nur mittels der Normbereichsanalyse entschlüsselt werden kann. In dieser Hinsicht ist die entschieden rechtsstaatlich und demokratisch orientierte Methodik kaum imstande, dem Gesetzgeber ein Stück des an die Justiz verlorenen Terrains zurückzugewinnen (Beitrag VI).
Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Justiz ist auch hinsichtlich historischer Varianten des Rechtsstaats zu bestimmen. Der demokratische Rechtsstaat entstand im Kontext der Französischen Revolution. Er war ein formaler Rechtsstaat, der die totale Verrechtlichung der Staatsapparate forderte, während er den Bürgern rechtsfreie Räume jenseits präzise formulierter Gesetze garantierte. Unter den restriktiven Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus war der Rechtsstaat nur auf eine Mäßigung der Staatsgewalt angelegt, aber die Ausweitung des Gesetzesbegriffs auf jeden beliebigen Gegenstand (wie Robert von Mohl forderte)[4] stärkte die Gesetzgebung gegen Verordnungen der Exekutive und versuchte, das gesamte Staatshandeln unter die Gesetze zu stellen. Auch diese Rechtsstaatsversion war eine formale. Durch die heutigen Methoden der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde dagegen der Rechtsstaat materialisiert: Die zu einem Wertesystem substantialisierten Grundrechte werden gegen den Gesetzgeber ausgespielt, mit der Konsequenz, daß Staatsapparate im Durchgriff auf die »höheren« Normen sich aus der Bindung an »einfache« Gesetze befreien und zur Selbstprogrammierung übergehen. So erweist sich in jeder Hinsicht der formale Rechtsstaat als Bedingung der Möglichkeit von Demokratie (Beitrag VII).
Die verbreitete Abneigung gegen den Rechtspositivismus argwöhnt, daß er beliebige Rechtsinhalte und die quantitative Zunahme von Recht zu verantworten hat. Die gegenläufige Position vertritt eine Remoralisierung des Rechts, in der Hoffnung, durch die Einführung moralischer Prinzipien in das Recht die Beliebigkeit 15und Quantität von Rechtsetzung zu begrenzen. – Was die letztere Position betrifft, so kann gezeigt werden, daß das Gegenteil der Fall ist. Das positiv gesetzte Recht garantierte ursprünglich einen Rechtsformalismus, der rechtsfreie Räume zuläßt: Was nicht durch einen gesetzlichen Tatbestand im jeweils geltenden Recht erfaßt ist, unterliegt gar keiner rechtlichen Regelung und ist dem staatlichen Zugriff entzogen. Dagegen hat die Einbeziehung moralischer Prinzipien in das Recht zur Folge, daß die rechtsfreien Räume verschwinden: Die im Vergleich zu Rechtsnormen erheblich größere Unbestimmtheit moralischer Prinzipien läßt es zu, daß fast jeder Sachverhalt als ein rechtlich relevanter identifiziert und zum Gegenstand gerichtsförmiger Entscheidung gemacht werden kann. Insofern führt die Remoralisierung des Rechts zur Ausdehnung des Aktionsradius der Staatsapparate (Beitrag VIII).
An dieser Stelle sind mehrere Danksagungen angebracht. – Interdisziplinäres Arbeiten steht in der Wissenschaft hoch im Kurs. Die Vermittlung zwischen Rechts- und Politikwissenschaft kann jedoch zu einem existenzgefährdenden Spagat führen, aus dem Jürgen Habermas mich durch die Aufnahme in seine »Arbeitsgruppe Rechtstheorie« rettete. Wie immer gilt ihm mein ganz großer Dank. Ich danke auch sehr meinem ersten akademischen Lehrer, Carlo Schmid, der mich für die Wissenschaft entdeckte und mir einen ersten Eindruck davon vermittelte, daß normative Politikwissenschaft ohne rechtswissenschaftliche Kenntnisse unzulänglich ist. Auch dem Nachfolger auf seinem Lehrstuhl, Christian Graf von Krockow, danke ich sehr für die herrschaftsfreie Zusammenarbeit und für seine Beteiligung an meinem Promotionsverfahren. Erhard Denninger danke ich insbesondere für seine Bereitschaft, aus rechtswissenschaftlicher Perspektive das externe Gutachten zu meiner Habilitation zu verfassen, ohne das dieses Projekt möglicherweise gescheitert wäre. Helmut Ridder habe ich mehrfach zu danken: Daß das Manuskript meiner Dissertation (über Carl Schmitt) nach mehrjährigen vergeblichen Versuchen doch noch von einem Verlag angenommen wurde, ist ausschließlich seinem fulminanten Gutachten zu verdanken. Es war auch seine Empfehlung, die Erkenntnisse dieses Buchs auf die herrschende juristische Methodenlehre und die Arbeitsweise des Bundesverfassungsgerichts anzuwenden. Die entsprechenden Erträge finden sich in 16dem vorliegenden Band versammelt. Beitrag VIII entstand während der Zusammenarbeit mit Jürgen Habermas in der »Arbeitsgruppe Rechtstheorie«.