Borderline – damit wird eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Gefühlen beschrieben. Timm Flemming bekam 2002 die Diagnose, durch die seine Ängste und Schmerzen endlich einen Namen erhielten. Von klein auf galt er als eigenwillig, seltsam, »anders«. Die Eltern nehmen sich beide das Leben, als er vierzehn ist. Seine Trauer schlägt sich in Depressionen, einer Essstörung und ersten Selbstverletzungen nieder. Es beginnt ein harter Weg mit mehreren Klinikaufenthalten. Heute hat Timm ein stabiles Leben aufgebaut und gelernt, Borderline nicht nur als Fluch, sondern auch als Segen zu betrachten, seine Kreativität auszuleben und seine extreme Sensibilität sinnvoll zu nutzen.
Timm Flemming wurde 1985 in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik, nahe der polnischen Grenze, geboren. Er wuchs in labilen Familienverhältnissen auf, die in den Selbstmorden seiner Eltern und später seiner Schwester gipfelten. Nach mehreren psychiatrischen Klinikaufenthalten erhielt er die Diagnose Borderline. Er machte eine Ausbildung zum Kinderpfleger und gründete 2003 eine Theatergruppe für sozial- und milieugeschädigte Kinder und Jugendliche. 2004 begann er Lyrik und Prosa zu schreiben. Mit einem Hörbuchprojekt und einem Benefit-Event engagiert er sich für die Borderline-Plattform (www.borderline-plattform.de).
Timm Flemming
Ich –
mein größter Feind
Leben mit dem Borderline-Syndrom
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Das vorliegende Buch beruht auf Tatsachen.
Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte
wurden Namen und Details verändert.
Originalausgabe
© 2007 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Manuela Städele-Monverde
unter Verwendung eines Motives von © Thomas Welzel, Witzhausen
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-3147-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Nach dem Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-IV) leiden ca. 2% der Weltbevölkerung an der Borderline-Störung. Das entspricht, auf Deutschland bezogen, in etwa der Einwohnerzahl von Hamburg. 80% aller Borderline-Patienten haben in ihrer Kindheit eine Form von Misshandlung erlebt.
Einer repräsentativen deutschen Studie zufolge wurden 25% aller Borderliner als Kind sexuell missbraucht. Frauen sind mit 72% häufiger davon betroffen als Männer.
Insgesamt entspricht dies der Zahl von Menschen, die in Dresden leben. 100% aller Borderliner mit depressiver Symptomatik denken an Selbstmord, versuchten sich das Leben zu nehmen oder sind chronisch suizidal. 10% aller Borderliner überleben diese Störung nicht und entschließen sich zum Freitod.
Wenn man die Zahl auf Göttingen übertragen würde, dann hätte diese Stadt keine Einwohner mehr …
Eines Morgens wachst du auf und merkst, dass deine Welt plötzlich ganz anders ist. Du öffnest die Augen, streckst dich, gähnst ein, zwei Mal und drehst dich noch mal um, in der Hoffnung, dass du heute nicht aufstehen musst.
Dann geht die Tür auf und eine Stimme schreit: »Aufstehen und wiegen!« – Nun ist dir klar, was anders ist, und wie unter Hypnose folgst du den Worten, fügst dich der Stimme und stehst auf. Du frierst, weil die Fenster des Zimmers über Nacht auf Kipp standen – und wenn wir schon bei Fenstern sind: Ein Blick darauf sagt dir, wo du dich befindest – du bist wieder einmal in der Psychiatrie.
Dem allmorgendlichen Wiegen folgt das Duschen. Der Misserfolg beim Ablesen der Waage steckt dir noch in den Knochen, während du versuchst, den Schmutz dieser Anstalt von dir abzuwaschen – doch du hast das Gefühl, dass auch das Wasser verschmutzt ist. Es ist Psychiatriewasser. Wie konntest du auch nur im Entferntesten glauben, dass es dich reinigt?
Beim Frühstück gehst du zu deinem Platz – dieser ist schon von weitem zu erkennen, denn dein Teller ist im Gegensatz zu den anderen gefüllt, weil man dich wegen deiner Magersucht zum Essen zwingen will. Zwei Brötchen, für jedes Brötchen zwanzig Gramm Butter. Es gibt Aufstrich nach Wahl – allerdings meist nach Wahl der Schwestern und Pfleger, die Spaß daran zu haben scheinen, dass sie dir mindestens einmal Wurst verpassen, selbst wenn du Vegetarier bist. Außerdem stehen Marmelade und Honig auf dem Tisch. Dann noch ein Getränk von 250 ml – nur kein Kaffee, denn der entzieht dem Körper Wasser. Gesüßt ist das Getränk mit Traubenzucker, damit du die geforderte Kalorienzahl erreichst.
Du würgst dir das Frühstück rein, obwohl du sonst nie gefrühstückt hast, und fragst dich, was diese ganze Schmierenkomödie soll, denn eigentlich bist du nicht wegen Magersucht hier, sondern weil du dir mal wieder das Leben nehmen wolltest und man beschlossen hat, du seist einer von denen, die man Borderliner nennt.
Aber so sind die hier nun mal. Du bist ja nicht das erste Mal hier, hast deinen Stempel schon aufgedrückt bekommen, und auch alle anderen Auffälligkeiten werden in diese Schublade gesteckt, selbst wenn es nur darum geht, dass dein Gewicht etwas unter der Norm liegt.
Nach dem Frühstück musst du wieder ins Bett – dein Selbstmordversuch und das Untergewicht hätten dich zu sehr geschwächt, heißt es, aber in Wirklichkeit geht es nur darum, dass du keine Gelegenheit hast, Kalorien zu verbrennen.
Wenn die Welt dir auch noch so sonderbar erscheint – für die da draußen bist du es, der sonderbar ist. Und schon wird dein Leben von den Klischees der Klapsmühle und des Verrückten bestimmt. Du findest dich jedoch gar nicht sonderbar. Du bist keiner von diesen Verrückten aus den Witzen, die dreimal ihren Kaffee umrühren, den Löffel zur Seite legen und dann erst den Zucker hineintun. Du gehörst auch nicht zu denen, die Dinge sehen und Stimmen hören, die gar nicht da sind. Du hältst dich nicht für einen Außerirdischen und auch nicht für Harry Potter, denn dir ist klar, dass du nicht auf einem Besen von hier fortfliegen kannst und dass es nichts bringt, wenn du den Zauberstab schwingst.
Das Auto mit den viereckigen Rädern gibt es in deinem Leben ebenso wenig wie die Jacke, die man von hinten zuschnürt, oder die Gummizelle. All dies ist in den Köpfen zwar noch vorhanden – aber das gibt es so nicht mehr.
Mit dem Leben in der Anstalt musst du dich trotzdem zurechtfinden. Du musst mit dieser Welt hier drinnen klarkommen und rechtzeitig den Absprung nach draußen finden. Du musst verstehen, was mit dir und um dich herum passiert, und darfst es nicht einfach so hinnehmen, dass man dich in die Schublade des Verrückten stecken will. Kurz und gut, du musst mit dem Wahnsinn des Alltags in der Psychiatrie zurechtkommen.
Du hast dich dein Leben lang weder untergeordnet noch angepasst. Warum auch? Die Versuchung, es hier zu tun, ist groß, aber besser man wehrt sich und nimmt die Konsequenzen in Kauf, als dass man zur Marionette des Pflegepersonalteams wird.
Dies ist ein Bericht über das Leben. Mein Leben und seine mehr oder weniger tragischen Begleitumstände. Wobei ich betonen möchte, dass es keine Autobiografie ist. Dafür bin ich zu jung. Es ist eine Geschichte über das Scheitern, Hinfallen und Aufstehen. Sie ist für diejenigen, die sich Borderliner nennen, und für jene, die ihnen das Leben etwas leichter machen und die Hand reichen, wenn sie am Boden liegen.
In meinem Fall ist sie für Thomas W., weil du bist, was du bist, weil es uns gibt und weil ich dir vertraue. Für Ulrike G., weil du mich Weihnachten 2003 nicht stehen gelassen hast und zusammen mit Uwe K. versuchtest, mein Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Für Markus J. wegen des Aals und Hechtes und der wenigen Worte, die immer ausreichten. Für Stephan I. und Elke K. wegen des Lachses auf Fenchel, eurer Zeit und Freundschaft und für Comptine d’un Autre Été auf dem Klavier. Für Nick Z., weil du mich auf den Hosenboden setzt, mir in den Arsch trittst, mich mit tollen Menschen bekannt gemacht hast, den Mut hattest, zu dir selbst zu stehen, und weil das unter Kollegen einfach dazugehört.
Ganz besonders für Marie G., weil du ein wunderbarer Mensch und ein wundersames Wesen bist, das ich nie vergessen und immer in meinem Herzen tragen werde. Elisa S., Annemarie W. und Daniela A., weil ihr mich bewegt habt, da gewesen seid und bewiesen habt, dass kein Kind Angst haben muss, wenn die Eltern damit drohen, es in ein Kinderheim zu stecken. And last, but not least für Swantje S., weil es ohne sie nicht möglich gewesen wäre. Danke.
Als Kind glaubt man, dass alles, was die Eltern tun, richtig sei, selbst wenn es sich in der Seele anders anfühlt. Man liebt seine Eltern, sie sind Vorbilder und eines der ersten anstrebenswerten Ideale in der Kindheit. Auch bei mir war das so.
Geboren wurde ich 1985 in einer kleinen Stadt, die ganz tief im Osten der damaligen Deutschen Demokratischen Republik lag. Heute liegt sie freilich immer noch am selben Ort, nur die DDR gibt es nicht mehr. Natürlich kann ich mich nicht an meine Geburt erinnern. Das wird wohl jedem so gehen. Aber manchmal, wenn ich so in mich hineinträume, dann stelle ich mir vor, wie es gewesen sein könnte. Diese Vorstellung ist natürlich fernab von dem, was wirklich an diesem Tag passierte – aber sie ist schön und gehört nur mir. Im Traum, da wird man nicht weggestoßen, da fühlt man sich aufgehoben, und da geht das Schicksal die Wege, die man ihm selbst bestimmt: Mama und Papa in freudiger Erwartung auf mich, den kleinen Wurm, die ersten Liebkosungen auf der Brust meiner Mutter – für meine Eltern ein unvergesslicher Augenblick! Die stolzen Blicke des Vaters, der in einer Runde mit anderen Vätern eine Zigarre raucht und denkt: ›Mein Sohn … mein kleiner Sohn – hab ich das nicht gut hinbekommen?‹ Die Großeltern, die ins Krankenhaus kommen und ihren Enkel auf dieser Welt begrüßen. Und dann das Familienfoto. Mama hat mich im Arm, Papa hat einen Arm um Mama gelegt, und an ihrer Seite stehen, leicht unbeholfen, Oma und Opa. Alle lachen sie und sind glücklich – ein Moment für die Ewigkeit. Leider bekam ich, außer in meinen Träumen, dieses Foto nie zu Gesicht.
Die Strapazen waren nicht zu Ende, nachdem das Kind die Welt erblickt hatte. Zum Teil begannen Schuld, Vorhaltungen und Lügen erst mit diesem Tag und sollten wie ein Fluch das ganze Leben lang auf den Seelen der Beteiligten lasten. Es waren Schatten, die unerkannt blieben und letztlich zu Krankheit, Trauer und unvermeidlicher Wut führten.
Ich war ein Schreikind, zumindest am Anfang, und man ließ mich schreien – ungeachtet der Bedürfnisse, die ich noch nicht anders äußern konnte. In der Psychologie sagt man, dass es zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Ich gibt. Also schrie das Kind, ungehört und wie ein Baby eben so schreit. Und trotz dieser Vernachlässigung war ich in allen Dingen recht früh entwickelt. Ich bekam zeitig meinen ersten Zahn, tat zeitig meine ersten Schritte und brachte, früher, als es einigen vielleicht lieb war, mein erstes Wort zustande: ›Mau‹. Dies stand nicht, wie bei vielen Kindern, für Mama oder Papa, sondern für Maus. Es war der Name meines Kuscheltieres.
Ich erinnere mich an einen großen Block Papier und an Buntstifte, mit denen ich, zusammen mit der Maus, bis zum dritten Lebensjahr einen Großteil meiner Zeit im Laufstall verbrachte. Ich war zufrieden, solange ich vor mich hin kritzeln konnte – zumindest hat man mir das später erzählt. Ich selbst weiß nur von diesem Block und von Buntstiften und dem unbeschreiblichen Gefühl, einer Mischung aus Zufriedenheit und Freude, wenn ich daran denke.
In der Kinderkrippe malte ich ebenfalls ständig. Nichts anderes, abgesehen von der Maus, interessierte mich.
Kurz vor meinem dritten Geburtstag geschah etwas Besonderes. Mein Vater und ich holten meinen alten Kinderwagen aus dem Keller, stellten ihn im Hausflur vor die Briefkästen und befreiten ihn von allerhand Staub, Dreck und Spinnweben, von allem, was sich über die Jahre hinweg darauf angesammelt hatte. Ehe ich es mich versah, gab es da ein neues, kleines, unbekanntes Wesen, das mir meinen Platz streitig machte. Ein kleines Mädchen, dick, blond, blauäugig – wie alle Babys. Nichts Besonderes, aber es wurde so behandelt, als wäre es das Wichtigste auf der Welt. Manchmal muss es für mich auch schön gewesen sein, denn es gibt da ein Foto, wo Mama meine Schwester an ihrer Brust trinken lässt, ich zufrieden in einer roten Strumpfhose neben ihr stehe und dem kleinen Mädchen über den Kopf streichele. Auch Mama sieht zufrieden aus und fast glücklich in ihrer lila Kittelschürze, die wohl alle Mütter der DDR getragen haben.
Von dieser Zeit ist mir nicht viel geblieben, aber aus Erzählungen weiß ich, dass mein ungewöhnliches Verhalten an diesem Punkt begonnen haben muss. Ich kämpfte um meinen Platz, versuchte aber auch, mich auf das Neue einzulassen. Mit drei Jahren ist es sicher noch einfach, offen für die Welt zu sein. Aber es gab wenig, auf das ich mich verlassen konnte. Mal war es gut, dass ich meiner Schwester über das Gesicht strich oder ihr den Beißring reichte, mal war es falsch, und ich sollte mich von ihrem Bettchen ›wegscheren‹.
Von der Krippe kam ich in den Kindergarten – war dort ein kleiner, ungezogener Junge, der nicht so richtig einzuschätzen war und der Verbote und Grenzen nur sehr gering zu schätzen wusste. Von den anderen Kindern wurde ich dafür gemocht und respektiert. Ich durfte beim Spielen bestimmen, wer Mama, Papa und wer Kind sein sollte, ich selbst nahm zumeist die Rolle des Kindes ein. Schwach zu sein war mir lieber, als die Rolle meiner Eltern einzunehmen. Das Spiel wurde immer in meine Richtung gelenkt. So wie ich wollte, so geschah es auch.
Der Kindergarten war ein schönes Gebäude, eine große klassizistische Villa in hellem Grün und mit einem riesigen Hof, allerdings durfte man nur auf der einen Seite spielen, dort, wo die Spielgeräte standen. Geheimnisumwoben war die andere Seite. Sie hatte etwas Besonderes, weil sie außerhalb der Grenze des Erlaubten lag. Das Spielen machte mehr Spaß abseits der Erzieherinnen, bei den Apfelbäumen. Dort ließ man das Gras wuchern, und nur ein kleines Stück davon gehörte zur erlaubten Seite. Dieses Stück Wiese – im Sommer oft höher als man selbst – war der Weg in die Freiheit. Wenn man sich durch die hohen Gräser schlug, kam man in das Land, das den Ärger der Kindergärtnerin heraufbeschwor und so geheimnisvoll war. Es hieß, auf der anderen Seite des Gartens würde immer der verstümmelte Mann vom Dachboden herumschleichen. Der Dachboden des Kindergartens war zur Wohnung ausgebaut worden, und dort lebte dieser Mann, der nur selten gesehen, von dem aber oft gesprochen wurde. Ich zog vorne mit, wenn es darum ging, sich Geschichten auszudenken, was das für einer sei: Er jagt Kinder, hackt ihnen, wie sich selbst, die Finger ab und sperrt sie dann in den Keller.
Eines Tages spielten wir mal wieder unser Familien-Spiel. Ich gab die Richtung vor, und diesmal ging es durch das hohe Gras auf die verbotene Seite. Von oben brannte die warme Sonne auf uns herab, und die Gräser stachen in unsere nackten Beine. Im Hintergrund hörte man unbeschwerte Kinder kreischen, die sich von ihren Erzieherinnen mit kaltem Wasser abspritzen ließen. Ab und zu vernahm man das Geräusch eines Trabis, der am Kindergarten vorbeiknatterte.
Am Rand der Wiese angekommen, sahen wir den verstümmelten Mann, der den Platz vor den drei Schuppen kehrte. Als er uns entdeckte, stellte er den Besen zur Seite und kam auf uns zu. Kathleen, ein zierliches Mädchen mit fuchsroten, schulterlangen Haaren und Sommersprossen im Gesicht, fragte ihn mutig, wer er sei.
»Ich bin der Hausmeister vom Kindergarten«, antwortete er und wollte dann wissen, wie wir hießen. Wir sagten unsere Namen, erzählten, dass wir Familie spielten, und fragten sogar vorlaut, ob er nicht mitspielen wolle. Er lehnte freundlich, aber bestimmt ab, setzte sich auf eine nahe gelegene Gartenbank und kramte in der Brusttasche seines schmutzigen Hemds nach einer Packung Zigaretten. Nach dem ersten kräftigen Zug schloss er die Augen und atmete genüsslich aus, so dass der Rauch in Kringeln gen Himmel schwebte. Dann lächelte er uns an und deutete auf den freien Platz neben sich. Wir kamen zögernd näher, und ich beobachtete staunend, wie er immer noch nach jedem Zug von seiner Zigarette den Rauch wie Ringe in die Luft stieß.
»Was hast du mit deinen Fingern gemacht?«, rutschte es mir heraus. Der Hausmeister fuhr sich bedächtig mit seiner verstümmelten Hand durch den Vollbart, so als wollte er überlegen, wie er es uns erklären sollte. Dann sagte er nur: »Das kommt davon, wenn man beim Sägen nicht aufpasst.« Sein Gesicht mit der großen Nase und den zusammengewachsenen Augenbrauen wirkte streng, seine Stimme aber verscheuchte alle Gedanken daran, dass er Kindern vielleicht schlecht gesinnt sein könnte.
Erneut nahm er einen Zug von der Zigarette und stieß ihn sofort wieder aus. Dann schnipste er die Kippe gekonnt in einen Blecheimer und lächelte uns an. Er lächelte über das ganze Gesicht, so dass wir sehen konnten, dass ihm einige Zähne fehlten und die übrigen schwarz verfärbt waren und kreuz und quer in seinem Mund standen.
»Es wird Zeit, dass ihr zu eurer Erzieherin zurückgeht, bevor man euch noch vermisst. Ihr könnt mich ja ein andermal wieder besuchen kommen«, sagte er zum Abschied und wies mit seiner verstümmelten Hand über die Wiese. Wir gingen widerspruchslos und waren insgeheim erleichtert, aber auch ein wenig enttäuscht, dass der geheimnisvolle Mann vom Dachboden nur der Hausmeister war.
Wie wir wenig später erfuhren, verriet er uns bei der Erzieherin, was einen Eintrag ins Muttiheftchen zur Folge hatte. Dieser wurde zu Hause meist mit Hausarrest oder Fernsehverbot geahndet. Aber auch das war nicht sicher. Manchmal waren Einträge ins Muttiheftchen meinen Eltern egal, das hing von ihrer Laune ab. Wenn sie schlecht gelaunt waren, dann bekam ich Hausarrest, hatten sie gute Laune, dann sollte ich die Geschichten vom Kindergarten erzählen, und wir lachten gemeinsam darüber. Es war immer so: Wenn ich im Weg war, weil meine Schwester zu viel Platz einnahm, dann musste ich bestraft werden. Mein Vater konnte schnell ausrasten, wenn meine Schwester weinte und ich in ihrer Nähe war. Für ihn stand offenbar fest, dass ich ihr dann Leid zugefügt hatte. Dann musste ich die Hose herunterlassen. Ich glaube, es ging dabei nicht nur darum, mich durch Schmerzen zu bestrafen, sondern auch um Erniedrigung. Du ziehst dir die Hose aus – freiwillig –, legst dich über das Knie deines Vaters – freiwillig – und lässt dich schlagen – freiwillig. Als kleiner Knopf schrie ich, weil es mir wehtat, später, weil ich spürte, was diese Bestrafung nicht nur mit meinem Körper, sondern auch mit meiner Seele anstellte. Ich merkte, dass er in der Machtrolle war und nicht ich. Ich, der sonst im Kindergarten eine Machtrolle innehatte, hörte auf die Worte meines Vaters und legte mich ohne Widerspruch auf seine Knie.
Manchmal wagte ich es, nein zu sagen, recht kleinlaut, aber ich tat es. Es war meine Art von Kriegserklärung an ihn. Dann schauten wir uns an, und sein Blick schien mir mehr Schärfe, mehr Kälte – mehr Hass zu enthalten als meiner. Mein Aufbegehren hielt ihn jedoch nicht davon ab, mich zu demütigen. Meine Worte danach sollten ihm so wehtun, wie er mir wehgetan hatte, sie sollten ihn auf ewig dafür bestrafen, dass er mir diese Schmach antat. »Ich hasse dich!«, rief ich und lief in mein Zimmer.
Nach dem Kindergarten kam ich schon mit sechs Jahren in die Grundschule und war immer einer der Jüngsten in der Klasse. Beim Einschulungstest musste ich einen Baum malen, was mir keine Probleme bereitete, da ich ja gerne und oft malte. Ich war nicht aufgeregt und sah das Ganze als Spiel. Man erklärte mich für schulreif, und so standen die Vorbereitungen für meine Schuleinführung an.
Unterdessen war die Wende geschehen, was mich wohl vor sozialistischem Gesang, den Jungpionieren und dem ganzen Zeug bewahrte. Nicht, dass mir diese Veränderungen in den ersten Schuljahren aufgefallen wären, erst später, als auch in der Schule unsere nahe Vergangenheit thematisiert wurde, wurde mir bewusst, dass ich ein ehemaliger DDR-Bürger bin. Einer von denen, deren Regime es nötig fand, die Hälse der Menschen mit roten oder blauen Tüchern zu versehen, und es für richtig hielt, Propaganda in Kinderliedern zu verstecken. Ich verbinde die Wende mit den Gefühlsausbrüchen meiner Mutter zu dieser Zeit. Ich kann mich daran erinnern, dass mir Leute als Verwandte vorgestellt wurden, die ich nie zuvor gesehen hatte. Die Regale des Konsums waren plötzlich mit einer unglaublichen Menge von Gütern gefüllt, und in den Kindergarten gab man mir Bananen mit …
Ich freute mich auf die Schule. Es war etwas Neues, das aber nicht bedrohlich war, da fast meine gesamte Kindergartengruppe in dieselbe Klasse kam. Ich musste also nicht um meine Stellung bangen, die war mir sicher!
Am Tag der Einschulung trug ich, angesteckt durch meine Mutter mit schlechter Laune, meine Schultüte – viel zu groß, viel zu schwer und sowieso blöd. Die offiziellen Feierlichkeiten an der Schule schienen ewig zu dauern, und das Programm, von Schülern gestaltet, langweilte mich. Anderthalb Stunden ließen sie die Kinder auf etwas warten, das auch in zehn Minuten hätte erledigt sein können – die Übergabe der Zuckertüten, die jedes Kind vorher hatte selbst mitbringen müssen. Erst danach bekam ich noch andere Geschenke. Meine Schwester fing in regelmäßigen Abständen an zu heulen, weil sie nur Kleinigkeiten bekam, und mir war auch danach zumute, denn die Erwachsenen schienen meinen ersten Schultag eher als Anlass für ein Trinkgelage, denn als Feier mir zu Ehren zu betrachten.
Im Jahr der ersten Klasse gab es viele Veränderungen. Da war ein Junge, zu dem fühlte ich mich hingezogen, wenn man denn in diesem Alter davon sprechen kann. Er war der erste Junge, den ich küsste. Es war ein vollkommen unschuldiger Kuss auf dem Schulweg, mitten im Park, vor einem Altersheim. Statt Mutter, Vater, Kind spielten wir eben ›Papa küsst Papa‹. Dennoch hatte ich das Gefühl, etwas Böses zu tun. Etwas stimmte an diesem Bild nicht, ich wusste nur nicht, was.
Ich lernte in diesem Jahr auch ein sehr außergewöhnliches Paar kennen: Anton, ein alter Mann, und Dea, eine kleine, humpelnde Frau. Sie zogen in eine der freien Wohnungen in dem Haus, in dem wir wohnten. Es gehörte zu einer kleinen Neubausiedlung nahe der Stadtmitte.
Dea hatte langes schwarzes Haar, das ihr bis zum Steiß reichte. Als Kind war sie an der Kinderlähmung erkrankt, dadurch waren ihre Beine unterschiedlich lang, und sie musste eine Schiene tragen, um laufen zu können. Sie war Mitte dreißig und nur ein kleines Stück größer als ich zu dieser Zeit. Ihre riesigen braunen Augen, ihr rundes Gesicht und die kleine Nase wirkten gutmütig und offen.
Anton war etwa achtzig Jahre alt, als ich ihn kennen lernte. Er hatte nur noch wenige Haare auf dem Kopf, und die, die ihm geblieben waren, kämmte er sorgfältig über seine Glatze. Er erzählte immer viel über den Krieg und über seine Mutter, dabei saß er mit seiner Pfeife im rechten Mundwinkel im Schaukelstuhl und blätterte in alten Alben. Dort waren Briefe, Zeichnungen, Eintrittskarten, Zugtickets und Fotos sorgfältig aufgeklebt. Sie waren Zeugen einer bewegten Vergangenheit, die von vielen Kontinenten stammten.
Dea und Anton waren sich 1968, kurz nach dem Tod von Deas Vater, begegnet. Sie lebte damals mit ihrer Mutter und neun Geschwistern in einer kleinen Wohnung und musste Kohlen von der Straße aufsammeln. Anton war zu dieser Zeit Hausmeister, und er sah Dea eines Tages, als sie Brikettstückchen aufhob und in einen Beutel steckte. Seitdem lebten beide zusammen, und Dea kochte Jahr für Jahr jeden zweiten Tag Kartoffelsuppe für ihn. Aus der Wohnung der beiden roch es fast immer danach, und so verband sich der Geruch von Kartoffelsuppe für mich mit dem Gefühl von Zuhause, Geborgenheit und Kindsein.
Dea wurde schnell ein wichtiger Mensch für mich, und sie verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit mit mir. Ich ging mit ihr einkaufen, holte sie von ihrer Arbeit bei der Post ab, wir putzten zusammen die Fenster, hängten Wäsche auf und kochten Kartoffelsuppe. Über die Jahre hinweg verfeinerte sie das Rezept, und nirgends habe ich je eine bessere Kartoffelsuppe gegessen.
An den Wochenenden im Sommer saßen wir auf der Wiese, und als es Winter wurde, hörten wir uns im warmen Wohnzimmer Antons Geschichten an.
Es war ein milder Winter in meinem ersten Schuljahr. Später sollte man davon sprechen, dass es der Beginn eines durchschnittlich zu warmen Winterjahrzehnts war. Es regnete oft, und das Wetter hatte viel mit der Stimmung in unserer Familie gemein.
Nach der Wende hatte meine Mutter ihre Arbeit verloren, was sie sehr unzufrieden stimmte. Sie ertrug weder das Nichtstun noch die ausschließliche Versorgung des Haushalts und der Kinder. Dazu war sie selbst noch viel zu jung. Sie hoffte vermutlich, in ihrem Leben mehr als das zu erreichen. Immer häufiger stritten sich unsere Eltern darum laut und heftig. Meine Mutter zweifelte am Sinn ihres Lebens und war unglücklich. Verschwommen erinnere ich mich an eine Nacht, als es wieder laute Wortgefechte zwischen den beiden gab, durch die ich wach wurde. Die Türen wurden zugeschlagen und gleich darauf wieder aufgerissen, und es flog sogar Geschirr. Bis sie sich irgendwann im Badezimmer einschloss. Meinen Vater schien dies zu beunruhigen. Er klopfte immer stärker gegen die Tür und griff schließlich zu einer Zange, um sie aufzubrechen. Meine Mutter stand auf dem Fensterbrett, das Fenster hatte sie geöffnet. Ich weiß nicht, ob sie wirklich springen wollte. Meinem Vater gelang es jedenfalls, sie zu überreden, wieder vom Fensterbrett zu steigen. Anschließend schraubte er in allen Zimmern die Fenstergriffe ab und versteckte die Wohnungsschlüssel. Ich fragte, was das zu bedeuten hätte, aber niemand erklärte es mir.
Zwei Tage darauf sagte uns unser Vater, dass er ausziehen würde, da unsere Mutter einen anderen Mann liebte. Er verließ uns, und noch am selben Abend stand André Butt, der bis dahin mit unserem Vater befreundet gewesen war, in der Wohnung. Von da an schlief André im Bett unseres Vaters, er beanspruchte den Sessel unseres Vaters, er saß am Esstisch auf dem Platz unseres Vaters, und er versuchte unser Vater zu werden, indem er sich verhielt wie dieser. Er glaubte, mit uns schimpfen zu können, wenn wir nicht hörten. Ich sagte ihm oft, dass er uns gar nichts zu sagen hätte und dass wir nicht wollten, dass er bei uns wohnte. Butt, wie wir ihn immer nur nannten, entzog uns das Essen, wenn wir nicht hören wollten. Unsere Mutter sagte dazu nichts.
In der Schule hatte ich damals viele Probleme. Anstatt sich mit meiner Mutter in Verbindung zu setzen, rief man unseren Vater an, den man für seriöser und zuverlässiger hielt. Er wohnte zu dieser Zeit bei unserer Oma. Bei einem persönlichen Gespräch mit der Lehrerin kam dann alles auf den Tisch. Unser Vater wollte uns zu sich holen, und unsere Mutter verbot ihm daraufhin den Umgang mit uns.
Einen Tag vor Heiligabend im Jahr 1991 besorgte er sich am Morgen bei seiner Hausärztin Beruhigungs- und Schlafmittel, er aß mit unserer Oma zu Mittag, die am frühen Abend noch in die Stadt ging, um einige Einkäufe für Weihnachten zu erledigen. Mein Vater hatte ihr gesagt, er würde unterdessen den Weihnachtsbaum aufbauen. Doch stattdessen nahm er die Medikamente und fiel irgendwann ins Tablettenkoma. Drei Stunden später erhielt meine Mutter einen Anruf. Als sie auflegte, war sie blass und zitterte am ganzen Leib.
»Euer Vater liegt im Krankenhaus«, sagte sie damals zu uns, ohne eine weitere Erklärung. Erst Jahre später erfuhr ich von Verwandten und durch das Tagebuch unserer Mutter, was damals tatsächlich geschehen war. Auf unsere Mutter konnten wir damals nicht zählen. Sie war mit sich beschäftigt und hatte oft keinen Blick für uns. Manchmal schien sie nicht einmal in der Lage zu sein, zu sprechen.
Meine Schwester, die gerade mal drei Jahre alt war, verbrachte Heiligabend bei ihrer besten Freundin aus der Krippe und deren Mutter. Ich feierte mit Dea und Anton.
Als Kind glaubt man nicht nur, dass alles, was die Eltern tun, richtig ist, sondern man liebt auch Weihnachten, gibt sich bedingungslos der Vorfreude hin und spürt die Besinnlichkeit dieser Zeit. Weihnachten, das ist etwas Besonderes. Es ist auch deswegen so bedeutungsvoll, weil die Familie im Mittelpunkt steht. Diesmal allerdings war alles anders. Unsere Familie war kaputt. Aber bei Dea und ihrem alten Lebensbegleiter Anton fühlte ich mich dennoch wohl. Und an keinem anderen Tag habe ich so gern Kartoffelsuppe gegessen wie an diesem 24. Dezember 1991. Bei den beiden roch es nach Tanne und Harz, nach Plätzchen und Kerzenwachs. Sie hatten, wie meine Eltern sonst auch immer, Weihnachten in Familie von Frank Schöbel aufgelegt. Das Knistern der LP, die Fürsorge und Behutsamkeit meiner beiden Freunde und die besondere Stimmung machten dieses Weihnachten für mich unvergesslich.
Erst später wurde mir bewusst, dass dieses Fest früher in unserer Familie zwar immer zelebriert wurde, dass wir Frieden spielten und der Tradition gemäß Kartoffelsalat mit Bockwürsten aßen, aber dass der Geruch von frischen, selbst gebackenen Weihnachtskeksen doch nur aus dem Treppenhaus in meine Nase kroch. Unser Weihnachtsbaum konnte jedes Jahr aufs Neue verwendet werden. Er war aus Plastik. Unsere Schallplatte von Herrn Schöbel sprang, weil sie Kratzer hatte, und statt Kerzen gab es der Katze wegen nur eine Lichterkette. Und doch war es schön. Ich genoss die Harmonie und die Ahnung von dem, was wirklich zählt. Auch wenn ich es damals noch nicht begriff.
Kurz nach dem Selbstmordversuch unseres Vaters wurde André Butt von der Polizei abgeholt und festgenommen. Er war schon zuvor wegen Körperverletzung auf Bewährung verurteilt worden. Nun hatte man ihn beim Fahren unter Alkoholeinfluss erwischt. Und plötzlich verschwand er wieder aus unserem Leben. Meine Schwester und ich waren darüber nicht sonderlich traurig.
Das Jahr ging zu Ende. Der wenige Schnee, der in diesem Winter gefallen war, verschwand schnell von den Wiesen, und bald hing wieder die Wäsche auf den Leinen vor unserem Haus. Es wurde Frühling. Unseren Vater sahen wir in den Monaten, die vergingen, nicht ein einziges Mal, bis er irgendwann vor der Tür stand. Meine Mutter freute sich und küsste ihn. Zur Feier des Tages gab es Hackepeter-Brötchen und Kakao. Es wurde nicht darüber gesprochen, was er getan hatte. Es gab keine Erklärungen. Es wurde geschwiegen, und unsere Eltern wichen allen Fragen aus. Wir wären zu jung für die Wahrheit. Und so zog mit unserem Vater auch der Alltag wieder ein.
Heute glaube ich, dass er zu uns zurückkommen durfte, weil meine Mutter sich an seinem Selbstmordversuch schuldig fühlte.