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Susann Brennero

Der Vampir vom Niederrhein – Peter Kürten

Biografischer Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind zu Teilen fiktional.

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1. Auflage 2016

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild

ISBN 978-3-8392-5130-0

1. Kapitel

»Sie ist tot«, sagte Egon Kron kaum hörbar.

»Schwarz hat bereits viermal nach dir gefragt«, warnte Karl Maaßen mit heiserer Stimme.

Kron schaute auf den Wandkalender der Redaktion. Heute war der 9. Februar 1929. »Sie ist tot!«, wiederholte er noch eine Spur leiser, ohne Maaßen anzusehen. Seine Gesichtsfarbe schimmerte trotz des Spaziergangs durch die frostklare Winterluft aschfahl. Für die kurze Strecke von seiner kleinen Wohnung am Rande der Innenstadt bis zu den Redaktionsräumen des »Rheinischen Tageblatts« war er zu Fuß eine halbe Stunde gelaufen. Sein Motorrad hatte er im Hinterhof stehen gelassen. Mit seiner NSU fuhr er den Weg durch den Düsseldorfer Innenstadtverkehr an allen anderen Tagen in nur zehn Minuten. Kron hatte gehofft, das Bild der blutüberströmten Kinderleiche an der klirrend kalten Luft wenigstens für ein paar Momente zu vergessen. Er warf einen flüchtigen Blick aus den verschmutzten Fenstern des 3. Stockwerks auf die belebte Straße. Krons Lippen bewegten sich, ohne einen Ton von sich zu geben.

Unzählige Passanten hasteten vorbei. Die Atemluft gefror in kleinen Wolken vor den Gesichtern von Mensch und Tier. Das Thermometer hatte in den vergangenen Tagen und Nächten nur noch Bereiche weit unter null Grad angezeigt. Die Prognosen für die kommenden Tage sahen nicht besser aus. Der Rhein war kurz davor zuzufrieren, obwohl er bei Kilometer 745 ein reißender Strom sein konnte. Das Jahr 1929 bescherte den Menschen einen Jahrhundertwinter, der alle Temperaturrekorde der vergangenen Jahre brach.

Kron schaute an sich herab. Die verknitterten Hosenbeine seines dunkelblauen Anzugs waren übersät mit zahllosen Schmutzflecken von lehmigem Erdreich und dunklem Dreckwasser. Über diese Flecken hatte sich eine helle Schicht Kalkstaub gelegt. Sein hellblaues Hemd war verschwitzt. Eine Kruste aus Schneematsch und Dreck bedeckte seine schwarzen Lederschuhe mit der dicken Sohle. Weste und Sakko hielt er in seinen Händen. Sein dichtes dunkles Haar war ordentlich mit glänzender Pomade frisiert.

»Wenn Kron kommt, soll er sofort zu mir!«, schrie Gustav Schwarz, der Chef-Redakteur des »Rheinischen Tageblatts« durch die sich öffnende Tür seines Büros. Mit seinem Kugelbauch erschien er im Türrahmen. Er erblickte seinen Gerichtsreporter, der Sakko und Weste achtlos auf seinen Schreibtisch geworfen hatte, statt sie am alten eichenen Kleiderständer aus Kaiserzeiten in der Ecke aufzuhängen. »Wie siehst du denn aus?«, fragte Schwarz, dessen scharfem Blick nichts entging.

Krons Augen waren rötlich geschwollen.

»Hast du den Artikel über den Prozess um den bewaffneten Postraub in Benrath fertig?«, fragte Schwarz in ungeduldigem Ton. »Die Abendausgabe muss in den Druck! Ich will die Geschichte als Schlagzeile!«

Für Schwarz bestand der Tag aus zwei Teilen. Es gab die Zeit vor dem Druck der Morgenausgabe und die Zeit vor dem Druck der Abendausgabe. »Die Leute wollen von uns Schlagzeilen, politische Skandale und grausige Mordfälle und sonst nichts!«, erklärte Schwarz bei jeder Gelegenheit. »Der Rundfunk ist unsere größte Konkurrenz. Nur ein schneller, informativer Journalismus sichert die Auflagenstärke und das Überleben unseres Blattes.«

Kron nickte, ohne ein Wort zu sagen. Aus der Innentasche seines Sakkos zog er ein auf beiden Seiten eng beschriebenes Blatt hervor.

»Zeig her!« Schwarz riss ihm das Blatt aus der Hand. »Und erzähl endlich, was dir passiert ist!« Missbilligend schüttelte er seinen feisten Kopf, auf dem die schütteren grauen Haare auf und ab tanzten, während er auf Krons verdreckte Hosenbeine und Schuhe schaute.

»Egon sollte endlich in eine bessere Wohngegend ziehen«, kommentierte Maaßen das derangierte Aussehen seines Kollegen. »Dann hat er auch eine Chance bei Marlene!«

»Dich hat keiner gefragt«, fuhr ihm Schwarz über den Mund. Er wendete sich Kron wieder zu. »Bist du unter die Räuber gekommen? Oder hat Marlene dir den Laufpass gegeben?« Forschend sah er Kron in die Augen. »Sag endlich etwas!«

Kron folgte Schwarz in sein Büro. Er sank auf einen der breiten Mahagonistühle, deren Polster mit grün eingefärbtem Rindsleder bezogen waren. Kurz schloss er die Augen, die von einer Sekunde auf die andere wütend und voller Hass funkelten. »Die kleine Rosalie ist tot!«

Erschrocken knallte Schwarz seine Kaffeetasse auf den Schreibtisch aus massivem Mahagoni, der mit Stapeln von bedruckten Blättern, Fotografien und Tageszeitungen aus aller Welt bedeckt war.

»Wie?«, entfuhr es ihm. Seine Stirn lag in noch dickeren Falten als üblich, seine Augenbrauen waren nach oben gezogen, und seine kleinen dunklen Augen waren weit aufgerissen.

Aus dem neben dem neuen glänzend schwarzen Telefonapparat mit der weißen Wählscheibe stehenden blauen gläsernen Aschenbecher roch es nach abgestandenem Rauch. An jedem Vormittag und an jedem Nachmittag rauchte Schwarz eine Zigarette der Marke »Mercedes«.

»Vermutlich ein Triebtäter.« In Krons Augenwinkeln schimmerte es feucht. Sein Adamsapfel bewegte sich auf und ab, während er mehrfach schluckte. »Sie ist heute Früh gefunden worden. Ich war schon am Tatort.« Kron schaute auf den Zigarettenstummel im Aschenbecher. Er hatte sich das Rauchen erst vor wenigen Monaten abgewöhnt.

»Der Vater?«, fragte Schwarz.

Kron schüttelte energisch seinen Kopf. Eine Strähne löste sich aus seinem frisierten Haar und fiel ihm ins Gesicht. »Ich war gestern Abend bei meinen Nachbarn zu Besuch. Ich habe eine Torte für Marlenes Geburtstag bestellt.«

»Marlene hat am 12. März Geburtstag«, warf Schwarz ein. »Weshalb bestellst du am 8. Februar eine Torte?«

»Sie liebt Marzipantorte. Ich bestelle immer so früh, damit der alte Olsen alle Zutaten vorrätig hat.«

Schwarz schüttelte den Kopf. »Wir schreiben das Jahr 1929. Die Notzeiten sind doch jetzt wirklich vorbei.« Er legte seinen Kopf nachdenklich zur Seite. »Und dann?«

»Den Olsens gehört die Bäckerei im Erdgeschoss. Ihre jüngste Tochter ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen«, erklärte Kron leise. Das Sprechen fiel dem wortgewandten Journalisten heute nicht leicht. »Ich bin gegen halb neun in meine Wohnung gegangen. Da war sie noch nicht zurück. Gegen sieben hätte sie zum Abendbrot spätestens daheim sein sollen.«

»Bäckerfamilie, ich weiß.« Schwarz’ harte Stimme vibrierte für einen Moment. »Die kleine Rosalie, die sich um ihre gelähmte ältere Schwester kümmert! Du hast sie hin und wieder erwähnt.« Schwarz kramte eine Packung Zigaretten aus einer der vielen Schubladen seines Schreibtischs hervor und streckte sie Kron entgegen.

»Gekümmert hat. Jetzt liegt sie in der Gerichtsmedizin.« Kron zog eine »Mercedes« aus der Packung. Er nahm das silberfarbene ballförmige Tischfeuerzeug in seine linke Hand. Gierig zog er an der Zigarette und blies aus Gewohnheit einen Kringel in den Raum.

»Wer macht denn so etwas? Ein kleines Mädchen!« Schwarz lehnte sich im Chefsessel zurück.

»Sie lag da auf einem kleinen Erdhügel am Bauzaun zwischen der Vinzenzkirche und dem Neubau der Badeanstalt.« Kron holte tief Luft. Sein Körper schüttelte sich. »Ihre schönen blonden Haare sind fast völlig verbrannt. Auch die Kleidung. Mit geschlossenen Augen und offenem Mund lag sie da.« Kron unterdrückte ein Schluchzen. »Ihre Unterhose war zerrissen. Dieses Schwein!«, fluchte er.

»Laut Kriminalstatistik sind es fast immer Väter, Onkel und gute Bekannte der Familie«, wiederholte Schwarz seine Vermutung.

»Gilt dein Angebot noch?«, fragte Kron. Durch seinen Körper war beim letzten Zug an der »Mercedes« ein Ruck gegangen. Er setzte sich aufrecht auf den Mahagonistuhl, der bei jeder Bewegung knarrte.

»Natürlich! Wenn du unsere Auflagenstärke deutlich mit einer Sensationsgeschichte erhöhst, wirst du befördert.« Schwarz hatte sich die zweite Zigarette an diesem Morgen angezündet. »Die Stelle des stellvertretenden Chefredakteurs ist immer noch frei«, fügte er hinzu. »Das habe ich euch allen in Aussicht gestellt – Karriere durch Leistung!«

»Ich habe es geschworen, als ich sie da liegen sah!«, überhörte Kron die letzten Sätze.

»Du bist Reporter, kein Kriminalbeamter!«, stellte Schwarz trocken fest.

»Ich recherchiere, ermittle und berichte. Wo ist da der Unterschied?«, flüsterte Kron und blickte Schwarz fest in die Augen.

»Du bringst uns den Täter exklusiv, und du wirst mein Stellvertreter. Wir brauchen eine höhere Auflagenstärke, um zu überleben«, erklärte Schwarz. »Vielleicht haben wir bald sogar zwei Zeitungen unter unserem Dach.«

»Du gibst mir die Zeit, den Mörder zu finden?« Diese Frage klang wie eine Aufforderung, nicht wie eine Bitte.

»Die Gerichtsreportagen und ein paar Filmkritiken, dann hast du vorerst freie Hand«, versprach ihm Schwarz. »Aber die Geschichte muss exklusiv sein.« Er stand für seine Leibesfülle erstaunlich behände auf. »Exklusiv!«, betonte er.

Im Aschenbecher häufte sich frische Zigarettenasche. Der Geruch nach feinem Tabak hing in der Luft. »Für die Abendausgabe will ich den ersten Artikel mit ein paar Sätzen der Eltern haben und dem Hinweis auf die gelähmte Schwester. Die Leser wollen mitfühlen!«

»Sie werden mitfühlen. Mitfühlen, bis wir den Täter haben. Das verspreche ich dir!«

Schwarz nickte zufrieden. »Du bist dir sicher, dass es nicht der Vater war?«

Kron deutete ein Kopfschütteln an. »Der hätte doch nicht noch einen alten Weihnachtsbaum hinter ihrem Kopf drapiert.«

»Weihnachtsbaum?«

»Ja, so ein halb vertrockneter alter Tannenbaum.«

»Vertrocknetes Holz brennt gut«, sagte Schwarz. »Aber der Baum hat nicht gebrannt?«

»Bei diesen Minusgraden brennt nichts so schnell.«

»Die Täter sind immer die Väter«, sinnierte Schwarz. Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus.

Kron ließ den Chefredakteur allein zurück, der sich bereits wieder über seinen Berg an Blättern gebeugt hatte.

Schwere dunkle Schneewolken waren vor den Fenstern aufgezogen. Kleine Eisblumen glitzerten in den Ecken der Fenster.

Kron bemerkte erst jetzt, dass er seinen Mantel zu Hause vergessen hatte. Er war nur mit Weste und Sakko bekleidet durch die Straßen gelaufen. Seine grauen Lederhandschuhe steckten in der Sakkotasche, sein dünner cremefarbener Baumwollschal hing im rechten Ärmel seines gestreiften Sakkos.

Das Bild von Rosalies Leiche auf dem gefrorenen lehmigen Boden des einsamen Bauplatzes neben der Kirche hatte seine Gedankenwelt an diesem Februarmorgen durcheinander gebracht.

»Und?«, fragte Karl Maaßen.

»Musst du nicht zu irgendeiner Sportveranstaltung?«, fragte Kron gereizt.

»Kollege! Was für ein Ton!«, spottete Maaßen. »Ich arbeite immer zuverlässig.« Er stand auf und griff nach seinem bordeauxroten Schal. »Nur ein schneller, informativer Journalismus sichert die Auflagenstärke und das Überleben unseres Tageblatts«, äffte Maaßen Schwarz leise nach.

»Hast du noch gar nichts gehört?«, fragte Kron. »Nichts?«

»Für Mord und Totschlag bist du zuständig!«

»Eines meiner Nachbarskinder ist heute Morgen am Bauzaun zu den neuen Bäderanstalten an der Kettwiger Straße gefunden worden«, begann Kron erneut die Geschehnisse der letzten Stunden zu erzählen. »Wie ein Stück Dreck am Bauzaun.«

»Tot?«

»Ja, tot!«, fuhr Kron ihn an. »Ich werde mir ewig Vorwürfe machen, dass wir sie gestern Nacht nicht gesucht haben.«

»Hast du ihre Leiche gesehen?« Maaßen hatte sich seinen groben Strickschal um den Hals gelegt und wieder gesetzt. Er musste husten.

Hinter den dicken grauen Wolken vor den Fenstern verschwanden die allerletzten Sonnenstrahlen. Von der Straße drang Lärm von wütenden Demonstranten herauf. Die Rufe nach Brot und Arbeit waren deutlich zu hören.

»Sie lag da, und keine Macht auf der Welt kann sie wieder lebendig machen. Überall war Blut – am Körper, auf dem Boden«, beschrieb Kron den Anblick des Leichenfundortes. »Rund ein Dutzend Polizisten haben den gesamten Platz abgesucht.« Er sprach in dem Ton eines gehetzten Menschen, der vergeblich versuchte davonzulaufen. »Blut. Sie war so blass. Ihr Körper war leergelaufen. So viele Stiche, so ein kleines Mädchen.«

»Haben die Polizisten am Tatort das gesagt?«, fragte Maaßen. »Viele Stiche?«

»Hier ein Wispern, da ein aufgeschnapptes Wort, und schon waren die ersten Fakten wie ein Lauffeuer in der Menge im Umlauf. Du weißt doch, wie das mit Volkes Stimme und den Gerüchten ist. Ein wahrer Kern ist immer dran«, fasste Kron die Herkunft seiner bisherigen Kenntnisse zum Kindermord der vergangenen Winternacht zusammen. »Außerdem war überall Blut.«

»Ich habe irgendwo gelesen, dass die Täter bei Verbrechen an Kindern meistens im näheren Umfeld zu finden sind«, sagte Maaßen. »Vielleicht war der Täter sogar vor Ort, und du hast ihn gesehen.«

»Die Vermutung hat Schwarz auch schon geäußert«, entgegnete Kron. »Olsen war es nicht, da bin ich mir sicher. Er ist nicht zu solch einer Tat fähig.«

»Du bist dir bewusst, dass du für die Polizei auch zum Kreis der Verdächtigen gehörst?« Maaßen stützte seine Ellenbogen auf dem Schreibtisch auf.

»Du spinnst!«, rief Kron wütend aus.

»Tatort, Tatzeit, Alibi?«, fragte Maaßen kühl.

Kron schaute an Maaßen vorbei ins Leere. Die Tatortszenerie trat vor sein inneres Auge.

Aus der Menge der Schaulustigen hinter dem Absperrband waren leise Rufe nach Gerechtigkeit erklungen. Der Kinderkörper war die grausige Attraktion für Männer auf dem Weg zur Arbeit, für Hausfrauen, für Arbeitslose, für eine Handvoll Schulkinder und für ein paar ältere Frauen, die aus der Frühmesse in der Vinzenzkirche kamen. Kron spürte noch immer die mit Wut aufgeladene Stimmung der entsetzten Menschenmenge. Es war eine explosive Mischung, die noch kein Ventil gefunden hatte. Aus dem Nichts war diese Menschenmenge innerhalb weniger Minuten auf dem Bauplatz kurz nach halb zehn zusammengelaufen. Selbst nach mehrfacher Aufforderung der Polizei blieben Alt und Jung fassungslos stehen. Auch den Ermittlern der Kriminalpolizei war das Entsetzen über die grausame Tat an den blassen Gesichtern und ernsten Mienen anzusehen gewesen. Die älteren Kriminalbeamten hatten wie Kron, Maaßen, Schwarz und der Rest der Redaktion mit Sicherheit das eine oder andere Schreckensjahr im Feld verbracht. Der Anblick des blutüberströmten Kindes mit der zerrissenen Unterhose aber versetzte alle in einen schockartigen Zustand.

»Die Vorstellung, dass sie in den letzten Minuten ihres Lebens verzweifelt um Hilfe gerufen hat, zerbricht mich. Irgendwo zwischen Baustelle und Kirche hat sie um ihr Leben geschrien. So kurz vor ihrem Elternhaus. Keiner von uns hat sie gehört.«

»Ihr Mörder hat genau gewusst, dass ihre Hilfeschreie keiner hören kann. Er kennt das Gelände. Vielleicht doch ein Nachbar?«

»Sie war alleine unterwegs. Irgendein kranker Teufel hat diese Situation ausgenutzt.«

»Sie war ihm auf jeden Fall schutzlos ausgeliefert. Er hat sie von hinten überrascht. Sie war sofort tot und hat nicht lange gelitten. Dann hat sie auch nicht um Hilfe geschrien«, überlegte Maaßen. »Egon, du hast kein Alibi!«

Kron holte tief Luft. »Ich habe mir heute Morgen geschworen, ihn zu finden.«

»Seit wann steigerst du dich in deine Fälle so hinein?« Maaßen hörte erstaunt den ungewohnten Klang in Krons Stimme. Auf Maaßens Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte das Bild der Toten vor Augen. »Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte er.

»Was gibt es da nicht zu glauben?«, fragte Kron.

»Ich sehe sie noch vor mir, als ich dich vor ein paar Wochen besucht habe«, sagte Maaßen. »Sie hat ihre Schwester im Rollstuhl über das Trottoir geschoben. Diese neugierigen Augen, die so fröhlich in die Welt geblickt haben.« Maaßen versank in Gedanken an diesen Besuch in dem ärmlichen Vorstadtviertel: Wie die meisten Düsseldorfer Vororte war auch Flingern von der Innenstadt aus nur auf einsamen Wegen zu erreichen. Die schlecht befestigten Straßen waren kaum beleuchtet. Nur durch die Innenstadt zog sich das gut verzweigte Netz der modernen Gaslaternen. Das pulsierende kulturelle Leben der Stadt spielte sich nicht in diesen einfachen Arbeitersiedlungen ab, in denen Armut und Hunger an keiner Stelle zu übersehen waren. In den großen Mietshäusern roch es nach einfachem Essen und billiger Seife. In direkter Nachbarschaft zu den mehrstöckigen Wohnhäusern hatte sich auf den freien Feldern zwischen Flingern und dem nächsten ärmlichen Stadtteil Gerresheim zu allem Überfluss auf einem ehemaligen Schrebergartengelände eine wilde Siedlung aus Bretterbuden gebildet. Seit der großen Inflation wuchsen diese Siedlungen an mehreren Stellen der Stadt Tag um Tag. Eine einfache Behausung nach der anderen wurde aus Bauabfällen und gestohlenen Materialien über Nacht zusammengezimmert. Arbeitslose, die ihre Wohnung verloren hatten, und Zugereiste, die ihr Glück in der endlich wieder aufstrebenden Stadt am Rhein suchten, lebten in diesen von den Behörden und der Polizei geduldeten Siedlungen unter primitiven Bedingungen. Die wilden Bauten am Hellweg waren für ganze Familien eine letzte Zufluchtsstätte, in der sie Bett, Herd und Ofen besaßen. Niemand wusste, wie viele der Bewohner der Hellweg-Siedlung lichtscheues Gesindel war, dem selbst die Nachbarn in der Bretterbude nebenan nicht trauen konnten. In diesen unruhigen Tagen meldeten sich die Menschen, die durch eine Zwangsräumung ihre Wohnung verloren hatten, nicht einmal mehr bei den Behörden um. »Wie willst du in diesem Chaos den Täter ausfindig machen?«, überlegte Maaßen laut.

Kron hörte die Frage seines Kollegen aus dem Sportressort nicht.

Wieder klang lautes Geschrei von der Straße herauf.

Kron öffnete eines der Fenster einen Spalt breit. »Diese Kälte.«

»Du solltest dir eine neue Wohnung suchen, in einem ruhigeren Viertel. Dann wird Marlene auch endlich ›Ja‹ sagen«, schlug Maaßen vor.

»Ich geh jetzt nach Hause und zieh mich um«, sagte Kron. Seine dunkle sonore Stimme vibrierte leicht. »Dann …«

»Die frische Luft wird dir den Kopf frei machen. Den Kopf brauchst du jetzt«, unterbrach ihn Maaßen. »Von der Jagd auf den Mörder kann ich dich nicht mehr abhalten.«

Kron schaute auf den Wandkalender. »Februar 1929. Das Jahr hat gerade erst angefangen. Was wird es uns noch an bösen Überraschungen bescheren?«

»1929 wird dein Jahr, wenn du die exklusive Geschichte bringst, auf die jeder von uns hier hofft«, sagte Maaßen. »Und wenn du mich brauchst, du weißt, wo du mich erreichst.«

Kron nickte seinem Kollegen zu. »Vielleicht brauche ich dich noch. Im Alleingang werde ich den Mörder nicht finden.«

2. Kapitel

Kron zog es auf dem Weg nach Hause in seine kleine Wohnung im Mehrfamilienhaus der Olsens zurück zum Tatort. Mehrere Polizeibeamte sicherten den leer geräumten Platz. Bauschutt, primitive Bretter, die selbst in halb gefrorenem Zustand nur darauf zu warten schienen, dass man sich Splitter an ihnen einzog, und Steine jeder Größe waren auf dem öden Bauplatz von der Straße bis zum Bauzaun zu sehen.

Was hatte Rosalie hier gesucht? Hatte der Täter das Mädchen an anderer Stelle ermordet und anschließend hier verstecken wollen? In Krons Kopf schossen die Fragen ungeordnet durcheinander. Hatte der Mörder gehofft, dass das Feuer erst den Bretterzaun mitsamt der Leiche entzünden und dann auf den Rest der Baustelle übergreifen würde? Die verkohlte Leiche Rosalies wäre dann vielleicht als ein Zufallsopfer der Flammen inmitten der ausglühenden Bauruinenreste gefunden worden? Oder hätte ein Gerichtsmediziner noch die Stiche in Rosalies Brustkorb nachweisen können? Kron bedauerte in diesem Moment, sich in den vergangenen Jahren als Gerichtsreporter nie für die Details der Arbeit der Gerichtsmediziner interessiert zu haben. In seinen Artikeln waren die Ergebnisse der gerichtsmedizinischen Untersuchungen nur selten von Belang. Die Leser des »Rheinischen Tageblatts« waren nur an den Festnahmen der Übeltäter und an gerechten Urteilen interessiert.

Rund um die Absperrungen und über den gesamten Platz verteilt standen ältere Kinder und Erwachsene aus der Nachbarschaft, die die grausige Tat immer noch nicht fassen konnten. Vielleicht hofften sie auch auf ein kleines Wunder.

»Das wird einer dieser Landstreicher gewesen sein!«

»Hier laufen so viele dunkle Gestalten durch die Gegend!«

»Genau!«

»Hier wohnt doch täglich mehr und mehr fremdes Volk!«

»Keiner soll sie gestern Abend gesehen haben.«

»Wer läuft denn auch hier entlang?«

»Doch! Doch, sie ist im Gartengelände gesehen worden.«

»Das ist doch mehr als 300 Meter von hier entfernt.«

»Im Dunkeln erkennen sich hier die eigenen Nachbarn nicht.«

»Mutter, ich habe Angst. Holt der Mann jetzt alle Kinder?«

»Diese Bretterbuden am Hellweg hätten längst wieder abgerissen werden sollen. Hoffentlich ist bald Schluss mit dem wilden Wohnen.«

Die Meute ließ ihren Gedanken freien Lauf.

»Seien Sie doch vernünftig und gehen Sie nach Hause«, forderte ein junger Polizeibeamter die Menge auf. »Hier gibt es nichts zu sehen. Wenn Sie Hinweise haben, dann melden Sie sich auf der Polizeiwache. Dort können Sie alles zu Protokoll geben.«

Trotz der Aufforderung des Polizisten bewegten sich die Umstehenden keinen einzigen Zentimeter.

Kron begrüßte einige seiner Nachbarn. Er sah in verweinte, angsterfüllte Augen, die sich alle suchend umschauten, als sei der Täter noch am Ort. Nach der Wut vom frühen Morgen machten sich Misstrauen und Ohnmacht breit.

»Das kann jeder gewesen sein«, fasste ein älterer Mann mit tief liegenden Augenhöhlen und weißem Haar die Situation zusammen.

Kron stellte sich dem jungen Polizeibeamten als Mitarbeiter des Tageblatts vor.

»Die leitenden Ermittler werden erst morgen Früh eine Mitteilung an die Presse geben«, erklärte ihm der Beamte. »Wir wollen den Täter vor der Festnahme nicht unnötig warnen.«

»Gibt es denn eine heiße Spur?«, hakte Kron nach. »Wenn der Zugriff auf den Täter so kurz bevorsteht. Ich will um jeden Preis dabei sein.«

Aber die Äußerung des Polizisten war nichts weiter als eine leere Floskel gewesen.

»Es wird in alle Richtungen ermittelt«, erklärte der Beamte zur Enttäuschung Krons.

Die Schaulustigen, die das Gespräch aus unmittelbarer Nähe mit angehört hatten, machten aus ihrem Unmut über diese nichtssagende Information keinen Hehl.

Kron sah nach wie vor nur die öde Leere, die kalten Steine, kleine Erdhügel und den langen Bretterzaun. Er konnte hier keine einzige bedeutende Spur entdecken. Wenn ich doch mit den Augen eines Ermittlers sehen könnte, dachte er. Er zog sein kleines in einem braunen Lederumschlag eingebundenes Notizheft aus der Hosentasche. »Landstreicher, dunkle Gestalt, jedermann«, schrieb er auf ein leeres Blatt. Dann folgten die Worte »Hausierer, Bettler, Geisteskranker, Bretterbuden, Nachbarn, Vater«. Die letzten Worte markierte er mit dicken Fragezeichen.

Es wird in alle Richtungen ermittelt, echote es in Krons Kopf, als er sich auf den Weg zur nur wenige Straßen entfernten Bäckerei der Familie Olsen machte – in alle Richtungen.

Im Verkaufsladen der Bäckerei und in der Backstube traf Kron auf die Angestellten der Olsens. Der Duft von frischem Brot und Kuchen strömte durch die Räumlichkeiten. Obwohl er seit gestern Mittag nichts gegessen hatte, verspürte er beim Anblick der feinen Backwaren keinen Hunger.

Die beiden Verkäuferinnen und der Bäckergeselle berichteten ihm, dass sie Rosalie gestern Nachmittag zum letzten Mal gesehen hatten.

»Bevor sie weggegangen ist, hat sie noch ein Stück Obstkuchen gegessen«, sagte die ältere der beiden Verkäuferinnen, deren graue Haare in einem kleinen Dutt am Hinterkopf zusammengebunden waren. »Sie wollte wie jeden Nachmittag nach der Schule zum Spielen an die frische Luft.«

»Sie ist auch bei ihren Freundinnen angekommen«, ergänzte der Geselle.

»Die Kinder können gar nicht genug von Eis und Schnee kriegen. Da stört sie auch die Kälte nicht«, erzählte die andere Verkäuferin, die sich ständig verlegen ihre Hände an der weißen Verkaufsschürze abwischte, obwohl ihre Hände sauber waren. »Die Schlitterbahnen sind doch jetzt fast auf jeder Straße so lang.«

»Die Polizei hat uns auch schon befragt«, erklärte der Geselle. »Sogar die Kinder auf der Straße müssen genau erzählen, was gestern Nachmittag alles passiert ist.«

»Und?«, fragte Kron. »Haben die Ermittler irgendetwas über einen ersten Hinweis auf den Täter erwähnt?« Er fürchtete sich vor einer Festnahme des alten Olsen.

Aber alle drei Ladenangestellten schüttelten den Kopf. Die Mordkommission der Düsseldorfer Polizei hatte die letzten Stunden in Rosalies Leben bereits weitgehend rekonstruiert: Dieser Nachmittag war nicht anders als jeder andere Winternachmittag in Rosalies Kinderleben verlaufen.

»Rosalie hat sich von ihrer besten Freundin Amalia nach Einbruch der Dämmerung verabschiedet«, sagte die junge Verkäuferin. »Gegen 19 Uhr war sie aber immer noch nicht zu Hause.«

»Ich weiß«, sagte Kron. Suchend schaute er sich im Laden um. »Ich war gestern Abend bei den Olsens.«

»Marie wartet doch schon auf mich!«, hatte sich Rosalie laut Aussage ihrer Freundin Amalia verabschiedet.

»Sie ist durch die Schrebergartenanlage gegangen«, sagte die ältere Verkäuferin. »Den Weg kennt sie in- und auswendig.«

»Dort könnte sie auf den Täter gestoßen sein«, sagte Kron.

»In der letzten Zeit hatte es immer wieder mal eine Brandstiftung gegeben«, erklärte der Bäckergeselle. »Jede Nacht halten ein paar Gartenbesitzer Wache. Aber alle Leute, die Rosalie gestern nach 18 Uhr gesehen haben, haben sie alleine gesehen.«

»Also kann der Täter ihr erst zwischen den Gärten und dem Bauplatz begegnet sein«, fasste Kron zusammen. »Wenn die Aussagen korrekt sind.«

»Es war doch schon dunkel, als Rosalie durch das Gartengelände gegangen ist«, gab die ältere Verkäuferin zu bedenken.

»Es war einer dieser Sittenstrolche, von denen immer mehr landauf und landab unterwegs sind«, vermutete der Geselle.

»Der Täter könnte kurz nach dem Mord schon im Zug nach Berlin oder München oder Holland gesessen haben.« Kron schauderte bei seinen spontan ausgesprochenen Gedanken. Er hatte sich heute Morgen geschworen, den Täter zu finden – in Berlin, in München, egal an welchem Ort auf dieser Welt.

»Ein Unbekannter, der aus dem Nichts auftaucht«, sagte die ältere Verkäuferin. »Das gibt es doch nicht einmal im Kriminalroman.«

»Sie haben gerade Brandstiftungen erwähnt.« Kron schaute in die hellgrünen Augen des Gesellen. »Wie viele Brandstiftungen waren es denn?«

»Drei- oder viermal hat es gebrannt«, gab der Geselle erstaunt Auskunft. »Haben Sie denn nichts davon gehört?« Er zupfte verlegen an seinem linken Ohrläppchen. »Naja, die Brände sind immer rasch entdeckt worden von den Gartenbesitzern.«

»Vielleicht hat Rosalie den Täter überrascht und er hat sie umgebracht«, entfuhr es Kron.

»Er hat ein kleines Mädchen erstochen, damit es keine Zeugen gibt für seine Taten?«, fragte die jüngere Verkäuferin entsetzt.

»Das wäre nicht der erste Mord in Verdeckungsabsicht. Dieses Mordmotiv gibt es schon in der Bibel«, erläuterte Kron seinen Verdacht.

»Den Brandstifter hat bisher niemand gesehen. Und die Brände wurden jedes Mal von einem anderen Gartenbesitzer entdeckt«, ergänzte der Geselle seine Ausführungen.

»Dann kann es keiner der Besitzer selbst gewesen sein?«

Der Bäckergeselle zuckte mit den Schultern.

»Aber der Brandstifter müsste sich doch gut auskennen im Gelände.«

»Oder er hatte Glück, weil er immer in der Dunkelheit die Brände gelegt hat«, schlug die ältere der beiden Verkäuferinnen vor.

»Hat ihm niemand bisher eine Falle gestellt?«, fragte Kron verwundert. »Wir können nicht mehr auf Kommissar Zufall warten.«

Wieder zuckte der Bäckergeselle mit den Schultern. »Jetzt kommt er doch ohnehin nicht mehr wieder. Das Risiko geht sicher niemand ein.«

»Doch!«, rief die jüngere Verkäuferin aus. »Ein Geisteskranker kennt keine Grenzen, der kommt zurück. Der denkt nicht nach. Das ist doch ein Kranker, der sich an einem Kind vergreift, oder?«

»Der Täter kommt immer an den Tatort zurück«, sagte Kron.

»Die Neugier treibt den Täter an den Tatort zurück«, wiederholte die junge Verkäuferin Krons Satz in ihren eigenen Worten.

Vor dem Laden hatten sich ungefähr 40 Passanten versammelt. Neugierig schauten sie durch die Schaufenster, in denen Brote und Kuchenteilchen auslagen, auf die vier Personen in der Bäckerei. Die ältere Verkäuferin gestikulierte mit ihren derben abgearbeiteten Händen. Sie versuchte, die kleine Menschenmenge zu vertreiben. Nachdem auch der Bäckergeselle und Kron an die Schaufenster traten, zerstreute sich der Menschenauflauf in alle Richtungen.

Kron dachte an die Worte des Polizisten. »Wir ermitteln in alle Richtungen.« Er schaute den Passanten nach, die innerhalb von Sekunden nicht mehr zu sehen waren. So schnell verschwindet ein Mensch spurlos, dachte er.

»Das werden wir wohl noch öfter erleben in der nächsten Zeit«, sagte die jüngere Verkäuferin. »So sind sie, die Menschen.«

»Hat Rosalie zum Abschied bei ihrer Freundin noch irgendetwas gesagt?«, fragte Kron. »Hat sie eine Andeutung gemacht?«

»Auch die Polizei weiß nicht mehr«, erklärte der Geselle.

»In der Nachbarschaft sind schon alle Keller durchsucht worden«, flüsterte die ältere Verkäuferin. »Auch in der Schrebergartenanlage waren sie. Wer weiß, wo der Täter jetzt auf der Lauer liegt!«

»Hoffentlich finden sie ihn schnell«, sagte die jüngere Verkäuferin in einem weinerlichen Ton. »Es ist so schrecklich. Unsere liebe Rosalie! Wenn sie ihn finden, dann soll er hängen.« Tränen schossen aus ihren Augenwinkeln, sie liefen über ihre Wangen. Die junge Frau hatte die Beherrschung verloren. »Ich habe so eine Angst«, schluchzte sie.

»Das Messer müsste man ihm mehrfach in die Brust stechen«, erklärte die Ältere und kniff die Augen zusammen. »Auge um Auge, Zahn um Zahn! Hängen ist viel zu mild für das, was er getan hat.«

»Vielleicht finden wir ihn vor der Polizei!«, sagte der Bäckergeselle leise. »Dann gehört er uns!«

Kron zog es nach dem letzten Satz des Gesellen vor, sich zu verabschieden und die Familie Olsen aufzusuchen.

Die Ladentür ging auf, die eintretende Kundschaft brachte einen eisigen Windhauch mit.

»Sie wünschen?«, fragte eine der Verkäuferinnen.

Die Angst kroch in Kron hoch, den Eltern und der Schwester Rosalies in die Augen zu sehen. Seit dem Abschied gestern Abend und dem Leichenfund am Morgen waren nur wenige Stunden vergangen. Es gab kein Wort des Trostes nach dieser sinnlosen, blutrünstigen Tat. Kron hatte die Notizen in seinem kleinen Buch um die Worte »Brandstiftung Schrebergartengelände« und »Verdeckungsabsicht« ergänzt. Er hoffte, dass dieses Sammelsurium an Ideen, Hinweisen und Spuren ihn zum Täter führte. Er war Journalist mit Leib und Seele, fühlte sich nur seiner objektiven Berichterstattung verpflichtet. Auf dieser bedingungslosen Berufung basierten alle seine journalistischen Erfolge. Doch seit heute Morgen hatte sich seine Welt von einer Sekunde auf die andere verändert. Er war Teil seiner eigenen Berichterstattung geworden, auch wenn er im Mordfall Rosalie Olsen nur eine Randfigur war. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben, das er sonst Tag für Tag liebte, musste er gegen eine Übermacht an Gefühlen tief in seinem Herzen ankämpfen.

Er sehnte sich nach Marlene. Er hatte ihr versprochen, mit ihr am Abend in einen neuen Kinofilm zu gehen. Der Titel lautete irgendetwas mit »Büchse«.

Marlene liebte das Kino. »Ich werde ein Star, ein großer Star am Filmhimmel«, schwärmte sie von ihrem Traum.

Auch Kron konnte sich der Faszination der Leinwand und des Rundfunks nicht entziehen. Der erste Tonfilm in deutscher Sprache hatte in wenigen Wochen in Berlin Premiere.

»Vielleicht hat Maaßen recht. Ich übernachte sowieso bei jeder Gelegenheit bei Marlene am Hofgarten«, dachte Kron laut. »Ich bin nur eine einzige exklusive Berichterstattung von einem höheren Gehalt entfernt.« Diese Gedanken waren bis heute Vormittag für Kron ein reines Gedankenspiel gewesen. Nach Schwarz’ Angebot war der große Karriereschritt zum Greifen nah.

Vor der Wohnungstür der Familie Olsen standen zwei uniformierte Polizeibeamte. Kron grüßte und ging an ihnen vorbei, um in die zweite Etage zu seiner Wohnung zu gelangen.

Rasch zog er sich in seiner kleinen Wohnung saubere frisch gebügelte Kleidung an, bevor er sich wieder auf den Weg zur Redaktion machte. Sein Briefkasten war wie fast immer leer. Seiner Zugehfrau hinterließ er wegen der verschmutzten Hosen und dem verschwitzten Hemd einen Zettel mit der Bitte um Reinigung. Kron begann zu niesen. Er zog sich seinen dicken Wintermantel an und wickelte sich zwei Schals um seinen Hals. Als er die Treppe hinabstieg, war die Polizei vor der Wohnungstür der Olsens verschwunden. Zweimal zog er seinen Finger vom Klingelknopf zurück, dann betätigte er die Türglocke.

Kron sah in rot verweinte Augen unter angeschwollenen Augenlidern – Rosalies Mutter persönlich öffnete ihm die Tür. Ein Arzt war bei Marie, die über den Schmerz des Verlustes der kleinen Schwester zusammengebrochen war.

»Mein Beileid«, sagte Kron. Jedes weitere Wort blieb ihm im Hals stecken. Im Geiste sah er die fröhliche Rosalie vor sich. Er glaubte, ihre Stimme und ihr Lachen zu hören. Aber es war nur ein Trugbild, ein Streich, den ihm seine Fantasie spielte. Rosalie lachte nicht mehr. Sie konnte auch nicht plötzlich aus einem der anderen Räume in die Diele gelaufen kommen, um ihn zu begrüßen. Sie lag seit Stunden in der Gerichtsmedizin – kalt und steif.

»Egon!«, begrüßte ihn der Bäcker. »Die Polizei ist gerade erst gegangen.« Kron setzte sich in der Wohnstube auf einen der braunen Polstersessel zu den Eltern. Auf dem Kirschholztisch lagen Fotos von Rosalie. Obenauf erkannte er ein Foto, auf dem sie als Funkenmariechen verkleidet war. Im Hintergrund waren einige Wagen des Rosenmontagszugs 1928 zu sehen.

Das Hausmädchen stellte die benutzten Kaffeetassen, aus denen die Ermittler getrunken hatten, auf ein Tablett. Auf einen Wink von Frau Olsen stellte sie für Kron eine neue Tasse aus feinem Porzellan auf den Tisch und schenkte Kaffee ein.

»Wenn wir ihr doch gestern nicht erlaubt hätten, spielen zu gehen«, warf sich Olsen vor.

Kron spürte, wie die heiße Flüssigkeit ihn innerlich erwärmte. Der Kaffee lief langsam vom Mund durch die Speiseröhre in den Magen. Die Wärme fühlte sich gut an.

»Der Schmerz zerreißt uns!« Vater Olsen sackte als Häufchen Elend im Sessel in sich zusammen. »Er hat sie benutzt wie man eine Hure benutzt. Und dann hat er sie weggeworfen wie ein Stück Abfall. Einfach weggeworfen.«

»Besteht kein Zweifel mehr?«

»Er hat an ihr herumgespielt. Die Untersuchung in der Gerichtsmedizin brauchen wir gar nicht erst abzuwarten«, stieß Olsen hervor. »Was hatte er denn sonst mit ihr auf dem Bauplatz zu suchen?«

Kron konnte diesen Sätzen nichts mehr entgegnen.

»Ich hätte ihm Geld geben können, wenn er unsere Tochter verschont hätte.« Tiefste Verzweiflung klang aus Olsens Stimme. »Warum musste es ausgerechnet unsere Rosalie sein?«

Kron entdeckte auf dem Sideboard eine Likörflasche.

»Warum konnte er sich nicht am Bahnhof eine Hure kaufen?«

»Sie wusste, dass sie mit niemandem mitgehen darf«, sagte Frau Olsen. »Sie wusste es.«

Kron bemerkte den Geruch von Alkohol.

»Sie ist doch ein unschuldiges Kind gewesen. Was will denn ein Mann von einem Kind?«, fragte sie.

»Wir kriegen ihn«, sagte Kron. Er sah, dass diese drei Worte kein Trost waren. Kein Satz konnte Rosalies Eltern in diesen Momenten trösten. Kron dachte an die schwierige Aufgabe des Priesters der Vinzenzkirche. Er hatte im Pfarrhaus in unmittelbarer Nähe zum Tatort so tief und fest geschlafen wie alle Nachbarn – wenn wirklich alle geschlafen hatten. Mit Entsetzen dachte Kron an den großen Kreis an potenziellen Tätern in der Nachbarschaft. Maaßen hatte recht, er selbst war genauso verdächtig wie Olsen, wie der Pfarrer und wie jeder andere Mann in der näheren Umgebung. Wem hatte das Mädchen über den Weg getraut?

»Im Artikel in der »Abendschau« werde ich über alles genau berichten und um Hinweise aus der Bevölkerung bitten. Ich verspreche euch, dass er gefunden wird.«

»Wer soll sie denn gesehen haben? Sie ist den einsamen Weg an den Gartenanlagen entlang gegangen. In der Dämmerung kann sie jeder angesprochen haben. Sogar ein Reisender, der längst wieder in einer anderen Stadt ist, kann der Täter sein«, stellte Olsen mit unumstößlicher Sicherheit klar. »Vielleicht finden sie ihn nie!«

»Sie hat doch gewusst, dass sie mit niemandem mitgehen darf!«, wiederholte Frau Olsen. »Sie war doch noch ein Kind.«

»Rosalie kann unmöglich der einzige Mensch gewesen sein, der gestern Abend unterwegs war. Ich werde nichts unversucht lassen!«, ergänzte Kron sein Versprechen. »Ich will Gerechtigkeit für Rosalie!«

»Sie hat es doch gewusst!«, flüsterte Frau Olsen.

Das Hausmädchen schenkte Kron eine zweite Tasse Kaffee ein.

»Im Schatten der Kirche«, sagte Bäcker Olsen. »Was für ein Mensch ist zu so etwas fähig – im Schatten der Kirche?«

»Im Schatten der Kirche – wer ist dazu fähig?«, notierte Kron in seinem Notizbuch. »Ein abnormes Hirn?«, ergänzte er. Dann steckte er das Buch in die Jackentasche. Es gelang ihm, mit behutsamen Fragen weitere Einzelheiten über den gestrigen Nachmittag von den Olsens zu erfahren. Nach einer knappen Stunde hatte er die Schlagzeile und den Artikel für die Abendausgabe des »Rheinischen Tageblatts« im Kopf.

Unbemerkt von den Erwachsenen war Marie mit ihrem Rollstuhl in das Zimmer gefahren.

»Sie finden ihn«, sagte sie leise. »Das haben Sie versprochen. Sie finden ihn!«

Kron nickte und versuchte ein Lächeln.

Marie nahm Rosalies Foto in die Hand. »Das Foto ist kein Jahr alt«, sagte sie. »Ihr neues Kostüm hängt noch im Schrank. Eine schwarze Katze!«

Kron dachte an den kommenden Abend. Es war Karnevalssamstag. In den Brauhäusern in der Innenstadt näherte sich der Karneval dem Höhepunkt.

»Karikadzd – Karikatur der Zeit«, lautete das Karnevalsmotto in dieser Session.

In Marlenes Kleiderschrank hingen zwei Piratenkostüme. Morgen Abend waren sie beide auf einer der großen Karnevalssitzungen eingeladen.

»Sie wäre die schönste schwarze Katze von allen gewesen«, sagte Kron leise.

Die Türklingel war zu hören. Das Hausmädchen öffnete. Einer der Kriminalbeamten war zurückgekehrt.

Kron verabschiedete sich mit dem Gefühl, dass jede seiner Fragen unzählige neue Fragen auf der Suche nach dem Mörder aufwarf. Welche Spur war die richtige?