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Bernd Franzinger

Tannenbergs letzter Fall

Kriminalroman

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Sinnenrausch (2015), Schultheater (2014), Tannenberg ermittelt wieder
in der Pfalz (2014), Hexenschuss (2013), Todesnetz (2012),

Tannenberg ermittelt (2012), Familiengrab (2011), Zehnkampf (2010),

Leidenstour (2009), Kindspech (2008), Jammerhalde (2007),

Bombenstimmung (2006), Wolfsfalle (2005), Dinotod (2005),

Ohnmacht (2004), Goldrausch (2004), Pilzsaison (2003)

Website des Autors:

www.tannenberg-krimis.de

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2016

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Sylvie Corriveau / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5160-7

Zitat

»Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut.«

Offenbarung des Johannes

1. Kapitel

Tannenberg bremste sein BMW Cabrio scharf ab und steuerte es in die Parkbucht vor seinem Elternhaus. Wegen einer kurzfristig angesetzten Zeugenvernehmung hatte er sich ein paar Minuten verspätet. Sehr zum Missfallen seines Vaters, der Unpünktlichkeit auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Noch bevor der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission einen Fuß auf den Bürgersteig gesetzt hatte, riss Jacob das Küchenfenster auf. »Rainer wartet schon seit einer geschlagenen Stunde auf dich, du elende Tranfunzel«, schimpfte der Senior der Großfamilie so laut, dass man es in der Beethovenstraße weithin hören konnte.

»Gemach, gemach, Vater«, erwiderte sein Sohn gelassen. »Es ging eben nicht früher«, stellte er klar. Wolfram Tannenberg zuckte mit den Schultern. »Du weißt schon, Vater, die berühmten Sachzwänge. Dagegen bin selbst ich machtlos.«

Aber Jacob ließ sich durch diese Erklärung nicht besänftigen. »Papperlapapp!«, schnatterte er wütend.

»Unsere Frauen sitzen die ganze Zeit über auf glühenden Kohlen«, keifte der aufgebrachte Rentner weiter. »Die wollen doch heute Abend zu diesem komischen Landfrauen-Treffen nach Krickenbach fahren. Was sag ich wollen, die müssen dahin, denn ohne die Rezepte deiner Mutter können diese alten Provinzschachteln ihr Heimatkochbuch nicht fertig machen.«

Demonstrativ tippte der ehemalige Mitarbeiter der Pfaff-Nähmaschinenfabrik auf seine Armbanduhr. »Das Treffen beginnt bereits in einer halben Stunde.« Seine Stimme wurde noch schärfer. »Mensch, Junge, die brauchen deine Rostlaube. Sonst kommen die doch nicht nach Krickenbach! Oder sollen die etwa die weite Strecke laufen, he?«

Dieser Gedanke zauberte Tannenberg ein amüsiertes Schmunzeln auf die Lippen. »Mach doch nicht so ’n Aufstand, Vater. Wie ich die beiden kenne, sind sie eh noch nicht fertig.«

»Darum geht’s doch gar nicht.«

»Worum geht’s denn dann?«

»Johannas Auto ist in der Werkstatt!«, blaffte Jacob Tannenberg. »Hast du Schnarchnase das etwa vergessen?«

»Nein, das habe ich nicht. Aber was ist mit meinem Bruderherz? Der besitzt schließlich ebenfalls ein Auto.«

»Meine geliebte rothaarige Schwiegertochter hat Elternabend und braucht das Auto«, knurrte es zurück.

Wolfram Tannenberg ließ sich seine gute Laune nicht verderben. »Keine Panik, Vater. Eine halbe Stunde bis Krickenbach?«, erwiderte er mit Blick auf seine Armbanduhr. »Das schaffen unsere Herzdamen doch locker. Hanne hat ja bekanntermaßen Superbenzin im Blut.«

»Und was ist mit Rainer, dem armen Kerl?«

»Jo, und was ist mit mir?«, dröhnte eine dunkle Stimme aus dem Inneren des Einfamilienhauses. »Um mich kümmerst du dich überhaupt nicht mehr.«

»Armer Kerl? Dass ich nicht lache«, schnaubte Tannenberg an seinen Vater adressiert und betrat das Wohnhaus. »Rainer hat doch heute Abend eh nichts anderes vor, als mit mir und Heiner Skat zu spielen. Da kann er ruhig ein bisschen warten und sich darauf freuen. So wie ich das schon den ganzen Tag über tue. Vorfreude ist sowieso die schönste Freude. Beim Skatspielen hat er nämlich garantiert nichts mehr zu lachen.«

»Hört, hört, der notorische Loser versucht sich durch wüste Mitspielerbeschimpfungen Mut zu machen«, höhnte der Rechtsmediziner Dr. Rainer Schönthaler.

»Ha, ha.«

»Dann setze ich gleich noch eins drauf und fordere dich hiermit zu einer Schachpartie heraus. Quasi als Vorspeise. Bis Heiner kommt, wird es ohnehin wohl noch ein Weilchen dauern«, rief der Rechtsmediziner vom Küchentisch her.

»Nichts lieber als das«, erwiderte Tannenberg und gesellte sich zu seinem Freund.

Schmunzelnd hob Dr. Schönthaler sein Weizenbierglas, damit sein Freund es sehen konnte, und prostete ihm zu. »Na dann: Auf deine fürchterliche Niederlage, du notorisches Opfer.«

»Träum schön weiter, Rainer. Heute hast du keine Chance gegen mich.«

»Ach, du witterst wohl Morgenluft, weil du meinst, ich sei schon leicht narkotisiert.« Der Forensiker lachte. »Womit du durchaus recht haben könntest, denn dein lieber Herr Vater hat mir die Wartezeit mit Kristallweizen und Mirabellenschnaps ein wenig erträglicher gestaltet.«

»So etwas habe ich bereits geahnt, du alter Leichenschinder. Und ich dachte schon, du hättest dich mal wieder in der Pathologie über die Formalinbestände hergemacht«, prustete der Chef-Ermittler.

In diesem Augenblick öffnete Johanna von Hoheneck die Haustür. Sie trug eine himbeerfarbene Chinohose, einen modisch gestreiften Strickpullover und sportliche Low-Cut-Sneaker. Ihre schulterlangen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten.

Tannenberg wurde bei diesem Anblick ganz warm ums Herz.

»Das wusste ich ja noch gar nicht, mein liebes Wölfchen«, säuselte Hanne.

»Was wusstest du noch nicht?«, plapperte ihr Lebensgefährte, der sie immer noch wie das siebte Weltwunder angaffte.

»Na ja, dass ich angeblich Superbenzin im Blut habe.«

Johanna von Hoheneck trippelte die Sandsteinstufen hinunter, umarmte ihren Freund und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen.

Wie gut sie wieder riecht, so richtig zum Anknabbern, dachte Tannenberg, während er Hannes Duft in sich aufsog.

»Johanna rast nicht, sondern sie fährt langsam und sehr, sehr sicher«, stellte Margot, die ihr auf dem Fuß folgte, unmissverständlich klar.

»Weiß ich doch, Mutter. War ja nur ein Scherz.«

»Auf alle Fälle fährt Johanna bedeutend besser Auto als du«, frotzelte Jacob. Er grunzte abschätzig. »Wobei das nicht sonderlich schwer ist.«

»Mach du erst mal deinen Führerschein, bevor du hier große Töne spuckst«, konterte der Kriminalbeamte.

»Wozu denn, he? Ins Tchibo gehe ich eh immer zu Fuß. Dadurch bin ich bedeutend schneller, weil ich weder einen Parkplatz suchen noch Geld in diese modernen Raubritterautomaten werfen muss.«

Sein Zeigefinger schoss in die Höhe. »Und ich verpeste die Luft nicht mit Autoabgasen – so wie du Stinkstiefel. Du könntest ruhig zu Fuß zu deiner Dienststelle am Pfaffplatz laufen. Das dauert höchstens fünf Minuten.«

»Dann käme ich ja noch später nach Hause«, grinste der Chef-Ermittler.

Margot Tannenberg trat einen Schritt auf das Paar zu und lächelte ihren jüngsten Sohn versonnen an. »Ach, Wolfi, ich freue mich ja so unheimlich, dass ihr beiden Turteltäubchen bald heiraten werdet.«

»Wir auch.« Johanna strahlte übers ganze Gesicht. Sanft stieß sie ihren zukünftigen Ehemann in die Seite. »Es hat schließlich lange genug gedauert, bis ich deinen Sohn endlich so weit hatte, dass er mich zum Traualtar führt.«

Das war nun doch ein wenig zu viel Gefühlsduselei, fand Tannenberg. Und das mitten auf der Beethovenstraße, wo die Häuserfassaden Ohren hatten! Mit einer überfallartigen Bewegung packte er Johanna von Hohenecks Unterarm und drückte ihr den Autoschlüssel in die Hand.

»Ihr müsst jetzt wirklich los, sonst kommt ihr tatsächlich zu spät zu eurem Landfrauen-Treffen«, drängte er. »Bitte fahr vorsichtig, Hanne. Ich möchte nämlich nicht, dass meinen beiden Lieblingsfrauen etwas passiert.«

»Mach dir keine Sorgen, Wolf, in etwa drei Stunden sind wir wieder zurück. Dann bist du ja sicher noch wach.«

»Aber klar doch«, schmunzelte Tannenberg – und das nicht ohne Hintergedanken.

Kurt, der schwanzwedelnd auf der Haustreppe stand und sein Herrchen nicht aus den Augen ließ, fühlte sich offensichtlich übergangen. Das vierbeinige Familienmitglied der Tannenbergs war schließlich eine Hundedame. Sie konnte ja nichts dafür, dass ihr Herrchen ihr aus einer Bierlaune heraus einen Männernamen verpasst hatte. Kurt jaulte und bellte so lange, bis sein Herrchen reagierte.

»Entschuldigung, mein Fräulein.« Tannenberg lachte und korrigierte sich: »Richtig, ich habe ja drei Lieblingsfrauen.«

Der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission ging zur Treppe, beugte sich nach vorn und kraulte Kurt hinter den Ohren, was dieser mit einem wohligen Seufzen quittierte. Hinter seinem Rücken hörte er, wie Johanna den Motor startete. Er drehte sich um und winkte dem davonbrausenden BMW Cabrio hinterher.

»Und sie hat doch Benzin im Blut, auch wenn sie es nicht zugeben will«, murmelte der Leiter des K 1. Er hechtete die Sandsteinstufen hinauf, packte Kurt am Halsband und zog ihn ins Treppenhaus. »Wir beide wissen das.«

Johanna blickte schmunzelnd in den Rückspiegel. »Was für eine verrückte …«

»… Sippschaft, in die du da hineinheiratest«, schnitt ihr Margot das Wort ab.

Hanne hob die Augenbrauen. »Und das auch noch völlig freiwillig«, betonte sie.

Margot strahlte. »Das verstehe ich nur zu gut, meine Liebe, schließlich ist mein Wolfi ein richtig liebes Kerlchen.«

»Das ist wohl wahr«, bestätigte Johanna von Hoheneck, während sie an der Einmündung zur Logenstraße den Blinker setzte.

Die alte Dame lächelte noch immer versonnen vor sich hin. »Das war er schon als kleiner Bub. Er war ja so ein goldiger Fratz«, schwärmte sie weiter. Nach einem tiefen Atemzug ergänzte sie: »Bleibt es dabei, dass ihr in der Stiftskirche heiraten werdet?«

»Ja, das haben wir fest geplant.«

»Ist das schön«, freute sich ihre zukünftige Schwiegermutter. »Dort wurden Heiner und Wolfi getauft und konfirmiert.«

»Ach, das wusste ich gar nicht«, erwiderte Hanne. »Wolf hat mir nur erzählt, dass du Jacob in der Stiftskirche das Ja-Wort gegeben hast.«

Margot Tannenberg strich sich eine graue Haarsträhne hinters Ohr. Sie winkte ab. »Das ist schon so lange her, Johanna. Ich kann mich kaum mehr daran erinnern.«

»Das glaube ich dir nicht, Margot«, sagte Johanna von Hoheneck mit einem süffisanten Lächeln. »Solch einen wichtigen Tag vergisst man doch nicht, oder?« Sie blickte zu ihrer Beifahrerin, die an ihrer Handtasche herumnestelte.

Die alte Dame zog den Reißverschluss zu, faltete ihre Hände auf dem Schoß und kreuzte die Daumen. »Natürlich nicht, Johanna«, antwortete sie. »Nicht umsonst heißt es ja, dass der Hochzeitstag für uns Frauen der schönste Tag in unserem Leben sei. Bei mir war er das hundertprozentig.«

»Toll, wenn man seine Hochzeit nach so vielen Ehejahren noch so positiv bewertet.«

Die schlichte Trauungszeremonie lief im Zeitraffer vor Margots geistigem Auge ab. Erst nach einem tiefen Atemzug konnte sie weitersprechen: »Jacob war damals ja so ein fescher Kerl, kann ich dir sagen. Die halbe Stadt war hinter ihm her. Alle wollten mit ihm poussieren.«

»Poussieren?«

»Ja, so hat man das damals eben genannt«, entgegnete Margot sichtlich verlegen. Sie räusperte sich und zeigte dann mit dem Finger auf sich. »Aber ich hab ihn mir geangelt und vor den Traualtar geschleppt.«

Johanna von Hoheneck lachte herzhaft. »Das hast du gut hingekriegt. Denn ohne Jacob keinen Wolf …«

»Und keinen Heiner.«

»Ja, genau«, entgegnete ihre zukünftige Schwiegertochter. »Und ohne Heiner keinen Tobias, keine Marieke, keine Emma und keinen Paul.«

»Nicht auszudenken, wenn es die alle nicht gäbe«, bemerkte Tannenbergs Mutter.

»Das wäre wirklich jammerschade.« Hanne tätschelte das Knie ihrer Beifahrerin. »Gut gemacht, Margot.«

»Mal was anderes, Johanna«, sagte die ›Göttin der Hausmannskost‹, wie Tannenberg manchmal seine Mutter titulierte. »Wie weit bist du denn eigentlich mit deinen Befragungen?«

»Fast fertig«, erwiderte Hanne, die als Historikerin am Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde arbeitete. Heute Abend wollte sie die Datenerhebung für ihre empirische Studie über die pfälzischen Landfrauen zum Abschluss bringen.

»Die Interviews gingen ganz locker und in angenehmer Atmosphäre über die Bühne. Deine Landfrauen sind ja derart nett und auskunftsfreudig. Mir haben die Befragungen richtig Spaß gemacht. Ich habe einige sehr interessante Dinge von ihnen erfahren.«

»Und welche?«, wollte Margot neugierig wissen.

»Zum Beispiel, dass die Landfrauen entgegen hartnäckiger Vorurteile ziemlich selbstbewusst und emanzipiert sind.«

»Also nicht nur die besten Dampfnudeln und die köstlichste Latwerge-Marmelade weit und breit fabrizieren, sondern auch den angeblichen Herren der Schöpfung anständig Paroli bieten«, scherzte die alte Dame.

Hanne lachte herzhaft. »So ist es.«

Das feuerrote BMW Cabrio passierte den Gelterswoog, wo gerade die Wettkampfmannschaft der Paddlergilde für eine Regatta trainierte.

»Früher haben wir hier am See fast jedes Sommerwochenende verbracht«, sagte Margot mit einem sanften Lächeln. »Das war unser Jahresurlaub. Zu mehr reichte es leider nicht. Aber unsere Buben haben sich nie darüber beklagt, dass wir nicht, wie die meisten ihrer Klassenkameraden, nach Italien oder Spanien gefahren sind.«

»Kinder haben damit eh viel weniger Probleme als Erwachsene. Denen gefällt es eigentlich überall. Hauptsache, sie haben ihre Familie und ihre Freunde dabei.«

»Wir konnten uns damals noch nicht einmal ein Auto leisten, weil wir ja unser Haus abbezahlen mussten«, schob Margot nach. »Aber später sind die Buben dann einige Jahre hintereinander mit dem CVJM an die Nordsee in ein Ferienlager gefahren. Jacob und ich sind in der Zeit durch unsere schöne Pfalz gewandert.«

»Warum denn in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah?«, kommentierte Johanna von Hoheneck. »Diesen Satz habe ich übrigens des Öfteren bei meinen Interviews gehört.«

»Die Landfrauen sind eben sehr heimatverbunden«, entgegnete ihre Beifahrerin.

Johanna nickte. »Du, Margot, ich muss dir noch etwas Wichtiges erzählen.« Sie räusperte sich hinter vorgehaltener Hand. »Ich war vorhin beim Arzt.«

Erschrocken wandte sich Margot zu ihr um. Sie schluckte hart. »Etwas Schlimmes?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

Johanna grinste über das ganze Gesicht. »Nein, eher etwas sehr, sehr Schönes.«

Margot verstand sofort. »Wirklich?«

»Ja, meine Liebe, du wirst noch einmal Oma. Eigentlich haben wir ja nicht mehr damit gerechnet.«

»Ach Gott, wie schön«, stieß Margot hocherfreut aus. »Weiß es Wolfi denn schon?«

»Nein, du bist die Erste, die es erfahren hat. Ich erzähle es ihm nachher in aller Ruhe. Bin gespannt, wie er reagieren wird.«

»Das kann ich dir verraten, Johanna: Wolfi wird sich wie ein Schneekönig freuen, dass er endlich Vater …« Margot stockte der Atem. Sie wollte nicht glauben, was sie da sah. »Oh mein Gott!«, keuchte sie.

Zu diesem Zeitpunkt saß Wolfram Tannenberg in seinem Wohnzimmer und grübelte angestrengt darüber nach, wie er am sinnvollsten auf Dr. Schönthalers letzten Schachzug reagieren sollte.

»An deiner Stelle würde ich meine Nerven schonen und aufgeben«, frotzelte der Rechtsmediziner. »Du hast eh keine Chance mehr. Noch zwei Züge …« Er klatschte in die Hände. »Und dann bist du matt, alter Junge, schachmatt. Was für ein genialer Coup!«, prahlte er.

Tannenberg presste die Kiefer so fest aufeinander, dass die Zähne knirschten.

»Eine klassische Eröffnungsfalle, in die du Blindfuchs prompt hineingetappt bist«, provozierte sein Gegenüber weiter. Ein schadenfrohes Kichern.

»Halt den Schnabel und lass mich in Ruhe nachdenken«, schnauzte ihn Tannenberg an. »Mir fällt schon noch etwas ein.«

Dr. Schönthaler grinste überheblich, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und breitete die Arme so aus, als wollte er am liebsten die ganze Welt umarmen.

»Und was, bitte schön, sollte das sein?«, posaunte der Pathologe lauthals hinaus. Dann streckte er die Arme nach vorn und zeigte die gespreizten Finger.

»Okay, okay, Wolf, von mir aus«, tönte er. »Dann verzweifele du noch eine Weile an meinem genialen Überraschungsangriff auf deinen Königsflügel, ich sorge derweil für Weizenbier-Nachschub. Den brauchen wir jetzt dringend: ich zwecks Jubelfeier, du zum Frustbetäuben.«

Bereits unmittelbar nach dem letzten Zug des Rechtsmediziners hatte Tannenberg die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannt, doch er wollte seinem arroganten Gegner den ihm zustehenden Triumpf nicht gönnen.

»Ich hab keinen Bock mehr auf Schach«, grummelte er und schob angewidert das karierte Holzbrett von sich.

Der Rechtsmediziner stellte zwei Flaschen Kristallweizen auf den Tisch und öffnete sie. Dann stellte er sich hinter seinen Freund, betrachtete sein Meisterwerk und rieb sich freudestrahlend die Hände.

»Also hast du’s endlich kapiert, dass im übernächsten Zug unweigerlich das Matt droht?«, streute er genüsslich Salz in die Wunde.

Tannenberg verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, antwortete aber nicht. Aus den Augenwinkeln heraus sah er durch sein Fenster, dass in Heiners gegenüberliegender Wohnung das Licht aufflammte.

»Dann gib halt endlich auf und leg deinen König um.«

»Nee«, knurrte Tannenberg. Ehe sich Dr. Schönthaler versah, räumte sein Freund die Figuren ab, verstaute sie in der Holzkiste und stellte das Schachbrett an die Wand. »Ich hatte von vornherein keine Lust auf eine Schachpartie.«

»Ach, du wolltest mir also nur einen Freundschaftsdienst erweisen und mir ein Erfolgserlebnis verschaffen?«

»So ist es«, sagte Tannenberg. »Und vor allem wollte ich die Zeit überbrücken, bis Heiner endlich nach Hause kommt. Und das ist er jetzt. Also können wir bald loslegen. Bist du bereit für unsere Skatrunde?«

»Selbstverständlich bin ich das, du schlechter Verlierer«, erwiderte Dr. Schönthaler mit einem spöttischen Grinsen. »Obwohl sich an deinem intellektuellen Grundproblem«, er tippte an seine Schläfe, »durch den Wechsel des Spielmaterials nicht im Geringsten etwas ändert, denn auch in dieser Denksportdisziplin hast du noch nicht einmal die geringste Chance gegen mich.«

Wolfram Tannenberg verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Du wirst bereits vor der ersten Schieberamsch-Runde von deinem hohen Ross herunter in den Dreck fallen, du großspuriger Aufschneider. Das verspreche ich dir.«

Zehn Minuten später saßen die drei Freunde in Tannenbergs gemütlicher Wohnküche und prosteten sich zu.

Heiner leckte sich nach einem großen Schluck den Bierschaum von den Lippen. »Auf einen spannenden Skatabend«, sagte er. »Den habe ich mir nach diesem nervigen Elternabend wahrlich verdient.«

»War’s denn wieder so schlimm?«, fragte Dr. Schönthaler voller Mitgefühl, denn die Vorstellung, sein Geld damit verdienen zu müssen, indem man tagtäglich eine Horde verwöhnter und erziehungsresistenter Schüler zu domestizieren versuchte, erfüllte ihn stets mit Grauen. Da waren ihm die stummen Gesellen auf seinem Seziertisch doch bedeutend lieber.

»Schlimmer«, entgegnete der Deutschlehrer und teilte die Karten aus. »Heutzutage sind die Eltern anstrengender und unverschämter als ihre Kinder.«

»Schluss mit diesem Horrorthema!«, schimpfte Tannenberg. »Ab jetzt wird nur noch Skat gespielt und nicht mehr dumm rumgelabert!«

Dieser eindringliche Appell fruchtete, und die Männer konzentrierten sich auf die ausgegebenen Spielkarten. Der Leiter des K 1 spielte einen Grand mit den besten drei Buben so perfekt herunter, dass seine Gegner nicht einen einzigen Stich machen konnten.

»Hatte ich dir vorhin nicht versprochen, dass ich dir ganz schnell deine Grenzen aufzeigen werde?«, provozierte Tannenberg den Pathologen. Er reckte eine Hand empor und ließ die Finger aus der Faust hervorspringen. »Mit drei, Spiel vier, Schneider fünf …«, er nahm noch den Daumen seiner anderen Hand zu Hilfe, »und Schwarz sechs!«, jubilierte er.

»Anfängerglück«, kommentierte Dr. Schönthaler trocken. »Dann gewinn eben dein erstes Spiel. Dieser Pyrrhussieg sei dir von Herzen gegönnt. Wie heißt es doch so schön: Wer eins null führt, der stets verliert.«

Eine Etage tiefer war Jacob Tannenberg beim Abspann eines schon x-mal wiederholten, todlangweiligen Tatort-Krimis in seinem Fernsehsessel eingeschlafen. Eineinhalb Stunden später riss ihn die Schießerei eines actiongeladenen Spätfilms aus seinem Nickerchen. Er öffnete blinzelnd die Augen und wunderte sich, dass er nicht in seinem Bett lag. Übellaunig schaute er sich im Wohnzimmer um.

Als er seine Ehegattin nicht gleich entdeckte, rief er in alter Gewohnheit lauthals nach ihr: »Maaargot!«

Keine Antwort.

»Margot, wo steckst du denn?«, legte er knurrend nach.

Gähnend drückte er sich in die Höhe, schlüpfte in seine Filzpantoffeln und trottete durch die Parterrewohnung. Doch Margot war weder in der Küche noch im Bad noch im Schlafzimmer. Jacob warf sogar einen verschlafenen Blick in die Besenkammer.

Dann ist sie bestimmt oben bei ihrem geliebten Wölfchen und seinen versoffenen Skatbrüdern, erklärte er sich ihre Abwesenheit. Widerwillig quälte er sich die Treppe hinauf und läutete an der Wohnungstür seines jüngsten Sohnes.

»Wo steckt denn deine Mutter?«, grummelte er mit zerknittertem Gesicht dem Kriminalbeamten entgegen. »Ist sie bei euch?«

»Wieso bist du denn noch wach?«, fragte Tannenberg verwundert. »Als notorischer Frühaufsteher liegst du doch um diese Uhrzeit normalerweise schon seit über einer Stunde im Bett und träumst von einem FCK-Sieg gegen die Bayern.«

Der Senior ignorierte die Frotzelei. »Und? Ist sie nun bei euch oder nicht?«, wiederholte er.

Wolfram Tannenberg schüttelte den Kopf. »Nein, Hanne ist auch noch nicht zurück.«

Jacob kratzte sich hinter dem Ohr. »Komisch, sonst waren die beiden doch immer schon gegen 22 Uhr wieder da.«

»Mach dir mal keine Sorgen, Vater«, beschwichtigte ihn sein jüngster Sohn. »Vielleicht haben die Interviews mit den Landfrauen heute ein bisschen länger gedauert als sonst. Es war schließlich der letzte Befragungstermin. Unsere Herzdamen sitzen bestimmt gemütlich mit den Landfrauen zusammen und feiern noch ein bisschen den Abschluss.«

»Ich mach mir keine Sorgen, ich will nur endlich in mein Bett«, zeterte der Rentner. »Aber wenn deine Mutter nicht da ist, kann ich nicht einschlafen.«

»Alte Liebe rostet nicht«, bemerkte Tannenberg.

»Quatsch«, zischte Jacob. »Deine Mutter poltert nur immer so lange rum, bis sie endlich ins Bett kommt. Und bis dahin kann ich nicht einschlafen. Heute ginge das zwar, aber dann weckt sie mich bestimmt auf, wenn sie nach Hause kommt.«

Wolfram Tannenberg legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter und schob ihn in Richtung Küche. »Komm, setz dich zu uns. Ich schenk dir ein Bierchen ein, und dann warten wir gemeinsam auf unsere Frauen. So vergeht die Wartezeit bedeutend schneller, als wenn du unten alleine vor dich hin schmollst.«

Jacob verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ich schmolle nicht vor mich hin, ich will nur endlich schlafen.«

20 Minuten später reichte es dem Senior dann endgültig. Er stapfte in den Flur, riss das Mobilteil aus der Ladestation und drückte es Tannenberg in die Hand.

»Entweder du rufst jetzt sofort Johanna an und fragst, wo die beiden bleiben, oder ich tue es«, polterte er ungehalten. »Ich will jetzt endlich in mein Bett.«

»Okay, okay, du alte Nervensäge«, gab sich der Chef-Ermittler geschlagen. Vater reagiert immer öfter wie ein kleines Kind, dachte er, behielt seine Gedanken jedoch für sich.

Tannenberg rief das digitale Telefonbuch auf und wählte die eingespeicherte Nummer seiner zukünftigen Ehefrau. »The person you have called is temporarily not available. Please call again later«, tönte es aus der Hörmuschel.

»Komisch, dass nicht wenigstens ihre Mailbox angeht«, murmelte der Chef-Ermittler irritiert vor sich hin.

»Diese Standardansage bedeutet, dass sie ihr Handy vollständig ausgeschaltet hat«, erläuterte Heiner. »Denn im Stand-by-Modus würde sich ihre Mailbox melden.«

Sein zwei Jahre jüngerer Bruder warf die Stirn in Falten. »Das macht sie doch sonst nie, wenn sie außer Haus ist«, sagte er eher zu sich selbst.

»Wahrscheinlich wollte sie bei ihren Interviews nicht gestört werden und hat deshalb ihr iPhone ausgeschaltet«, spekulierte Dr. Schönthaler.

»Dann lass sofort eine Handyortung durchführen, damit wir wissen, wo sie sind«, forderte der Senior an Tannenberg adressiert. »Schließlich bist du der Leiter des K 1. Da geht das doch wohl ruckzuck, oder?«

Der Kriminalbeamte verdrehte genervt die Augen und legte das Mobilteil auf den Tisch neben den Kartenstapel. Er fixierte Jacob mit einem durchdringenden Blick.

»Einen Teufel werde ich tun, Vater«, schnauzte er zurück. »Erstens würde ich mich bei meinen Kollegen lächerlich machen, und zweitens kann man ein ausgeschaltetes Handy sowieso nicht orten. Für das Ausbleiben unserer Frauen gibt es bestimmt eine völlig harmlose Erklärung.« Er tippte auf seine Armbanduhr. »Ich bin mir sicher, in spätestens einer halben Stunde sind die beiden da.«

»Und wenn nicht?«, fauchte Jacob. »Die sind bestimmt entführt worden.«

»Blödsinn«, blaffte Tannenberg. »Wer sollte die beiden denn entführen? Bei uns gibt es doch nichts zu holen.«

Jacob Tannenberg grunzte höhnisch. »Bei dir und Heiner vielleicht nicht, aber bei mir schon.«

Verdutzt starrten die Brüder zuerst sich und anschließend ihren Vater an, der sie in der Vergangenheit schon des Öfteren mit spektakulären Erträgen seiner diversen Zockereien überrascht hatte.

So hatte der spielbesessene Rentner an der Börse mit Optionsscheinen eine enorme Stange Geld verdient, mit viel Glück ein hoch dotiertes Online-Pokerturnier gewonnen, mit einem von ihm entwickelten Tippsystem mehrere vierstellige Lottogewinne an Land gezogen und bei einer Tombola einen Motorroller gewonnen, mit dem Marieke und Johanna ab und an durch die Gegend knatterten.

»Was ist es denn diesmal für eine Zockerei?«, fragte Heiner amüsiert.

Sein Vater senkte die Stimme und flüsterte: »Ich habe vor gut zwei Jahren Gold gekauft und …«

»Gold?«, schnitt ihm Heiner das Wort ab. »Wie viel Geld hast du denn für diese riskante Zockerei aus dem Fenster geworfen?«

»Riskante Zockerei«, äffte ihn Jacob mit gespitzten Lippen nach. »Du bist und bleibst der typische lebenszeitverbeamtete Deutschlehrer: Nicht die geringste Ahnung von ökonomischen Zusammenhängen, aber große Töne über das Risiko von Rohstoff-Investments spucken.«

»Wie viel?«, hakte Heiner unbeeindruckt nach.

Jacob räusperte sich. »60.000.«

»Was?«, fauchte Tannenberg.

»Ja, was wohl? Euro natürlich«, schnaubte Jacob verächtlich. »Oder glaubst du etwa, die tauschen dir auf der Bank Tannenzapfen gegen Goldbarren ein, he?«

»Und wieso wissen wir davon nichts?«, klinkte sich Tannenberg ein.

»Weil es euch absolut nichts angeht, wo und in was ich mein sauer verdientes Geld investiere!«, stellte der Senior in unmissverständlichem Ton klar. »Ihr habt wohl Angst um euer Erbe, he?«, stichelte er.

Bevor seine Söhne reagieren konnten, schob er nach: »Keinen Grund zur Panik, Jungs. Seitdem ich gekauft habe, ist der Goldpreis regelrecht durch die Decke geschossen. Bis jetzt habe ich bereits 60 Prozent Gewinn gemacht. Und das steuerfrei!«

Jacob tippte auf seine Nasenspitze. »Euer alter Vater hat in finanziellen Dingen eben ein sehr gutes Näschen. Ich rieche förmlich gute Investments.« Plötzlich verfinsterte sich seine Miene.

»Aber wenn die Entführer etwas davon mitbekommen haben und mir nun im Austausch gegen deine Mutter und Johanna mein Gold abnehmen wollen …« Er schluckte hart, fuhr sich mit zitternder Hand über sein stoppeliges Kinn.

»Würdest du denn überhaupt so viel für die beiden lockermachen?«, konnte sich Wolfram Tannenberg nicht verkneifen.

Jacob fixierte seinen jüngsten Sohn mit einem stechenden Blick. »Auf solch eine schwachsinnige Frage gebe ich dir keine Antwort«, rüffelte er. Dann zeigte er auf die Wanduhr. »Schon fast Mitternacht. Mensch, Junior, komm endlich in die Gänge. Wir müssen einen Suchtrupp zusammenstellen.«

»Einen Suchtrupp«, schnaubte Tannenberg verächtlich.

Obwohl er sich über die Panik seines Vaters amüsierte, musste er sich doch eingestehen, dass auch ihm allmählich ein wenig mulmig zumute wurde, Schließlich war Johanna normalerweise die Zuverlässigkeit in Person und würde Bescheid geben, wenn es später als gewöhnlich wird.

»Ich schau mal in Hannes Arbeitszimmer nach, ob ich die Telefonnummer einer der Landfrauen oder des Gemeindezentrums finde, in dem sie sich immer treffen«, sagte Johanna von Hohenecks zukünftiger Ehemann.

»Ja, mach das! Und zwar sofort«, drängte Jacob.

»Bin schon auf dem Weg. Zu deiner Beruhigung rufe ich gleich dort an. Irgendjemand wird ja wohl wissen, wo unsere beiden Nachtschwärmer abgeblieben sind.«

»Hoffentlich befinden sich die Telefonnummern nicht in den Unterlagen, die sie mitgenommen hat«, gab Dr. Schönthaler zu bedenken.

»Das werden wir gleich wissen«, entgegnete der Kriminalbeamte und verschwand in Johannas Arbeitszimmer.

Die Historikerin, die nach ihrer Rückkehr aus den USA seit einigen Jahren am Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde arbeitete, hasste Unordnung, nicht zuletzt im privaten Bereich und da insbesondere in der gemeinsamen Wohnung im ersten Obergeschoss des Elternhauses ihres zukünftigen Ehemanns. Ein Umstand, der des Öfteren mit Tannenbergs eher lockerem Umgang mit diesem Themenbereich kollidierte.

Als Kompromiss hatten die beiden vereinbart, dass jeder für sein eigenes Arbeitszimmer verantwortlich war und man sich weder um die Reinigung noch um die Ausgestaltung des jeweils anderen Refugiums kümmerte. Darüber hinaus hatte Wolfram Tannenberg zähneknirschend akzeptiert, dass in den gemeinsam genutzten Wohnräumen Johannas Ordnungsliebe die Basis des Zusammenlebens bildete.

Tannenberg setzte sich an den Schreibtisch seiner Verlobten und blätterte als Erstes in ihrem aufgeschlagenen Terminkalender. Außer den eingetragenen Interviewterminen fand er jedoch keinerlei Hinweise auf die befragten Landfrauen.

Womöglich hatte sie die betreffenden Namen und Telefonnummern in ihrem Handy gespeichert. Und das hatte sie höchstwahrscheinlich mitgenommen. Auf ihrem Schreibtisch, wo sie ihr erst ein paar Monate altes iPhone 6 für gewöhnlich deponierte, lag es jedenfalls nicht.

Johannas Laptop, der aufgeklappt neben ihrem Terminkalender stand, brauchte er erst gar nicht hochzufahren, denn der Zugang war passwortgeschützt. Das Codewort wusste er ebenso wenig, wie Johanna dasjenige für seinen Laptop kannte. So viel Privatsphäre muss sein – das war die einhellige Meinung beider.

Ein Blick auf die Regalwand, in der sich in den untersten Etagen für gewöhnlich bunte Aktenordner dicht aneinanderreihten, genügte, um auch die nächste Möglichkeit auszuschließen. Denn dort, wo sich sonst die Leitzordner mit den ausgedruckten Interviewtranskripten befanden, klaffte eine breite Lücke. Folglich hatte Johanna diese Unterlagen mit nach Krickenbach genommen.

»Mist«, fluchte Tannenberg leise vor sich hin. »Wie komme ich denn bloß an diese verdammten Telefonnummern?«

»Im Tchibo steht einer am Nebentisch«, tönte Jacob, der seinem Sohn in Hannes Arbeitszimmer gefolgt war, vom Türrahmen aus. »Der ist aus Krickenbach und dem seine Frau ist Mitglied im dortigen Landfrauenverein. Ruf doch einfach den an.«

»Um diese Uhrzeit?«, wandte sein jüngster Sohn ein.

»Na und? Es handelt sich schließlich um einen Notfall.«

»Wie heißt denn dieser Mann?«, fragte Tannenberg. Er zwängte sich an seinem Vater vorbei, griff sich im Flur das Telefonbuch und ließ die Seiten über den Daumen laufen.

»So, Krickenbach hab ich. Name?«

»Gustl.«

»Und weiter?«

Jacob blies die Backen auf und stieß den aufgestauten Atem knatternd aus. »Ich glaub Wildberger.«

»Glaubst du es, oder weißt du es?«

Jacob brummte. »Ich glaube, ich weiß es.«

Wolfram Tannenbergs Finger huschte über die Zeilen. »In Krickenbach gibt es anscheinend nur einen einzigen Wildberger. Und der heißt August.«

»Sag ich doch: Gustl.«

Der Chef-Ermittler schüttelte genervt den Kopf und tippte die Telefonnummer ein. Dann wollte er den Hörer an seinen Vater weiterreichen.

Doch der machte eine abwehrende Handbewegung. »Wieso denn ich?«, zischte der Rentner.

»Weil du diesen Mann im Gegensatz zu mir kennst«, stellte der Leiter des K 1 klar und drückte seinem störrischen Vater den Telefonhörer in die Hand.

»Soll ich etwa den armen Kerl um diese nachtschlafende Uhrzeit anrufen und aus dem Tiefschlaf reißen? Am besten melde ich mich gleich mit ›Hauptkommissar Tannenberg, Mordkommission Kaiserslautern‹. Der arme Kerl bekommt ja einen Herzinfarkt.«

»Und was sag ich dem mitten in der Nacht?«, grummelte Jacob und verlagerte sein Gewicht unruhig vom einen Fuß auf den anderen. »Sonst sehe ich den Gustl doch immer nur morgens im Tchibo.«

Ohne zu antworten tippte Tannenberg auf die grüne Verbindungstaste. Jacob räusperte sich und legte sich schnell in Gedanken ein paar passende Worte zurecht. Nach schier endlosen Ruftönen meldete sich eine verschlafene Männerstimme.

Jacob entschuldigte sich höflich und schilderte den Grund für die nächtliche Belästigung. Grummelnd weckte Wildberger seine Ehefrau und reichte ihr den Hörer. Auch sie wurde aus dem Tiefschlaf gerissen und benötigte deshalb einige Sekunden, bis sie den Inhalt von Jacobs Fragen verstand.

»Danke, Frau Wildberger. Entschuldigen Sie bitte die nächtliche Störung. Aber wir machen uns eben große Sorgen«, sagte der Rentner. Anschließend knallte er das Mobilteil in die Basisstation.

»Die haben sich zwar alle gewundert, dass Johanna und deine Mutter heute nicht zum Treffen erschienen sind, aber auf die Idee, bei uns anzurufen, sind diese blöden Hühner nicht gekommen«, schimpfte der Senior mit lauter Stimme.

Jacob und sein Sohn kehrten in die Küche zurück, doch keiner von ihnen setzte sich zu den beiden anderen an den Tisch. Dafür waren sie innerlich viel zu aufgewühlt.

Heiner stand der Schock ins Gesicht geschrieben, als ihn Jacob über den Inhalt des Telefonats in Kenntnis setzte. »Und was machen wir jetzt?«, fragte er mit zitternder Stimme.

»Wir müssen sie sofort suchen gehen«, forderte Jacob. »Vielleicht hatten sie ja einen schweren Verkehrsunfall und liegen irgendwo hilflos in deinem Auto und können sich nicht selbst befreien, weil sie eingeklemmt sind. Vielleicht sind sie ja bewusstlos.«

Energisch schüttelte Tannenberg den Kopf. »Nein, Vater, das kann ich mir nicht vorstellen. Bei einem Unfall hätten sich meine Kollegen schon längst bei mir gemeldet. Jeder Streifenpolizist in unserer Gegend kennt mein altes 3er BMW Cabrio. Von denen fahren nicht mehr viele hier herum.«

»Vor allem nur eines mit dem Kennzeichen KL-TB 56«, warf Dr. Schönthaler ein.

Jacob atmete schwer. »Und wenn ihnen so etwas Fürchterliches passiert ist wie damals …« Der alte Mann schluckte so hart, als steckte ihm etwas Sperriges in der Kehle. »Ihr erinnert euch bestimmt noch an diesen schrecklichen Verkehrsunfall vor vielen Jahren in einer Kurve am Walzweiher?«

Wie auf Knopfdruck erstarrten die Anwesenden, denn jeder von ihnen dachte mit Grausen an diesen furchtbaren Verkehrsunfall, bei dem ein Sattelschlepper der US-Streitkräfte in einer Rechtskurve seine unzureichend gesicherte, tonnenschwere Ladung verloren und einen mit zwei jungen Frauen besetzten Kleinwagen wie in einer Schrottpresse auf 30 Zentimeter Höhe zusammengequetscht hatte.

Jacobs Mund war staubtrocken, seine Zunge klebte am Gaumen fest. »Die Insassen waren damals …« Den Rest ließ er unausgesprochen.

»Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, fuhr ihm Tannenberg erbost in die Parade. »Was soll diese bescheuerte Schwarzseherei? Für ein derart apokalyptisches Szenario gibt es bislang nicht den geringsten Anhaltspunkt.«

»Wieso erzählst du solch einen Mist? Diese Möglichkeit kannst du nicht ausschließen. Oder kannst du seit Neuestem hellsehen, he?«, polterte Jacob. »Gib’s zu, du hast auch Angst, dass ihnen etwas Schlimmes passiert sein könnte. Ruf jetzt endlich in der Einsatzzentrale an. Deine Kollegen werden ja wohl wissen, ob in den letzten Stunden ein schwerer Verkehrsunfall passiert ist oder nicht.«

»Dann hätten die mich doch schon längst darüber informiert«, beharrte der Kriminalbeamte.

Jacob gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Und wenn ihr Auto so zerquetscht wurde, dass man weder den Typ noch die Nummernschilder mehr erkennen kann?«, ließ er nicht locker.

»Mann, du nervst gewaltig mit deiner bescheuerten Hysterie«, schimpfte Tannenberg.

Heiner reichte seinem Bruder das mobile Telefon. »Komm, ruf an«, forderte er mit Nachdruck, »dann können wir diese Möglichkeit wenigsten ausschließen.«

Während Tannenberg mit mürrischem Gesichtsausdruck die betreffende Nummer in die Tastatur hämmerte, trat sein Vater neben ihn.

»Lass dir danach gleich die Vermisstenstelle geben«, forderte er. Seine Stimme wurde schärfer. »Und komm mir jetzt bloß nicht damit, dass deine Kollegen 24 Stunden warten müssen, bevor sie eine Vermisstensuche starten.«

»Da geht mitten in der Nacht eh niemand ran«, wehrte Tannenberg ab. »Die Vermisstenstelle ist nur tagsüber besetzt.« Er schüttelte den Kopf, lief in den Flur und drückte die Ruftaste.

Das Gespräch war kurz, die Information erfreulich. »Seit heute Nachmittag wurde in der ganzen Gegend nicht ein einziger Verkehrsunfall mit Personenschaden gemeldet«, verkündete der Chef-Ermittler erleichtert, als er wieder in der Küche auftauchte.

Doch seinem Vater genügte diese Auskunft nicht. »Vielleicht hat nur noch niemand dein Auto gefunden«, wandte er ein. Er raufte sich die Haare und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Die Angst hatte die unzähligen Falten noch tiefer in Jacobs aschfahles Gesicht eingegraben. Er kniff die geröteten Augen zusammen und schniefte.

»Vielleicht ist ihnen ein Reifen geplatzt und Johanna hat die Kontrolle über deine alte Schrottkiste verloren«, orakelte er weiter. »Oder sie musste einer Wildsau ausweichen und ist mit vollem Karacho in den Wald reingerauscht. Vielleicht wurden sie wegen Aquaplaning aus einer Kurve getragen, sind eine Böschung hinuntergestürzt und liegen nun bewusstlos und schwer verletzt im dunklen Wald.«

»Schluss mit diesen Horrorszenarien!«, fauchte der Leiter der Kaiserslauterer Mordkommission ungehalten. »Damit machst du einen ja total kirre. Wir müssen einen klaren, kühlen Kopf bewahren!«

Jacob ließ sich nicht beirren. »Los, auf, Jungs, wir fahren die Strecke ab. Vielleicht entdecken wir irgendwo Bremsspuren.«

Tannenberg fletschte die Zähne und grunzte abschätzig. »Bremsspuren bei diesem Starkregen?«, schnaubte er genervt.

Er riss den Vorhang vor dem Fenster zur Seite und streckte beide Arme zur Beethovenstraße hin aus, wo sintflutartiger Platzregen durch den milchig-trüben Lichtschein einer Straßenlaterne gepeitscht wurde.